Entwicklungspsychologie der Lebensspanne : Theoretische Leitsätze
Entwicklungspsychologie der Lebensspanne : Theoretische Leitsätze
Entwicklungspsychologie der Lebensspanne : Theoretische Leitsätze
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Psychologische Rundschau, 1990<br />
41, 1 - 24<br />
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I<br />
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2 Paul B. Baltes<br />
daß die in <strong>der</strong> <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong><br />
erarbeiteten Konzepte auch in an<strong>der</strong>en Forschungssrrängen<br />
<strong>der</strong> <strong>Entwicklungspsychologie</strong> eine gewisse Entsprechung<br />
finden (Hetherington, Lerner & Perlmutter, 1988; Oener &<br />
Montada, 1987; Scarr, 1986). Allerdings unterscheiden sich<br />
die theoretischen <strong>Leitsätze</strong> einer Life -span-Psychologie von<br />
solchen Ansätzen durch die Ausgeprägtheit und die<br />
kohärente An <strong>der</strong> Argumentation.<br />
Über die bisher in <strong>der</strong> Life -span-Literatur vorzufindenden<br />
Thesen hinaus werden in dem vorliegenden<br />
Aufsatz zwei weitere thesen ähnliche Überlegungen<br />
vorgestellt, die aus dem theoretischen Rahmen <strong>der</strong><br />
<strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive abgeleitet wurden. Zum einen<br />
handelt es sich um die Auffassung, daß sich je<strong>der</strong><br />
Entwicklungsprozeß durch ein dynami sches Wechselspiel<br />
zwischen Wachstum und Abbau kennzeichnen läßt.<br />
Dementsprechend ist das Wesen jedes<br />
Entwicklungsprozesses nicht allein in seinen Merkmalen<br />
des Wachstums o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Progression darzustellen. Zum<br />
an<strong>der</strong>n wird <strong>der</strong> Standpunkt dargelegt, daß sich das<br />
Ausmaß <strong>der</strong> möglichen Plastizität in <strong>der</strong> intellektuellen<br />
Entwicklung am besten durch eine Strategie des Austestens<br />
<strong>der</strong> Verhaltenso<strong>der</strong> Leistungsgrenzen (" testing-thelimits")<br />
bestimmen läßt.<br />
Was bedeutet Entwicklung<br />
über die <strong>Lebensspanne</strong> ?<br />
In <strong>der</strong> Life-span-Psychologie wird angenommen, daß sich<br />
ontogenetische Prozesse von <strong>der</strong> Empfängnis bis zum Tod,<br />
also über den gesamten Lebenslauf hinweg, erstrecken.<br />
Ontogenese wird als lebenslanger Prozeß betrachtet. Die<br />
Beschreibung, Erklärung und Modifikation (Optimierung)<br />
solcher ontogenetischer Prozesse, auch in ihren<br />
interindividuellen Ähnlichkeiten und<br />
Verschiedenanigkeiten, ist das Ziel einer<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> (Baltes, Reese<br />
& Nesselroade, 1977).1<br />
1 In diesem Beitrag werden die Begriffe <strong>Lebensspanne</strong> und<br />
Lebenslauf synonym verwendet. Seit dem Beginn <strong>der</strong> West-Virginia-<br />
Konferenz-Serie (Goulet & Baltes, 1970), bevorzugen vor allem<br />
anglo-amerikanischen Psychologen den Begriff "LebenHPanne "<br />
(vgl. allerdings Bühler, 1933), während Soziologen hauptsächlich den<br />
Begriff "Lebenslauf" verwenden. Der Autor sieht allerdings auch<br />
eine inhaltliche Unterscheidung in den beiden Begriffen. In seinen<br />
Arbeiten definiert er die Leuenslaufpsychologie (wegen ihrer<br />
Konzentration auf die biographische Gesamtheit) als ein Untergebiet<br />
<strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>npsycholugie. lebcnsspalllle iSl also <strong>der</strong><br />
übergeordnete Begriff.<br />
Vor allem in <strong>der</strong> anglo-amerikanischen Psychologie ist<br />
die Annahme weit verbreitet, daß <strong>der</strong> Schwerpunkt <strong>der</strong><br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> von Anfang an auf <strong>der</strong> Kindheit<br />
und nicht auf <strong>der</strong> gesamten <strong>Lebensspanne</strong> lag. Eine Reihe<br />
historischer Literaturübersichten zeigt jedoch, daß eine<br />
solche Generalisierung wichtige Ausnahmen<br />
unberücksichtigt läßt (Baltes, 1983; Groffmann, 1970;<br />
Reinert, 1979). So sind mit den bedeutenden historischen<br />
Vorläufern einer wis senschaftlichen<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> die Arbeiten von Tetms (1777),<br />
Carus (1808) und Quetelet (1835) eng verbunden, und diese<br />
Arbeiten waren im wesentlichen auf die gesamte<br />
<strong>Lebensspanne</strong> und nicht nur auf den Zeitraum <strong>der</strong> Kindheit<br />
bezogen. Eine auf die lebenslange Entwicklung gerichtete<br />
empirische Forschung setzte jedoch erst vor etwa zwei<br />
Jahrzehnten in <strong>der</strong> Nachfolge von Psychologen wie<br />
Charlotte Bühler (1933), Erik H. Erikson (1959), G. Stanley<br />
Hall (1922), H. L. Hollingworth (1927) und Carl G. Jung<br />
(1933) ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich in<br />
Deutschland vor allem die Forschergruppe um Hans<br />
Thomae um die Entfaltung einer Entwickungspsychologie<br />
<strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> verdient gemacht. Wahrscheinlich hat<br />
diese mit dem Wirken von Thomae (und seiner Schülerin<br />
Ursula Lehr) verbundene sogenannte "Bonner" Schule<br />
verhin<strong>der</strong>t, daß sich <strong>der</strong> internationale Trend einer vor allem<br />
auf das Kindes- und Jugendalter bezogenen <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
im deutschsprachigen Raum durchgesetzt<br />
hat.<br />
Drei Sachverhalte scheinen für das steigende Interesse<br />
an <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive in jüngster Zeit<br />
beson<strong>der</strong>s relevant zu sein: (1) demographische<br />
Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> BevölkerungsstfuktUf, die einen<br />
erhöhten Anteil älterer Personen bedeuten; (2) die<br />
gegenwärtige Entwicklung <strong>der</strong> Gerontologie in Richtung<br />
auf eine Forschung, die nach den frühen Anzeichen des<br />
Alterns im Lebenslauf sucht (Birren & Schaie, 1985; Lehr<br />
& Thomae,1987); und schließlich (3) das "Altern" von<br />
Untersuchungspersonen und Forschern, die an klassischen,<br />
in den zwanziger und dreißiger Jahren begonnenen<br />
Längsschnitt-Studien zur Entwicklung im Kindesalter<br />
beteiligt waren.<br />
Weitere Impulse und Begründungen für eine Life -span-<br />
Perspektive <strong>der</strong> Ontogenese stammen auch aus an<strong>der</strong>en<br />
Disziplinen. Insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> Soziologie wird dem<br />
Studium des Lebenslaufs und dem aus verschiedenen<br />
Altersgruppen und Generationen verflochtenen sozialen<br />
Netzwerk ebensoviel Aufmerksamkeit gewidmet wie in <strong>der</strong><br />
Psychologie (Brim & Wheeler, 1966; Clausen, 1986;<br />
Dannefer, 1984; Ei<strong>der</strong>, 1985; Featherman, 1983; Kohli,<br />
1978; Mayer & Müller, 1987; Neuganen & Datall, 1973;<br />
Riley, 1985). Ein weiterer Grund für das Interesse an <strong>der</strong><br />
gesamten <strong>Lebensspanne</strong> liegt in <strong>der</strong> Bedeutung, die
•...<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong><br />
3<br />
die Gesellschaft und ihre Mitglie<strong>der</strong> von jeher dem<br />
Lebenslauf beigemessen haben, und die in alten Bil<strong>der</strong>n und<br />
Metaphern anschaulich zum Ausdruck kommt (Görlitz,<br />
1988; Sears, 1986). In den Geisteswissenschaften konnte<br />
zum Beispiel gezeigt werden, daß es ein auf die gesamte<br />
<strong>Lebensspanne</strong> bezogenes Denken seit vielen Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
gibt und daß dieses auch in die alltäglichen Betrachtungen<br />
über die Struktur und die Funktion <strong>der</strong> menschlichen Existenz<br />
einfließt. Bestimmte Vorstellungen und Aussagen<br />
über das Wesen von Verän<strong>der</strong>ungen im Lauf des Lebens<br />
und ihre Einbettung in die nach dem Alter geglie<strong>der</strong>te<br />
Gesellschaftsstruktur finden sich beispielsweise im<br />
jüdischen Talmud, in <strong>der</strong> griechischen und römischen<br />
Philosophie (z. B. bei Solon und Cicero) sowie in<br />
literarischen Werken wie denen Shakespeares, Goethes o<strong>der</strong><br />
Schopenhauers. Beson<strong>der</strong>s anschauliche Beispiele für die<br />
gesellschaftlich tradierten Vorstellungen über den<br />
Lebenslauf sind in <strong>der</strong> bildenden Kunst zu finden. In den<br />
Kunstwerken <strong>der</strong> letzten Jahrhun<strong>der</strong>te wurde häufig die<br />
Metapher <strong>der</strong> Treppe o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Leiter verwendet, um den<br />
Lebenslauf abzubilden Ooerißen & Will, 1983).<br />
Solche Beispiele aus <strong>der</strong> Philosophie, <strong>der</strong> Kunstgeschichte<br />
und dem Bereich <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Vorstellungen zeigen, daß das Thema <strong>der</strong> lebenslangen<br />
Entwicklung keineswegs erst mit <strong>der</strong> <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
entstanden ist. Vielmehr entspricht das<br />
Auftauchen <strong>der</strong> lebenslangen Entwicklung als Thema <strong>der</strong><br />
Psychologie in jüngster Zeit einem eher verspäteten<br />
Versuch <strong>der</strong> Psychologen, sich einen Aspekt <strong>der</strong><br />
menschlichen Natur zu erschließen, <strong>der</strong> schon lange<br />
Gegenstand des kulturell überlieferten Wissens ist. Solche<br />
gesellschaftlich tradierten Vorstellungen sind zudem ein<br />
Hinweis darauf, daß <strong>der</strong> Lebenslauf eine Art natürliche<br />
soziale Kategorie für das Verständnis <strong>der</strong> Ontogenese und<br />
<strong>der</strong> menschlichen Existenz darstellt.<br />
<strong>Theoretische</strong> <strong>Leitsätze</strong><br />
einer <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong><br />
Welches theoretische Spektrum repräsentiert die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>? Ist sie eine in<br />
sich geschlossene Theorie, eine Ansammlung von<br />
Subtheorien o<strong>der</strong> eher eine allgemeine theoretische<br />
Perspektive? Sicherlich zielt das anfängliche Interesse an<br />
einer <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> auf eine<br />
übergreifende, einheitliche Theorie ab. Eriksons (1959)<br />
Theorie kommt beispielsweise die sem Interesse entgegen.<br />
Allerdings ist aufgrund <strong>der</strong> gegenwärtigen Forschungslage<br />
zu vermuten, daß<br />
zumindest in nächster Zukunft die <strong>Entwicklungspsychologie</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> kaum durch eine einzige<br />
Theorie repräsentiert werden könnte. Daher handelt es sich<br />
bei <strong>der</strong> gegenwärtigen Life-span-Psychologie auch eher um<br />
eine theoretische Perspektive als um eine integrative<br />
Theorie.<br />
Das Fehlen einer umfassenden Life -span-Theorie<br />
bedeutet jedoch nicht, daß die <strong>Entwicklungspsychologie</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Lebensspanne</strong> keine theoretische Ausrichtung aufzuweisen<br />
hätte. Vielmehr hat eine Reihe von Life-span-<br />
Entwicklungspsychologen sich um die theoretische Klärung<br />
