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Montag<br />
27. Dezember 2010<br />
Oberaargau<br />
von Rosmarie Christen zerschnitt<br />
Ein Herz und eine Seele: Rosmarie Christen streichelt Iselle. Das stattliche Halbblut-Pferd traf sie vor 17 Jahren bei einem Ausritt am Kopf.<br />
mals schreibt sie «Judihui».<br />
«Skorpione sind charmant und<br />
humorvoll», weiss die Astrologie.<br />
«Die Direktheit ist Rosmaries<br />
Stärke», sagt Freundin Susanne<br />
Wetz.<br />
Den Zopf musste Rosmarie<br />
Christen während der Ausbildung<br />
zur Krankenschwester<br />
dann bald einmal abschneiden.<br />
Er war zu lang und zu schwer, er<br />
passte nicht unter die Haube.<br />
Heute trägt sie die Haare zu einem<br />
Pferdeschwanz zusammengebunden,<br />
die Stirnfransen reichen<br />
bis zu den Augenbrauen.<br />
Ihre Haare sind braun, schimmern<br />
rötlich im Licht. Gefärbt.<br />
Rosmarie Christen hasst graue<br />
Haare, sie reisst sie alle aus. «Bis<br />
du eine Glatze hast», foppt die<br />
Mutter. Die Tochter lacht und<br />
buchstabiert. «Ich bin uralt, weil<br />
ich so grau bin.» Wieder so ein<br />
Spruch. Wieder streckt sie die<br />
Hand aus, zum Abklatschen.<br />
Erinnern Sie sich an den Unfall?<br />
«Nein, zum Glück nicht. Nur dass<br />
es heiss wurde.»<br />
Mutter: «Das kam vermutlich daher,<br />
weil im Spital ihr Rücken<br />
wund gelegen war.»<br />
Welches ist Ihre erste Erinnerung<br />
nach dem Aufwachen?<br />
«Die Mama, sie war immer da,<br />
wenn ich sie brauchte.»<br />
Mehr als ein Jahr blieb Rosmarie<br />
Christen im Inselspital. Jeden<br />
Tag reiste die Mutter nach Bern.<br />
Sie sass am Bett und hoffte. Sie<br />
«Es gibt ein Vor dem<br />
Unfall und ein Nach<br />
dem Unfall. Aber<br />
nicht nur im<br />
schlimmen Sinn.»<br />
Die Mutter<br />
Thomas Peter<br />
begleitete ihre Tochter auf dem<br />
täglichen Therapie-Marathon.<br />
Als Rosmarie Christen nach Hause<br />
durfte, konnte sie wieder sitzen,<br />
stehen und schlucken. Die<br />
Sprache blieb im Jura verschollen.<br />
Es passierte wenige Wochen<br />
nach Rosmarie Christens Rückkehr<br />
auf den elterlichen Hof: Der<br />
Freund verkündete, er wolle auswandern.<br />
Die Mutter sagte ihm:<br />
«Das werden wir jetzt auch noch<br />
überleben.» Und eines Tages<br />
standen die Möbel vor dem Hof.<br />
Die Möbel aus der gemeinsamen<br />
Wohnung, die Rosmarie Christen<br />
vor dem Unfall mit ihrem Freund<br />
geteilt hatte. Diesmal blieb die<br />
Erinnerung hängen, sie bohrte<br />
sich tief ins Gedächtnis. Nachts<br />
träumt Rosmarie Christen<br />
manchmal von ihrem früheren<br />
Freund. Sie sagt ihm die Meinung,<br />
sie flucht. «Was ich sonst<br />
nicht kann.» Sie hat ihn nie mehr<br />
gesehen.<br />
Der Unfall hat das Leben auf<br />
dem Hof zerschnitten. «Es gibt<br />
ein Vor dem Unfall und ein Nach<br />
dem Unfall», sagt die Mutter.<br />
«Aber nicht nur im schlimmen<br />
Sinn.» Freunde sind verschwunden,<br />
andere, Bekannte, sind zu<br />
Freunden geworden. «Es hat gesiebt»,<br />
sagt die Mutter. Und da<br />
sind die Prominenten. Der Wirt<br />
