Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...

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Schumann ordnet Hitlers Expansionsbestrebungen richtig ein, 1 hoffte paradoxerweise aber, daß sie durch das Münchner Abkommen befriedigt worden seien. 2 Auf der einen Seite sieht er schon ein neues deutsches Kolonialreich entstehen 3 , sozusagen ein „germanisches Commonwealth“, von der Nordsee bis zum Persischen Golf, 4 auf der anderen Seite schenkt er den Worten Hitlers, der eben dies bestreitet, nur allzu bereitwillig Glauben. 5 Dieses Schwanken zwischen Einsicht und Illusion ist typisch für die Haltung eines Großteils der französischen Öffentlichkeit Deutschland gegenüber in der München- Ära. 6 Vie int. spiegelt diese Meinungsvielfalt publizistisch. Schumanns Kritik an der französischen Regierung und seine Ablehnung des Münchner Abkommens liegt voll auf der Linie der Vie int., die von patriotischem Ehrgefühl geleitet wird. 7 Es scheint kein Widerspruch zu sein, daß ein linker „Antimunichois“ in Vie int. schreibt, denn seit dem Aufkommen der Sudetenfrage teilt die Zeitschrift (so wie es bisher aussieht) die Einstellung von Teilen der Linken, die, wie Schumann, das Los der Tschechoslowakei bedauern. 8 Polen gegenüber, das von den tschechischen Gebietsabtretungen auch profitiert, zeigt Schumann eine ablehnende Haltung, was ihn von der politischen Rechten seines Landes unterscheidet. 9 Schumann erkennt klar die Situation der Schwäche, in die sich Frankreich im Verlauf der 30er Jahre hineinmanövriert hat und die im Münchner Abkommen ihren Tiefpunkt erreicht und deren „bedauernswerte Folgen“ sich jetzt zeigen. Er sieht nur noch einen Ausweg, und der besteht in einer Politik der Stärke. 10 Das ist das erste Mal, daß diese Formulierung in Vie int. auftaucht. Mit dieser frühen Erkenntnis ist Schumann seiner Zeit wiederum voraus, denn laut Bloch schwenkt die öffentliche und politische Meinung erst nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei am 15. März 1939 zu einer energischeren Haltung um. 11 Es ist kein Zufall, daß in dieser ersten Ausgabe der Vie int. nach dem Münchner Abkommen die Ideen von Friedrich Wilhelm Foerster 12 besprochen werden. Foerster plädiert für ein föderales Europa, in dem die Rechte der Volksgruppen gewahrt blei- 1 vgl. Vie int., a.a.O., S. 124-125, 127 2 a.a.O., S. 146 3 a.a.O., S. 127-135 4 a.a.O., S. 128 5 Vgl. hierzu Poidevin/Bariéty, a.a.O., S. 404 6 Vgl. dazu Winock, in: ders., Les Années trente, a.a.O., S. 127 7 Vie. int., 10.10.1938, S. 143 8 „La Tchécoslovaquie ... paye cruellement la faute d’avoir été fidèle sans défaillance et confiante jusqu’au bout“, in: a.a.O., S. 138 9 Vgl. zu den Sympathien der Linken für die Tschechoslowakei und der Rechten für Polen, Poidevin/Bariéty, a.a.O., S. 403 10 Vie int., 10.10.1938, S. 150 11 Bloch, a.a.O., S. 501 12 1869-1966; strebte eine Umgestaltung der Erziehung auf christlicher und pazifistischer Grundlage an; aus: dtv-Lexikon, Bd. 6, München 1990, S. 49 78

en sollen. 1 Was den Autor der Besprechung, Maurice Vaussard 2 , gerade jetzt bewogen hat, Foersters Konzept zu erörtern, ist die Kritik, die dieser an der gegenwärtigen Dominanzpolitik Deutschlands übt. Sie sei das Gegenteil dessen, was Foerster als idealer Staatenbund vorschwebt. 3 Es ist Vie int. wichtig, ihren Lesern vorzuführen, daß das deutsche Denken seit Jahrhunderten um ein vereintes Zentraleuropa kreist und daß heutige deutsche Wissenschaftler Kritik daran üben, daß es nun gewaltsam durch einen Krieg erzwungen werden soll. 4 Vaussard ist also ein weiterer Vertreter der „antimunichois“, die in Vie int. zu Wort kommen, diesmal mit stark kirchlich orientiertem Unterton. Aus seinen Ausführungen geht hervor, daß er zu den Sozial-Katholiken zählt. 5 Die Sozial-Katholiken befürworten eine deutsch-französische Annäherung, aber bekämpfen Hitler mit aller Macht. Vaussard ist gegen Nationalismus, welcher Prägung auch immer. Er kritisiert den Rassismus und den Antisemitismus. (Dies ist eine der wenigen Erwähnungen des Antisemitismus überhaupt in Vie int.). 6 Er spricht ganz deutlich aus, worin die Aufgabe der Christen jetzt besteht: den falschen Propheten und seine „doctrine de servitude“ mit aller Macht zu bekämpfen. 7 Vaussard beschreibt den deutschen Charakter so: L’Allemand moyen cède toujours au prestige de la force et de la réussite. 8 Er stimmt vollkommen mit Foersters Kritik am Nationalismus überein. Nationalismus sei: cette forme démoniaque de l’orgueil de groupe, cette peste des temps modernes, en laquelle convergent toutes les hérésies... 9 Dem könne man nur mit Pius‘ XI Hilfe entgegenwirken. Vaussard verurteilt den Nationalismus auch seiner Landsleute, insbesondere der Action Française, und führt die kirchliche Mahnung dagegen an. 10 Er vertritt eine papsttreue Linie. 1 Vie int., a.a.O., S. 154 2 Und zwar von Maurice Vaussard, 1888-1977: überzeugter Katholik; stellvertretender Direktor des Institut français von Mailand und geistiger Vermittler zwischen Frankreich und Italien; gründet das „Bulletin Catholique International“, das die Meinung des Papstes zum internationalen Geschehen veröffentlicht; stellv. Präsident von Pax Christi; schrieb eine „Histoire de la Démocratie Chrétienne“; Vie int., 10.10.1938, S. 151-169 3 a.a.O., S. 155 4 a.a.O. 5 a.a.O., S. 163 6 a.a.O., S. 167 7 a.a.O., S. 169 8 a.a.O., S. 164 9 a.a.O., S. 166 10 Vie int., 10.10.1938, S. 166. Damit meint er die päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“, auf die im Kapitel „Die katholische Frage“ Bezug genommen wird. 79

