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„Hören mit dem dritten Ohr“ - Deutsches Ärzteblatt

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THEMEN DER ZEIT<br />

THEODOR REIK<br />

<strong>„Hören</strong> <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> <strong>dritten</strong> <strong>Ohr“</strong><br />

Vor 125 Jahren wurde der Psychologe und Psychoanalytiker Theodor Reik geboren.<br />

Theodor Reik hat etwa 50<br />

Bücher über Psychologie und<br />

Psychoanalyse veröffentlicht. Er<br />

schreibt gut leserlich und enthält<br />

sich weitgehend einer Fachterminologie,<br />

die Wissen vortäuscht, wo<br />

viel noch unerforscht und unbekannt<br />

ist.<br />

Am 12. Mai 1888 wird Theodor<br />

Reik in Wien geboren. In seiner Autobiografie<br />

(1949) ordnet er seine<br />

Familie <strong>dem</strong> Kleinbürgertum zu.<br />

Der Vater stirbt, als Reik das Gymnasium<br />

abschließt, die Mutter vier<br />

Jahre später. Im gleichen Jahr,<br />

1910, stößt Reik auf Sigmund<br />

Freuds „Traumdeutung“. Das Werk<br />

beeindruckt ihn tief, und er sucht<br />

Freud persönlich auf. Zu dieser Zeit<br />

studiert er an der Wiener Universität<br />

Philosophie, Literatur und Psychologie.<br />

Reik wird Schüler Freuds<br />

und nimmt regelmäßig an den Treffen<br />

der „Mittwochsgesellschaft“<br />

und der „Wiener Psychoanalytischen<br />

Vereinigung“ teil. 1912 promoviert<br />

er <strong>mit</strong> der ersten Doktorarbeit<br />

über ein psychoanalytisches<br />

Thema: „Flaubert und seine ,Versuchung<br />

des heiligen Antonius‘: ein<br />

Beitrag zur Künstlerpsychologie“.<br />

Da<strong>mit</strong> stellt er sich gegen die<br />

damals gängigen psychologischen<br />

Schulen, deren Vertreter einen psychoanalytischen<br />

Zugang überwiegend<br />

ablehnen. Weitere Beiträge<br />

zur Künstlerpsychologie folgen, etwa<br />

„Dichtung und Psychoanalyse“<br />

und „Arthur Schnitzler als Psychologe“.<br />

Reiks Schrift „Über die Pubertätsriten<br />

der Wilden“ wird als<br />

beste Arbeit im Bereich angewandter<br />

Psychoanalyse ausgezeichnet.<br />

Freud rät Reik, auf ein Medizinstudium<br />

zu verzichten und sich stattdessen<br />

eingehend <strong>mit</strong> der Psychoanalyse<br />

zu beschäftigen. Im Ersten<br />

Weltkrieg ist Reik Soldat in der österreichischen<br />

Armee. Er heiratet<br />

Ella Oratsch und absolviert bei Karl<br />

Abraham in Berlin eine Lehrana -<br />

lyse. Freud unterstützt Reik und<br />

sendet ihm monatlich 200 Mark,<br />

die Analyse bei Abraham ist kostenfrei.<br />

Als Nichtmediziner kann Reik<br />

„Was das psychologische Rohmaterial analytischer Erkenntnis<br />

anlangt, enthält etwa ein Band Schopenhauer und Nietzsche<br />

Wesentlicheres und Wertvolleres als die gesamte<br />

medizinische Literatur von Galenus bis Kraepelin. “<br />

Theodor Reik<br />

Foto: NLM<br />

zunächst nicht psychotherapeutisch<br />

arbeiten. Doch ab den 1920er<br />

Jahren unterrichtet er am Berliner<br />

Institut für Psychoanalyse. 1923<br />

kehrt er nach Wien zurück und arbeitet<br />

als Psychoanalytiker. Das<br />

fehlende Medizinstudium erweist<br />

sich jetzt als Problem: 1926 wird<br />

Reik angeklagt, weil er Psychoanalyse<br />

praktiziert, obwohl er nicht<br />

Arzt ist.<br />

Die juristische Auseinandersetzung<br />