des Restaurants Sonne auf der<br />
Wäckerschwend, eines kleinen<br />
Lokals in den Buchsibergen,<br />
machte die Familie mit Polo Hofer<br />
bekannt. Der Musiker weinte,<br />
als er erfuhr, dass die Ärzte versucht<br />
hatten, Rosmarie Christen<br />
mit seinen Liedern Leben einzuhauchen.<br />
Auch der Obdachlosen-Pfarrer<br />
Ernst Sieber ist ein<br />
regelmässiger Gast bei den Christens.<br />
Er hat einmal ein TV-Team<br />
angeschleppt. «Wäre der Unfall<br />
nicht gewesen, hätten wir die alle<br />
nicht kennengelernt», sagt die<br />
Mutter.<br />
Die Mutter ist 69 Jahre alt. Der<br />
Tag wird kommen, an dem sie die<br />
Tochter nicht mehr rund um die<br />
Uhr pflegen kann. Das Netz der<br />
Familie ist engmaschig. Aber gibt<br />
es einen Plan für die Zukunft?<br />
Die Mutter steht an der Spüle,<br />
stumm rüstet sie Salat. Dann sagt<br />
sie: «Irgendwie geht es immer.»<br />
Die Finger von Rosmarie Christen<br />
kreisen über den Buchstaben.<br />
Sie scheint zu überlegen. Dann<br />
buchstabiert sie. «Die Zukunft<br />
macht Angst.»<br />
«Rosmarie macht Fortschritte.<br />
Ihre Motorik wird besser. Sie will<br />
besser werden, sie hat einen sehr<br />
starken Willen.» Das sagt Susanne<br />
Wetz, die regelmässig auf dem<br />
Hof der Christens zu Besuch ist.<br />
Logopädin Eliane Bötschi vom<br />
Spital Langenthal sagt: «Es geht<br />
immer noch vorwärts bei Rosmarie.»<br />
Die «Arbeit an der Zunge»,<br />
wie es die Logopädin nennt,<br />
fruchtet. Irgendwann kann Ros-<br />
marie Christen vielleicht wieder<br />
einzelne Worte sagen.<br />
Therapie ist Training. Ohne zu<br />
kleckern Kaffee trinken bei der<br />
Logopädin. Am Einkaufswagen<br />
durch die Spitalgänge spazieren<br />
bei der Physiotherapeutin. Zu<br />
Hause von Hand Briefe schreiben<br />
und Kreuzworträtsel lösen.<br />
Kürzlich waren Mutter und<br />
Tochter erstmals ohne Rollstuhl<br />
in der Migros. Und neuerdings<br />
geht die Tochter zu Hause sogar<br />
«Hunde merken,<br />
wenn es mir<br />
schlecht geht. Sie<br />
sind viel treuer als<br />
Menschen. Und<br />
Nina ist solidarisch<br />
mit mir. Ein Ross<br />
hat sie am Auge<br />
getroffen.»<br />
Rosmarie Christen<br />
ans Telefon. Kennen die Anrufer<br />
die Familie, hinterlegen sie ihre<br />
Nachricht. Kennen sie die Familie<br />
nicht, hängen sie wieder auf.<br />
Und eine Domäne hat die gelernte<br />
Operationsschwester sowieso<br />
behalten: Wälzen Verwandte<br />
oder Bekannte ein medizinisches<br />
Problem, ist Rosmarie Christen<br />
ihre erste Anlaufstelle.<br />
Rosmarie Christen steht auf<br />
und geht am Arm ihrer Mutter<br />
langsam zur Tür. Die Beine wackeln.<br />
Zum Stall von Iselle sind es<br />
nur ein paar Meter. Iselle hat den<br />
besten Platz. Das macht das tägliche<br />
Ritual für Rosmarie Christen<br />
leichter. Auf der Internetseite ihrer<br />
Stallung schreiben die Christens:<br />
Pferde sind unser Leben,<br />
und wir leben für die Pferde.<br />
Dominik Balmer<br />
Dieser Text ist die Abschlussarbeit<br />
des Autors für die Luzerner Journalistenschule<br />
<strong>MAZ</strong>.