<strong>der</strong> Frage bemüht, ob die auf die gesamte <strong>Lebensspanne</strong><br />
ausgedehnte Forschung eine beson<strong>der</strong>e metatheoretische<br />
Sichtweise (Lerner, 1984; Reese & Overton, 1970)<br />
erfor<strong>der</strong>lich macht. Der aus diesen Bestrebungen<br />
hervorgegangene theoretische Ansatz wird im Zentrum <strong>der</strong><br />
weiteren Ausführungen stehen.<br />
Nach Ansicht vieler Forscher sind mit <strong>der</strong> Life span-<br />
Perspektive einige prototypische <strong>Leitsätze</strong> verknüpft. Diese<br />
bilden in jeweils unterschiedlicher Ge wichtung und<br />
Verknüpfung einen Zusammenhang von Grundannahmen,<br />
<strong>der</strong> insgesamt eine kohärente, metatheoretische<br />
Konzeptualisierung des Entwicklungsbegriffs darstellt. Die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> einzelnen <strong>Leitsätze</strong> ist hierbei weniger<br />
wichtig als die Gestalt, die sie zusammen herstellen. In <strong>der</strong><br />
Tat enthält keine dieser Annahmen für sich allein<br />
genommen eine neue, richtungsweisende Aussage, was<br />
manche Kritiker zu <strong>der</strong> Behauptung bewogen haben mag,<br />
die <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive habe wenig Neues zu bieten<br />
(Kaplan, 1983). Für die Life-span-Psychologie ist jedoch<br />
gerade <strong>der</strong> Gesamtzusammenhang und die komplexe Gestalt<br />
ihrer Grundannahmen und <strong>der</strong>en Anwendung auf die<br />
Erforschung <strong>der</strong> Entwicklung von maßgeblicher Bedeutung.<br />
Wie sehen nun die für die <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive<br />
charakteristischen Grundannahmen aus? In Tabelle 1 sind<br />
sieben thesen ähnliche Grundannahmen als <strong>Leitsätze</strong><br />
zusammengefaßt, die von vielen Life-span-<br />
Wissenschaftlern geteilt werden. Die Annahmen finden sich<br />
vor allem in <strong>der</strong> psychologischen Literatur zu diesem<br />
Thema (Baltes & Reese, 1984; Baltes, Reese & Lipsitt,<br />
1980; Honzik, 1984; Lerner 1984; Oerter, 1978; Sherrod &<br />
Brim, 1986; Thomae, 1979); sie stehen aber auch im<br />
Einklang mit sozio logischen Arbeiten zum Lebenslauf<br />
(Ei<strong>der</strong>, 1985; Featherman, 1983; Riley, 1985). Im folgenden<br />
wird das Netzwerk <strong>der</strong> Grundannahmen vor allem anhand<br />
<strong>der</strong> Forschung zur intellektuellen Entwicklung im Erwachsenenalter<br />
illustriert, da dieser Forschungsstrang bisher<br />
den Hauptgegenstandsbereich und das Forum <strong>der</strong><br />
entwicklungspsychologisch relevanten Forschung<br />
dargestellt hat. Darüber hinaus wird gezeigt, daß die hier<br />
vertretene metatheoretische GrundeinsteIlung
4 Paul B. Baltes<br />
------------------------------ .-.---------.-.----------------- _._------------~---~<br />
Tabelle 1 Zusammenfassung <strong>der</strong> charakteristischen Leitsat:u zu einer ErltwÜ'k/ungJpsych%gie <strong>der</strong> Lebems/Jarlnt?<br />
Konzept<br />
Lebenslange Entwicklung<br />
M ultidirektionalität<br />
Entwicklung als Gewinn<br />
und Verlust<br />
Plastizität<br />
Geschichtliche Einbeuung<br />
Kontextualismus<br />
Multidisziplinäre Betrachtung<br />
Annahme<br />
Ontogenetische Entwicklung ist ein lebenslanger Prozeß. Keine Altersstufe nimmt bei <strong>der</strong><br />
Bestimmung dessen, was Entwicklung ist, eine Vorrangstellung ein. Während <strong>der</strong> gesamten<br />
Entwicklung (d. h. in allen Phasen <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>) kÖnnen sowohl kontinuierliche (kumulative)<br />
als auch diskontinuierliche (innovative) Prozesse auftreten.<br />
Die Richtung <strong>der</strong> ontogenetischen Verän<strong>der</strong>ungen variiert nicht nur beträchtlich zwischen<br />
verschiedenen Verhaltensbereichen (z. B. Intelligenz versus Emotion), son<strong>der</strong>n auch innerhalb<br />
<strong>der</strong>selben Verhaltenskategorie. In ein und demselben Entwicklungs abschnitt und Verhaltensbereich<br />
können manche Verhaltensweisen Wachstum und an<strong>der</strong>e Abbau zeigen.<br />
Entwicklung bedeutet nicht nur einen Zuwachs in <strong>der</strong> Kapazität o<strong>der</strong> einen Zuwachs im Sinne einer<br />
höheren Effizienz. Über die gesamte <strong>Lebensspanne</strong> hinweg setzt sich vielmehr Entwicklung immer<br />
aus Gewinn (Wachstum) und Verlust (Abbau) zusammen.<br />
Psychologische Entwicklung ist durch eine hohe intraindividuelle Plastizität (Verän<strong>der</strong>barkeit<br />
innerhalb einer Person) gekennzeichnet. Der Entwicklungsverlauf einer Person variiert in<br />
Abhängigkeit von ihren Lebensbedingungen und Lebenserfahrungen. Die Hauptaufgabe <strong>der</strong><br />
entwicklungspsychologischen Forschung liegt darin, das mögliche Ausmaß <strong>der</strong> Plastizität sowie<br />
<strong>der</strong>en Grenzen zu untersuchen.<br />
Ontogenerische Entwicklung variiert auch in Abhängigkeit von historisch-kulturellen Bedingungen.<br />
Der Ablauf <strong>der</strong> ontogenetischen (altersbedingten) Entwicklung ist stark von den vorherrschenden<br />
sozio-kulturellen Bedingungen einer geschichtlichen Ära und <strong>der</strong>en spezifischem Zeitverlauf<br />
geprägt.<br />
In konzeprucller Hinsicht resultiert je<strong>der</strong> individuelle Entwicklungsverlauf aus <strong>der</strong> Wechselwirkung<br />
(Dialektik) dreier Systeme von Entwicklungseinf1üssen: altersbedingten, geschichtlich bedingten<br />
und nicht-normativen. Das Zusammenspiel und die Wirkungsweise <strong>der</strong> drei Systeme kann innerhalb<br />
<strong>der</strong> metatheoretischen Prinzipien des Kontextua[ismus charakterisiert werden.<br />
Psychologische Entwicklung muß multidisziplinär gesehen werden, also auch im Kontext an<strong>der</strong>er<br />
Disziplinen (z. B. Anthropologie, Biologie, Soziologie), die sich mit menschlicher Entwicklung<br />
beschäftigen. Die Offenheit <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspcktiven für eine multidisziplinäre Sicht weise<br />
impliziere, daß die "rein" psychologische Betrachtung <strong>der</strong> lebensumspannenden Entwicklung Jiese<br />
immer nur ausschnittsweise repräsentieren kann.<br />
auch im Hinblick auf die intellektuelle Entwicklung jüngerer<br />
Altersgruppen neue Perspektiven eröffnen kann.<br />
Lebenslange intellektuelle Entwicklung<br />
und Multidirektionalität<br />
Die ersten beiden <strong>Leitsätze</strong> einer Life-span-Psychologie (siehe<br />
Tabelle 1) besagen, daß Prozesse <strong>der</strong> Verhaltensverän<strong>der</strong>ung, die<br />
im weitesten Sinne als "Ent-<br />
wicklung" bezeichnet werden, zu jedem Zeitpunkt zwischen<br />
Empfängnis und Tod auftreten können. Darüberhinaus wird<br />
angenommen, daß die lebens~ langen Verläufe solcher<br />
Entwicklungen verschiedene Richtungen nehmen können.<br />
Das Konzept <strong>der</strong> lebenslangen Entwicklung beinhaltet zwei<br />
Aspekte. Zum einen ist dies die allge meine Vorstellung, daß sich<br />
Entwicklung über die gesamte <strong>Lebensspanne</strong> erstreckt. Zum<br />
zweiten geht es um den Aspekt, daß die lebenslange Entwicklung<br />
auch Verän<strong>der</strong>ungspcozesse umfassen kann, die nicht mit <strong>der</strong><br />
Geburt, son<strong>der</strong>n erst in sp äteren Phasen <strong>der</strong>
Entwlcklung'ipsychologie <strong>der</strong> Lebemspanne 5<br />
<strong>Lebensspanne</strong> beginnen. Als Ganzes betrachtet ist daher die<br />
lebenslange Entwicklung als ein System zu bestimmen, das<br />
vielfältige Verän<strong>der</strong>ungsmuster um · fa ßt. Dabei können<br />
einzelne Enrwicklungsmuster zum Beispiel im Hinblick auf<br />
ihre zeirliche Erstreckung (Beginn, Dauer, Ende ), ihre<br />
!{ichrung und Abfolge unterschieden werden. t-lollingworrh<br />
(1927) war wohl <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> eine <strong>der</strong>artige Sichtweise über<br />
die lebenslange Entwicklung in gro ßer Deutlichkeit vertteten<br />
hat.<br />
Diese Auffassung von lebenslanger Enrwicklullg läßt<br />
sich verdeutlichen, wenn man an die verschiede · nen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen und Möglichkeiten denkt, mit denen eine<br />
Person im Laufe ihres Lebens konfronriert wird . Das auf<br />
Havighurst (1972; Oerrer, 1986; Thonne, 1975)<br />
zurückgehende Konzept <strong>der</strong> Enr wicklungsaufgabe<br />
veranschaulicht vielleicht beson <strong>der</strong>s gut, wie man dieses<br />
System lebenslanger Anfor <strong>der</strong>ungen und Möglichkeiten<br />
theoretisch begreifen kann. Enrwicklungsaufgaben beziehen<br />
sich nämlich auf die Abfolge von Problemen,<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen o<strong>der</strong> lebensverän<strong>der</strong>nden Siruationen, die<br />
sich jeweils aus dem Zusammenspiel von biologischer Entwicklung,<br />
gesellschafrlichen Etwartungen und individuellen<br />
Handlungen ergeben. Diese Probleme "change through life<br />
and give direction, force, and substance to ... developmenr"<br />
(Havighurst, 1973,<br />
S. 11).<br />
Die verschiedenen Entwicklungskurven, die die<br />
lebenslange Entwicklung konstituieren, können in diesem<br />
Sinne als Ausdruck <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
verschiedenen Entwicklungsaufgaben aufgefa ßt werden.<br />
Manche Entwicklungsauf gaben, etwa die in Havighursts<br />
Taxonomie genannten, sind in hohem Ma ß normativ und mit<br />
bestimmten chronologischen Alterssrufen verkn üpft.<br />
Allerdings gibt es auch, wie sp äter noch gezeigt wird,<br />
Entwicklungsaufgaben, die sich aus historischen und<br />
idiographischen (nichtnormativen ) Einflußsystemen heraus<br />
bilden.<br />
Zu den Kernkonzepten einer Entwicklungspsy chologie<br />
<strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> geh ören die Begriffe <strong>der</strong><br />
Multidimensionalität und Multidirektionalit ät. Als<br />
Schlüsselbegriffe umschreiben sie verschiedene regelhafte<br />
Facetten, die bei Enrwicklungsverl äufen hervortreten und<br />
diese kennzeichnen. Die Begriffe ent halten außerdem die<br />
theoretischen Bestimmungs stücke f ür einen<br />
Entwicklungsbegriff, <strong>der</strong> nicht allein durch die Kriterien des<br />
Wachstums o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zunahme gekennzeichnet ist.<br />
Anhand von Untersuchungen zur psychometri schen<br />
Intelligenz läßt sich zeigen, da ß ein multidimensionales und<br />
multidirektionales Entwicklungskonzept theoretisch fruchtbar<br />
ist. Ein beson<strong>der</strong>s gutes Beispiel liefert hierzu die<br />
psychometrische Theorie zur tluiden und kristallisierren<br />
Intelligenz,<br />
die (attel! (1l)71) lind Horn (1 \l70) aufgestellt haben (siehe<br />
Abb. 1). Nach dieser Theorie setzt sich Intelli genz aus<br />
mehreren Kornponcmen zusammen, wobei die fluiden und<br />
kristallisierten Intelligenzkomponenten theoriegellläß als die<br />
beiden wichtigsten fäh igkeitsbündel bestimmt werden. Ein<br />
solches MehrkoI11ponenten-Model! <strong>der</strong> Intelligenz entspricht<br />
dem Konzept <strong>der</strong> ,Hultidwzet'lJlonalität. Weiterhin wird in<br />
