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Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) - Commonweb

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Vorlesung Philosophie der Geschichte Herbst 2008 Wolfjc<br />

<strong>Gotthold</strong> <strong>Ephraim</strong> <strong>Lessing</strong> (<strong>1729</strong>-<strong>1781</strong>)<br />

1. <strong>Lessing</strong> war ein bedeutender Dramatiker („Nathan der Weise“, „Minna von Barnhelm“,<br />

„Emilia Galotti“), Dichter (Fabeln) und Theaterkritiker („Hamburgische Dramaturgie“)<br />

der deutschen Aufklärung. Als Herausgeber der Schrift „Von Duldung der Deisten.<br />

Fragmente eines Ungenannten“ (Auszüge aus der historischen Bibelkritik von Hermann<br />

Samuel Reimarus 1694-1768) mischte er sich in die theologische Diskussion seiner Zeit<br />

ein. Zuvor und nachher nahm er Stellung zu theologischen Disputen („Leibniz von den<br />

ewigen Strafen“) und stellte sich wiederholt auf die Seite von Ketzern wie Jan Hus,<br />

Berengar und Adam Neusser. Er liess sich in eine Polemik mit dem orthodoxen Pastor<br />

Goetze ein. In diesem Zusammenhang entstand auch seine Schrift „Die Erziehung des<br />

Menschengeschlechts“ (verfasst 1777, veröffentlicht 1780).<br />

2. <strong>Lessing</strong> verfasste mit den 100 Paragraphen seiner „Erziehung des Menschengeschlechts“<br />

eine Programmschrift der Geschichtsphilosophie, deren Hintergrund die<br />

Akkomodationstheorie bildet. Die Bibel läßt sich lesen als Beitrag zur Humanisierung<br />

der Menschheit. Gott hat seine Mitteilungen an den historischen Entwicklungsstand der<br />

Menschen angepasst, so wie ein Lehrer oder Erzieher, der sich den verschiedenen Stufen<br />

seiner Schüler anpasst. Das Alte Testament spricht zur Menschheit in ihrem Stadium der<br />

Kindheit, mit vielen Wundern und väterlichen Tröstungen, Ermahnungen und Drohungen.<br />

3. Das Motto der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (= EM) stammt von Augustinus:<br />

Haec omnia inde esse quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt. (All dies ist aus<br />

denselben Gründen in gewisser Hinsicht wahr, aus denen es in gewisser Hinsicht falsch<br />

ist. Soliloquia, 2. Buch, Kap. 10) <strong>Lessing</strong> verwendet dieses Modell der Perspektiven und<br />

Teilwahrheiten auch als Grundlage des Toleranzgedankens in der Ringparabel seines<br />

Stückes „Nathan der Weise“. Drei Teile eines Ringes werden an drei Söhne verteilt. Dies<br />

ist ein Gleichnis auf die sich ergänzenden Teilwahrheiten der grossen Religionen und eine<br />

Kritik an Überheblichkeit.<br />

4. Die Humanisierung in der Geschichte erfolgt, als ob sich Gott den verschiedenen<br />

Entwicklungsstufen der Menschheit angepasst hätte. Die theologische Rede von einem<br />

göttlichen Führer und Pädagogen ist nur noch als uneigentliche oder metaphorische Rede<br />

zu verstehen. Damit wird eine teilweise Ablösung der Geschichtsphilosophie von der<br />

Theologie vollzogen.<br />

5. <strong>Lessing</strong> selber neigt zum Deismus (Gott als Ursprung der Welt, der aber nicht mehr in die<br />

Schöpfung eingreift) und zum Pantheismus (Gott als Wesen der Welt bleibt nicht<br />

ausserhalb, sondern ist der Welt immanent). Die anthropomorphe Konstruktion eines die<br />

Menschen erziehenden Gottes wäre – buchstäblich theologisch verstanden – mit <strong>Lessing</strong>s<br />

eigenen Prämissen unvereinbar. <strong>Lessing</strong> hat die christliche Theologie implizit bereits<br />

hinter sich gelassen und entwickelt eine postchristliche Auffassung von Geschichte.<br />

6. In Anlehnung an mittelalterliche Theologien wie Joachim di Fiore konstruiert <strong>Lessing</strong> die<br />

Entwicklungsstufen der Menschheit in drei Zeitaltern. (Vgl. EM §§ 87-90) Die triadische<br />

Konstruktion wird zur Grundlage der Interpretation der Bibel.


