Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...

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muß er zugeben, daß England trotz des „Gewaltaktes vom 16. März“ 1 dem Deutschen Reich immer noch Vertrauen entgegenbringt. Tolédano zeigt sich beglückt für Frankreich, weil die Russen zur Zeit eher einen Dialog mit Paris, Rom und London, also mit den Westmächten, suchen, statt mit Deutschland, obwohl dessen nationalsozialistische Ideologie dem Bolschewismus ja näher stehe als der italienische Faschismus. Von einem „germanisch-russischen Block“ nämlich hätten die Franzosen nur Schreckliches zu befürchten. 2 Tolédano hält treu zur Freundschaft mit England, findet aber auch ein gutes Verhältnis zu Italien wichtig. Er, der voll hinter dem französischen Sicherheitsdenken steht, muß aber zugeben, daß die Anfang April 1935 in Stresa gebildete Front gegen Deutschland eine leere Worthülse bleibt. 3 Deshalb setzt er seine Hoffnungen auf den Völkerbund, obwohl er ahnt, daß dessen Proteste wirkungslos bleiben werden. Mit Skepsis dagegen beurteilt Tolédano am 10.6.35 die Reisen von Außenminister Laval nach Moskau im Mai 1935 und die hierbei geschlossene russisch-französische Allianz. 4 Darin teilt er die Bedenken Lavals und gewisser Kreise der Industrie- und Finanzwelt, die von der französisch-russischen Annäherungspolitik, die von Barthou eingeleitet wurde, ein Erstarken der französischen Kommunistischen Partei befürchten. 5 Zu dem nicht zustande gekommenen bilateralen Militärabkommen schreibt Tolédano allerdings nichts. Worüber er wiederum schreibt, das sind die Abrüstungsreden von Hitler. Er beschreibt voll Ironie, wie Hitler den Eindruck erweckt, Deutschland habe vollkommen abgerüstet und stehe ohne Verteidigung in einer bis zu den Zähnen bewaffneten Welt. 6 Tolédano schätzt Hitlers rhetorisches Geschick richtig ein und seine Fähigkeit, die Massen zu beeinflussen. Trotzdem erliegt auch er ein wenig dessen Eloquenz und neigt dazu, ihm Glauben zu schenken; dennoch weiß er um die starke deutsche Aufrüstung. Er schwankt zwischen Wunschdenken und Realität. Immerhin zeige sich ja England versöhnlich in Bezug auf Deutschland, und da solle Frankreich nicht zurückstehen. 7 Etwas verbittert bezeichnet Tolédano das Flottenabkommen zwischen England und Deutschland von Juni 1935 als „vollen Erfolg“ für Hitler. 8 Hitler habe es erreicht, die deutsche Flotte auf 35% der Tonnage der britischen Marine aufstocken zu dürfen. Tolédano ist von England enttäuscht, weil es mit dem Flottenabkommen aus der ja ursprünglich gegen Deutschland gerichteten Stresa-Front ausgebrochen und Frankreich in den Rücken gefallen ist. Es ist seltsam festzustellen, wie beharrlich Tolédano 1 Vie int., 25.4.1935, S. 250; Wiederherstellung der allgemeinen Militärdienstpflicht in Deutschland und Aufstellung einer Wehrmacht. Damit setzt „Hitler einseitig allen Bestimmungen des Versailler Vertrags bezüglich der deutschen Rüstungsbeschränkungen ein Ende“; in: Bloch, a.a.O., S. 446 2 Vie int., 25.4.1935, S. 251 3 a.a.O., S. 252 4 Vie int., 10.6.1935, S. 246 5 Bloch, a.a.O., S. 442 6 Vie int., 10.6.1935, S. 250 7 a.a.O., S. 251 8 Vie int., 25.6.1935, S. 499 58

