Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...
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estätigt das freiheitliche Selbstverständnis <strong>der</strong> Zeitschrift. Bei diesem Thema fällt<br />
aber auf, daß auch ein einzelner Autor gespaltener Meinung sein kann, wie das z.B.<br />
bei Robert Pitrou und François Perroux <strong>der</strong> Fall ist. Dem muß bei <strong>der</strong> Analyse des<br />
Deutschlandbildes Rechnung getragen werden.<br />
<strong>Die</strong> Kommentierung <strong>der</strong> Judenverfolgung in Deutschland, wie sie im Kapitel<br />
Rassentheorie dargelegt wurde, ist im Ganzen betrachtet nicht eindringlich genug.<br />
Das Problem wird zwar von Anfang an erfaßt; da braucht es keine Entwicklung <strong>der</strong><br />
Erkenntnis. Wichtige Aspekte <strong>der</strong> Rassenlehre werden von den französischen Autoren<br />
auch aufgegriffen: <strong>Die</strong> Verherrlichung des Nordisch-Germanischen, die Herabwürdigung<br />
des Ostischen, die Reinhaltung <strong>der</strong> arischen Rasse, <strong>der</strong> übertriebene Nationalismus,<br />
die Verfolgung <strong>der</strong> nicht-arischen Min<strong>der</strong>heiten, die Messung von Rassenmerkmalen<br />
und Selektion und Zuchtversuch nach den Regeln <strong>der</strong> Vererbungslehre.<br />
Aber <strong>der</strong> Wissensstand ist - gewollt o<strong>der</strong> nicht gewollt - sehr lückenhaft. Wenn einerseits<br />
so umfangreiche Kenntnisse über Ursprünge, Anwendung und Folgen <strong>der</strong><br />
nat.soz. Rassenlehre bestehen, warum werden dann wichtige Etappen auf dem Weg<br />
<strong>der</strong> Entrechtung und Erniedrigung <strong>der</strong> Juden nicht genannt? Man liest nichts darüber,<br />
daß <strong>der</strong> Antisemitismus in Deutschland eine Geschichte hat, daß er - um zeitlich<br />
nicht zu weit zurückzugreifen - Vorläufer im Wilhelminischen Kaiserreich hat, die<br />
von den Nazis nur noch ausgebaut zu werden brauchten. 1 Deshalb erhält <strong>der</strong> französische<br />
Leser den Eindruck, als sei die Judenverfolgung eine Erfindung <strong>der</strong> Nationalsozialisten.<br />
Des weiteren gibt es keinen Kommentar zu dem so folgenschweren „Gesetz zur<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung des Berufsbeamtentums“, dessen Arierparagraph schon frühzeitig<br />
zum Ausschluß jüdischer Beamter aus dem öffentlichen Leben führte; ebensowenig<br />
zu den anti-jüdischen Hetzkampagnen des „Stürmer“. Warum werden die Nürnberger<br />
Blutschutz- und Reichsbürgergesetze, die solch verheerende Einschränkungen für das<br />
jüdische Leben hatten, nur in einem Nebensatz benannt? Warum wird nicht kontinuierlich<br />
über die zahlreichen Ergänzungsverordnungen, die im Laufe <strong>der</strong> Jahre, von<br />
diesem Gesetz ausgehend, den deutschen Juden alle Lebensmöglichkeiten nehmen,<br />
berichtet? <strong>Die</strong> gegen Ende <strong>der</strong> 30er Jahre beginnende Massendeportation findet keine<br />
Erwähnung, ebensowenig das Attentat Grynspans am Botschaftssekretär von Rath in<br />
Paris, das immerhin die Reichskristallnacht auslöste, ganz zu schweigen von dem im<br />
Oktober 1939 ergangenen Euthanasieprogramm. Von diesen tragischen Eingriffen in<br />
das jüdische Dasein erfährt <strong>der</strong> <strong>Vie</strong> int.-Leser noch nicht einmal etwas dem Namen<br />
nach.<br />
<strong>Vie</strong>le <strong>der</strong> hier aufgeführten Gesetze und Ereignisse waren öffentlich bekannt, und es<br />
gab französische Journalisten und Schriftsteller, die sich in Deutschland aufhielten<br />
und in Frankreich über die deutschen Verhältnisse berichteten. 2 Deshalb liegt <strong>der</strong><br />
Schluß nahe, daß <strong>Vie</strong> intellectuelle zahlreiche Aspekte <strong>der</strong> nat.soz. Rassenpolitik<br />
bewußt ausgespart hat. Sie fällt laut in den Chor <strong>der</strong> Verdammung ein, wie ihn die<br />
1 Vgl. zu den Traditionen <strong>der</strong> Feindbil<strong>der</strong>: Benz, W. u.a. (Hrsg.), a.a.O., S. 50-53<br />
2 Vgl. hierzu Hörling, a.a.O.<br />
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