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Claude Macho in Boston

„Küssen gehörte bestimmt dazu, nicht wahr?“ fragte ich. „Ja, aber zärtlich sein, ist unverzichtbar. Eine Frau wünscht, dass du in ihr die Fee siehst, und dich entsprechend sanft und milde ihr gegenüber verhältst.“ ergänzte Jeanne. „Ist das bei allen so? Bist du da sicher? Meinst du nicht auch, dass es unter ihnen Jeanne d'Arcs gibt, die gern im Kampf erobert werden möchten?“ ich darauf. Jeanne stürzte sich auf mich und warf mich um. „Jeanne d'Arc hat sich nicht erobern lassen, sie hat selbst erobert. Das ist seitdem bei allen Frauen auf der ganzen Welt, die Jeanne heißen, so. Sie erobern, man kann sie nicht bezwingen.“ Jeannes launige Reaktion. Was für eine Welt?

„Küssen gehörte bestimmt dazu, nicht wahr?“ fragte ich.
„Ja, aber zärtlich sein, ist unverzichtbar.
Eine Frau wünscht, dass du in ihr die Fee siehst,
und dich entsprechend sanft und milde ihr gegenüber
verhältst.“ ergänzte Jeanne. „Ist das bei allen so?
Bist du da sicher? Meinst du nicht auch,
dass es unter ihnen Jeanne d'Arcs gibt,
die gern im Kampf erobert werden möchten?“ ich darauf.
Jeanne stürzte sich auf mich und warf mich um.
„Jeanne d'Arc hat sich nicht erobern lassen,
sie hat selbst erobert. Das ist seitdem bei allen Frauen
auf der ganzen Welt, die Jeanne heißen, so.
Sie erobern, man kann sie nicht bezwingen.“
Jeannes launige Reaktion. Was für eine Welt?

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Evimad<br />

<strong>Claude</strong><br />

<strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong><br />

Liebe lernen mit Jeanne<br />

Erzählung<br />

All mank<strong>in</strong>d love a lover.<br />

Ralph Waldo Emerson<br />

„Küssen gehörte bestimmt dazu, nicht wahr?“ fragte ich.<br />

„Ja, aber zärtlich se<strong>in</strong>, ist unverzichtbar.<br />

E<strong>in</strong>e Frau wünscht, dass du <strong>in</strong> ihr die Fee siehst,<br />

und dich entsprechend sanft und milde ihr gegenüber<br />

verhältst.“ ergänzte Jeanne. „Ist das bei allen so?<br />

Bist du da sicher? Me<strong>in</strong>st du nicht auch,<br />

dass es unter ihnen Jeanne d'Arcs gibt,<br />

die gern im Kampf erobert werden möchten?“ ich darauf.<br />

Jeanne stürzte sich auf mich und warf mich um.<br />

„Jeanne d'Arc hat sich nicht erobern lassen,<br />

sie hat selbst erobert. Das ist seitdem bei allen Frauen<br />

auf der ganzen Welt, die Jeanne heißen, so.<br />

Sie erobern, man kann sie nicht bezw<strong>in</strong>gen.“<br />

Jeannes launige Reaktion. Was für e<strong>in</strong>e Welt?<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 1 von 26


<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> - Inhalt<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong>.................................................................4<br />

Fertiger Mann................................................................................. 4<br />

Verwelkte Blumen.......................................................................... 4<br />

Beziehungsunfähig......................................................................... 6<br />

Studium.......................................................................................... 6<br />

Leonora.......................................................................................... 7<br />

Perle <strong>Boston</strong>................................................................................... 8<br />

Leonoren Ouvertüren.....................................................................9<br />

<strong>Boston</strong> Boy................................................................................... 10<br />

Abschiedskonzert......................................................................... 11<br />

Ke<strong>in</strong> Zauberland und ke<strong>in</strong>e Sterne................................................12<br />

Purzelbäume me<strong>in</strong>er Psyche.........................................................13<br />

Du bist e<strong>in</strong> <strong>Macho</strong>......................................................................... 14<br />

Jeanne d'Arc hat sich nicht erobern lassen...................................15<br />

O Nachtigall.................................................................................. 16<br />

Jeanne, die so sehr geliebt hat..................................................... 18<br />

Completely Disturbed................................................................... 19<br />

Ich wollte eigentlich zu dir........................................................... 20<br />

Neue Planungslage....................................................................... 21<br />

Mutters Liebe................................................................................22<br />

Neue Bilder der Liebe?..................................................................23<br />

Reise zum Mittelpunkt me<strong>in</strong>er selbst............................................23<br />

Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>nen wurden zu allen Zeiten entführt............................24<br />

Dilana, die aus Wolle.................................................................... 25<br />

Freudig wie e<strong>in</strong> Held zum siegen.................................................. 25<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 2 von 26


<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong><br />

Fertiger Mann<br />

Bei Übergängen zwischen zwei Lebensstadien oder sozialen Zuständen e<strong>in</strong>es<br />

Menschen werden <strong>in</strong> der Regel sogenannte Passagenriten veranstaltet. Im Alter<br />

von vierzehn nehmen dich die Kirchen per Konfirmation oder Firmung <strong>in</strong> den<br />

Kreis der Erwachsenen auf. Die Matura, e<strong>in</strong> anderer Name für Abitur, besche<strong>in</strong>igt<br />

dir die Bildungsreife. Mit vierundzwanzig bist du als Mann eigentlich fertig.<br />

Bist nicht nur körperlich ausgewachsen und fit, sondern hast auch de<strong>in</strong>e gesellschaftliche<br />

Rolle gefunden, arbeitest, verdienst de<strong>in</strong> Geld, hast e<strong>in</strong>e feste Beziehung<br />

oder bist sogar verheiratet und hast schon K<strong>in</strong>der. E<strong>in</strong>en Initiationsritus<br />

für den fertigen Mann gibt es aber nicht, und ich, obwohl auch vierundzwanzig,<br />

war es auch, glaube ich, noch nicht so richtig. Ich war noch e<strong>in</strong> Lernender,<br />

verdiente ke<strong>in</strong> Geld, sondern musste dafür bezahlen, hatte ke<strong>in</strong>e Frau<br />

und auch ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der. Student der Amerikanistik war ich. Fürs nächste Semester<br />

wollte ich <strong>in</strong> die USA. Das war spät, aber unverzichtbar. Viele hatten<br />

schon als Schüler e<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> den USA gelebt, was letztlich der Grund für ihr<br />

Studium war. Dass ich ke<strong>in</strong>e Frau oder feste Freund<strong>in</strong> hatte, erwies sich <strong>in</strong> diesem<br />

Fall als günstig. So brauchte ich niemanden zu verlassen und ihn durch<br />

me<strong>in</strong> Fernse<strong>in</strong> zu quälen. Warum ich ke<strong>in</strong>e feste Freund<strong>in</strong> oder Partner<strong>in</strong> hatte,<br />

ist e<strong>in</strong>e komplizierte Geschichte und basiert wahrsche<strong>in</strong>lich auf e<strong>in</strong>er psychischen<br />