führt dazu, dass Freud seine<br />

Argumente für die Laienanalyse in<br />

einer Schrift zusammenfasst. Hier<br />

hebt er die wertvollen Beiträge nichtärztlicher<br />

Mitarbeiter hervor und<br />

sieht in einer Beschränkung der<br />

Analyse auf die medizinische Sphäre<br />

eine „verhängnisvolle Verarmung“.<br />

Doch Freud besteht darauf, dass ein<br />

Patient vor der Behandlung durch<br />

einen nichtärztlichen Analytiker von<br />

einem Arzt untersucht werden müsse.<br />

Reik formuliert schärfer: „Was<br />

das psychologische Rohmaterial<br />

analytischer Erkenntnis anlangt, enthält<br />

etwa ein Band Schopenhauer<br />

und Nietzsche Wesentlicheres und<br />

Wertvolleres als die gesamte medi -<br />

zinische Literatur von Galenus bis<br />

Kraepelin. Was die Methode anlangt,<br />

steht bei aller entscheidenden<br />

Differenz die Beichte der Kirche der<br />

Analyse näher als die klinische<br />

Anamnese, wie sie vor dreißig Jahren<br />

aufgenommen wurde.“ (1926)<br />

Einem größeren Publikum wird<br />

Reik durch seine Arbeit „Geständniszwang<br />

und Strafbedürfnis“ (1925)<br />

bekannt. Bereits 1915 hatte Freud<br />

in seinem Aufsatz „Verbrecher aus<br />

Schuldbewusstsein“ konstatiert, eine<br />

Tat werde begangen, weil und<br />

nicht obwohl sie verboten und <strong>mit</strong><br />

Strafe bedroht sei. Demnach leiden<br />

Verbrecher vor der Tat unter einem<br />

drückenden Schuldgefühl, <strong>dem</strong> sie<br />

durch die Tat einen Inhalt geben.<br />

Das Schuldbewusstsein geht also<br />

der Tat voraus, nicht die Tat <strong>dem</strong><br />

Schuldbewusstsein. Reik leitet dar -<br />

aus eine verallgemeinernde Theorie<br />

des Verbrechens ab. Ihr liegt<br />

die Annahme zugrunde, dass verdrängte<br />

Inhalte trotz starker Abwehrmaßnahmen<br />

mehr oder weniger<br />

verschlüsselt ins Bewusstsein<br />

drängen und nach Ausdruck verlangen.<br />

Freud kommentierte diese Beobachtung<br />

<strong>mit</strong> der Sentenz, kein<br />

Mensch könne ein Geheimnis bewahren.<br />

Reik definiert „Geständnis“<br />

über die Bedeutung in der juristischen<br />

Fachsprache hinaus als<br />

„Aussage über eine Triebregung,<br />

die als verboten gefühlt oder erkannt<br />

wird“. Demnach ist das Ge-<br />

264 <strong>Deutsches</strong> <strong>Ärzteblatt</strong> | PP | Heft 6 | Juni 2013


THEMEN DER ZEIT<br />

ständnis wie ein neurotisches Sym -<br />

ptom ein Kompromiss zwischen<br />

Triebregung und Verbot. Im Geständniszwang<br />

findet man nach Reik<br />

„ein Stück Strafbedürfnis (. . . ) eine<br />

partielle Befriedigung (. . .); es handelt<br />

sich um eine partielle Befriedigung<br />

des auf die verpönten Wünsche<br />

reagierenden Schuldgefühles“.<br />

Die Energie dieses Geständniszwangs<br />

speise sich aus drei Quellen:<br />

aus <strong>dem</strong> Drang der verpönten<br />

Triebregung, aus der Abwehr der<br />

Triebregung und aus der Verstärkung<br />

der Triebregung durch Verdrängung.<br />

Im Geständnis zeigt sich<br />

die soziale Natur des Menschen,<br />

sein Wunsch, Teil einer Gemeinschaft<br />

zu sein.<br />

Kriminalität als „sozialer<br />

Anpassungsdefekt“<br />

Reik geht so weit, der Gesellschaft<br />

eine „unbewusste Identifizierung<br />

<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Verbrecher“ zu unterstellen.<br />