<strong>der</strong> Theorie von Cattell und Horn angenom men, daß sich die<br />
beiden Fähigkeitsbündel in ihren Enrwicklungsverläufen und<br />
-richtungen unterscheiden. Fluide Intelligenz steigt demnach<br />
bis zum frühen Etwachsenenalter an und geht danach in eine<br />
Periode <strong>der</strong> Stabilität über. Mit dem Beginn des mittleren<br />
Lebensalters setzt dann eine Phase des gra duellen<br />
Altersabbaus ein. Dagegen weist die kristallisierte Intelligenz<br />
nach dieser Vorstellung auch über das mittlere<br />
Erwachsenenalter hinaus eine ansteigen de<br />
Entwicklungsfunktion auf. Diese unterschiedli chen<br />
Entwicklungsverläufe <strong>der</strong> fluiden und kristalli sierten<br />
Intelligenz illustrieren das Konzept <strong>der</strong> Multidlrektionalität.<br />
!\1 ultidimensiooalität M<br />
ultidirektionalität<br />
Ih'ispit'k:- -----<br />
........••.. Spr:.u:ht,<br />
SUli .• lc<br />
Intellige 1'<br />
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L .<br />
Ver'l'hiedene Formen <strong>der</strong><br />
Intelligenz<br />
Pra~matik ( Kri .. • 1 alli .. • iNte<br />
Intdligcnl)<br />
ca. 25 ca. 70<br />
Alter<br />
Abbzldung 1 Eine <strong>der</strong> bekanntesten psychometrischen<br />
Suukturtheorien <strong>der</strong> I ntelligenz ist die Theorie von Raymond B .<br />
Cartell und John L. Horn.<br />
(Für die beiden Hauptfähigkeitsbündel dieser Theorie, die fluide<br />
und kristallisierte Imelligenz,<br />
wird postuliert, daß sie i m Lebensverlauf<br />
unterschiedlichen Enrwicklungsrichtungen folgen.)<br />
Inzwischen sind noch weitere theoretische Ans ätze<br />
vorgelegt worden, die sich mit <strong>der</strong> intellektuellen<br />
Entwicklung im Lauf des Lebens befassen und hier bei<br />
berücksichtigen, daß multidimensionale und multidirektionale<br />
Verän<strong>der</strong>ungen auftreten können. Berg und Stern berg (1985)<br />
haben zum Beispiel an hand von Stern bergs triadischer<br />
Theorie <strong>der</strong> Intelli genz den Gedanken vertreten, da ß die<br />
Altersverläufe <strong>der</strong> drei in Sternbergs Theorie postulierten<br />
Intelli· genzkomponenten (Prozesse, Kontexte, Erfahrun-
6 Paul B . Baltes<br />
gen) wahrscheinlich verschiedene Enrwicklungsrichtungen<br />
aufweisen. Ähnliche Überlegungen träfen vielleicht auch<br />
auf das von Jäger (1967, 1982) vorgelegte<br />
Intelligenzmodell zu. Schließlich dürften solche<br />
Überlegungen sich auch auf den eher denkund<br />
wissenspsychologisch angelegten Bezugsrahmen <strong>der</strong><br />
Arbeitsgruppe um Dörner (in Druck) ausweiten lassen.<br />
Die am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung<br />
im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive<br />
durchgeführten Arbeiten zur multidimensionalen und<br />
multidirektionalen Intelligenzentwicklung (Baltes,<br />
Dittmann-Kohli & Dixon, 1984; Dixon & Baltes, 1986)<br />
zielen auf eine Erweiterung des Intelligenzmodells von<br />
Cattell und Horn ab. Unrer dieser Zielrichtung werden die<br />
Verbindungen dieses Intelligenzmodells mit <strong>der</strong> kognitionsund<br />
wissenspsychologischen Forschung herausgearbeitet.<br />
Gleichzeitig wird ein Entwicklungsbegriff verwendet, <strong>der</strong><br />
die Leitvorstellung eines multidirektionalen Entwicklungsverlaufs<br />
berücksichtigt. Aus heuristischen Gründen wurden<br />
zwei Kognitionsbereiche unrerschieden: die "fluide"<br />
Mechanik und die "kristallisierte" Pragma tik <strong>der</strong> Intelligenz.<br />
Der Begriff <strong>der</strong> Mechanik <strong>der</strong> Inrelligenz bezieht sich auf<br />
die grundlegende Architektur eines<br />
informationsverarbeitenden Systems . Das architektonische<br />
Gerüst dieses mechanischen Teilsystems <strong>der</strong> Intelligenz<br />
wird von solchen Basisoperationen und -strukturen gebildet,<br />
wie sie beispielsweise bei elementaren<br />
Gedächtnisoperationen (Kliegl & Baltes, 1987; Klix, 1984)<br />
o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Lösung von Induktions- und<br />
Klassifikationsaufgaben angewendet werden müssen. Der<br />
zweite Begriff, die Pragmatik <strong>der</strong> Intelligenz, bezieht sich<br />
auf die konrext - und wissensgebundene Anwendung <strong>der</strong><br />
Inrelligenzmechanik. Unter dem Begriff <strong>der</strong> Pragma tik <strong>der</strong><br />
Inrelligenz werden folgende Aspekte subsumiert: (a)<br />
allgemeine Systeme des deklarativen und prozeduralen<br />
Wissens, wie zum Beispiel das Wissenssystem <strong>der</strong><br />
kristallisierten Inrelligenz; (b) spezielle Systeme des<br />
deklarativen und prozeduralen Wissens, wie zum Beispiel<br />
berufliches Expertenwissen; und (c) Wissen in bezug auf<br />
Fähigkeiten und Fertigkeiten (Heutismus, Strategien), die<br />
bei <strong>der</strong> Ausführung von intelligenzfor<strong>der</strong>nden Handlungen<br />
wichtig sind und die sich beson<strong>der</strong>s bei <strong>der</strong> Aktivierung von<br />
Intelligenz in Problemlösesituationen auswirken. Für die<br />
explizite Bestimmung <strong>der</strong> pragmatischen Anteile <strong>der</strong><br />
Inrelligenz ist es daher (ebenso wie bei Stern bergs<br />
Anliegen, konrextuelle und erfahrungsbezogene<br />
Komponenren in Inrelligenzdefinitionen aufzunehmen)<br />
unumg änglich, die im Verlauf des Lebens sich<br />
verän<strong>der</strong>nden Strukturen und Funktionen von Wis -<br />
senssystemen zu beachten (vgl. auch Featherman, 1983;<br />
Keating & Marlean, 1988; Labouvie-Vief,<br />
1985; Perlmutter, 1988; Rybash, Hoyer & Roodin, 1986;<br />
Salthouse, 1985; Sternberg, 1988; Weinen, Knopf &<br />
Schnei<strong>der</strong>, 1987).<br />
Bilden sich im mittleren und höheren Erwachsenenalter<br />
tatsächlich neue Formen <strong>der</strong> Intelligenz heraus? Können<br />
also innovative Formen <strong>der</strong> Inrelligenz auch noch in<br />
späteren Lebensabschnitten auftreten - so wie es als erster<br />
Klaus Riegel (1973, 1976) mit Verve vorgeschlagen hatte?<br />
Hinter dieser theoretischen Entschiedenheit bleiben jedoch<br />
die entsprechenden empirischen Nachweise deutlich zurück.<br />
Ob es tatsächlich gelingen wird, die Existenz <strong>der</strong> späten<br />
innovatorischen Enrwicklungsprozesse empirisch<br />
nachzuweisen, bleibt daher vorerst noch ungewiß. Zu den<br />
klassischen Beispielen für die späte Herausbildung eines<br />
kognitiven Systems zählen die Reminiszenz und <strong>der</strong><br />
Lebensrückblick (Butler, 1963; Staudinger, 1988). Die<br />
rückblickende Rekonstruktion und Bewertung des eigenen<br />
Lebens wird vornehmlich dem höheren Erwachsenenalter<br />
zugeschrieben. Ein weiteres Beispiel, das die in späteren<br />
Lebensabschnitten ausgebildeten mentalen Systeme veranschaulichen<br />
könnte, wäre das Phänomen des autobiographischen<br />
Gedächtnisses (Stru be, 1985; StrU be &<br />
Weinert, 1987).<br />
Speziell für den Bereich <strong>der</strong> Intelligenz bleibt allerdings<br />
nach wie vor die Frage offen, ob sich im mittleren und<br />
höheren Erwachsenenalter neue Formen und neue<br />
Entwicklungsrichtungen (directionality) <strong>der</strong> Intelligenz<br />
herausbilden o<strong>der</strong> ob sich die Inrelligenzentwicklung in<br />
dieser Lebensphase eher durch Kontinuität und durch<br />
quantitative (nicht aber qualitative) Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
vorhergehenden Imelligenzformen kennzeichnen läßt.<br />
Einerseits gibt es kognitiv-strukturalistische Ansätze wie<br />
die von Flavell (1970) und Piaget (1972), die die weitere<br />
strukturelle Evolution o<strong>der</strong> Transformation eher als<br />
horizonrale decalage zu bestimmen suchen. Beide Autoren<br />
gehen ja davon aus, daß die Entwicklung <strong>der</strong> grundlegenden<br />
kognitiven Operationen mit dem Erreichen des frühen<br />
Erwachsenenalters im wesenrlichen abgeschlossen ist. Nach<br />
ihrer Auffassung verän<strong>der</strong>n sich vom frühen<br />
Erwachsenenalter an nur noch die Inhaltsbereiche, in denen<br />
die bereits ausgebildeten kognitiven Strukturen angewendet<br />
werden. An<strong>der</strong>erseits gibt es auch Forschungsansätze, die<br />
sich programmatisch dem Ziel verpflichtet haben, nach<br />
qualitativ o<strong>der</strong> strukturell neuen Formen <strong>der</strong> Erwachsenenintelligenz<br />
zu suchen (z. B. Commons, Richards<br />
& Armon, 1984). Die von Basseches (1984), Labouvie-Vief<br />
(1982, 1985), Kramer (1983) und an<strong>der</strong>en Autoren (z. B.,<br />
Keating & MacLean, 1988) vorgelegten Arbeiten über das<br />
dialektische Denken und die postformalen Operationen<br />
stellen in diesem Zusammenhang wichtige Beiträge dar.
Ein weiterer Ansatz, <strong>der</strong> die Analyse <strong>der</strong> Intelligenzentwicklung<br />
im Erwachsenenaltcr voran bringen kann,<br />
läßt sicb aus Verbindungen zwischen einer<br />
neofllnktionalistischen Perspektive (Dixon & Baltes, 1986)<br />
und den wissenspsychologischen Ansätzen <strong>der</strong><br />
Kognitionspsychologie herleiten. Innerhalb dieses<br />
Forschungsansatzes nehmen Modelle über Expertenwissen<br />
und Wissenssysteme (Glaser, 1984; Klix, 1984; Mandl &<br />
Spada, 1988; Tack, 1987) einen wichtigen Stellenwert ein.<br />
Für diese Ansätze ist es von geringer Bedeutung, ob es sich<br />
bei <strong>der</strong> Entwicklung einer Expertise um eine "strukturelle",<br />
qualitativ neue Entwicklungsstufe handelt. Im Brennpunkt<br />
des neofunktionalistischen Ansatzes stehen Verän<strong>der</strong>ungen<br />
in deklarativen und prozeduralen Wissenssystemen , die in<br />
theoretischer Hinsicht mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
"kristallisierten", pragmatischen Anteile <strong>der</strong> Intelligenz<br />
verknüpft sind. Das von Cattell und Horn entwickelte<br />
Konzept <strong>der</strong> kristallisierten Intelligenz mu ß allerdings<br />
erweitert werden, damit es Wissensbereiche und<br />
Wissensformen umfassen kann, wie sie für die<br />
Lebenszusammenhänge des höheren Erwachsenenalters<br />
charakteristisch sind.<br />
Dieser Forschungsansatzläßt sich anhand des Begriffs<br />
Expertise, einem in <strong>der</strong> kognitiven Psychologie und<br />
<strong>Entwicklungspsychologie</strong> (Ericsson, 1985; Glaser, 1984;<br />
Hoyer, 1985; Weinen, Schnei<strong>der</strong> & Knopf, 1988)<br />
momentan viel diskutierten Konzept, näher erläutern. Der<br />
Begriff "Expertise" o<strong>der</strong> Expertenkompetenz bezeichnet<br />
sehr hoch entwickelte und eingeübte Fähigkeiten sowie das<br />
damit verbundene Wissen. Der Erwerb und <strong>der</strong> Erhalt von<br />
Expertise wurde vor allem im naturwissenschaftlichen<br />
Bereich, im Schachspiel und in bezug auf berufliche Fertigkeiten<br />
(z. B. Maschinenschreiben) untersucht. Vergleichbare<br />
Fertigkeiten werden wahrscheinlich von vielen Menschen<br />
irgendwann im Laufe ihres Lebens erworben. Daher ist auch<br />
zu erwarten, daß sich intellektuelle Fähigkeiten gerade in<br />
solchen Bereichen weiterentwickeln, in denen das<br />
Individuum bis ins hohe Alter hinein tätig bleibt und<br />
