Literatur Die Teilbelastung in der o'·thopädisch-traumatologischen ...

222 Die biomcchanischc Ganganalyse als Mittel der Verlaufskontrolle nach Hüfttoralcndoprothesc 223
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Die Teilbelastung
in der o'·thopädisch-traumatologischen
Problemstellung
Th01l1ilS .Iöllenbeck & orbert Olivier l
Rehabilitation
In Deutschland wurden 2004 rund 150.000 Patienten mit einem neuen Hüftgelenk lind
rund 50.000 Patienten mit einem neuen Kniegelenk endoprothetisch versorgt. Bei kaum
einer anderen Operation ist der langfristige Therapieerfolg so entscheidend abhängig von
einer fachgerechten Nachbehandlung wie beim alloplastischen Gelenkersatz. Dazu gehört
auch die konsequente Vermeidung einer starken mechanischen Irritation. Die postoperativen
Belastungsvorgaben der Operareure nach der Implantation einer Hüft- oder Knie-
Totalendoprothese (Hüft- oder Knie-TEp) sind jedoch unterschiedlich (Klinik Lindenplatz
2004: ca. 2.200 TEP-Patienten, 61 % Voilbelastung, 39 % Teilbelastung). Einige Operatcurc
geben eine sofortige volle Belastbarkeit des operierten Beines nach der Operation an,
weil sie z. B. die Hüft-TEP fest und bündig implantiert haben. Bei anderen Prothesenformen
muss erst das Einwachsen der kleinen Knochenbälkchen in die aufgeraute - oder mit
winzigen Fortsätzen ausgestattete Prothese - abgewartet werden, so dass ei ne Vollbolastung
frühestens nach vier bis acht Wochen, mitunter auch erst nach drei Monaten erlaubt
wird. Hiermit soll in erster Linie die Lockerung des künstlichen Gelenkes im Knochenlager
als Hauptproblem der Endoprothesenchirurgie verhindert werden, ebenso Frakturen
bedingt durch zu hohe Kompressionskräfte des Implantates. Die Einhalturig einer Teilbelastung
ist daher in einigen Fällen postoperativ nicht nur sinnvoll, sondern im Hinblick
auf die Verminderung von Komplikationen notwendig und stellt somit ein wesentliches
Sicherheits- und Erfolgskriterium für den Genesungsprozess in der orthopä disch-traumatologischen
Rehabilitation dar.
Die Einstellung der Teilbelastung erfolgt meist statisch mit einer gewöhnlichen analogen
Personenwaage. Eigene seit 200 I durchgeführte Untersuchungen haben jedoch bei fast
allen Patienten eine deutliche Überschreitung der unmittelbar zuvor eingestellten Teilbelastung
gezeigt. (Jöllenbeck & Bauer, 2002; Jöllenbeck & Schönle, 2003). Dieses Ergebnis
wurde inzwischen von anderen Autoren (Hinrichs u. a., 2003, Va sarhelyi u. a.,
2003) im Wesentlichen bestätigt.
Der vorliegende Beitrag befasst sich daher mit der Analyse der Belastungssituation beim
Gang mit Gehstützen sowohl in der Ebene wie auch beim Gang treppauf oder treppab so-
An den vorgestellten Untersuchungen waren neben den Autoren beteiligt: C. Lassen,
A. Erlmann, T. Hölzchen, D. Krause, G. Krug, M. Mull und M. Wünuemann
Pravention und Rehabilitation - Symposiumsbericlu Prävention lind Rehabilitation - Symposiumsbericht

224 Die Teilbelastung in der orthopiiclisch-traumatologischen Rehabilitation
Die Teilbelastung in der orthopädisch-unumatologischen Rehabilitation 225
wie mit der Suche nach einer geeigneten Trainingsmethode zur Si~~erstcllung des Einhaltens
einer vorgegebenen Teilbelastung.
2 Ist-Analyse
In der ersten von zwei Studien zur Untersuchung der Belastungssituation nach KJ1ie- oder
Hüft-TEP nahmen 253Patienten (113m, 61,8±10,01., 90,3±12,2kg / 140w,
58,1 ±9,2 J., 79,6 ±14,8 kg) nach therapeutischer Einstellung, Überprüfung und Gewöhnung
an die Teilbelastung und den Gang mit Gehstützen an einer dynamometrischen
Ganganalyse teil. Hierzu wurden eine Gangbahn mit zwei Kraftrnessplatten (Kistler) sowie
Gehstützen mit integrierten Kraflaufnehmern (Biovision) eingesetzt. Die Patienten
wurden gebeten, je nach Vermögen bis zu I O-ma I über die Gangbahn zu gehen.