Macke von mir, deren Ursache ich aber nicht kenne.<br />

Verwelkte Blumen<br />

Ob ich Frauen mochte? Ja natürlich, welcher Mann mag Frauen nicht, wenn er<br />

nicht homoerotisch veranlagt ist. Das liegt nun mal <strong>in</strong> unseren Genen, wenn's<br />

anders wäre, hätte die Evolution uns schon vergessen. Der Zweck, der dah<strong>in</strong>ter<br />

liegt, ist ja das K<strong>in</strong>derzeugen und so zu unserer Arterhaltung beizutragen. Der<br />

Akt, der zum K<strong>in</strong>derzeugen erforderlich war, lag mir ja noch, aber der sozialen<br />

Errungenschaften, <strong>in</strong> die er meistens e<strong>in</strong>gebunden ist, wie langfristige Beziehungen<br />

oder Liebe, sah ich mich nicht mächtig. Liebe? Ne<strong>in</strong> das stimmt nicht.<br />

Ich liebte N<strong>in</strong>a ja. Vielleicht zu sehr sogar. Sie sprach <strong>in</strong> mir, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Unbewussten,<br />

etwas an, das mich bewegte. Ich sprach sie nicht an, weil ich mit ihr<br />

<strong>in</strong>s Bett wollte. Ihre Stimme, ihre Mimik, wie sie ihren Körper bewegte, ihr<br />

Blick lösten <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong> starkes Bedürfnis nach mehr von N<strong>in</strong>a aus, ich wollte<br />

mehr von ihr hören, mehr von ihr erleben. Sie war e<strong>in</strong>e Blume, die mir, me<strong>in</strong>en<br />

Augen und me<strong>in</strong>en Ohren geschenkt worden war, und die me<strong>in</strong> Empf<strong>in</strong>den bewegte.<br />

Sie war e<strong>in</strong> Buch, das ich gerne aufschlagen und die vielen bunten Bilder<br />

dar<strong>in</strong> betrachten würde. E<strong>in</strong>e Kette von Perlen war sie, die bunt geschmückte<br />

Häuser zierte. Es gefiel mir sie zu verstehen, mich <strong>in</strong> sie h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu<br />

fühlen und mich ganz auf sie e<strong>in</strong>zulassen. Wenn sie später mit mir <strong>in</strong>s Bett<br />

wollte, war das denn me<strong>in</strong>e Schuld? Schuld gab es überhaupt nicht. Wir woll-<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 3 von 26


ten es ja beide, und es hatte uns sehr gefallen. Für N<strong>in</strong>a war es selbstverständlich<br />

nur das Erlebnis dieses Abends und dieser Nacht. Sie hatte e<strong>in</strong>en festen<br />

Partner. Es blieb <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong> sehr freundliches Verhältnis, das schon<br />

den unterschwelligen Ton e<strong>in</strong>er gewissen Verbundenheit spüren ließ. So war es<br />

häufig, aber es kam auch vor, dass jemand es fortsetzen wollte. Natürlich<br />

konnte ich noch mit Anett den nächsten Tag verbr<strong>in</strong>gen und auch wieder mit<br />

ihr <strong>in</strong>s Bett gehen, aber die Blume war verwelkt, ich konnte sie nicht mehr<br />

leuchten sehen, das Feuer war erloschen. In der Ausstellung hatte ich die Betrachtung<br />

ihres Bildes abgeschlossen und befand mich auf dem Weg zum<br />

nächsten.<br />

Aber das g<strong>in</strong>g ja mit allen so. Ich unterhielt mich mit Nad<strong>in</strong>e, das Gespräch<br />

wurde immer freundlicher und vertraulicher, wir lachten immer mehr und im<br />

Lachen schienen wir uns immer näher zu kommen. Grundsätzlich wird wohl jeder<br />

Mensch für den anderen offen se<strong>in</strong> und sich darüber freuen, wenn er sich<br />

ihm öffnet. Als Verführer oder Womanizer sah ich mich ke<strong>in</strong>esfalls. Es wurde im<br />

Gespräch nur immer bald sehr vertraulich, und die Blicke bekamen e<strong>in</strong>en anderen<br />

Touch, sie sagten etwas, das wohl auch anderes vermittelte als der Inhalt<br />

der verbalen Informationen. Wenn die Kommunikation de<strong>in</strong>e Seele streichelt,<br />

ist das Bedürfnis, auch de<strong>in</strong>e Haut gestreichelt zu bekommen nicht fern. Nachdem,<br />

was de<strong>in</strong>e Wahrnehmung im Gespräch vermittelt bekommt, spürt auch<br />

de<strong>in</strong> Körper bald Verlangen. Du empf<strong>in</strong>dest nicht nur die Unterhaltung als angenehm,<br />

sondern fühlst auch körperlich Wärme oder Wohlgefühl.<br />

Zuerst gemerkt hatte ich das schon <strong>in</strong> der Schule. Ich weiß nicht, ob die Mädchen<br />

mich mochten, aber unbeliebt war ich jedenfalls nicht. Ich g<strong>in</strong>g gern zu<br />

den Fèten, unterhielt mich meistens mit Mädchen, auch denen die als Tussis<br />

galten. Wenn du nach e<strong>in</strong>igen Worten ihnen e<strong>in</strong> wenig näher gekommen bist,<br />

sprechen sie ganz anders, <strong>in</strong> der Regel jedenfalls. Ich hatte nichts gemacht<br />

oder beabsichtigt, hatte nur gut zugehört, wollte sie ja schließlich verstehen.<br />

Wozu unterhältst du dich sonst mit jemandem. Na gut, du kannst dich mit e<strong>in</strong>em<br />

anderen unterhalten, um ihm de<strong>in</strong>e Heldentaten zu vermitteln, aber danach<br />

regte sich bei mir ke<strong>in</strong> Verlangen. Die anderen Menschen, ihre Sichtweisen,<br />

wie sich für sie das Leben darstellte, <strong>in</strong>teressierten mich. Ich las viel, aber<br />

die realen Erfahrungen waren schon immer wundervolle Bücher, die mich vieles<br />

lehrten und zum Nachdenken anregten. Vor allem ließt du sie nicht nur, du erlebst<br />

sie, was Bücher dir trotz aller Imag<strong>in</strong>ation und Fantasie nicht vermitteln<br />

können. Mädchen s<strong>in</strong>d da ehrlicher, Jungs können es sich nur schwer verkneifen,<br />

ihre eigene Grandezza zu preisen. In den Gesprächen kamen wir uns<br />

meistens recht nahe und es wurde es oft sehr vertraulich, gleichgültig ob das<br />

Mädchen e<strong>in</strong>en Freund hatte oder nicht. Auch für mich e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> zu f<strong>in</strong>den,<br />

da hätte ich sicher ke<strong>in</strong>e Probleme gehabt. E<strong>in</strong>mal hatte ich es ja auch versucht.<br />