kontinuierliche Anstrengungen für die Erweiterung sowohl<br />
seines prozeduralen als auch seines deklarativen Wissens<br />
~nternimmt (Denney, 1984; Dixon & Baltes, 1986;<br />
Featherman, 1987; Hoyer, 1985; Rybash et al., 1986). Um<br />
es an<strong>der</strong>s auszudrücken: Die Expertise in ~inem speziellen<br />
Wissensgebiet, das <strong>der</strong> Pragmatik 1er Intelligenz<br />
zuzuordnen ist, kann in <strong>der</strong> zweiten ~ebenshälfte dann<br />
beibehalten, transformiert o<strong>der</strong> ;ogar neu erworben werden,<br />
wenn es zu einer selekiven Optimierung im<br />
gebietsspezifischen Wissens;ystem kommt .<br />
Bisher kommt insbeson<strong>der</strong>e zwei Wissensgebieen eine<br />
mögliche Schlüsselstellung für positive Verin<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />
pragmatischen Intelligenz während<br />
<strong>der</strong> zweiten Lebenshälfte zu. Dabei handelt es silh um die<br />
praktische IOlelligenz (Stern berg & Wagner, 1986) und um<br />
das Wissen in bezug auf Fragen des Lebens<br />
(lebenspraktische Fragen), das vor allem 111 Untersuchungen<br />
zur sozialen Intelligenz und zur Weisheit verdeutlicht wird<br />
(Baltes, Smith, Staudinger & Sowarka, in Druck; Cantor &<br />
Kihlstrom, 1987; Clayton & Bieren, 1980; Dittmann-Kohli,<br />
1984; Dittmann-Kohli & Baltes, in Druck; Holliday &<br />
Chandler, 1986; Meacham, 1982). Hierbei ist dem<br />
Weisheitskonzept ein beson<strong>der</strong>er Stellenwert beizu messen.<br />
Weisheit kann nämlich als ein Prototyp <strong>der</strong> pragmatischen<br />
"Altersintelligenz " gelten, da sie sich vor allem im<br />
Erwachsenenalter herausbildet und möglicherweise bis ins<br />
hohe Alter weiterentwickelt.<br />
Solche Grundvorstellungen zum Weisheitsbegriff<br />
prägen auch den Forschungsansatz, den eine Arbeitsgruppe<br />
um Paul Baltes und Jacqui Smith (Baltes, Smith, Staudinger<br />
& Sowarka, in Druck; DittmannKohli & Baltes, in Druck;<br />
Dixon & Baltes, 1986; Smith, Dixon & Baltes, in Druck;<br />
Sowarka, 1987; Staudinger , 1988) am Berliner Max-<br />
Planck-Institut für Bildungsforschung programmatisch<br />
weiterentwickelt. Innerhalb des Forschungsansatzes wird<br />
Weisheit als "Expertise in den grundlegenden Fragen und<br />
<strong>der</strong> Pragmatik des Lebens" definiert und untersucht. Zur<br />
Erfassung von Weisheit wurden Untersuchungspersonen<br />
verschiedenen Alters zum Beispiel gebeten, sich zu<br />
konkreten Problemen <strong>der</strong> Lebensplanung und des<br />
Lebensrückblicks zu äußern. Das in den Antwortprotokollen<br />
enthaltene Wissenssystem zu Aufgaben <strong>der</strong> Lebensplanung<br />
und des Lebensrückblicks wird anhand mehrerer<br />
theoriegeleiteter Kriterien für Weisheit beurteilt. Die ersten<br />
empirischen Befunde dieses Untersuchungsansatzes (Smith<br />
et al., in Druck) weisen darauf hin, daß erwartungsgemäß<br />
ältere Personen über ein sehr gut entwickeltes Wis -<br />
senssystem in bezug auf grundlegende Fragen und die<br />
Pragmatik des Lebens verfügen. Im Gegensatz zu den<br />
Untersuchungen, die den altersbezogenen Abbau im Bereich<br />
<strong>der</strong> Intelligenzmechanik belegen (Kliegl & Baltes, 1987),<br />
befinden sich sogar manche älteren Menschen im<br />
Spitzenbereich von Verteilungskurven, die sich auf das<br />
Wissen in Weisheitsaufgaben beziehen. Bezeichnen<strong>der</strong>weise<br />
weisen ältere Personen gerade dann ein höher elaboriertes<br />
Wissenssystem auf als jüngere Personen, wenn es um relat<br />
iv seltene und ungewöhnliche Lebensplanungsprobleme<br />
älterer Menschen geht.<br />
Die empirische Untersuchung <strong>der</strong> Weisheit steht noch<br />
am Anfang. Daher ist es noch ungewiß, ob das Konzept<br />
"Weisheit" empirisch so umgesetzt werden kann, daß die<br />
einzelnen empirischen Schritte auch in eine<br />
wohlspezifiziene psychologische Weisheitstheorie überführt<br />
werden können. Man kann insofern
8 Paul B . Balles<br />
optimistisch sein, als auch in <strong>der</strong> kognitiven Psycho logie<br />
zunehmend mit Aufgaben und Denkproble men gearbeitet<br />
wird, die sich in ähnlicher Weise kennzeichnen lassen wie die<br />
Probleme, <strong>der</strong>en Lösung Weisheit erfor<strong>der</strong>t. Das bedeutet, daß<br />
die verwende ten Aufgaben ein hohes Ma ß an<br />
wirklichkeitsnaher Komplexität aufweisen und da ß die<br />
Aufgabenbearbeitung sowohl relativistische Stellungnahmen<br />
als auch Urteile unter Unsicherheit erfor<strong>der</strong>t (Dörner, in<br />
Druck; Neisser, 1982). Für den vorliegenden Aufsatz sind<br />
Arbeiten zum Weisheitsthema deshalb wichtig, weil Weisheit<br />
den Prototyp eines Denksystems dar stellt, in das man die<br />
positiven Entwicklungsschritte im Erwachsenenalter und im<br />
höheren Altern einbe ziehen könnte.<br />
Intellektuelle Entwicklung<br />
als dynamisches Wechselspiel<br />
zwischen Wachstum (Gewinn)<br />
und Abbau (Verlust)<br />
Neben Multidimensionalität und Multidirektionalität ist für<br />
die Life-span Perspektive auch die Annah me wichtig (vgl.<br />
Tabelle 1), daß jeglicher Entwicklungsprozeß sowohl<br />
Wachstum (Gewinn) als auch Abbau (Verlust) bedeutet. Da<br />
diese These telativ neu ist, konnte sie bisher allerdings we<strong>der</strong><br />
theoretisch noch empirisch hinreichend untermauert werden.<br />
Historisch gesehen gab es im wesentlichen zwei Gründe<br />
dafür, sowohl Gewinn- als auch Verlustphänomene in den<br />
Entwicklungsbegriff einzubezie hen. Zum einen sah man sich<br />
vor die Aufgabe ge stellt, da ß die Definition des<br />
Entwicklungskonzepts den Prozeß des Alterns einschlie ßen<br />
sollte. Zum an<strong>der</strong>en konnte mit dem Konzept <strong>der</strong><br />
Multidirektionalität bewiesen werden, da ß<br />
Entwicklungsverläufe komplexer sind, als es die aus <strong>der</strong><br />
Biologie übernommene bloße Wachstumsperspektive<br />
(growth) nahelegt .2<br />
Zunächst zur Definition von Aitern im Verh ältnis zu<br />
Entwicklung: traditionellerweise vertreten in <strong>der</strong> Gerontologie<br />
vor allem Biologen (Kirkwood, ] 985) den Standpunkt, daß<br />
Altern ausschlie ßlich als Abbau (d. h. als unidirektionaler<br />
Prozeß des Abbaus adapti ver Kapazität) zu definieren sei.<br />
Psychologen tendie-<br />
2 Neben diesen vor allem durch gerontologische For schungen<br />
motivierten Argumentcn gibt es ein drittcs, das vor allem aus neuro -<br />
biologischen Forschungsans ätzen und <strong>der</strong> psychologischen<br />
Expertiseforschung Slammt (siehc unten) Das Argumcnt besagt, da ß<br />
je<strong>der</strong> Entwicklungsschritt prinzipiell eine An Kanalisierung (Selektion)<br />
und Spezialisierung impliziert.<br />
ren dagegen aufg rund ihrer verhaltenswissenschah lichen<br />
Theorien und empirische Befunde dazu, die Definition von<br />
Altern als unidirektionalen Abbauprozeß abzulehnen. für die<br />
verhaltenswissenschaftlich ausgerichteten Psychologen ist es<br />
daher von theoretischem Interesse, ob <strong>der</strong> Begriff des Alterns<br />
in ein umfassen<strong>der</strong>es Entwicklungskonzept integriert werden<br />
kann.<br />
Wie kann man sich diese Integration vorstellen?<br />
Und wie bringt man den um das Altern erweiterten<br />
Entwicklungsbegriff mit traditionellen Definitionen in<br />
Einklang, die Entwicklung mit Wachstum und Altern<br />
hauptsächlich mit Abbau verknüpfen? Hierzu schlagen die<br />
Life-span-Forscher vor, den Entwick lungsbegriff über das<br />
biologische Konzept von Wachstum (growth) o<strong>der</strong><br />
Weiterentwicklung (progression) hinaus zu erweitern .<br />
Entwicklung sollte da nach nicht nur Wachstumsprozesse<br />
umfassen, son<strong>der</strong>n auch solche Prozesse, die sich im<br />
Lebenslauf in an<strong>der</strong>er Richtung ver än<strong>der</strong>n (Baltes, 1983;<br />
Baltes & Sowarka, 1983; Labouvie-Vief, 1980; Thomae,<br />
1959). Dementsprechend wurde in <strong>der</strong> Leben sspannen-<br />
Perspektive Entwicklung definiert als jegliche (positive o<strong>der</strong><br />
negative) Verän<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> adapti ven Kapazität eines<br />
Organismus. Diese Erweiterungen stehen im Einklang mit<br />
an<strong>der</strong>en Modellvorstellungen. So wurde zum Beispiel in <strong>der</strong><br />
sozialen Lerntheorie (Bandura, 1982) ebenfalls auf die<br />
direktionale "Offenheit" ontogenetischer Entwicklungspro -<br />
zesse hingewiesen.<br />
Es gibt einen zweiten Grund, ein Verhältnis von Gewinn<br />
und Verlust bei Entwicklungsprozessen zu thematisieren: Er<br />
bezieht sich auf die Begriffe <strong>der</strong> Multidimensionalität und<br />
Multidirektionalität, die im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />
lebensumspannenden Intelligenzentwicklung ausdifferenziert<br />
wurden. Für das Konzept <strong>der</strong> Multidirektionalität stellte sich<br />
dabei die Frage, ob es über die beschreibende Erforschung <strong>der</strong><br />
unterschiedlichen Entwicklungsverläufe <strong>der</strong> Intelligenz hinaus<br />
auch auf das dynamische Wechselspiel zwischen<br />
verschiedenen Subsystemen bezogen werden könnte. Vor<br />
allem wäre zu entscheiden, ob ein neues Entwicklungskonzept<br />
erfor<strong>der</strong>lich ist, wenn multidirektionale Verän<strong>der</strong>ungen gleichzeitig<br />
in verschiedenen Komponenten desselben Systems (z.<br />
B. einerseits in <strong>der</strong> fluiden, an<strong>der</strong>erseits in<strong>der</strong> kristallisierten<br />
Intelligenz) auftreten. Hierzu wurde vorgeschlagen,<br />
Entwicklung stets als eine Art Gewi nn-Verlust-Beziehung zu<br />
betrachten (siehe auch Baltes & Kliegl, 1 C )86; Labouvie-Vief,<br />
1981, 1982; Perlmutter, in Druck). Unrer diesem Blickwinkel<br />
ist Entwicklung zu allen Zeitpunkten im Lebenslauf ein gemei<br />
nsames Prod u kt von Wachs tums- (Gewinn) und<br />
Abbauprozl"ssen (Verlust). \X1eiterentwicklung schlie ßt<br />
demnach neben <strong>der</strong>
Entwicklungspsvchc,logie <strong>der</strong> Lebensspalll1e C)<br />
Zunahme immer auch den Verlust von adaptiver Kapazität ein.<br />
Kein Entwicklungsschritt im Leben bedeutet nur Gewinn. 3<br />
Versteht man Entwicklung als einen Prozeß mit Gewinnund<br />
Verlustanteilen, so bedeutet das nicht, daß das quantitative<br />
Verhältnis von Gewinn und Verlust im Verlauf des Lebens<br />
gleich bleibt. Vielmehr ist anzunehmen, daß die<br />
Gewinn/Verlust-Bilanzierung systematischen, altersabhängigen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen unterliegt. Eine mögliche Variante des<br />
Wechselspiels zwischen Gewinnen und Verlusten im<br />
Lebensverlauf ist in Abbildung 2 dargestellt. Die Abbildung<br />
zeigt, daß sich <strong>der</strong> Anteil möglicher Gewinne und Verluste an<br />
adaptiver Kapazität mit zunehmendem Alter verschiebt.<br />
LclwnS\'criauf<br />
Abbzfdung 2 Eine <strong>der</strong> theoretischen Erwartungen bez;ehl<br />
mh auf den durchschnittlichen Verlauf<br />
von Gewinn-Verlust-Verhältnissen; es wird erwartet, daß<br />
sich <strong>der</strong>en Proportionen im Lebensverlauf verän<strong>der</strong>n .<br />