In der zweiten Studie nahmen 30 Patienten (14 1l1, 61,5 ± 4,9 1., 90,6 ±
11,9 kg / 16 w, 59,6 ± 8,8 1., 80,3 ± 12,6 kg) an einer mobilen Teilbelastungsmessung
teil. Hierbei kamen Fussdruckmesssohlen (Novel, pedarX) zur Ermittlung der vertikalen
Bodenreaktionskräfte sowie Gehstützen mit integrierten Kraftaufnehmern (Biovision) zum
Einsatz. Die mit einem Rucksack zur Aufnahme der Messtechnik versehenen Patienten
wurden' gebeten, nach einer kurzen ebenen Strecke eine Treppe mit insgesamt 18 Stufen
zunächst abwärts und nach einer längeren ebenen Gehstrecke über einen Flur, durch eine
Sporthalle hin und zurück sowie zurück durch einen Flur wieder aufwärts zu bewältigen.
Während des Ganges über den Flur wurden die Patienten durch den Versuchsleiter zudem
zur Ablenkung in ein intensives Gespräch verwickelt. Anschließend wurde auf einer
Gangbahn (s.o.) mit Hilfe der Kraftmessplatten ein Abgleich der Fussdruekmesssohlen
vorgenommen.
Im Mittel wird die vorgegebene Teilbelastung/ von 24,5 kg/26,6 kg' um 25,7 kg/27,8 kg,
also um mehr als das Doppelte (bzw. 125,4 %/l27,5 % der erlaubten Belastung) überschritten,
die Patienten belasteten im Mittel mit 50,3 kg/54,5 kg. Die Gehstützenkräfte
betragen im Mittel links 22,8 kg/23,8 kg bzw. rechts 21,9 kg/23,4 kg. Insgesamt wird die
vorgegebene Teilbelastung in 88,5 %/91,1 % der Fälle überschritten, in 50,2 %/60,0 % der
Fälle sogar um mehr als das Doppelte. Bei niedrigen Vorgaben der Teilbelastung zeigen
sich die größten Überlastungen, sowohl absolut als auch relativ. Bei einer Vorgabe von
15-20 kg (größte Patientengruppe mit N = 132/N =1 6) tritt eine mittlere Überlastungen
von 25,9 kg bzw. 132 % auf.
Bei Studie 2 unterscheidet sich die Überlastung beim Gang über den Flur (28,2 leg bzw.
129 %) nicht signifikant von der beim Gang durch die Sporthalle (27,1 leg bzw. 124 %)
Angaben entsprechend der ärztlichen Vorgabe in [kg] statt physikatisch korrekt in lNJ
) Wert i/Wert 2 entsprechend dem Ergebnis VOll Studie I/Studie 2
und beim Gang treppab (26,0 kg bzw. 122 %). Die Überlastung beim Gang treppauf dagegen
fallt mit 38,2 kg bzw. 173 % signifikant höher aus als unter den anderen Bedingungen.
Es finden sich bei der Überlastung keine relevanten signifikanten Unterschiede zwischen
Geschlecht, Primärdiagno. e und Teilbelastungsseite. Bedingt durch das signifikant höhere
Gewicht belasten Männer das operierte Bein zwar signifikant höher, üben aber auch
höhere Kräfte auf die Gehstützen aus. Die Überlastung steigt signifikant und unabhängig
voneinander mit zunehmendem Alter und mit zunehmendem Gewicht der Patienten an. Im
Gegenzug nimmt die Gehstützenkraft mit zunehmendem Alter signifikant ab. Auch wenn
mit zunehmendem Gewicht die eingesetzte Gehstützenkraft signifikant höher ausfallt,
kann dies den Effekt der Überlastung bei weitem nicht kompensieren. Dic eingesetzte
Gehstützenkraft auf der operierten Körperseite ist signifikant kleiner als auf der Gegenseite.
Während der Gang treppab ähnliche Überlastungen wie der Gang in der Ebene aufweist,
liegt beim Gang treppauf ein nochmals deutlich erhöhtes Gefahrdungspotential für
die Patienten vor. Es ist zu vermuten, dass Patienten durch den deutlich gewinkelten Aufsatz
der Gehstüzcn nicht genügend Entlastung in vertikaler Richtung herbeiführen können.