Natürlich war es prima mit Carole <strong>in</strong>s K<strong>in</strong>o zu gehen, aber anschließend<br />

geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong>s Bett? Warum? Weil wir es schon mal gemacht hatten und es<br />

sehr schön gewesen war? Das kannst du nicht wiederholen. Gefühle und Empf<strong>in</strong>dungen<br />

waren das, die sich nicht reproduzieren lassen. Damals war der Vogel<br />

der Liebe dagewesen, wir konnten ihn nicht e<strong>in</strong>fach wieder bestellen. Ich<br />

bekam ja mit, dass die anderen e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> hatten, mit der sie g<strong>in</strong>gen und<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 4 von 26


immer zusammen waren. Nichts wünschte ich mir mehr, als das auch haben zu<br />

können. E<strong>in</strong>e Liebesbeziehung die mich und me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> fest verbunden<br />

hätte, und wir uns jeden Abend aufe<strong>in</strong>ander freuen würden. Ich fand Carole<br />

ganz nett, und würde auch nicht vergessen, wie sie mich begeistert hatte, und<br />

wie schön unsere Liebe war, aber ich empfand es als gewesen und<br />

abgeschlossen und zu Weiterem konnte ich jetzt ke<strong>in</strong> Verlangen mehr spüren.<br />

Beziehungsunfähig<br />

Beziehungsunfähig war ich, aber waren das denn ke<strong>in</strong>e Beziehungen, die ich<br />

für e<strong>in</strong>en Abend und e<strong>in</strong>e Nacht hatte? Ich ließ mich doch äußerst emphatisch<br />

auf die Frau e<strong>in</strong>, sonst wäre es bestimmt nicht zu der geme<strong>in</strong>samen Nacht gekommen.<br />

Ich tat es nicht deshalb, es geschah ohne jeden Zweck und ohne<br />

jede Absicht, nur weil es mir gefiel und ich Lust an dem Gespräch hatte.<br />

Warum fremde Frauen mich begeistern konnten, aber nicht mehr am Morgen<br />

danach, blieb mir jedoch e<strong>in</strong> Rätsel. Ich konnte allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> fast jeder Frau etwas<br />

erkennen, das <strong>in</strong> mir den Wunsch weckte, näher mit ihr zu tun zu haben,<br />

ich musste sie nur <strong>in</strong>tensiv konzentriert betrachten, dann zeigten sich ganz andere<br />

Bilder <strong>in</strong> mir als die bei e<strong>in</strong>em oberflächlichen Blick. Ich denke, dass dir<br />

das Konglomerat aus allen Äußerungen, die e<strong>in</strong> Mensch dir vermittelt, e<strong>in</strong>en<br />

tiefen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Persönlichkeit erlaubt, du musst sie nur aufmerksam<br />

wahrnehmen und dir bewusst machen. Da siehst du auch immer etwas Liebenswertes<br />

und den Rest fügen de<strong>in</strong>e Assoziationen und Komb<strong>in</strong>ationen h<strong>in</strong>zu.<br />

Am nächsten Tag ist sie un<strong>in</strong>teressant, als ob du ja alles weißt und kennst, und<br />

es nichts Spannendes mehr zu entdecken gibt. Vielleicht beruht ja auch alles<br />

nur auf Wunschdenken von mir, s<strong>in</strong>d alles nur Illusionen, me<strong>in</strong>e Vorstellungen.<br />

Vielleicht gibt es gar ke<strong>in</strong>e Frauen, die Blumen s<strong>in</strong>d und deren Geschichten<br />

bunten Bildern gleichen. Alles nur Sche<strong>in</strong>feuer, deren Flamme <strong>in</strong> der postkoitalen<br />

Tristesse erlischt. Alles was ich zu Beziehungsunfähigkeit las, passte jedoch<br />

nicht zu mir, und die möglichen Ursachen trafen auf mich nicht zu. Zu me<strong>in</strong>er<br />

Mutter hatte ich seit me<strong>in</strong>em ersten Tag auf dieser Erde e<strong>in</strong>e tiefe, <strong>in</strong>nige Beziehung,<br />

die durch nichts bee<strong>in</strong>trächtigt worden war und durch nichts auf der<br />

Welt zu stören se<strong>in</strong> würde. Vielleicht hätte ich e<strong>in</strong>e Schwester oder e<strong>in</strong>en Bruder<br />

gebraucht, denn so richtig enge Freunde hatte ich <strong>in</strong> der Schule auch nicht.<br />

Ich kam mit allen gut klar, mochte den e<strong>in</strong>en oder anderen mehr oder weniger,<br />

aber so e<strong>in</strong>en festen Freund, mit dem ich mich tief verbunden fühlte, hatte ich<br />

nicht. So war es auch jetzt. Ich kannte e<strong>in</strong>e Reihe von Leuten, die ich ganz nett<br />

fand, wurde ja auch zu Fèten oder Grillabenden e<strong>in</strong>geladen. Es waren gute Bekannte,<br />

aber Freunde waren es nicht. Also doch nur, außer bei der Mutter, temporär<br />

beziehungsfähig? Ich konnte es nicht erklären, aber damit leben wollte<br />

ich nicht. Nach dem USA-Semester würde ich e<strong>in</strong>en Psychotherapeuten aufsuchen.<br />

Studium<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 5 von 26


Es störte mich schon, dass ich ke<strong>in</strong>e dauerhafte <strong>in</strong>tensive Beziehung haben<br />

konnte, e<strong>in</strong>en permanenten Leidensdruck verspürte ich aber nicht, und auch<br />

mit Frauen und Liebe beschäftigte ich mich nicht ständig, nur wenn es sich gerade<br />

so ergab. Me<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Tätigkeit galt dem Studium. Nach dem USA-Semester<br />

würde ich mit me<strong>in</strong>er Examensarbeit beg<strong>in</strong>nen müssen. Ich hatte „Walden“<br />

von Henry David Thoreau gelesen, auf Deutsch. Dann hatte ich es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

früheren Übersetzung gesehen, e<strong>in</strong> anderes Buch. Das musste ich im Orig<strong>in</strong>al<br />

lesen, wollte es verstehen können, wollte verstehen, wie man e<strong>in</strong> Buch so unterschiedlich<br />

übersetzen kann, und ich musste die Zusammenhänge erkennen.<br />

So kam ich nicht nur zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Beschäftigung mit Henry David Thoreau,<br />

sondern auch Emerson und weiteren amerikanischen Romantikern. Daran<br />

hatte ich immer weiter gearbeitet, und <strong>in</strong> diesem Bereich würde ich auch wohl<br />

me<strong>in</strong>e Examensarbeit schreiben. Deshalb war es selbstverständlich, dass ich<br />

nach Massachusetts und dort nach <strong>Boston</strong> musste, wo Emerson und Thoreau<br />

gelebt hatten. Unabhängig davon war <strong>Boston</strong> ja auch e<strong>in</strong>e tolle Stadt und die<br />