7. Das Alte Testament ist ein autoritäres Elementarbuch für die erste Stufe; es funktioniert<br />

auf der Grundlage der Erziehung durch Strafe und Belohnung (vgl. EM § 16). Es verweist<br />

aber bereits über diese Stufe hinaus, nämlich durch eine Erziehung zu einem heroischen<br />

Gehorsam (vgl. EM §§ 32f.) und durch Hinweise auf die Unsterblichkeit der Seele. (Vgl.<br />

EM §§ 43-47)<br />

8. Das Neue Testament verkörpert die zweite Stufe: die Reinheit des Herzens im Blick auf<br />

das ewige Leben der Seele. Christus war „der erste zuverlässige, praktische Lehrer der<br />

Unsterblichkeit der Seele“ (EM § 53-58) Das Neue Testament wurde das „zweite bessere<br />

Elementarbuch für das Menschengeschlecht“ (EM § 64) Es bewirkte eine höhere Stufe der<br />

Moral, „eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein anderes Leben“. (EM § 61)<br />

9. Im Unterschied zu Reimarus betrachtet <strong>Lessing</strong> die Religion nicht als eine Form von<br />

Priesterbetrug. Religion läßt sich im Rückblick vielmehr als Katalysator der moralischen<br />

Aufklärung interpretieren. Die vermeintliche Offenbarung hat als Ersatz und Abkürzung<br />

der Vernunft gewirkt; sie hat den Menschen wichtige moralische Wahrheiten vermittelt,<br />

die diese mit ihrer unreifen Vernunft nicht (oder nicht so schnell) gefunden hätten.<br />

10. <strong>Lessing</strong>s Schrift verweist auf eine dritte Stufe der vollkommenen Autonomie, in der sich<br />

die Menschen nicht mehr an Offenbarungen, sondern nur noch an die eigene Vernunft<br />

halten werden. Dies ist das Dritte Reich der Zukunft, in dem sich die Transformation von<br />

Religion in Moral vollenden wird. Hintergrund der Geschichtsphilosophie bilden diese<br />

Anregungen des ketzerischen Chiliasmus, dem gemäß das Reich des Vaters durch das<br />

Reich des Sohnes und dieses durch das Reich des Heiligen Geistes sukzessiv abgelöst<br />

wird. Die Menschen werden in Zukunft so mündig sein, daß sie keiner Offenbarung,<br />

keiner Wunder und keiner göttlichen Sanktionen mehr bedürfen.<br />

11. Aus der Sicht der vollkommenen Aufklärung ist Jesus vor allem ein von Gott erleuchteter<br />

Lehrer. Er lehrt nicht theoretische Wahrheiten, sondern praktische Wahrheiten, die sich<br />

auf die Nächstenliebe, das Verzeihen des Bösen und die eminente Bedeutung der<br />

Friedensstifter beziehen. <strong>Lessing</strong> will aber die theologischen Lehren der Trinität und der<br />

Göttlichkeit Christi nicht angreifen oder abstreiten. Er stellt das praktische Christentum<br />

dem blossen Vernünfteln und dem fanatischen Streit um Worte entgegen.<br />

12. Im Mittelpunkt von <strong>Lessing</strong>s Religionsauffassung steht nicht die Dogmatik, sondern der<br />

nach Wahrheit suchende Mensch, sein Herz und die Tat. Die Suche nach Wahrheit soll<br />

auch in der Zukunft fortgesetzt werden. Wichtiger als der Besitz der Wahrheit ist die<br />

Unruhe des nach Sinn und Wahrheit suchenden und praktisch tätigen Menschen. Vorbild<br />

dieser Haltung ist Sokrates.<br />

Literatur:<br />

<strong>Lessing</strong>, <strong>Gotthold</strong> <strong>Ephraim</strong> (1997/1780): Die Erziehung des Menschengeschlechts (Bibliothek<br />

der Erstausgaben), München: dtv.<br />

Förster, Wolfgang (2008): Klassische deutsche Philosophie. Grundlinien ihrer Entwicklung,<br />

Frankfurt a.M. etc.: Lang, 23-35.<br />

Raulet, Gérard (1995) (éd.): Aufklärung. Les lumières allemandes, GF-Flammarion.

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