Besonders bedenklich ist, dass der Gang treppauf aus therapeutischer Sicht als einfacher
angesehen und zuerst vermittelt wird.
In Studie I scheint dem Timing zwischen operiertem Bein und Gehstützen. d. h. der Zeitdifferenz
zwischen Fußaufsatz und Gehstützenaufsatz zu Beginn wie zwischen Fußabdruck
und Gehstützenabdruck am Ende eines Schrittes, besondere Bedeutung zuzukommen.
Der Gehstützenaufsatz erfolgt erst 52 ms nach dem Fußaufsatz. das Hochnehmen
der Gehstützen hingegen bereits 83 ms vor dem Fußabdruck. Die effektive Belastung
ebenso wie die Überschreitung der Teilbelastung steigt signifikant mit diesen zeitlichen
Differenzen beim Bodenkontakt zwischen operiertem Bein und Gehstützen. Dieser Zusammenhang
konnte in Studie 2 nicht gefunden werden. Als mögliche Erklärung kommt
in Betracht, dass unsere Patienten aufgrund der Ergebnisse von Studie von therapeutischer
Seite auf den Gehstützeneinsatz hingewiesen werden sollen. Dass sich jedoch gleichzeitig
die Überlastungen in beiden Studien nicht voneinander unterscheiden lässt vermuten, dass
der Einfluss der zeitlichen Parameter des Gehstützeneinsatzes beim Gang in der Ebene
(Jöllenbeck & Schönle, 2005) überschätzt wird.
Insgesamt kommen als mögliche Ursachen für die erheblichen Überlastungen motorischkoordinative
Defizite ebenso wie zu geringe Kräfte in Oberarm-Schulter-Rumpf-Bereich
in Betracht. Versuche zur Abhilfe mit verlängerten Gehstützen haben nur kurzfristig eine
Reduzierung erbracht, bevor elie Patienten wieder in ihre alten Belastungsmuster zurückfielen.
Audio-iaktile Messsohlen (Belamed, Medilogic) fanden wegen der als störend empfundenen
Signale keine Akzeptanz und ein auf das Zentrum der Ferse begrenzter mechanischer
Belastungstrainer (Sicuro) hat sich wegen der zu kleinen belastungssensiblen Zone
als unzureichend
herausgestellt.
Prävention und Rehabilitation - Symposiumsbericht
Prävention lind Rehabilitation= Symposiumsbericht

226 Die Teilbelastung in der orthopädisch-traumatelogischen Rehabilitation
Die Teilbelastung in eier orthopäelisch-trau1l1atologischen Rehabilitation 227
Die in der Folge vorgestellten experimentellen Untersuchungen wenq.en sich diesem Missstand
zu und wollen anhand eines Messplatztrainings neue Möglichkeiten zur Einhaltung
der vorgegebenen Teilbelastung vorstellen.
Die Interaktion zwischen der Videoinstruktion und elen drei Messzeitpunkten wird statistisch
nicht bedeutsam (Manova; FI,4; 30,5 (G.-G.-Korr.) = 0,15; P = .780; 11 2 = .01).
3 Zwei experimentelle Untersuchungen
250
3.1 Videoinstruktion und biomechanisches Messplatz- Training
200
Ziel der ersten Untersuchung war es zu überprüfen, wie sich verschiedene Videoinstruktionen
in Kombination mit einem biornechanischen Messplatztraining auf das Gehen an
Unterarmgehstützen auswirken und ob mit diesem Verfahren eine gute Einstellung auf
eine vorgegebene Teilbelastung erreicht werden kann.
~
ẉ .:
150
100
50
I
-+-- synchron
- - .• - - - asynchron
I
3.1.1 Methode
24 physisch nicht beeinträchtigte Versuchspersonen im Alter von 19-27 Jahren, ohne Vorerfahrung
mit Gehstützen, wurden zufällig in zwei gleichgroße Versuchsgruppen synchron
(I) und asynchron (2) eingeteilt. Die Vpn sahen eins von zwei Instruktionsvideos mit
Zeitlupen, Standbildern und Aufmerksamkeitslenkurigen. Video (1) betonte die Gleichzeitigkeit
von Gehstützen- und Fußaufsatz. Video (2) instruierte, die Gehstützen eher als
den Fuß auf den Boden aufzusetzen und erst später wieder abzuheben. Im Anschluss
wurde die gesehene Technik zebnmal geübt. Dieser Instruktionsblock wurde zweimal
durchgeführt. Das anschließende Messplatztraining bestand aus 20 Aneignungsversuchen.