Im Alter erhält diese Dynamik zwischen Wachstum und<br />
Abbau eine zunehmende Intensität, da wegen <strong>der</strong> im<br />
fortgeschrittenen Alter reduzierten Bandbreite <strong>der</strong><br />
Kapazitätsreserve und auch <strong>der</strong> durch vorangegangene<br />
Entwicklung "verstellte" Optionen (Baltes, 1984; Baltes &<br />
Baltes, 1989; Kliegl & Baltes, 1~87) die Zahl <strong>der</strong><br />
Verlustereignisse im Vergleich zu Entwicklungsgewinnen<br />
immer größer wird. Diese mit dem Alter einhergehende<br />
zunehmende negative<br />
3 Die Gleichsetzung von Auf- und Abbau mit Gewinn und<br />
Verlust ist Sicherlich eine verkürzte Darlegung eines<br />
Arguments, das im Rahmen von Arbeiten über den Begriff <strong>der</strong><br />
optimalen Entwicklung weiter auszudifferenzieren ist. Wie<br />
beispielsweise Brandtstädter, Krampen und Heil (1986) auf <strong>der</strong><br />
Ebene subjektiver EntwickJungsbilanzen ausgeführt haben,<br />
betrifft diese Unterscheidung immer auch wertungsbezogene<br />
Argumente beziehungsweise die implizite o<strong>der</strong> explizite<br />
Bestimmung von "pay-off"Funktionen.<br />
Bilanzierung findet ihre Entsprechung in subjektiven<br />
Erwartungen in bezug auf den Lebenslauf. Wenn man<br />
Erwachsene befragt, was sich normalerweise im<br />
Erwachsenenleben verän<strong>der</strong>t, ergibt sich genau dieses Bild<br />
(Heckhausen, Dixon & Baltes, in Druck). Je später <strong>der</strong><br />
Lebensabschnitt , umso mehr unerwünschte und umso weniger<br />
kontrollierbare Verän<strong>der</strong>ungen werden erwartet. Gleichzeitig<br />
gibt es aber bis ins hohe Alter hinein immer noch einige<br />
positive Erwartungen, beispielsweise die Erwartung, daß ältere<br />
Menschen "weiser" werden.<br />
Das Interesse an <strong>der</strong> Entwicklungsdynamik zwischen<br />
positiven (Gewinn) und negativen (Verlust) Verän<strong>der</strong>ungen hat<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Life-span Perspektive eine Reihe neuer<br />
Untersuchungsansätze angeregt. Ein Beispiel dafür ist <strong>der</strong><br />
Versuch, einen allgemeinen Adaptationsprozeß zu<br />
spezifizieren, <strong>der</strong> die lebenslange Entwicklung im Kontext<br />
einer Gewinn /Verlust-Bilanzierung abbildet. In einigen<br />
neueren Arbeiten (M. Baltes, 1987; Baltes & Baltes, 1989;<br />
Baltes, Dittmann-Kohli & Dixon, 1984) wurden diese<br />
Entwicklungsdynamik zwischen Gewinn und Verlust und <strong>der</strong><br />
damit zusammenhängende Adaptationsvorgang theoretisch<br />
expliziert . Tabelle 2 illustriert am Beispiel des kognitiven<br />
Alterns einen wahrscheinlich prototypischen<br />
Entwicklungsmechanismus des "erfolgreichen Alterns" - die<br />
Optimierung durch Selektion und Kompensation.<br />
Der Schlüsselbegriff "selektive und kompensatorische<br />
Optimierung" beschreibt einen allgemeinen Vorgang <strong>der</strong><br />
Adaption, <strong>der</strong> wahrscheinlich auf die meisten Lebensvorgänge<br />
zutrifft. Die Prozesse <strong>der</strong> Selektion, Optimierung und<br />
Kompensation erhalten allerdings im Alter aufgrund des<br />
Verlustes an biologischen, mentalen und sozialen<br />
Kapazitätsreserven eine neue Gewichtung und Dynamik. Im<br />
Modell <strong>der</strong> selektiven und kompensatorischen Optimierung<br />
(Baltes & Baltes, ] 989) werden drei zusammenwirkende<br />
Elemente und Prozesse unterschieden. Das erste Element ist<br />
das Ph änomen <strong>der</strong> Selektion. Entwicklung ist, wie erwähnt,<br />
immer auch Spezialisierung in Inhalt und Form. Das zweite<br />
Element, die Optimierung, bezieht sich auf die Annahme, daß<br />
Personen ihre einmal eingeschlagenen Lebenswege in<br />
Quantität und Qualität zu verbessern versuchen.<br />
Plastizitätsforschung hat gezeigt, daß ältere Menschen<br />
durchaus in <strong>der</strong> Lage sind, diesen Prozeß <strong>der</strong> optimierenden<br />
Lebensbewältigung und Lebensgestaltung - dank ihres<br />
weiterhin beträchtlichen Lernpotentials - bis ins hohe Alter<br />
voranzutreiben. Das dritte Element <strong>der</strong> Modellvorstellung<br />
bezieht sich auf KompensationJprozesse, die aufgrund <strong>der</strong><br />
objektiven und subjektiv erlebten Einschränkungen in <strong>der</strong><br />
Bandbreite des adaptiven Potentials einsetzen. Diese<br />
Einschränkung <strong>der</strong> Plastizität wird beson<strong>der</strong>s deut-
10 Paul B. Baltes<br />
Tabelle 2 Selektive Optimierung mit Kompensation: Ein prototypireher Prozeß adaptiver lebenslanger Entwicklung am Beispiel<br />
kognitiver funktionen<br />
- Ein generelles Merkmal lebenslanger Entwicklung ist die mit dem Alter zunehmende Spezialisierung (Selektion) motivationaler<br />
und kognitiver Ressourcen und Fähigkeiten.<br />
- Zwei Eigenarten kennzeichnen kognitives Altern:<br />
(a) Vermin<strong>der</strong>te Kapazitätsreserve für Maximalleistungen in flui<strong>der</strong> Intelligenz (Mechanik <strong>der</strong> Intelligenz);<br />
(b) Weiterentwicklung und Erhaltung von Höchstleistungen in manchen Wissenssystemen (Pragmatik <strong>der</strong> Intelligenz).<br />
- Wenn bei einer Person im Prozeß des Alterns Kapazitätsgrenzen (Schwellen) überschritten werden, hat dies für die Entwicklung<br />
folgende Konsequenzen:<br />
(a) Wachsende Selektion (Kanalisierung) und weitere Vermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Anzahl von Hochleistungsbereichen ; (b)<br />
Entwicklung kompensatorischer und lo<strong>der</strong> substitutiver Mechanismen.<br />
Anmerkung: Dieses Modell ist eine Weiterentwicklung <strong>der</strong> erstmals von Baltes und Baltes (1980) vorgestellten Überlegungen.<br />
lieh, wenn man vom einzelnen ein breites Spektrum an<br />
Aktivitäten und Höchstleistungen for<strong>der</strong>t . Kompensation ist<br />
eine beson<strong>der</strong>e Form <strong>der</strong> Optimierung. Sie setzt dann ein,<br />
wenn das übliche Verarbeitungssystem so stark beeinträchtigt<br />
ist, daß bestimmte Verhaltenskapazitäten ausfallen bzw. unter<br />
einen funktionsadäquaten Schwellenwert zurückgehen. Für<br />
diese Schwächung wäre es unter Umständen möglich, sie<br />
durch zusätzliche Anstrengungen und kompensatorische<br />
Maßnahmen abzufangen.<br />
Durch selektive Optimierung mit Kompensation können<br />
also viele ältere Menschen sich weiterhin bestimmten, für sie<br />
wichtigen Lebensaufgaben widmen, obwohl ihre biologische<br />
Energie und ihre mentalen Reserven zurückgehen mögen.<br />
Während <strong>der</strong> Vorgang <strong>der</strong> selektiven und kompensatorischen<br />
Anpassung eine hohe Allgemeingültigkeit beanspruchen<br />
dürfte, kann dagegen die individuelle Ausgestaltung, je nach<br />
Interessen-, Gesundheits - und Umweltlage, beträchtlich<br />
variieren. B. F. Skinner (1983) hat zum Beispiel in einem<br />
autobiographischen Bericht dargestellt, wie und unter welchen<br />
Bedingungen er selbst kompensatorische und substirutive<br />
Fähigkeiten entwickelt hat, um die vermin<strong>der</strong>te Effizienz in<br />
einzelnen Bereichen intellektueller Kapazität auszugleichen.<br />
Für Sozialwissenschaftler , die an <strong>der</strong> Erforschung des<br />
sozialen Wandels und <strong>der</strong> Idee des Fortschritts interessiert sind<br />
(Nisbett, 1980), ist das Gewinn/Verlust-Argument eine<br />
Binsenwahrheit. Nur wenige würden behaupten, daß jegliche<br />
gesellschaftliche Entwicklung als Fortschritt zu sehen ist.<br />
Wie steht es nun in dieser Hinsicht mit an<strong>der</strong>en<br />
enrwicklungspsychologischen Fragestellungen? Ist<br />
vielleicht die in <strong>der</strong> Life-span-Forschung aufgestellte<br />
Perspektive von allgemeinerer Bedeutung? Bei näherem<br />
Hinsehen scheint dies in <strong>der</strong> Tat zuzutreffen. Die Vorstellung,<br />
daß jegliche ontogenetische Verän<strong>der</strong>ung Ergebnis eines<br />
dynamischen Wechselspiels zwischen Gewinn und Verlust ist,<br />
findet sich nämlich auch in biologischen Konzeptionen, wie<br />
Waddingtons (1975) Arbeiten zur Ontogenese als Differenzierung<br />
und Spezialisierung (Kanalisierung) zeigen. Schon bei <strong>der</strong><br />
Zelle und <strong>der</strong> ontogenetisch frühen Entwicklung neuronaler<br />
Verbindungsnetze (Cotman, 1985; Edelman, 1987; Lerner,<br />
1984; Singer, 1987) bringt eine bestimmte Form <strong>der</strong><br />
Differenzierung immer auch den Verlust alternativer<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Zelldifferenzierung mit sich. In analoger<br />
Weise wird in <strong>der</strong> Soziologie davon ausgegangen, daß <strong>der</strong><br />
Lebenslauf durch zunehmende Spezialisierung im Sinne von<br />
Verpflichtungen und Engagement in einzelnen<br />
Lebensbereichen gekennzeichnet ist (Featherman, 1983,1987;<br />
Mayer, 1986). Diese im Lebenslauf zunehmende<br />
Spezialisierung bedeutet auch den Verlust alternativer<br />
Entwicklungsmöglichkeiten .<br />
Läßt sich ein Entwicklungskonzept , das sowohl Gewinnals<br />
auch Verlustphänomene als inhärent für Entwicklung<br />
einbezieht, auch auf die kognitive Entwicklung in jüngeren<br />
Altersgruppen anwenden I Seit längerer Zeit ist bekannt, daß<br />
die kognitive Entwicklung nicht immer nur Fortschritte mit<br />
sich bringt. Ein konkretes Beispiel dafür sind die Arbeiten von<br />
Weir (1964). Sie veranschaulichen Entwicklungsprogressionen<br />
als Übergang von Maximierungs- zu Optimierungssrrategien<br />
bei nicht perfekt zu lösenden Wahrscheinlichkeitsaufgaben . So<br />
zeigen Weirs Untersuchungen, daß höher entwickelte kognitive
Enrwicklungspsychologie <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> 11<br />
------------------- ------- .--- .. ---------.-.----- -.-----<br />
Prozesse (in diesem Falle die sogmannte Optimierungssrrategie)<br />
auch ihre Kosten haben, und zwar dann, wenn<br />
die zu bearbeitende Aufgabe keine perfekte Lösung hat.<br />
Speziell dann, wenn eine kognitive Aufgabe logisch nicht zu<br />
lösen ist, werden bei jüngeren Kin<strong>der</strong>n höhere Leistungen<br />
verzeichnet als bei älteren Kin<strong>der</strong>n und Erwachsenen. Denn<br />
ältere Kin<strong>der</strong> und Erwachsene nehmen an, daß es eine logisch<br />
perfekte Lösung gibt; nach einer solchen suchen sie und zeigen<br />
deshalb ein für diese Aufgabe inadäquates Lösungsverhalten .<br />
Ein weiteres Beispiel sind die Untersuchungen von Ross (1981)<br />
zur Entwicklung von Entscheidungsheuristikeil. Ross konnte<br />
zeigen, daß bei bestimmten Problemlösungsaufgaben später<br />
entwickelte und "reifere" Heuristiken weniger effizient sein<br />
können. Ein an<strong>der</strong>es Beispiel ist <strong>der</strong> Zweitsprachenerwerb .<br />
Wenngleich noch Uneinigkeit darüber besteht, welche<br />
Mechanismen diesem Gewinn /Verlust-Phänomen genau<br />
zugrundeliegen, scheint doch die eine Tatsache akzeptiert zu<br />
sein : die zunehmende Beherrschung <strong>der</strong> Muttersprache geht mit<br />
<strong>der</strong> zunehmenden Schwierigkeit einher, eine zweite Sprache zu<br />
erlernen (Davies, Criper & Howatt, 1984; Kellerman & Smith,<br />
1986). Über ähnliche Phänomene sich wechselseitig<br />