en sollen. 1 Was den Autor <strong>der</strong> Besprechung, Maurice Vaussard 2 , gerade jetzt bewogen<br />

hat, Foersters Konzept zu erörtern, ist die Kritik, die dieser an <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

Dominanzpolitik Deutschlands übt. Sie sei das Gegenteil dessen, was Foerster als<br />

idealer Staatenbund vorschwebt. 3<br />

Es ist <strong>Vie</strong> int. wichtig, ihren Lesern vorzuführen, daß das deutsche Denken seit Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />

um ein vereintes Zentraleuropa kreist und daß heutige deutsche Wissenschaftler<br />

Kritik daran üben, daß es nun gewaltsam durch einen Krieg erzwungen<br />

werden soll. 4<br />

Vaussard ist also ein weiterer Vertreter <strong>der</strong> „antimunichois“, die in <strong>Vie</strong> int. zu Wort<br />

kommen, diesmal mit stark kirchlich orientiertem Unterton. Aus seinen Ausführungen<br />

geht hervor, daß er zu den Sozial-Katholiken zählt. 5 <strong>Die</strong> Sozial-Katholiken befürworten<br />

eine deutsch-französische Annäherung, aber bekämpfen Hitler mit aller<br />

Macht. Vaussard ist gegen Nationalismus, welcher Prägung auch immer. Er kritisiert<br />

den Rassismus und den Antisemitismus. (<strong>Die</strong>s ist eine <strong>der</strong> wenigen Erwähnungen des<br />

Antisemitismus überhaupt in <strong>Vie</strong> int.). 6 Er spricht ganz deutlich aus, worin die Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Christen jetzt besteht: den falschen Propheten und seine „doctrine de servitude“<br />

mit aller Macht zu bekämpfen. 7 Vaussard beschreibt den deutschen Charakter<br />

so:<br />

L’Allemand moyen cède toujours au prestige de la force et de la réussite. 8<br />

Er stimmt vollkommen mit Foersters Kritik am Nationalismus überein. Nationalismus<br />

sei:<br />

cette forme démoniaque de l’orgueil de groupe, cette peste des temps mo<strong>der</strong>nes,<br />

en laquelle convergent toutes les hérésies... 9<br />

Dem könne man nur mit Pius‘ XI Hilfe entgegenwirken. Vaussard verurteilt den Nationalismus<br />

auch seiner Landsleute, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Action Française, und führt die<br />

kirchliche Mahnung dagegen an. 10 Er vertritt eine papsttreue Linie.<br />

1 <strong>Vie</strong> int., a.a.O., S. 154<br />

2 Und zwar von Maurice Vaussard, 1888-1977: überzeugter Katholik; stellvertreten<strong>der</strong> Direktor des<br />

Institut français von Mailand und geistiger Vermittler zwischen Frankreich und Italien; gründet das<br />

„Bulletin Catholique International“, das die Meinung des Papstes zum internationalen Geschehen<br />

veröffentlicht; stellv. Präsident von Pax Christi; schrieb eine „Histoire de la Démocratie Chrétienne“;<br />

<strong>Vie</strong> int., 10.10.1938, S. 151-169<br />

3 a.a.O., S. 155<br />

4 a.a.O.<br />

5 a.a.O., S. 163<br />

6 a.a.O., S. 167<br />

7 a.a.O., S. 169<br />

8 a.a.O., S. 164<br />

9 a.a.O., S. 166<br />

10 <strong>Vie</strong> int., 10.10.1938, S. 166. Damit meint er die päpstliche Enzyklika „Mit brennen<strong>der</strong> Sorge“, auf<br />

die im Kapitel „<strong>Die</strong> katholische Frage“ Bezug genommen wird.<br />

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