<strong>Boston</strong> University e<strong>in</strong>e angesehene Institution. Dass alles geklappt hatte, freute<br />

mich riesig, und vorm Beg<strong>in</strong>n der Veranstaltungen an der Uni war genügend<br />

Zeit, mich e<strong>in</strong>zuleben und zurecht zu f<strong>in</strong>den.<br />

Leonora<br />

Als ich zum ersten mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sem<strong>in</strong>ar etwas sagte, platzte e<strong>in</strong>e Kommiliton<strong>in</strong><br />

los vor Lachen. Ich schaute mich um, dachte ich hätte etwas Falsches oder<br />

etwas falsch gesagt, aber niemand kritisierte mich. Die meisten anderen<br />

schmunzelten aber auch. Die Kommiliton<strong>in</strong>, die gelacht hatte, kam anschließend<br />

zu mir und entschuldigte sich. Sie habe nicht über mich gelacht oder<br />

mich ausgelacht, es habe sich e<strong>in</strong>fach nur für sie absolut funny angehört.<br />

„Weißt du, nichts war falsch, von dem was du gesagt hast, absolut korrekt, nur<br />

so spricht hier niemand.“ sagte die junge Frau. „Typisch deutsch, nicht wahr?“<br />

suchte ich Bestätigung. „Ne<strong>in</strong>, überhaupt nichts typical nur unusual. Sprache<br />

ist immer Ausdruck des Denkens und Empf<strong>in</strong>dens, und wie du es formuliert<br />

hast, entspricht es nicht amerikanischen Vorstellungswelten und Denkgewohnheiten,<br />

auch wenn es sprachlich und grammatikalisch korrekt war.“ me<strong>in</strong>te die<br />

Kommiliton<strong>in</strong>. „Und wie kann ich die amerikanischen Vorstellungswelten und<br />

Denkgewohnheiten kennenlernen?“ fragte ich mit e<strong>in</strong>em scherzhaften Unterton.<br />

„Oh, my boy!“ seufzte sie, „Du musst hier leben. Musst am Alltag teilnehmen.<br />

Ich weiß ja nicht was du machst, und wie du lebst, aber wenn du nur <strong>in</strong><br />

de<strong>in</strong>em Appartement forscht und zur Uni gehst, da lernst du nicht viel. Wie<br />

heißt du überhaupt, und wo kommst du her <strong>in</strong> Germany. Ich heiße Joanne, und<br />

komme eigentlich aus New York, dem Staat, oben an den Niagara Falls.” “Ich<br />

heiße <strong>Claude</strong>, und komme aus Köln, da fließt der Rhe<strong>in</strong> ganz ruhig, ohne gewaltige<br />

Wasserfälle.“ antwortete ich. Joanne wollte mehr wissen und me<strong>in</strong>te,<br />

ob wir nicht zusammen e<strong>in</strong>en Kaffee tr<strong>in</strong>ken sollten. Das war me<strong>in</strong>e Spezialität.<br />

Mir fielen immer lustige Sprüche e<strong>in</strong>, um Frauen zum Kaffee e<strong>in</strong>zuladen. So<br />

f<strong>in</strong>g es fast immer an. Daran dachte ich aber bei Joanne nicht. <strong>Claude</strong>, das sei<br />

doch französisch, ob ich französische Eltern oder Vorfahren hätte. „Zwischen<br />

Frankreich und Deutschland, das ist e<strong>in</strong> sonderbares Verhältnis. Jetzt lieben sie<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 6 von 26


sich ja, früher haben sie sich gehasst. Trotzdem hat man <strong>in</strong> den Adelshäusern<br />

Französisch gesprochen, und heute geben sie ihren K<strong>in</strong>dern bevorzugt französische<br />

Namen.“ erklärte ich. Me<strong>in</strong> <strong>Claude</strong> sei allerd<strong>in</strong>gs schon älter und basiere<br />

auf e<strong>in</strong>er Verbundenheit me<strong>in</strong>er Eltern mit <strong>Claude</strong> Lanzmann. “ Deutschland ist<br />

für mich Terra Inkognita. Köln, Berl<strong>in</strong>, München und Hamburg das kenne ich<br />

natürlich, aber sonst weiß ich nichts. Ah ja, dass die Deutsch wirtschaftlich<br />

sehr fit s<strong>in</strong>d, dass sie tolle Autos bauen, das weiß ich natürlich auch.“ erklärte<br />

Joanne und lachte. „Von Beethoven und Goethe hast du noch nie etwas<br />

gehört?“ fragte ich. „Na klar doch, du Schelm. Aber bei den Komponisten weiß<br />

ich nie, ob sie Deutsche oder Österreicher s<strong>in</strong>d.“ me<strong>in</strong>te Joanne. Dann<br />

sortierten wir die Komponisten, die sie kannte nach Ländern, denen sie<br />

zuzuordnen waren. „Du sagst „Deutschland, Terra Inkognita“ dabei kennst du<br />

se<strong>in</strong>e ganze Musik, fast besser als ich.“ konstatierte ich. „Ja, Beethoven ist<br />

großartig. Ich mag <strong>in</strong> sehr. Leider hat er nur e<strong>in</strong>e Oper geschrieben, ich würde<br />

gerne mehrere von ihm hören.“ ergänzte Joanne. „Eigentlich sollte sie Leonore<br />

heißen, aber nach der misslungenen Uraufführung hat er ihr e<strong>in</strong>en anderen<br />

Namen gegeben.“ erläuterte ich. „Nach Poes Leonora?“ fragte Joanne. Ich hob<br />

die Brauen zu e<strong>in</strong>em fragenden Blick. Eigentlich me<strong>in</strong>te ich von Poe alles zu<br />

kennen. „Das kennst du nicht?“ fragte Joanne entrüstet. „Me<strong>in</strong> Lieber, es ist<br />

das erste, was ich von Poe als Mädchen gelesen habe, mir kamen dabei die<br />

Tränen und seitdem liebe ich Edgar Allen. Den Raven kennst du aber, oder?“<br />

fragte Joanne. „Ja, natürlich, ich dachte alles zu kennen, aber offensichtlich ist<br />

es doch nicht so.“ me<strong>in</strong>te ich. Joanne wollte mir die Geschichte erzählen, sie<br />

stoppte aber und me<strong>in</strong>te: „Ne<strong>in</strong>, du musst es selber lesen. Schau im Internet<br />

nach, du wirst sie sicher auch auf deutsch f<strong>in</strong>den. Jeder Amerikaner kennt sie,<br />

ne<strong>in</strong>, vor allem die Amerikaner<strong>in</strong>nen. Es ist e<strong>in</strong> Traum. E<strong>in</strong> Märchen? Ne<strong>in</strong>, sie<br />

ist ke<strong>in</strong> Märchen. Am besten hat mir gefallen, wie er beschreibt, dass die Liebe<br />

die Welt verändert. Ne<strong>in</strong>, ließ es selbst.“ sagte Joanne. Ich erklärte, dass ich<br />