ausschließen<strong>der</strong> beziehungsweise inkompatibler<br />
Entwicklungsverläufe ist auch in Forschungen zum<br />
Säuglingsalter berichtet worden (Rauh, 1987).<br />
Die Gewinn/Verlust-Idee findet sich auch in Piagets<br />
Theorie, die von vielen - wohl irrtümlich - als prototypische<br />
Konzeption einer als Wachstum verstandenen Entwicklung<br />
angesehen wird. Beispielsweise beschreibt Piaget (1969) in<br />
seinen Untersuchungen zur altersbezogenen Entwicklung<br />
visueller Täuschungen solche, die mit dem Alter abnehmen,<br />
und an<strong>der</strong>e, die mit dem Alter zunehmen. Die altersgebundene<br />
Zunahme <strong>der</strong> optischen Täuschungen, die den Verlust an<br />
visueller Genauigkeit bedeuten, führte Piaget auf den<br />
Fortschritt in <strong>der</strong> kognitiven Entwicklungsstufe zurück. Ein<br />
an<strong>der</strong>es Beispiel ist <strong>der</strong> von Piaget als "Repression"<br />
bezeichnete Effekt, <strong>der</strong> sich begrifflich auf die Dynamik<br />
zwischen Wahrnehmung und kognitiven Operationen bezieht<br />
(vgl. Chapman, in Druck). Piaget hat bei sieben- bis achtjährigen<br />
Kin<strong>der</strong>n festgestellt, daß ihre realitätsangemessene<br />
Wahrnehmung dann gehemmt war, wenn sich ihre (in diesem<br />
Fall nicht realitätsangemessenen) konzeptuellen Schemata<br />
weiterentwickelten. Kraft dieses Fortschritts wurde die<br />
Wahrnehmung von <strong>der</strong> Kognition unterdrückt. In diesem Fall<br />
war also <strong>der</strong> Verlust des realitätsangemessenen perzeptuellen<br />
Urteils <strong>der</strong> Preis für die kognitive Entwicklung.<br />
Die Idee, daß jeglicher kognitiver Entwicklungsfortschritt<br />
positive wie negative Verän<strong>der</strong>ungen in<br />
<strong>der</strong> adaptiven Kapazität mit sich bringt, eröffnet ein<br />
fruchtbares Forschungsfeld. Um es zu bearbeiten, scheinen<br />
größere Anstrengungen lohnend zu sein . Auf lange Sicht sollte<br />
hier auch die Frage erörtert werden, ob und wie sich die<br />
psychologische Konzeption zur adaptiven Kapazität mit den<br />
evolutionsbiologischen Konzepten <strong>der</strong> adaptiven Fitness und<br />
lokalen Adaptation verbinden läßt. In dieser Diskussion könnte<br />
auch <strong>der</strong> Standpunkt weiter begründet werden, daß die<br />
Ontogenese - ähnlich wie es die Arbeiten von Gould und<br />
Lewontin für die Evolution belegen (Lerner, 1984) -<br />
grundsätzlich keine generelle Zunahme <strong>der</strong><br />
Adaptationsfähigkeit mit sich bringt. In dem Maße, in dem<br />
spezifische Denk- und Verhaltensformen im Verlauf <strong>der</strong><br />
Ontogenese für die Aktivierung und das Wachstum selektiv<br />
wirken, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß gleichzeitig an<strong>der</strong>e<br />
adaptive Kapazi täten geringer werden. Ob sich die auf das<br />
Kapazitätsspektrum bezogenen Verän<strong>der</strong>ungen langfris tig<br />
auswirken, dürfte von den Anfor<strong>der</strong>ungen abhängen, die sich<br />
das Individuum im weiteren Lebensverlauf selbst stellt und die<br />
es in <strong>der</strong> Umwelt antrifft. Hier gibt es also möglicherweise<br />
eine Parallele zwischen evolutionsbiologischen und enrwicklungspsychologischen<br />
Prozessen <strong>der</strong> Selektion und Adaptation,<br />
die bisher nur unzureichend erkannt und ausgearbeitet wurde<br />
(vgl. Labouvie-Vief, 1981).<br />
Plastizität <strong>der</strong> Entwicklung<br />
Ein weiterer Leitsatz <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive (vgl.<br />
Tabelle 1) betrifft die Plastizität lebenslanger Entwicklung.<br />
Plastizität bezieht sich dabei auf die intraindividuelle<br />
Variabilität und bezeichnet das Potential, das Individuen zu<br />
verschiedenen Verhaltensformen und Entwicklungsverläufen<br />
befähigt (Brandtstädter, 1984; Gollin, 1981; Lerner, 1984).<br />
Würde sich dasselbe Individuum unter an<strong>der</strong>en Bedingungen<br />
an<strong>der</strong>s entwickeln? Selbstverständlich sind<br />
Entwicklungspsychologen schon seit langem dieser<br />
spannenden Frage zur Plastizität <strong>der</strong> Entwicklung<br />
nachgegangen. Ein vergleichbar hoher Stellenwert wird ihr<br />
auch in neueren entwicklungsbiologischen (z. B.Corman,<br />
1985) und entwicklungssoziologischen (Featherman & Lerner,<br />
1985) Arbeiten zugemessen.<br />
Für die <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive wurde <strong>der</strong><br />
Plastizitätsgedanke zentral, als zunehmend argumentiert<br />
wurde, daß das grundlegende kognitive Potential älterer<br />
Menschen im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen<br />
wahrscheinlich stärker unausgeschöpft sei. Ursprünglich war<br />
die Idee <strong>der</strong> Entwicklungsplastizität an die Frage geknüpft, ob<br />
sich das intellektuelle Altern einfach durch unaufhaltsame<br />
(irre-
12 Paul B . Balres<br />
versible) Abbauprozesse kennzeichnen läßt (Baltes & Schaie,<br />
1976; Horn & Donaidson, 1976). Für diese Fragestellung boten<br />
Interventionsstudien einen passenden methodischen Zugang.<br />
Seit den frühen siebziger Jahren ist eine Reihe von<br />
Forschungsprojekten <strong>der</strong> Frage gewidmet, inwieweit sich<br />
beobachtete Altersverluste in flui<strong>der</strong> Intelligenz auf <strong>der</strong><br />
intraindividuellen Ebene als Plastizität simulieren lassen, wenn<br />
man Übung als Performanzfaktor einführt. Zum Beispiel<br />
wurden ältere Personen in <strong>der</strong> Lösung von Aufgaben zur<br />
fluiden Intelligenz trainiert (Baltes, 1984; Baltes & Kliegl,<br />
1986; Baltes & Lindenberger, 1988; Willis, 1985). Dabei<br />
wurde angenommen, daß ältere Personen im Normalfall zwar<br />
über eine geringe Testerfahrung verfügen, aber die<br />
Kapazitätsreserve (d. h. die latente Kompetenz) besitzen, um<br />
ihr Leistungsniveau auf das jüngerer Erwachsener anzuheben.<br />
Solche mit älteren Erwachsenen durchgeführten<br />
Trainingssrudien lieferten den Nachweis, daß auch im Alter ein<br />
beträchtliches Maß an Kapazitätsreserve , an Plastizität,<br />
vorhanden ist. Nach einem relativ kurzen kognitiven<br />
Trainingsprogramm hatten viele ältere Personen (im Alter<br />
zwischen 60 und 80 Jahren) ein Leistungsniveau erreicht, das<br />
mit dem vieler junger, untrainierter Erwachsener vergleichbar<br />
war. Diese Ergebnisse wurden auch für an<strong>der</strong>e Kognitionsbereiche<br />
immer wie<strong>der</strong> repliziert (z. B. Den ney, 1984;<br />
Knopf, in Druck; Labouvie-Vief, 1985). Mittlerweile ist die<br />
empirische St ützung des Plastizitätsbefundes von bis dato<br />
querschnittlichen auch auf longitudinale Vergleiche erweitert<br />
worden (Schaie & Willis, 1986).<br />
Diese Studien illustrieren die in <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n-<br />
Forschung wachsende Überzeugung, daß es eine beträchtliche<br />
Entwicklungsplastizität gibt. Deshalb werden Erkenntnisse<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> intraindividuellen Plastizität von<br />
Intelligenzleistungen heute für ebenso bedeutsam gehalten wie<br />
Erkenntnisse hinsichtlich des durchschnittlichen<br />
altersabhängigen Entwicklungsverlaufs. Will man zu einem<br />
umfassenden Verständnis eines gegebenen Entwicklungsprozesses,<br />
etwa <strong>der</strong> intellektuellen Entwicklung, kommen, so muß<br />
man sich <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong> Bedingungen zuwenden, die den<br />
interindividuellen Unterschieden im Entwicklungsverlauf<br />
zugrundeliegen, und gleichzeitig das Potential aufzeigen, das<br />
<strong>der</strong> einzelne für alternative Entwicklungsverläufe besitzt.<br />
Daraus folgt, daß jeglicher beobachtete Altersverlauf <strong>der</strong><br />
Intelligenz nur einen von vielen möglichen Entwicklungsverläufen<br />
abbildet (Brandstädter , 1984; Lerner, 1984). Es<br />
ist deshalb zu einem Hauptanliegen <strong>der</strong> Life-span-Forschung<br />
geworden, die intraindividuelle Variationsbreite und die<br />
Leistungsgrenzen des einzelnen zu bestimmen. Plastizität ist<br />
natürlich nicht<br />
grenzenlos. Wie Brandtstädter (19!:l7) gezeigt hat, unterliegt<br />
unser Wissensstand über das Ausmaß von Plastizität sowohl<br />
praktischen als auch logischen Beschränku ngen.<br />
Neuere Arbeiten zur Plastizität lebenslanger intellektueller<br />
Entwicklung haben den Blickwinkel erweitert, unter dem<br />
kognitive Trainingsstudien bis her gesehen wurden. Der<br />
Schwerpunkt hat sich vom Plastizitätsnachweis als solchem auf<br />
eine Strategie verlagert, die die Grenzen <strong>der</strong><br />
Entwicklungsplastizität aufzuzeigen versucht (Kliegl & Baltes,<br />
19!:l7). Diese Strategie ist dem in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>psychologie<br />
verwendeten Paradigma <strong>der</strong> "Zone <strong>der</strong> proximalen<br />
Entwicklung" verwandt (Ferrara, Brown & Campione, 1986).<br />
Die <strong>Lebensspanne</strong>n-Forschung zur Entwicklungsplastizität<br />
konzentriert sich daher nicht nur auf den Normalbereich des<br />
intellektuellen Verhaltens. Die Untersuchung von Verhaltensund<br />
Leistungsgrenzen ist zu einem neuen<br />
Forschungsparadigma geworden (Kliegl & Baltes, 1987). Die<br />
Forschungsstrategie, die zur Untersuchung <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Aspekte von Plastizität und ihrer Grenzbedingungen herangezogen<br />
wurde, wird als Testing-the-Limits bzw. Austesten <strong>der</strong><br />
Leistungsgrenzen bezeichnet (M. Baltes & Kin<strong>der</strong>mann, 1985;<br />
Guthke, 1982; Schmidt, 1971; Wiedl, 1984). Testing-the-<br />
Limits ist jedoch nicht eine einzige, homogene Strategie,<br />
son<strong>der</strong>n bedeutet ein Bündel von Strategien. Hierzu zählen die<br />
Anwendung von (a) verschiedenen Strategien <strong>der</strong> Kapazitätserfassung,<br />
(b) Interventionsmethoden zur Identifikation<br />
latenter Kapazitätsreserven und (c) Strategien zur<br />
Spezifizierung <strong>der</strong> Mechanismen, die dem Wachstum und<br />
Abbau zugrundeliegen .<br />
Unsere Forschung über die alterskorrelierten Grenzen<br />
intellektueller Leistungen bietet ein Beispiel für die<br />
Verwendung eines Testing-the-LimitsAnsatzes (Kliegl &<br />
Baltes, 1987). Dabei unterscheiden wir drei Aspekte von<br />
Plastizität: (a) Ausgangsleistung , (b) Ausgangs-<br />
Kapazitätsreserve und (c) Entwicklungs-Kapazitätsreserve. Die<br />
Ausgangs/eistung kennzeichnet den anfänglichen Leistungsstand,<br />
den eine Person ohne Intervention und spezielles<br />
Training in einer bestimmten Aufgabe erzielt. Die Ausgangs-<br />
Kapazitätsreserve bezeichnet die obere Grenze des<br />
Leistungspotentials einer Person, die dann sichtbar wird, wenn<br />
aufgrund bestimmter Be dingungen alle verfügbaren<br />
Ressourcen zur Leistungsoptimierung aktiviert werden. Die<br />
Ausgangs-Kapazitätsresetve wird an hand von Tests zut<br />
"maximalen" Leistung erhoben. Von Entwick/ungs-<br />
Kapazztiitsreserve schließlich sptechen wir, wenn sich die<br />
Ausgangs-Kapazitätsreserve einer Person durch geeignete<br />
Interventionen (o<strong>der</strong> durch Entwicklung) erhöht:n läßt.