dennoch an seiner England-Treue festhält. Da er politisch nicht kurzsichtig ist und die deutsche Gefahr klar erkennt, läßt sich seine Anglophilie nur mit dem unbedingten Wunsch nach Frieden erklären. Das gibt er auch dem Leser zu verstehen. Er beugt sich der englischen Anti-Frankreichpolitik, er entschuldigt sie sogar, indem er den immer wiederkehrenden Wunsch äußert, es möge den Engländern gelingen, Deutschland im Zaum zu halten. 1 Wie ungleichgewichtig die französisch-britischen Beziehungen sind, erkennt man am Sprachgebrauch: Tolédano bezeichnet die Engländer als „nos amis“ 2 , während diese Frankreich gegenüber eine „politique de bascule“ 3 betreiben. Schon zu diesem Zeitpunkt kann man erkennen, daß Tolédano einen Meinungsumschwung vollzogen hat. Er ist derjenige, der bis Februar 1938 am häufigsten über die deutsche Außenpolitik schreibt, weshalb die Vermutung naheliegt, daß seine Meinung der der Redaktion entspricht. Bis 1933 vertritt er eine Politik der Stärke und predigt den Präventivkrieg gegen Deutschland. Nun erweist er sich als Fürsprecher der sehr passiven französischen England- und Deutschlandpolitik. Er sagt, die eine sei von einem gebeugten Rücken England gegenüber und die andere von Resignation gegenüber Deutschland gekennzeichnet. Diese Haltung wirkt deshalb so befremdlich, weil Tolédano sie wider besseres Wissen einnimmt: er schätzt Deutschlands Expansionswillen und sein Machtpotential vollkommen richtig ein, und er unterwirft sich dem germanophilen England, von dem er weiß, daß es Frankreich seit Abschluß des Versailler Vertrags wirtschaftlich und politisch ständig in den Rücken fällt. Dennoch ruft er als bedeutendster außenpolitischer Meinungsmacher der Vie int. nicht dazu auf, diesen beiden aus seiner Sicht gegen Frankreich komplottierenden Staaten energisch entgegenzutreten. Es ist tatsächlich dieser bedingungslose Pazifismus, der dann auch die Niederlage Frankreichs vorbereitet. Ihn teilt die Vie int. mit vielen Franzosen, denen die Schrekken des ersten Weltkrieges noch in Erinnerung sind. Es handelt sich bei dieser Einstellung um eine Art Neo-Pazifismus, in den die politische Rechte insgesamt ab 1935/36 verfällt. Der Pazifismus war bisher immer eine Domäne der Linken gewesen. Nun sehen letztere aber wegen der wachsenden deutschen Bedrohung die Notwendigkeit einer nationalen Verteidigung. Begünstigt wird der Gesinnungswandel der Linken durch die Absegnung der französischen Verteidigungsmaßnahmen durch Stalin nach der Unterzeichnung des russisch-französischen Defensivpaktes Anfang Mai 1935. 4 Tolédano verteidigt denn auch die Regierung Laval. Seiner Meinung nach ist sie vermittelnd und versöhnlich. 5 Er befürwortet ihre Bündnisse mit Rußland (eine seiner ursprünglich konservativen Grundtendenz konträre Haltung) und Italien, weil es gel- 1 Vie int., 25.6.1935, S. 503 2 a.a.O., S. 499 3 a.a.O., S. 504 4 vgl hierzu: Jurt, Joseph: Historischer Überblick, in: Kohut, Karl (Hrsg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich, Wiesbaden, Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion, Tübingen 1982, S. 33 5 Vie int., 25.9.1935, S. 683, 684, 685 59

muß er zugeben, daß England trotz des „Gewaltaktes vom 16. März“ 1 dem Deutschen<br />

Reich immer noch Vertrauen entgegenbringt.<br />

Tolédano zeigt sich beglückt für Frankreich, weil die Russen zur Zeit eher einen<br />

Dialog mit Paris, Rom und London, also mit den Westmächten, suchen, statt mit<br />

Deutschland, obwohl dessen nationalsozialistische Ideologie dem Bolschewismus ja<br />

näher stehe als <strong>der</strong> italienische Faschismus. Von einem „germanisch-russischen<br />