mich natürlich auch mit Poe beschäftigt habe, aber über Thoreau zur<br />

amerikanischen Romantik gekommen sei. „Ja, der war sehr aktuell, ist es im<br />

Grunde immer noch. Ich denke er war mehr Philosoph als Literat, und wer<br />

heute über e<strong>in</strong>faches Leben nachdenkt, muss sich auch mit Thoreau<br />

beschäftigen. Auch se<strong>in</strong>e Gedanken „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen<br />

den Staat“ s<strong>in</strong>d doch jederzeit von Bedeutung.“ Joanne dazu. Joanne blickte<br />

mich fixierend an, lächelte dabei und schien, nachzudenken. „Weißt du, dass<br />

wir übermorgen <strong>in</strong>s K<strong>in</strong>o e<strong>in</strong>geladen s<strong>in</strong>d.“ verkündete sie, und jetzt lachte sie<br />

richtig. „Ke<strong>in</strong>e Angst, der Film wird dich nicht <strong>in</strong>tellektuell überfordern, und<br />

auch an de<strong>in</strong>e c<strong>in</strong>eastischen Kenntnisse wird er ke<strong>in</strong>e großen Ansprüche<br />

stellen, aber da erlebst du daily live, die amerikanischen Vorstellungswelten<br />

und Denkgewohnheiten pur, de<strong>in</strong> erstes Sem<strong>in</strong>ar <strong>in</strong> 'American Daily Live<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g'.“ fügte Joanne h<strong>in</strong>zu. Warum tat sie das? Sie wolle mir nur e<strong>in</strong> wenig<br />

behilflich se<strong>in</strong>, die ersten Stolperste<strong>in</strong>e zu überw<strong>in</strong>den.<br />

Perle <strong>Boston</strong><br />

Der Abend war grandios. Ich kam aus dem Lachen nicht heraus. Der Film war<br />

mäßig, aber Joannes Kommentare, Anmerkungen und Interpretationen waren<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 7 von 26


köstlich. Das sogenannte American Daily Live ließ sie satirische, humoristische<br />

Höchstformen entwickeln. „Ich hoffe, ich habe von dir mehr über amerikanisches<br />

Denken erfahren als aus dem Film. Das würde mich jedenfalls sehr freuen.“<br />

me<strong>in</strong>te ich anschließend zu Joanne. Ich bewunderte sie. Ihre Intellektualität<br />

brachte der Humor sicher eher zum Ausdruck als manche lange Unterhaltung<br />

es gekonnt hätte. Nach dem nächsten Sem<strong>in</strong>ar lud ich Joanne zum Kaffee<br />

e<strong>in</strong>. Sie wisse es nicht, aber von e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en Daily Live könne man<br />

sicher nirgendwo auf der Welt außer <strong>in</strong> sehr traditionellen Gesellschaften<br />

sprechen, nur die Amerikaner wünschten es. „Nichts ist ihnen so wichtig, wie<br />

e<strong>in</strong>e amerikanische Identität. Lächerlich, sie werden sie nicht dar<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den,<br />

dass man hier mehr Erdnussbutter verzehrt als anderswo. Die Amerikaner<br />

haben ke<strong>in</strong>e eigene Geschichte. Ihr Denken ist das europäische, das auf dem<br />

griechischen basiert. In Europa hat es sich entwickelt, das haben sie<br />

mitgebracht. E<strong>in</strong>e eigene amerikanische Geistesgeschichte gibt es nicht.<br />

Warum auch? Aber man sche<strong>in</strong>t sie zu brauchen, danach zu suchen und alles <strong>in</strong><br />

diese Richtung zu deuten.“ erklärte Joanne. „Du magst das geliebte Land<br />

de<strong>in</strong>er Väter nicht?“ fragte ich mit schelmischem Lächeln. Joanne betrachtete<br />

mich e<strong>in</strong>ige Zeit gr<strong>in</strong>send, bevor sie darauf reagierte. „Das Land, <strong>in</strong> dem ich<br />

lebe, habe ich nie als das me<strong>in</strong>es Vaters empfunden. Er hat's auch nie gesagt,<br />

dass es ihm gehöre. Ich denke aber schon, dass es welche gibt, die das für<br />

sich so sehen. Dabei ist es doch me<strong>in</strong> Land, für mich jedenfalls. Me<strong>in</strong> Land mag<br />

ich schon sehr. Du siehst es hier <strong>in</strong> Massachusetts aber du könntest es auch bei<br />

mir oben <strong>in</strong> Buffalo sehen, wie schön es ist. Du könntest mal mit zu uns<br />

kommen, aber dann bist du ja schon nicht mehr hier. Ob ich alle Menschen<br />

mag, die dieses schöne Land bewohnen, ist e<strong>in</strong>e andere Frage. Aber magst du<br />

denn alle Deutschen, weil sie Deutsche s<strong>in</strong>d?“ erklärte Joanne, die ke<strong>in</strong>e<br />

Antwort auf ihre rhetorische Frage erwartete. „Ja, es ist e<strong>in</strong>e Schande. Jetzt b<strong>in</strong><br />

ich e<strong>in</strong> halbes Jahr hier, und bekomme von den Perlen dieses Landes nichts zu<br />

sehen. Aber wenn ich ehrlich b<strong>in</strong>, <strong>in</strong>teressieren mich Sightsee<strong>in</strong>gs auch nicht so<br />

besonders. Ich denke die tollen Fotografen haben <strong>in</strong> ihren Büchern Bilder<br />

veröffentlicht, die du bei e<strong>in</strong>em realen Besuch gar nicht so sehen kannst.“<br />

me<strong>in</strong>te ich. „Na <strong>Boston</strong> ist doch e<strong>in</strong>e Perle dieses Landes, du musst sie nur<br />

erkunden um ihr Funkeln erkennen zu können.“ Joanne dazu. „Ja, ich sehe<br />

dieses Funkeln. Es zeigt sich mir immer, wenn ich dich treffe.“ reagierte ich.<br />

E<strong>in</strong> abschätziges Schmunzeln bekam ich für diesen Scherz. Gr<strong>in</strong>send starrte<br />

Joanne mich prüfend an. Dabei schien sie zu überlegen. Ob jetzt wieder e<strong>in</strong><br />

Vorschlag kam? Ich kannte diese Musterung. Als sie mich zum Film e<strong>in</strong>lud, sah<br />

es genauso aus. Jetzt schlug sie vor, mir die Glitzerpunkte der Perle <strong>Boston</strong> zu<br />

zeigen, ne<strong>in</strong>, nicht die Glitzerpunkte, ihr <strong>Boston</strong>, wie sie es sehe. „Den Sonntag<br />

müssen wir uns schon Zeit nehmen. Ich komme zu dir. Wann hast du denn<br />

ausgeschlafen?“ schlug Joanne vor. Die Tour hielt mich <strong>in</strong> Atem. Jetzt kannte<br />

ich <strong>Boston</strong> durch und durch. Die e<strong>in</strong>en sehen nur die Big Bus<strong>in</strong>ess Zentrale, die<br />

anderen nur die Welt der F<strong>in</strong>e Arts, ich hatte alles gesehen, sogar die Slums.<br />