Emwicklungspsycho[ogie <strong>der</strong> Lehens5p,lllnC<br />
Die Unterscheidung dieser drei Plastizitätsaspekte erlaubt<br />
es, sowohl die Plastizität als auch <strong>der</strong>en Grenzen zu<br />
untersuchen (Keil, 1981). Die Suche nach <strong>der</strong>artigen Grenzen<br />
ist dem vergleichbar, was Verhaltensgenetiker als<br />
Reaktionsnorm bezeichn
;- "<br />
14 Paul B. Baltes<br />
Kin<strong>der</strong>mann, 1985; Coper, Jänicke & Schulze, 1986; Guthke,<br />
1982; Wiedl, 1984) eignen sich möglicherweise T esting -the-<br />
Limits- Verfahren dazu, beginnende Funktionsstörungen (wie<br />
z. B. Depression, Alzheimersche Krankheit o<strong>der</strong><br />
Leseschwierigkeiten ) nicht nur leichter aufzudecken, son<strong>der</strong>n<br />
auch das verbleibende Entwicklungspotential präziser zu<br />
erfassen.<br />
Entwicklung ist durch eine Vielzahl von<br />
Einflußsystemen bestimmt<br />
Die fünfte und sechste Annahme <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n -<br />
Perspektive (historische Ein bindung, Kontextualismus)<br />
erweitern das Spektrum <strong>der</strong> Einflußgrößen, die bei <strong>der</strong><br />
erklärenden Analyse von Entwicklungsprozessen<br />
berücksichtigt werden. Es hat sich eine neue, erweiterte<br />
Taxonomie von Einflußsystemen herausgebildet, die über das<br />
hinausgeht, was in <strong>der</strong> bisherigen Forschung zur<br />
psychologischen Ontogenese als Erklärungssystem erkannt<br />
war.<br />
Ontogenese und Kontextualismus<br />
Die These zur historischen Einbindung von Entwicklung<br />
bezieht sich auf das Verhältnis zwischen individueller und<br />
kultureller Entwicklung (Baltes, 1983; Dannefer, 1984;<br />
Featherman & Lerner, 1985; Nesselroade & von Eye, 1985;<br />
Riegel, 1976). Individuelle Entwicklungsprozesse werden<br />
sowohl durch ontogenetische Prinzipien als auch durch<br />
Faktoren bestimmt, die mit den gleichzeitig ablaufenden biokulturellen<br />
Verän<strong>der</strong>ungsprozessen verknüpft sind. Ontogenese<br />
und bio-kultureller Wandel bilden daher die beiden<br />
Hauptantriebe für Entwicklung. Ebenso wie sich Individuen<br />
entwickeln, verän<strong>der</strong>t sich auch die Gesellschaft, in die<br />
individuelle Entwicklungen eingebettet sind (Riegel, 1976).<br />
Ihren theoretischen Stellenwert als Einflußgröße auf die<br />
individuelle Entwicklung erhielt die sich verän<strong>der</strong>nde Kulrur<br />
anfänglich vor allem im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Life-span-<br />
Forschung über Kohorrenunterschiede (Bahes, 1968; Schaie,<br />
1965). Später, als Konzepte zur Dialektik und zum<br />
Kontextualismus (Lerner, 1984; Lerner & Kauffman, 1985,<br />
1986; Riegel, 1976) an entwicklungstheoretischer Bedeutung<br />
gewannen, wurde die Rolle des gesells chaftlichen Wandels als<br />
Entwicklungseinfluß zunehmend stärker berücksichtigt. In<br />
Untersuchungen zu Kohorteneffekten wird die altersbezogene<br />
Entwicklung mehrerer Geburtenjahrgänge verglichen. Die<br />
dabei angewendeten Untersuchungsdesigns sind die Querschnitts<br />
- und die Längschnitt5sequenz.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n-Forschung wurden seque-ntielle<br />
Methoden vielfach angewendet (siehe Baltes, Cornelius &<br />
Nesselroade, 1979; und Nesselroade & von Eye, 1985). Die<br />
empirischen Untersuchungen bezogen sich zunächst auf das<br />
mittlere und höhere Erwachsenenalter und wurden in <strong>der</strong> Folge<br />
auch auf frühere Abschnitte <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> ausgedehnt.<br />
Schaie (1979, 1983) konnte beispielsweise für die<br />
Intelligenzenrwicklung im mittleren und höheren<br />
Erwachsenenalter zeigen, daß sich ein Großteil <strong>der</strong> Varianz in<br />
querschnittlich erfaßten Altersunterschieden vor allem durch<br />
historische Faktoren und weniger durch das chronologische<br />
Alter aufklären läßt. Was das Jugendalter angeht, konnten<br />
Nesselroade und Baltes (1974) nachweisen, daß die Art und<br />
Richtung <strong>der</strong> Persönlichkeitsentwicklung amerikaniseher<br />
Jugendlicher ebenso stark vom historischen Kontext (in diesem<br />
Fall dem Vietnamkrieg) wie von altersabhängigen Fakroren<br />
geprägt war. Ebenso überzeugend belegen die Studien von<br />
EI<strong>der</strong> (1974), die sich auf den Entwicklungsverlauf von<br />
Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Rezession (Great<br />
Depression) beziehen, daß dieser hisrorische<br />
Entwicklungskontext die spätere Persönlichkeitsentwicklung<br />
im Erwachsenenalrer beeinflußt. Hinsichtlich <strong>der</strong> frühen Kindheit<br />
schließlich hat zum Beispiel Porges (1976) nachdrücklich<br />
dargelegt, daß ein Großteil <strong>der</strong> Debatte um die<br />
Kondirionierbarkeit von Neugeborenen auf den historischen<br />
Wandel in <strong>der</strong> prä- und postnatalen Kin<strong>der</strong>pflege<br />
zurückzuführen ist.<br />
Der mögliche Einfluß von historisch bedingten<br />
Kohortenunterschieden wurde für eine Vielzahl an<strong>der</strong>er<br />
Entwicklungsbereiche untersucht. Drei weitere Beispiele seien<br />
stellvertretend dafür genannt. Das erste bezieht sich auf die<br />
historischen Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Struktur und Funktion von<br />
Familiensystemen einschließlich <strong>der</strong> sich verän<strong>der</strong>nden<br />
Charakteristika <strong>der</strong> Vaterschaft (Parke & Tinsley, 1984). Das<br />
zweite Beispiel erfaßr die historischen Verän<strong>der</strong>ungen von<br />
Lebensverläufen erwachsener Frauen (Lehr, 1987) und des<br />
Konzepts "Mutterliebe" (Schütze, 1986). Das dritte bezieht<br />
sich auf die Rolle von kultur-historischen Verän<strong>der</strong>ungen im<br />
Verhalten Jugendlicher und <strong>der</strong>en Übergang in das<br />
Erwachsenenalter (Fend, 1987; Petersen, 1988; Silbereisen,<br />
1986; Silbereis en, Boehnke & Rejkowski, 1986).<br />
Für die Life-span-Forschung war die von Schaie über 28<br />
Jahre hinweg durchgefühne Kohortensequenz-Studie zur<br />
Erwachsenenintelligenz beson<strong>der</strong>s bedeutsam. Denn die<br />
Ergebnisse Schaies (1979, 1983) zeigen insgesamt, daß die<br />
intellektuelle Entwicklung in den historischen Kontext<br />
eingebettet ist. Dementsprechend verän<strong>der</strong>t sich die Intelligenz<br />
nicht nur mit dem Alter, son<strong>der</strong>n auch mit dem
Enlwirklungspsychol"gic <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> 1<br />
----------- --------------------------------------------------------------- .--------<br />
')<br />
historischen Kontext, in dem die Intelligenzentwicklung<br />
stattfindet. Betrachten wir zum Beispiel die heute 50- o<strong>der</strong><br />
60jährigen in den USA . Hierzu konnte Schaie (1983) zeigen,<br />
daß die Kohortenumerschiede zwischen diesen beiden<br />
Altersgruppen genauso groß sein können wie die<br />
längsschnittlich über diese Altersspanne erhobenen<br />
intraindividuellen Altersverän<strong>der</strong>u ngen. Ferner konnte Schaie<br />
(1
.. " _h ••••• __ u __ ._<br />
Paul B. Baltes<br />
16<br />
------------.-------.-------.---------.----------------------------------------<br />
sowohl das Erhebungsdesign als auch die Datenanalyse und die<br />
Interpretation von Kohortenunterschieden.<br />
Neben <strong>der</strong> Erkenntnis, daß menschliche Entwicklung in<br />
einen historischen Kontext eingebettet ist und in dieser Weise<br />
verstanden werden mu ß, haben Life-span-Forscher zunehmend<br />
auf die Bedeutung weiterer kontextueller Einflüsse<br />
hingewiesen. Geschichtlich betrachtet, entzündete sich die<br />
Diskussion um weitere kontextuelle Einflüsse am Konzept <strong>der</strong><br />
kritischen Lebensereignisse (Bandura, 1982; Brim & Ryff,<br />
1980; Dohrenwend & Dohrenwend, 1974; Filipp, 1981). Vor<br />
allem für das Erwachsenenalter wurde die alleinige<br />
Abhängigkeit <strong>der</strong> Entwicklung von alrersbedingten<br />
Sozialisationsfaktoren in Frage gestellt. Demgegenüber sprach<br />
man den signifikanten Lebensereignissen im Erwachsenenalter<br />
, die in ihrer Art und Abfolge vorwiegend als idiosynkratisch<br />
zu beurteilen sind, eine wichtige Rolle als Regulatoren von<br />
Verän<strong>der</strong>ungen zu.<br />
Aus <strong>der</strong> Erkenntnis historisch bedingter Kohartenfaktoren<br />
und <strong>der</strong> Rolle an<strong>der</strong>er kontextueller Faktoren folgte eine<br />
intensive Beschäftigung mit metatheoretischen Fragen. Die<br />
GeburtSstunde des Konterxtualismus wurde entscheidend von<br />
Life-spanForschern mitgeprägt . In <strong>der</strong> Nachfolge von Riegel<br />
(197 3, 1(76) und einem gleichzeitig anwachsenden Interesse<br />
an marxistischem und hegelianischem Ge dankengut (Datan &<br />
Reese, 1977) wurde Entwicklung zunehmend unter einem<br />
dialektischen und kontextuellen Blickwinkel betrachtet (Dixon,<br />
1986; Featherman & Lerner, 1985; Lerner & Kauffman, 1985).<br />
Die damit verbundene metatheoretische Argumentation geht in<br />
ihrer radikalsten Ausprägung (Gergen , 1980) so weit, daß sie<br />
die Möglichkeit einer universalen Ontogenese prinzipiell in<br />
Frage stellt. So argumentiert Gergen, daß die psychologische<br />
Ontogenese für jeden Geburtenjahrgang und jedes kulturelle<br />
Umfeld neu entstehe.<br />
Inzwischen hat diese radikale Sichtweise gemäßigten und<br />
auch differenzierteren Positionen Platz gemacht (Brandstädter,<br />
1987; Dannefer, 1984; Featherman & Lerner, 1985; Lerner &<br />
Kauffman, 1985). Es sollte hier jedoch festgehalten werden,<br />
daß das metatheoretische Argument des Kontextualismus - so<br />
wie es aus <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspeklive hervorgegangen ist -<br />
nicht einfach mit dem ökologischen Ansatz gleichzusetzen ist,<br />
<strong>der</strong> in an<strong>der</strong>en Bereichen <strong>der</strong> <strong>Entwicklungspsychologie</strong> offenkundig<br />
wird. So kann man zwar sicher sagen, daß<br />
beispielsweise Bronfenbrenner (1977) auf die Betrachtung des<br />
Kontexts Wen legt, doch entspricht seine Konzeptualisierung<br />
des Kontexts nicht in vollem Umfang den metatheoretischen<br />
Prinzipien, die für den Life-span-Kontexruallsmus<br />
charakteristisch<br />
sind. Im Life-span-Kontextualismus wird zum Beispiel<br />
Entwicklung im Rahmen eines, wie Lerner und Kauffmann<br />
(1985) es nennen, dynamischen und probabilistischen<br />
Interaktionismus hetrachtet. Die Verwendung gleicher Begriffe<br />
(Kontext) bedeutet also keineswegs, daß auch die gleiche<br />
Metatheorie dahintersteht ; dies wurde in <strong>der</strong> Diskussion<br />
zwischen Kendler (1986) und Lerner und Kauffrnann (1985,<br />
1986) sehr schön deutlich.<br />
Eine Taxonomie von Entwick/ungseinflüssen<br />
Die vorangegangene Erörterung <strong>der</strong> interindividuellen<br />
Variabilität, <strong>der</strong> Kohortencffekte und an<strong>der</strong>er kontextueller<br />
Entwicklungsfakt üren hat den Bedarf für eine neue<br />
Konzeptualisierung von Entwicklungseinflüssen deutlich<br />
werden lassen. Pluralität und Komplexität von<br />
Entwicklungsphänomenen sU(hen ihre Entsprechung in einer<br />
gewissen Pluralität und Komplexität <strong>der</strong> Entwicklungsfaktoren.<br />
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Abbzldung 4 Darstellung <strong>der</strong> drei wichtigsten Einflußsysteme<br />
auf die lebenslange Entwicklung: alrersbezogene, kul<br />
turwandel bezogene und nicht-normative. Das sich<br />
entwickelnde Individuum reagiert auf und handelt innerhalb<br />
diest:C Einflußsysteme (nach Balres, Cornelius & Nessclroade,<br />
1979).<br />
In <strong>der</strong> Absicht, die Vielzahl und Komplexität möglicher<br />
Entwicklungseinflüsse für heuristische Zwecke zu<br />
systematisieren, wurde ein Dreifaktorenmodell vorgeschlagen<br />
(Bahes, Cornelius & Nesselroade, 1979; Baltes, Reese &<br />
Lipsitt, 1980). Dieses in Abbildung 4 veranschaulichte Modell<br />
enthält drei verschiedene Einflüsse, mit denen sich das Individuum<br />
im Laufe seiner Entwicklung auseinan<strong>der</strong>setzen muß<br />
(das heißt, daß es sie verarbeiten, darauf reagieren und damit<br />