Da<strong>mit</strong> befriedige die Strafe<br />

auch das Strafbedürfnis der Gesellschaft.<br />

1929 veröffentlichen Franz<br />

Alexander und der Jurist Hugo<br />

Staub „Der Verbrecher und seine<br />

Richter. Ein psychoanalytischer<br />

Einblick in die Welt der Paragrafen“.<br />

Sie sehen Neurose und Kriminalität<br />

als „soziale Anpassungsdefekte“,<br />

die sich nicht qualitativ, sondern<br />

quantitativ voneinander unterscheiden:<br />

„Was der Neurotische in<br />

(. . .) harmlosen Symptomen symbolisch<br />

zur Darstellung bringt, führt<br />

der Kriminelle in realen Handlungen<br />

aus.“ Dabei geht es den Autoren<br />

nicht darum, alles zu entschuldigen.<br />

Sie wollen die Strafjustiz<br />

nicht abschaffen, sondern setzen<br />

sich für ihre Humanisierung ein.<br />

Zu<strong>dem</strong> weisen sie darauf hin, dass<br />

die übliche Bestrafungspraxis niemanden<br />

bessern könne. Die Hoffnung<br />

der Analytiker auf eine grundlegende<br />

Veränderung von kriminologischer<br />

Theorie und Praxis erfüllt<br />

sich jedoch nicht.<br />

Freud hatte in seinen „Drei<br />

Abhandlungen zur Sexualtheorie“<br />

(1905) den inneren Zusammenhang<br />

zwischen Sadismus und Masochismus<br />

hervorgehoben. Mit der Erklärung<br />

des Masochismus als blockierter<br />

und fehlgeleiteter Aggressionstrieb<br />

mag Reik sich nicht zufriedengeben<br />

und widmet <strong>dem</strong> Problem<br />

eins seiner Hauptwerke („Masochism<br />

in Modern Man“ 1940,<br />

deutsch 1977). Hier sucht er zu belegen,<br />

dass Leiden, Schmerz und<br />

Demütigung nicht Hauptziel, sondern<br />

Umwege zu Selbstbehauptung<br />

und Machterweiterung seien. Dabei<br />

versteht Reik unter „suspense“, dass<br />

masochistisch gestörte Menschen<br />

lange in der ängstlichen Spannung<br />

zwischen Angst und Lust verweilen,<br />

und die „Vorlust“ der „Endlust“, das<br />

heißt der Hingabe an einen Partner,<br />

vorziehen. Karen Horney zufolge<br />

verfolgen diese Menschen das Ziel,<br />

die eigene Persönlichkeit aufzugeben<br />

und ihr Ich im anderen zu verlieren.<br />

Reik vertritt das Gegenteil:<br />

„Der Masochist ist ein Revolutionär<br />

in der Selbstaufgabe. Das Lammfell,<br />

das er trägt, verbirgt einen Wolf. Die<br />

Nachgiebigkeit schließt den Trotz<br />

ein, die Gefügigkeit die Widerborstigkeit.<br />

Unter der Sanftmut ist Härte,<br />

unter der Unterwürfigkeit Aufruhr<br />

verborgen.“ Mit der Sentenz „Sieg<br />

durch Niederlage“ bringt Reik masochistische<br />

Umwege in eine einprägsame<br />

Formel.<br />

Der aufkommende Faschismus<br />

in Österreich veranlasst Reik, zunächst<br />

in die Niederlande und<br />

1938 in die USA zu emigrieren.<br />

Hier hat er als Nichtmediziner anfangs<br />

erhebliche Schwierigkeiten,<br />

weil die US-amerikanische psychoanalytische<br />

Gesellschaft Freuds Haltung<br />

zur Laienanalyse nicht teilt,<br />

laut Reik eine der „bittersten Erfahrungen“<br />

seines Lebens. Doch er<br />

praktiziert und publiziert weiter,<br />

seine Bücher werden positiv aufgenommen.<br />

In <strong>„Hören</strong> <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />

<strong>dritten</strong> <strong>Ohr“</strong> fasst Reik 1948 seine<br />

Erfahrungen als Analytiker zusammen<br />

– eine Mischung aus Anek -<br />

dotischem, Fallbeispielen und anschaulich<br />

ver<strong>mit</strong>telter Theorie. <strong>„Hören</strong><br />

<strong>mit</strong> <strong>dem</strong> <strong>dritten</strong> <strong>Ohr“</strong> – der<br />

Ausdruck stammt von Friedrich<br />

Nietzsche – bedeutet zu hören, was<br />

Worte nicht sagen. Zu<strong>dem</strong> hört der<br />

Analytiker nicht nur, „was der Patient<br />

spricht, sondern auch (. . .),<br />

was aus seinen eigenen unbewussten<br />

Tiefen auftaucht. (. . .) In der<br />

Psychoanalyse sind nicht die Worte<br />

das Wichtigste. Es erscheint uns<br />

wichtiger, zu erkennen, was das<br />

Sprechen verbirgt und was das<br />

Schweigen offenbart“.<br />

In der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“<br />

des Analytikers sieht<br />

Reik das „notwendige Gegenstück<br />

zu der Forderung <strong>dem</strong> Patienten gegenüber,<br />

alles zu sagen, was ihm in<br />

den Kopf kommt, ohne Überlegung<br />

und Auswahl“. Im Unterschied zur<br />

willentlichen, vor allem intellektuellen<br />

Aufmerksamkeit verfolgt gleichschwebende<br />

Aufmerksamkeit nicht<br />

das Ziel, sofort zu verstehen und einzuordnen.<br />

Reik zufolge führt dieses<br />

Zurückziehen der Aufmerksamkeit<br />

nicht zu Unaufmerksamkeit, sondern<br />

zur Bereitschaft, „eine Fülle<br />

von Reizen aufzunehmen, die aus<br />

<strong>dem</strong> Unbewussten oder Unbekannten<br />

auftauchen“. Reik plädiert dafür,<br />

sich für die Analyse Zeit zu nehmen,<br />

eine „atemlose Jagd nach Deutungen“<br />

lehnt er ab.<br />

Selbstkritik und intellektuelle<br />

Redlichkeit unverzichtbar<br />

Gerade im Namen der Wissenschaft<br />

weist Reik den Schein methodischer<br />

Exaktheit und die Behauptung<br />

zurück, die Psychoanalyse sei<br />

in ein festes System einzuordnen:<br />

„Die Analyse gehorcht <strong>dem</strong> Gesetz,<br />

durch das sie sich entfaltet. Aber ihre<br />

Ordnung ist bestimmt durch die<br />

wechselseitige Aktion des Unbewussten.“<br />

Eine Gefahr erwächst der<br />

Analyse laut Reik aus den Deutungstechniken,<br />

die Wilhelm Stekel<br />

propagiert. Hier werde alles den<br />

Ideen überlassen, die <strong>dem</strong> Analytiker<br />

einfallen, <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Ergebnis,<br />

„dass der Analytiker <strong>dem</strong> Patienten<br />

die Idee, die ihm einfällt, eher aufzwingt<br />

als <strong>mit</strong>teilt (. . .), keinem Filter<br />

der Selbstkritik oder Überprüfung<br />

unterworfen“.<br />

Theodor Reik indes hielt Selbstkritik<br />

und intellektuelle Redlichkeit,<br />

die auch den „Mut zum Nichtverstehen“<br />

einschließt, für unverzichtbar.<br />

Am 31. Dezember 1969 ist<br />

er in New York gestorben. ▄<br />

Christof God<strong>dem</strong>eier<br />

LITERATUR<br />

1. Klippert U: Theodor Reik: Leben und Werk.<br />

Mainz 1974.<br />

2. Moser T (Hrsg.): Psychoanalyse und Justiz.<br />

Frankfurt am Main 1971.<br />

3. Rattner J: Theodor Reik, in: Klassiker der<br />

Tiefenpsychologie. München 1990.<br />

<strong>Deutsches</strong> <strong>Ärzteblatt</strong> | PP | Heft 6 | Juni 2013 265

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