So kam es mir vor. Me<strong>in</strong> Kopf brummte von Joannes Erläuterungen, die ich am<br />

liebsten alle wörtlich gespeichert hätte. Als ich ihr beim Abschied zum Dank<br />

e<strong>in</strong>en Kuss auf die Wange gab, schaute sie mich an und gr<strong>in</strong>ste.<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 8 von 26


Leonoren Ouvertüren<br />

Jede Woche gab es jetzt Kaffee. Wer wen e<strong>in</strong>zuladen hatte, wussten wir bald<br />

nicht mehr. Über amerikanische Romantik sprachen wir kaum. Ich konnte Joanne<br />

nur erklären, dass Poes Eleonora, aber mehr noch der Raven von der<br />

deutschen Ballade 'Leonore' des Schriftstellers Gottfried August Bürger <strong>in</strong>spiriert<br />

se<strong>in</strong> sollten. In groben Zügen kannte ich sie. Auch auf Beethovens 'Fidelio'<br />

kamen wir noch mal zu sprechen, weil ich wusste, dass er drei Ouvertüren<br />

dazu geschrieben hatte, die nicht Fidelio- sondern Leonoren-Ouvertüre hießen.<br />

Meistens sprachen wir jedoch über alles Mögliche, worauf wir gerade kamen.<br />

Das konnte Politisches se<strong>in</strong> oder sich um Kunst handeln, wir sprachen über<br />

Filme, und Jeanne berichte etwas aus ihren Erlebnissen mit Kanada und dem<br />

nahe gelegenen Toronto. Nach me<strong>in</strong>en Schilderungen musste Jeanne den<br />

Niederrhe<strong>in</strong> für den Nabel Europas halten. Immer aber fielen Jeanne<br />

irgendwelche Stolperste<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>, die ich mit ihrer Hilfe überw<strong>in</strong>den konnte. Nur<br />

mit ihrer Unterstützung konnte ich die Kunstwerke, zum großen Teil<br />

europäische, im Museum of F<strong>in</strong>e Arts tiefgründig verstehen und ihrer<br />

Gourmand Beratung das D<strong>in</strong>ner lukullisch umfänglich genießen. Me<strong>in</strong>e<br />

Bekanntschaft mit Jeanne war e<strong>in</strong> enorm kostbares Surplus me<strong>in</strong>es USA-<br />

Semesters, das ich mir niemals hätte erträumen können. „Was machen wir?<br />

Ich habe überall nachgesehen, aber im Laufe der nächsten Zeit werden sie<br />

nirgendwo gegeben. Wir müssen sie uns schon auf CD anhören.“ verkündete<br />

Jeanne. Sie hatte die Leonoren Ouvertüren besorgt und auch Bürgers Ballade<br />

auf Englisch. „Das ist bee<strong>in</strong>druckend grauselig.“ sagte sie dazu, „Da könnte<br />

man auch fast we<strong>in</strong>en um die arme Leonore. Dass die Ballade viele <strong>in</strong>spiriert<br />

hat, kann ich mir gut vorstellen. Aber Beethovens Leonore hat nichts damit zu<br />

tun, nicht wahr?“ „Du würdest sie sicher gern hören? Ich auch, aber ich habe<br />

nur e<strong>in</strong>en CD-Player <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Computer und damit klassische Musik hören?“<br />

bemerkte ich skeptisch. „Wir können es bei mir hören, aber es stimmt mich<br />

immer so sentimental.“ me<strong>in</strong>te Joanne. Ich me<strong>in</strong>te, sie schon verstanden zu<br />

haben, aber das lag mir so fern. Der Wunsch, mit Joanne Zärtlichkeiten<br />

auszutauschen, existierte <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Vorstellung über unsere Beziehung nicht.<br />

Ich glaube, wenn sie damit begonnen hätte, wäre ich gegangen. Das passte<br />

nicht zu uns und hätte unser Verhältnis gestört. Joanne war me<strong>in</strong> Freund, me<strong>in</strong><br />

erster Freund, den ich je <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben gehabt hatte. Es geschah auch<br />

nichts. Wir tranken e<strong>in</strong> Glas We<strong>in</strong> und kommentierten mit launigen Worten die<br />

Musik. „Ich halte mich für e<strong>in</strong>en sehr gefühlsbetonten Menschen, sonst höre<br />

ich, träume und me<strong>in</strong>e Emotionen wallen. Wenn ich mit dir zusammen b<strong>in</strong>,<br />

komme ich mir wie e<strong>in</strong> kommunikationsbetonter Mensch vor. Wir Plaudern ja<br />

ke<strong>in</strong> Gewäsch, aber ich möchte ständig reden und dir zuhören. Das ist genauso<br />

befriedigend wie se<strong>in</strong>en Gefühlen Raum zu geben.“ erklärte sich Jeanne.<br />

<strong>Boston</strong> Boy<br />

In <strong>Boston</strong> gab es alles. Wir hatten über Beethoven und Bonn gesprochen, und<br />

ich hatte den botanischen Garten mit se<strong>in</strong>em Arboretum erwähnt, das mich<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 9 von 26


fasz<strong>in</strong>iert habe. Natürlich gab es das <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> auch, noch viel größer und noch<br />

viel reicher an Varietäten von Bäumen aus aller Welt, die man noch nie gesehen<br />

hatte. „Ich glaube, du bist schon e<strong>in</strong> <strong>Boston</strong> Boy geworden.“ me<strong>in</strong>te Jeanne.<br />

„Ist es nicht so, dass du <strong>Boston</strong> schon sehr magst? Warum bleibst du nicht<br />

e<strong>in</strong>fach hier und studierst hier weiter?“ fragte sie. Ich lächelte, vielleicht mit e<strong>in</strong>em<br />

leicht verlegenen Beiklang. Ich war mir nicht sicher, aber ich glaube<br />

schon, dass ich es gern gemacht hätte. Die Zusammenhänge me<strong>in</strong>es Studiums<br />

und Examens würden es nicht erlauben, und nach dem Master würde ich gern<br />

promovieren, erklärte ich. „Warum machst du das nicht hier? <strong>Claude</strong> Senger,<br />

Doktor der amerikanischen Romantik, geforscht und promoviert <strong>in</strong> den USA,<br />

wer hätte da noch etwas gegen zu sagen?“ erklärte Jeanne und wir lachten<br />

beide. „Aber im Ernst, du studierst Amerikanistik und besuchst die USA mal für<br />

e<strong>in</strong> Semesterchen. Was würde denn näher liegen und dir mehr br<strong>in</strong>gen, als hier<br />

zu promovieren. Du müsstest dich nur genau erkundigen, wo welche<br />

Promotionsstudiengänge angeboten werden, und welche Bed<strong>in</strong>gungen zu<br />

erfüllen s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> deutscher Master wird aber mit Sicherheit ausreichen. Die<br />