umgehen mu ß): altersbedingte Einflüsse, geschichtlich<br />
bedingte Einflüsse und nicht-normative Einflüsse. Diese drei<br />
Einflußfaktoren sind während <strong>der</strong> gesamten Lebenszeit wirksam:<br />
ihre Wirkungen akkumulieren sich über die
Emwicklungspsychologie <strong>der</strong> <strong>Lebensspanne</strong> ] 7<br />
Zeit hinweg und sind in ihrer dynamischen Wechselwirkung<br />
für die Ausgestaltung von Lebensverläufen<br />
verantwortlich.<br />
Altenbedingte EinflüSJe wurden traditionell von den<br />
meisten Kin<strong>der</strong>psychologen und Gerontologen als primärer<br />
Entwicklungseinfluß bestimmt . Als altersbedingt bezeichnet<br />
man solche biologischen und umwelt bezogenen<br />
Determinanten, die (a) in engem Zusammenhang mit dem<br />
chronologischen Alter stehen und deshalb in ihrer zeitlichen<br />
Abfolge (Anfang, Dauer) gut vorhersagbar sind und (b) für<br />
die meisten Individuen ähnliche Einflußrichtungen<br />
aufweisen. Biologische Reifung und altersgestufte<br />
Sozialisationsereignisse sind Beispiele für solche<br />
altersbedingten Einflüsse.<br />
Geschichtlich bedingte Einflüsse umfassen zwar auch<br />
biologische und umweltbezogene Faktoren, doch sind sie in<br />
Abhängigkeit von <strong>der</strong> historischen Zeit zu sehen (Ei<strong>der</strong>,<br />
1985; Mayer, 1986; McCluskey & Reese, 1984; Neugarten<br />
& Datan, 1973; Riley, 1985). Sie stecken den weiteren<br />
evolutionären und bio-kulturellen Kontext ab, in dem sich<br />
Individuen entwickeln. Wahrscheinlich kann man von zwei<br />
Arten historisch bedingter Einflüsse ausgehen: solchen, die<br />
längerfristige Entwicklungen repräsentieren (zum Beispiel<br />
in Richtung auf die Mo<strong>der</strong>ne) und an<strong>der</strong>en, die eher<br />
periodenspezifisch sind (zum Beispiel Kriege).<br />
Nzcht-normative Einflüsse setzen sich ebenfalls aus<br />
biologischen und umweltbezogenen Faktoren zu sammen<br />
(Bandura, 1982; Callahan & McCluskey, 1983; Filipp,<br />
1981). Für diese Einflüsse ist jedoch beson<strong>der</strong>s<br />
charakteristisch, daß sich die spezifischen Kennzeichen<br />
ihres Auftretens, ihres Auftretensmusters sowie ihrer<br />
Abfolge kaum auf viele Individuen anwenden lassen. Nichtnormative<br />
Einflüsse folgen keinem generellen und<br />
vorhersagbaren Verlauf und sind - was die ontogenetischen<br />
und historischen Zeitaspekte in <strong>der</strong> Entwicklung anbelangt -<br />
nur lose auf diese zu beziehen.<br />
Dieses Dreifaktorenmodell könnte in mehrfacher<br />
Hinsicht leicht mißverstanden werden. Erstens könnte <strong>der</strong><br />
Eindruck entstehen, daß die Taxonomie <strong>der</strong> Einflußsysteme<br />
eine Theorie von entwicklungspsychologischen Prozessen<br />
und Wirkungsmechanismen darstellt. Dem ist nicht so. Im<br />
Gegenteil, es ist eine für die künftige Forschung drängende<br />
Frage, wie die Wirkungsweise und die Entwicklungspfade<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Einflußsysteme expliziert werden können<br />
und, ferner, ob dies durch bereits bekannte<br />
Entwicklungsmechanismen erreichbar ist. Zweitens könnte<br />
<strong>der</strong> Eindruck entstehen, daß das Dreifaktorenmodell ein<br />
statisches ist. Doch ist das Modell ganz im Gegenteil gerade<br />
so angelegt, daß es die zeitliche Dynamik <strong>der</strong><br />
Entwicklungssysteme (die Systeme<br />
selbst sind nicht invariant) hervorhebt und <strong>der</strong> Tatsache<br />
Rechnung trägt, daß zu einem bestimmten<br />
Entwicklungszeitpunkt die sich gemeinsam entwickelnden<br />
Individuen (zum Beispiel Großeltern, Eltern und Kin<strong>der</strong>;<br />
Tinsley & Parke, 1984) jeweils an unterschiedlichen<br />
Abschnitten eines Gesamt systems an Entwicklungseinfl<br />
üssen partizipieren. Drittens könnte <strong>der</strong> Eindruck entstehen,<br />
daß das Modell sich eher auf die normative,<br />
durchschnittliche Entwicklung als auf interindividuelle<br />
Unterschiede in <strong>der</strong> Entwicklung bezieht. Es mu ß daher<br />
betont werden, daß es innerhalb jedes <strong>der</strong> genannten<br />
Einflußsysteme interindividuelle Unterschiede gibt. In einer<br />
Debatte mit Dannefer (1984) haben Baltes und Nesselroade<br />
(1984) zum Beispiel darauf hingewiesen , daß<br />
makrostrukturelle Stratifikationsprozesse (im<br />
Zusammenhang mit Geschlecht, sozialer Schicht, ethnischer<br />
Zugehörigkeit usw.) verbunden sind mit klar abgrenz baren ,<br />
individuellen Unterschieden in Beeinflussungsmustern , die<br />
durch altersbedingte, geschichtlich bedingte und nichtnormative<br />
Faktoren gebildet werden.<br />
Einige <strong>der</strong> beschriebenen Einflußgrößen , speziell die<br />
altersbedingten, wirken allerdings stärker als an<strong>der</strong>e in<br />
Richtung auf eine interindividuclle Ähnlichkeit in den<br />
Entwicklungsrichtungen. Die altersbedingten Einflußgrößen<br />
bilden auch die Grundbestandteile jcner klassischen<br />
ontogenetischen Theorien, die ihre Erklärungsansätze<br />
vorwiegend an <strong>der</strong> physischen Reifung und <strong>der</strong><br />
altersbezogenen Sozialisation ausrichten. Die Beispiele<br />
hierfür sind Piagets Theorie <strong>der</strong> kognitiven Entwicklung<br />
o<strong>der</strong> Freuds Theorie <strong>der</strong> psychosexuellen Entwicklung. Geschichtlich<br />
bedingte Faktoren erhöhen die Variabilität <strong>der</strong><br />
menschlichen Entwicklung, da sich die historischen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen des Entwicklungskontexts unterschiedlich<br />
stark auf den Lebensverlauf auswirken. Die nichtnormativen<br />
Einflüsse schließlich bringen die Individualität<br />
o<strong>der</strong> Idiosynkrasie menschlicher Entwicklung am<br />
deutlichsten zum Vorschein.<br />
Zusammenfassend läßr sich also sagen, daß Life span-<br />
Forscher nach komplexen und pluralistischen Erklärungen<br />
für die menschliche Entwicklung suchen. Innerhalb <strong>der</strong><br />
Argumentationskette, wonach die menschliche Entwicklung<br />
höchst variabel verläuft und in einen geschichtlichen<br />
Kontext eingebettet ist, stimmen die Life-span-<br />
Wissenschaftler auch mit an<strong>der</strong>en Entwicklungspsychologen<br />
in dem Argument überein, daß die einzelnen Lebensläufe<br />
durch kontextuelle Faktoren und <strong>der</strong>en jeweils einzigartiger<br />
Einflußkom bin at ion ausgestaltet werden. Allerdings haben<br />
manche Life-span-Forscher (z. B. Dixon, 1986; Lerner &<br />
Kauffman, 1985) nicht bloß den theoretischen Stellenwert<br />
<strong>der</strong> kontextuellen Bedin gungen anerkannt. Sie sind darüber<br />
hinausgegangen
18 Paul B. Baltes<br />
und haben sich energisch dafür eingesetzt, daß zumindest<br />
eine Version des Kontextualismus-Paradigmas als zentraler<br />
metatheoretischer Zugang zu bestimmen sei, an dem sich<br />
die adäquate Untersuchung <strong>der</strong> menschlichen Entwicklung<br />
ausrichten könnte. Es ist Bestandteil des Kontextualismus,<br />
daß Entwicklung immer probabilistisch zu verstehen ist.<br />
Multidisziplinäre<br />
En twickl ungskonzeptionen<br />
Die Vielzahl <strong>der</strong> Einflüsse, die auf die Genese, Richtung<br />
und Variabilität lebenslanger Entwicklung einwirken, macht<br />
verständlich, daß die Life-span-Wissenschaftler jeden<br />
einzeldisziplinären Erklärungsansatz für unvollständig<br />
halten. Die Ursprünge und Mechanismen altersbedingter,<br />
geschichtlich bedingter und nicht-normativer Einflüsse sind<br />
im Rahmen einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin, wie<br />
etwa <strong>der</strong> Psychologie, nicht zu erfassen. Geschichtlich bedingte<br />
Einflüsse zum Beispiel sind in psychologische<br />
Konzepte und Methodologien nur schwer einzu beziehen.<br />
Eine detaillierte Darstellung <strong>der</strong> Konzeption, aus <strong>der</strong> die<br />
multidisziplinären Verbindungen bei <strong>der</strong> Erforschung<br />
lebenslanger Entwicklung hervorgehen (vg 1. Featherman,<br />
1983; Hetherington et al., 1988), würde weit über den<br />
Rahmen dieses Beitrags hinausgehen. Es sollen jedoch einige<br />
Gründe kurz erläutert werden, die den hohen Stellenwert<br />
eines multidisziplinären Zugangs verständlich machen.<br />
Erstens trägt eine multidisziplinäre Perspektive zur<br />
Aufdeckung <strong>der</strong> Lücken je<strong>der</strong> einzeldisziplinären<br />
Entwicklungs- . theorie bei. Psychologen zum Beispiel<br />
untersuchen Berufsinteressen und Karriereverläufe als<br />
personenzentrierte Phänomene; für dieselben U ntersuchungsgegenstände<br />
betonen dagegen Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler<br />
den Einfluß <strong>der</strong> sozialen Stratifikation<br />
und die Bedingungen des Arbeitsmarkts. In ähnlicher Weise<br />
untersuchen Psychologen Eltern Kind-Beziehungen im<br />
Rahmen einer eher universalistis ch anmutenden<br />
Sozialisationsperspektive , während Soziologen bei <strong>der</strong><br />
Definition von Familienstruktur und -funktion die Rolle des<br />
historischen Wandels einschließlich seiner Auswirkungen auf<br />
die Haushaltsstruktur und das erzieherische Verhalten un<br />
terstreichen.<br />
Zum zweiten bedeutet die in <strong>der</strong> Life -span-Perspektive<br />
multidisziplinär angelegte Forschung jedoch mehr als nur<br />
die Feststellung <strong>der</strong> Unvollkommenheit <strong>der</strong> eigenen<br />
Disziplin und <strong>der</strong> Stärken an<strong>der</strong>er Disziplinen. Die<br />
For<strong>der</strong>ung nach einer multidisziplinären Forschung eröffnet<br />
vielmehr auch die Möglichkeit, die multidisziplinäre<br />
Integration des Wissens voran-<br />
zutreiben und sie <strong>der</strong> separatistischen Differenzie rung des<br />
disziplinspezifischen Wissens gegenüberzustellen. Die<br />
<strong>Lebensspanne</strong>n-Forschung bietet in diesem Sinne ein<br />
beson<strong>der</strong>s geeignetes Forum für disziplinübergreifende ,<br />
integrative und differenzierende Anstrengungen. Das von<br />
einem Komitee des U. S. Social Science Research Council<br />
herausgegebene Buch über multidisziplinäre Perspektiven<br />
<strong>der</strong> Lebenslaufforschung enthält hierzu eine Reihe von<br />
fruchtbaren Beiträgen und Anregungen für neue disziplinübergreifende<br />
Forschungsprogramme (Sc,tlfensen, Weinert<br />
& Sherrod, 1986). In ähnlicher Weise zeigt Petersen (1988;<br />
siehe auch Silbereisen, 1986 und Silbereisen et al. , 1986) in<br />
dem ersten Annual Review Sammelreferat über das<br />
Jugendalter, wie eine <strong>Lebensspanne</strong>n-Perspektive die<br />
psychologische Jugendforschung zu neuen interdisziplinären<br />
Sichtweisen drängt.<br />
Summary<br />
Life -span developmental psychology involves the srudy of<br />
constancy and change in behavior throughout the life course.<br />
One aspect of life-span work has been the advancement of a<br />
more general, metatheoretical view on the nature of<br />
development. The family of theoretical perspectives<br />
associated with this metatheoretical view of life -span<br />
developmental psychology includes the recognition of<br />
multidirectionality in ontogenetic change; consi<strong>der</strong>ation of<br />
both ageconnected and disconnected developmental factors;<br />
a focus on the dynamic and continuous interplay between<br />
growth (gain) and decline (Ioss); emphasis on historical<br />
embeddedness and other structural conrextual factors; and<br />
the study of the range of plasticity in development.<br />
Application of the family of perspectives associated with<br />
life-span developmental psychology is illustrated for the<br />
domain of intellectual development. Two recently emerging<br />
perspectives of the family of beliefs are given particular<br />
attention. The first proposition is methodological and<br />
suggests that plasticity can best be studied by a research<br />
strategy called testing-the-limits. The second proposition is<br />
theoretical and proffers that any developmental change<br />
inlcudes the joint occurrence of gain (growth) and loss<br />
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