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Grundgedanken über Gedichte – Teil 1: Allgemeines ... - deviantART

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<strong>Grundgedanken</strong> <strong>über</strong> <strong>Gedichte</strong> <strong>–</strong> <strong>Teil</strong> 1: <strong>Allgemeines</strong><br />

In unserem Kulturkreis sind schon kleine Kinder von Reimen fasziniert.<br />

Hänschen klein,<br />

ging allein,<br />

in die weite Welt hinein.<br />

(Kinderlied)<br />

Daraus verfestigt sich bei vielen die Annahme, <strong>Gedichte</strong> müssten sich reimen. Diese<br />

Annahme greift jedoch zu kurz.<br />

Es gibt Sprachen, in denen die Wortendungen durch die systematische Logik ihrer<br />

grammatischen Funktion in derartiger Häufung gleich ausfallen, dass fast zwangsläufig Reime<br />

entstehen <strong>–</strong> Latein zum Beispiel. Deshalb war es unter Dichtern in lateinischer Sprache<br />

geradezu verpönt, Reimgedichte zu schreiben, weil es wenig kunstvoll und letztlich zu banal<br />

war. Dennoch dürfen lateinische Dichter sich mit Fug und Recht als Dichter bezeichnen.<br />

Machen wir uns klar, woher der Begriff "Gedicht" kommt <strong>–</strong> von "Dichtung" zunächst, und<br />

"Dichtung" sagt nichts <strong>über</strong> Reime, sondern kommt wiederum von "Verdichtung". Und darum<br />

geht es: Sprachverdichtung! Streng genommen lautet das Ziel also: Mit möglichst wenig<br />

Worten möglichst viel Inhalt beim Publikum ankommen lassen. Dazu ist ein Reim <strong>über</strong>haupt<br />

nicht zwingend erforderlich. (Zu Ausnahmen und Sonderformen wie Langgedichten, Balladen<br />

und Versepen vielleicht ein anderes Mal mehr.)<br />

Nun war es allerdings in alter Zeit so, dass nur wenige Menschen des Lesens und Schreibens<br />

mächtig waren. Deshalb war es zur Überlieferung von <strong>Gedichte</strong>n unbedingt notwendig, dass<br />

man sich das Gedicht merken konnte <strong>–</strong> denn sonst hätte man es ja nicht weitergeben können.<br />

Reime sind sehr einprägsam. Daraus ergibt sich, dass gereimte <strong>Gedichte</strong> für die mündliche<br />

Überlieferung einen unschätzbaren Vorteil gegen<strong>über</strong> nicht gereimten <strong>Gedichte</strong>n hatten und<br />

sich deshalb durchsetzen konnten. Auch dies hat zu der weitverbreiteten Meinung<br />

beigetragen, Gedicht sei nur, was gereimt ist. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um<br />

eine von zwei Grundformen des Gedichts, das "Vortragsgedicht" nämlich. Ich nenne es so,<br />

weil das ursprüngliche Ziel des Vortragsgedichts eben darin liegt, laut gesprochen und gehört<br />

zu werden. Dazu sind Reime hilfreich, mindestens ebenso wichtig ist aber eine saubere Metrik<br />

<strong>–</strong> Themen auf die ich später zurückkomme, wenn ich mehr zu "Vortragsgedichten" sage.<br />

Zunächst zurück zu grundsätzlichen Definitionen. Es gibt eine Strömung in der modernen<br />

Literatur, die das Prinzip totaler künstlerischer Freiheit zu ihrem Credo erhoben hat:<br />

"Wenn der Autor sagt, sein Text sei ein Gedicht, dann ist es eins."<br />

Zu dieser fragwürdigen Strömung gehört offenbar unter anderem Günter Grass, denn wer die<br />

Debatten um sein Israel-kritisches Gedicht in der Süddeutschen Zeitung verfolgt hat, könnte<br />

sich verwundert die Augen gerieben haben, angesichts der geringen Sprachverdichtung und<br />

kaum vorhandenen Struktur in seinem Elaborat. Tatsächlich war es eigentlich ein (sehr<br />

kurzes) Essay mit seltsamen Zeilenumbrüchen. Hier zum Nachlesen:<br />

http://www.sueddeutsche.de/kultur/gedicht-zum-konflikt-zwischen-israel-und-iran-wasgesagt-werden-muss-1.1325809


Denkt man diesen Ansatz jedoch in aller Konsequenz zu Ende, könnte der Verfasser eines<br />

Zeitungsartikels oder einer betriebswirtschaftlichen Diplomarbeit sich hinstellen und sein<br />

Werk zu einem Gedicht erklären <strong>–</strong> und folglich wäre es eins. Wie unsinnig das ist, dürfte<br />

leicht einsichtig sein, denn beides ist eben nicht auf Sprachverdichtung angelegt!<br />

Zusammengefasst lässt sich also festhalten, dass ein Text, der ein Gedicht sein will, dem<br />

Anspruch der Sprachverdichtung genügen sollte. Dies ist das entscheidende Kriterium!<br />

Wir können nun im nächsten Schritt <strong>Gedichte</strong> in zwei große Familien unterteilen: Die bereits<br />

angesprochenen "Vortragsgedichte", für die Reim und Rhythmus definitiv von Vorteil sind,<br />

da sie beim Konsumenten <strong>über</strong> das Gehör Eingang finden können sollen <strong>–</strong> man könnte sie<br />

alternativ auch "Hörgedichte" nennen <strong>–</strong> sind die eine Gruppe. Die andere Gruppe will ich<br />

"Lesegedichte" nennen, da sie sich metrischen Strukturen häufig entziehen und nicht darauf<br />

ausgelegt sind, flüssig vorgetragen werden zu können. (Was natürlich nicht heißt, dass man<br />

sie nicht auch flüssig vortragen können darf!)

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