Northeastern University hat, soweit ich weiß, mehr als die <strong>Boston</strong> University<br />

anzubieten.“ erläuterte Jeanne. Das brachte me<strong>in</strong> ganzes Zukunftsbild<br />

durche<strong>in</strong>ander, denn das generierte sich immer noch von Köln aus. Völlig<br />

Unrecht hatte Jeanne ke<strong>in</strong>esfalls, nur so weit <strong>Boston</strong> Boy, dass ich mich damit<br />

identifizieren konnte, war ich noch nicht. Trotzdem erkundigte ich mich<br />

natürlich sofort. Mit e<strong>in</strong>em Ph.D., dem amerikanischen Doktorgrad, durfte ich<br />

sogar ohne Habilitation an Hochschulen lehren, allerd<strong>in</strong>gs nicht <strong>in</strong> Deutschland.<br />

E<strong>in</strong>facher und klarer geregelt als <strong>in</strong> Deutschland war es hier sogar, und als<br />

Deutscher e<strong>in</strong> Promotionsstipendium zu bekommen, dürfte ke<strong>in</strong> Problem<br />

darstellen. E<strong>in</strong>e Sprachprüfung hätte ich zu absolvieren, aber wie sollte ich<br />

denn fitter se<strong>in</strong> können als durch Joannes 'Daily-Live-Studies'? „Joanne,<br />

endgültig entschieden habe ich mich noch nicht, aber voraussichtlich werde ich<br />

hier promovieren, nur me<strong>in</strong>en Master muss ich erst <strong>in</strong> Köln abschließen.“<br />

erklärte ich. „Ich habe von Anfang an gewusst, dass du e<strong>in</strong> <strong>in</strong>telligenter Boy<br />

bist, sonst hätte ich auch ke<strong>in</strong>en Wert darauf gelegt, dir zu helfen.“<br />

kommentierte es Jeanne. „Aber wenn du hier promoviert hast, wirst du<br />

Probleme haben. Du wirst es nicht mehr genau wissen, ob du Deutscher bist<br />

oder lieber Amerikaner se<strong>in</strong> möchtest.“ fügte Jeanne mit schelmischem Lächeln<br />

an. „Was ist das denn? Was spielt es denn für e<strong>in</strong>e Rolle? Es ist e<strong>in</strong>e<br />

Bemerkung <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Pass. Was sagt die über dich aus? Bist du e<strong>in</strong>e typische<br />

Amerikaner<strong>in</strong>? Ich habe Bilder von sogenannten typischen Amerikaner<strong>in</strong>nen<br />

gehabt, alles nur Vorurteile. Du passt überhaupt nicht dazu. Du bist e<strong>in</strong><br />

wundervoller Mensch, ob Amerikaner<strong>in</strong>, Russ<strong>in</strong> oder Chilen<strong>in</strong>. Was spielt das<br />

für e<strong>in</strong>e Rolle?“ lautete me<strong>in</strong>e Reaktion. „Ja, sonderbar, wundervolle Menschen<br />

gibt es überall auf der Welt, <strong>in</strong> allen Nationen und Kulturen und ihren höchst<br />

unterschiedlichen sozialisatorischen Bed<strong>in</strong>gungen.“ kommentierte Joanne.<br />

„Würde ich denn e<strong>in</strong> wundervoller amerikanischer Mann se<strong>in</strong> können?“ scherzte<br />

ich, aber Joanne gr<strong>in</strong>ste nur mokant.<br />

Abschiedskonzert<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 10 von 26


Ob ich e<strong>in</strong> <strong>Boston</strong> Boy geworden war oder nicht, <strong>in</strong>teressierte mich wenig. Ich<br />

empfand me<strong>in</strong> Leben hier als selbstverständlich. Ich fühlte mich zu Hause, und<br />

war überrascht, als das Semester zu Ende g<strong>in</strong>g und ich wieder nach Köln zurück<br />

sollte. Aber so waren die Bed<strong>in</strong>gungen, die sich nicht ändern ließen. Den<br />

letzten glamourösen Stolperste<strong>in</strong> bildete e<strong>in</strong> Besuch des <strong>Boston</strong> Symphony Orchestra.<br />

Ich weiß es nicht, ob mir bei Mendelssohns Viol<strong>in</strong>konzert die Tränen<br />

wegen der Musik <strong>in</strong> den Augen standen, oder weil es das bald alles für mich<br />

nicht mehr geben würde, wahrsche<strong>in</strong>lich wegen beidem. E<strong>in</strong> Abschiedskonzert<br />

war es für mich. Beim realen Abschied schienen Jeanne und ich, unsere Umarmung<br />

gar nicht lösen zu wollen. Als wir es schließlich taten und uns anschauten,<br />

befeuchteten sich unsere Augen auch. Ich hatte an der Uni manches gelernt<br />

und erfahren, aber me<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> <strong>Boston</strong>, was mich emotional bewegt<br />

und erfasst hatte, das war Jeanne gewesen, das Bedeutsame und ke<strong>in</strong>eswegs<br />

e<strong>in</strong> marg<strong>in</strong>ales Surplus.<br />

Ke<strong>in</strong> Zauberland und ke<strong>in</strong>e Sterne<br />

Jetzt stand ich mit me<strong>in</strong>en Koffern auf dem Kölner Flughafen <strong>in</strong> der Wahner<br />

Heide. Nach Hause? Na sicher. Angekommen schaute ich mich zuerst überall<br />

um. Alles war wie vor e<strong>in</strong>em halben Jahr. Wie sollte es auch sonst se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong><br />

Blümchen war vertrocknet. Sibylle hatte sie gegossen. Mit Sybille verstand ich<br />

mich hervorragend. Sie bedauerte mich mit me<strong>in</strong>em schweren menschlichen<br />

Los. Im Grunde war Sybille e<strong>in</strong>e wundervolle Frau, aber wiederholtes Begehren<br />

konnte auch sie nicht <strong>in</strong> mir wecken. Während me<strong>in</strong>er ganzen Zeit <strong>in</strong> den USA<br />

hatte ich nicht e<strong>in</strong>mal das Bedürfnis verspürt, mich e<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong>tensiver widmen<br />

zu wollen. Ich hatte mich sehr gern mit anderen unterhalten und auch<br />

häufig e<strong>in</strong>en Kaffee getrunken. Zumeist waren es kurze lustige Gespräche. Mir<br />

gefiel das, aber das Bedürfnis, e<strong>in</strong>e Frau näher kennen zu lernen, etwas Besonderes<br />

<strong>in</strong> ihr zu sehen, war nie aufgetaucht. Ke<strong>in</strong> Verlangen danach, der Impetus<br />

fehlte. Irgendetwas <strong>in</strong> diesem Land oder <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> schienen auf me<strong>in</strong>e Psyche<br />

e<strong>in</strong>e ungewöhnliche Wirkung ausgeübt zu haben. Ich setzte mich an me<strong>in</strong>en<br />