Den Vpn wurde bei 50 % der Aneignungsversucbe Knowledge of Results (KR) über die
maximale vertikale Bodenreaktionskraft (Fzmax) gegeben. Dabei wurde die
KR-Häufigkeit während der Aneignungsphase reduziert (Fading). Nach einer zehnminütigen
Pause wurde mit drei Versuchen ohne Feedback die Behaltensleistung überprüft.
3.1.2 Ergebnisse
Um kombinierte Aneignungs- und Behaltenseffekte der Video-Instruktionen und des
Messplatztrainings zu prüfen, wurden die Mittelwerte des Absoluten Fehlers (AE) der
ersten drei Schritte (Ausgangsleistung, AE1) und der letzten drei Schritte der Übungsphase
(Aneignungsleistung, AE2) sowie der drei 3 Schritte nach der Pause (Behaltensleistung,
AE3) herangezogen (s. Abb.l).
Unabhängig von der Videoinstruktion verringert sich der AE von AEI über AE2 bis zu
AE3 hochsigniftkant (Manova; Haupteffekt Messzeitpunkt; Fl,4; 30,5 (G.-G.- Korr.) =
14,11; p< .00 1; 11 2 = .39). Die Art der Videoinstruktion. (I) oder (2), hat keinen Einfluss
auf die Reduktion des AE (Manova; Haupteffekt Video; F 1; 22 = 2,18; p = .154; 11 2 = .09).
AE1
A bb. 1: Verlauf des absoluten Fehlers in Bezug auf den So!lwert von 200 N
3.2 Kontext-Interferenz
AE2
Die Teilbelastung nach Hüft- oder Knieendoprotbesenimplantation muss bei verschiedenen
Alltagsbewegungen eingehalten werden. Befunde der Motorikforschung zeigen, dass
häufiger Aufgabenwechsel gegenüber geblocktem Üben zwar zu Leistungseinbußen während
des Übens führt aber Vorteile in Retentions- und Transfertests zeigt (Shea & Morgan,
1979; Im Überblick: Wiemeyer, 1998). In einer anwendungsorientierten Untersuchung
wurde hinterfragt, ob beim Vergleich von seriellem Üben und Prozeduren mit unterschiedlichen
Blocklängen, häufigere Aufgabenwechsel durch Kontext-Interferenz-Effekte
zu besseren Lernleistungen führen und ob Transfereffekte zwischen Alltagsbewegungen
wie dem Gehen und dem Treppesteigen auftreten.
3.2.1 Methode
Die physisch nicht beeinträchtigten Versuchspersonen (N = 64; A.M = 43,6 ± 13,2 Jahre)
wurden nach der am Körpergewicht relativierten Armstützkraft, Älter und Gewicht parallelisiert
auf vier Versuchsgruppen (VGn) verteilt. Geübt wurden die Übungsaufgaben
Gehen und Treppe ab auf einer dynamometrisch ausgestatteten Gangbahn mit der Vorgabe,
das rechte Bein mit 200 N zu belasten. Transferleistungen wurden anhand der Aufgabe
Treppe auf ermittelt. Die Aufgaben sind verschiedenen Generalisierten Motorischen
AE3
Prävention und Rehabilitation - Symposiumsbericht
Prävention und Rehabilitation - Symposiumsbericht

228 Die Teilbelastung in der orthopädisch-trautnatologischen Rehabilitation
Programmen zuzuordnen. Zentrale abhängige Variable war der absolute Fehler (AE) als
Differenz der maximalen vertikalen Bodenreaktionskraft (Fzrnax) von der Vorgabe 200 N.
Nach Videoinstruktionen zu den Bewegungsaufgaben wurden die 2 Übungsaufgaben in 2
Aneignungsphasen a 28 Versuchen mit KR zu Fzrnax und 50 %-Fading geübt. Die 2.
Übungseinheit folgte mit einem zeitlichen Abstand von 24-48 Stunden. Die Aufgaben
wurden je nach Gruppe seriell (VG SE), nach jedem 7. (VG BL 7), 14. (VG BL 14) oder
28. Versuch (VG BL 28) gewechselt (siehe Abb. 2).
Einheit 3
Aneignungsphase 2
MZP MZP I
I
3 28 Versuche mit 50 4
.,
%KR
I
GTGTGTGTG
T ...
OI)
~
0
7xG 7xT 7xG §
oB ~
7xT
eo

230 Die Teilbelastung in der orthopädisch-traumatelogischen Rehabilitation
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