Die Deutschlandberichterstattung der Vie Intellectuelle (1928 - 1940 ...
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durch Voneinan<strong>der</strong>lernen in <strong>der</strong> Gemeinschaft die Schaffung eines „neuen Menschen“.<br />
Dazu tragen neue sowie tradierte, aber ideologisch umgeformte Unterrichtsinhalte<br />
bei. <strong>Die</strong>se und die hierarchisierte Organisationsform von Schule und Hochschule<br />
werden weiter unten ebenfalls dargestellt.<br />
Ende 1932 entsteht bei <strong>Vie</strong> int. erstmals <strong>der</strong> Eindruck, als beginne <strong>der</strong> Zugriff des<br />
Staates auf die Erziehung <strong>der</strong> Jugendlichen. 1 Den deutsch-katholischen Protest gegen<br />
die „tyrannische Absicht“, die Sportvereine einer Reichsaufsichtsbehörde zu unterstellen,<br />
kritisiert die Zeitschrift zwar als zu schwach, zeigt aber Verständnis für die<br />
aus Furcht vor antikatholischen Regierungsmaßnahmen unterbleibende Opposition. 2<br />
Mitte 1935 ist die „Beschlagnahmung <strong>der</strong> Jugend“ vollzogen. „Ihre Erziehung obliegt<br />
nun allein dem Staat“. 3 Der Leser erfährt, daß die Hitler-Jugend als wichtigstes Erziehungsinstrument<br />
jetzt die konfessionellen Vereinigungen ablöst. <strong>Die</strong>se würden<br />
wegen <strong>der</strong> Trennung in Katholiken und Protestanten gegen den Gemeinschaftsgeist,<br />
<strong>der</strong> das Wesen des Staates sei, verstoßen. 4<br />
<strong>Vie</strong> int. zeigt zwiespältige Bewun<strong>der</strong>ung: „L’éducation totalitaire des Allemands est<br />
donc bien organisée“. Sie würde mit einer „virtuosité incomparable“ durchgeführt,<br />
die sich allerdings auf „propagande“, „terreur“ und „menace“ stütze. Vor den Augen<br />
des Lesers entsteht ein straff organisiertes Deutschland, in dessen Hierarchie je<strong>der</strong><br />
Deutsche von Kindesbeinen an bis zum Greisenalter mit dem Ziel erfaßt wird, den<br />
„neuen Menschen“ zu formen. 5 <strong>Die</strong>s sei „eine gewaltige Aufgabe, trotz <strong>der</strong> unglaublichen<br />
Biegsamkeit <strong>der</strong> Rückgrate“. 6 Mit boshafter Ironie beschreibt Robert Pitrou<br />
die aus seiner Sicht gedankenlos anpassungswillige Haltung <strong>der</strong> Deutschen zu Hitlers<br />
Erziehungstheorie. <strong>Die</strong> Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Funktionen für die<br />
Errichtung einer Volksgemeinschaft und die Erschaffung eines neuen Menschen sei<br />
aber nicht eine Errungenschaft des Dritten Reiches, son<strong>der</strong>n gehe auf Fichte zurück.<br />
Schon dieser hätte erkannt, daß die „menschliche Masse in Deutschland vielleicht<br />
formbarer sei als überall sonst“. 7 Pitrou schlußfolgert, daß die neue Mystik vom Staat<br />
im Grunde den Instinkten <strong>der</strong> deutschen Seele entspricht. 8<br />
Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Androhung des Arbeitsplatzverlustes, wenn Eltern den von<br />
den Nationalsozialisten „zynisch“ als freiwillig deklarierten Beitritt ihrer Kin<strong>der</strong> in<br />
die HJ verweigern, zeichnet <strong>Vie</strong> int. das Bild eines Zwei-Klassen-Deutschland. Das<br />
eine ist „durch Mitgliedschaft privilegiert“, das an<strong>der</strong>e besteht aus „Parias“, die um<br />
ihre Existenz bangen. 9<br />
1 <strong>Vie</strong> int., 10.11.1932, S. 482-484<br />
2 a.a.O., S. 482, 484<br />
3 a.a.O., 25.5.1935, S. 24 und 25.7.-25.8.1936, S. 166<br />
4 a.a.O.,25.5.1935, S. 25 und Febr./März 1936, S. 32<br />
5 a.a.O., 25.7.-25.8.1936, S. 169, 167, 166<br />
6 a.a.O., 25.9.1936, S. 588<br />
7 a.a.O., S. 580<br />
8 Auf diese Vermutung wird weiter unten in diesem Kapitel noch mal eingegangen.<br />
9 a.a.O., 25.5.1935, S. 9-28; 25.7.-25.8.1936, S. 167-168 und 25.9.1936, S. 582, 588<br />
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