Block“ nämlich hätten die Franzosen nur Schreckliches zu befürchten. 2<br />

Tolédano hält treu zur Freundschaft mit England, findet aber auch ein gutes Verhältnis<br />

zu Italien wichtig. Er, <strong>der</strong> voll hinter dem französischen Sicherheitsdenken steht,<br />

muß aber zugeben, daß die Anfang April 1935 in Stresa gebildete Front gegen<br />

Deutschland eine leere Worthülse bleibt. 3 Deshalb setzt er seine Hoffnungen auf den<br />

Völkerbund, obwohl er ahnt, daß dessen Proteste wirkungslos bleiben werden.<br />

Mit Skepsis dagegen beurteilt Tolédano am 10.6.35 die Reisen von Außenminister<br />

Laval nach Moskau im Mai 1935 und die hierbei geschlossene russisch-französische<br />

Allianz. 4 Darin teilt er die Bedenken Lavals und gewisser Kreise <strong>der</strong> Industrie- und<br />

Finanzwelt, die von <strong>der</strong> französisch-russischen Annäherungspolitik, die von Barthou<br />

eingeleitet wurde, ein Erstarken <strong>der</strong> französischen Kommunistischen Partei befürchten.<br />

5 Zu dem nicht zustande gekommenen bilateralen Militärabkommen schreibt<br />

Tolédano allerdings nichts.<br />

Worüber er wie<strong>der</strong>um schreibt, das sind die Abrüstungsreden von Hitler. Er beschreibt<br />

voll Ironie, wie Hitler den Eindruck erweckt, Deutschland habe vollkommen<br />

abgerüstet und stehe ohne Verteidigung in einer bis zu den Zähnen bewaffneten<br />

Welt. 6 Tolédano schätzt Hitlers rhetorisches Geschick richtig ein und seine Fähigkeit,<br />

die Massen zu beeinflussen. Trotzdem erliegt auch er ein wenig dessen Eloquenz und<br />

neigt dazu, ihm Glauben zu schenken; dennoch weiß er um die starke deutsche Aufrüstung.<br />

Er schwankt zwischen Wunschdenken und Realität. Immerhin zeige sich ja<br />

England versöhnlich in Bezug auf Deutschland, und da solle Frankreich nicht zurückstehen.<br />

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Etwas verbittert bezeichnet Tolédano das Flottenabkommen zwischen England und<br />

Deutschland von Juni 1935 als „vollen Erfolg“ für Hitler. 8 Hitler habe es erreicht, die<br />

deutsche Flotte auf 35% <strong>der</strong> Tonnage <strong>der</strong> britischen Marine aufstocken zu dürfen.<br />

Tolédano ist von England enttäuscht, weil es mit dem Flottenabkommen aus <strong>der</strong> ja<br />

ursprünglich gegen Deutschland gerichteten Stresa-Front ausgebrochen und Frankreich<br />

in den Rücken gefallen ist. Es ist seltsam festzustellen, wie beharrlich Tolédano<br />

1 <strong>Vie</strong> int., 25.4.1935, S. 250; Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> allgemeinen Militärdienstpflicht in Deutschland<br />

und Aufstellung einer Wehrmacht. Damit setzt „Hitler einseitig allen Bestimmungen des Versailler<br />

Vertrags bezüglich <strong>der</strong> deutschen Rüstungsbeschränkungen ein Ende“; in: Bloch, a.a.O., S. 446<br />

2 <strong>Vie</strong> int., 25.4.1935, S. 251<br />

3 a.a.O., S. 252<br />

4 <strong>Vie</strong> int., 10.6.1935, S. 246<br />

5 Bloch, a.a.O., S. 442<br />

6 <strong>Vie</strong> int., 10.6.1935, S. 250<br />

7 a.a.O., S. 251<br />

8 <strong>Vie</strong> int., 25.6.1935, S. 499<br />

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