Schreibtisch. Der Bürostuhl war besser als der <strong>in</strong> <strong>Boston</strong>. Freute ich mich<br />

deshalb, wieder zu Hause zu se<strong>in</strong>. Über die Idiotie me<strong>in</strong>es Gedankens konnte<br />

ich nur schmunzeln, aber erfreut wieder daheim zu se<strong>in</strong>? E<strong>in</strong> direktes, klares<br />

'Ne<strong>in</strong>' wäre nicht zutreffend gewesen, aber glücklich war ich ke<strong>in</strong>esfalls. Ich<br />

starrte auf den toten, schwarzen Fernseher und das kle<strong>in</strong>e Regal gegenüber,<br />

die ich jahrelang von me<strong>in</strong>em Schreibtisch aus gesehen hatte. Empfand ich<br />

Langeweile? Ne<strong>in</strong>, eher Ratlosigkeit. Ich wühlte <strong>in</strong> den CDs und legte die dritte<br />

Leonoren-Ouvertüre auf. E<strong>in</strong> Wohlgefühl breitete sich bei der Er<strong>in</strong>nerung <strong>in</strong> mir<br />

aus, als ob sich das damalige Erlebnis wieder <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Emotionen abspiele.<br />

Das würde es hier nicht geben, nichts Vergleichbares. E<strong>in</strong>e karge Perspektive<br />

zeigte das Leben <strong>in</strong> Köln. Jeanne schreiben, dann war ich bei ihr. Ich erzählte<br />

ihr von dem Forscher, der mit Befürchtungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> unwirtliches Land aufgebrochen<br />

sei. Ke<strong>in</strong>e Straßen habe es dort gegeben nur Wege mit großen Ste<strong>in</strong>en,<br />

über die du stolpern konntest und die das Fortkommen beh<strong>in</strong>derten. „Aber die<br />

Menschen, die <strong>in</strong> diesem Lande lebten, und besonders e<strong>in</strong>e Frau, waren außergewöhnlich<br />

freundlich. Sie räumte die Ste<strong>in</strong>e fort, und die Frau nährte me<strong>in</strong><br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 11 von 26


Gehirn mit den köstlichsten Speisen und Getränken. Aus dem fremden Land<br />

machte sie für mich e<strong>in</strong> Zauberland, <strong>in</strong> dem statt der Stolperste<strong>in</strong>e, Sterne für<br />

mich funkelten. Das alles musste ich zurück lassen. Hier gibt es ke<strong>in</strong> Zauberland<br />

und es funkeln auch ke<strong>in</strong>e Sterne. Das Leben hier gleicht e<strong>in</strong>er endlosen<br />

Geschichte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em tristen Novemberblog. Manchmal, wenn ich an dich denke<br />

und den süßen Honig, mit dem du mich nährtest, reißt die Wolkendecke e<strong>in</strong><br />

wenig auf, und gestattet der Sonne, e<strong>in</strong> paar Strahlen zu mir zu schicken. Ich<br />

vermisse <strong>Boston</strong>, ich vermisse unser Leben <strong>in</strong> <strong>Boston</strong>, ich vermisse dich, Jeanne,<br />

und das direkt seit dem ersten Moment, <strong>in</strong> dem ich wieder hier b<strong>in</strong>.“<br />

schrieb ich. Ich musste Leute <strong>in</strong>formieren, dass ich wieder zurück sei, aber das<br />

wäre heute Abend besser, oder g<strong>in</strong>ge vielleicht auch morgen noch. Und was<br />

sollte ich bis morgen hier machen? Dumme Frage, zuerst mal die Koffer<br />

auspacken natürlich. Was ich machen sollte, hatte ich mich noch niemals<br />

gefragt, aber jetzt hatte ich zu allem ke<strong>in</strong>e Lust, nicht mal zum Koffer<br />

auspacken.<br />

Purzelbäume me<strong>in</strong>er Psyche<br />

Me<strong>in</strong>e Mutter besuchen, das gefiel mir immer. Wenn e<strong>in</strong> geliebter Mensch dir<br />

zeigt, dass er sich über de<strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>en freut, weckt es auch <strong>in</strong> dir Gefühle von<br />

Freude und Glück. Sich mit Mutter zu unterhalten, machte auch immer Spaß.<br />

Sie weckt das Bedürfnis, sie gut und besser zu verstehen ständig, gleichgültig<br />

wie gut ich me<strong>in</strong>te, sie schon zu kennen. Auf Gegenseitigkeit beruhte es. Sie<br />

<strong>in</strong>teressierte sich genauso <strong>in</strong>tensiv für mich. Die Gesprächssituation alle<strong>in</strong> war<br />

schon fasz<strong>in</strong>ierend. Wenn du sprichst, und merkst, dass dem verbalen Inhalt<br />

nur wenig Bedeutung zukommt, sondern du <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Gesamtdarstellung betrachtet<br />

wirst, bekommt es Züge e<strong>in</strong>es Schauspiels, <strong>in</strong> dem die Menschen sich<br />

gegenseitig darstellen und offenbaren. Da ist es wundervoll zu spielen und zuzuschauen.<br />

E<strong>in</strong> Schauspiel, e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Oper ist es. Das ganze Szenario vermittelt<br />

dir tiefe E<strong>in</strong>blicke, und das Libretto ist dabei relativ unbedeutend. So ähnlich<br />

sprach Mutter auch mit ihren Freund<strong>in</strong>nen. Sie erfreuten sich ane<strong>in</strong>ander,<br />

hatten Spaß und konnten sich endlos gegenseitig zuschauen und vorspielen.<br />

Drei enge Freund<strong>in</strong>nen hatte sie. Dass ich jetzt auch e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> habe, sie<br />

aber eher als Freund sehe, obwohl ich sie für e<strong>in</strong>e attraktive Frau hielt, musste<br />

ich genau erklären. Verstehen konnte Mutter es trotzdem nicht. Sie s<strong>in</strong>nierte<br />

über Liebe, Beziehungen und Sexualität. Ob es Liebe sei, was sie mit ihren<br />

Freund<strong>in</strong>nen verb<strong>in</strong>de? Sie wisse es nicht. Sie verstünden sich sehr gut, aber<br />

ab e<strong>in</strong>em bestimmten Punkt sei Gerti eben auch e<strong>in</strong>e andere, e<strong>in</strong> anderer<br />

Mensch. Aber das sei ja grundsätzlich so, identisch sei man sich nie. Manche<br />

Paare würden das nicht sehen, dass der andere immer der andere bleibe, was<br />

zu Zerwürfnissen und sogar zum Bruch führen könne. „Aber, dass du sagst, du<br />

liebst de<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> und siehst das sexuelle nicht, so etwas kann es me<strong>in</strong>es<br />

Wissens nicht geben. Das ist de<strong>in</strong>e Psyche, die dich wieder Purzelbäume schlagen<br />

lässt.“ me<strong>in</strong>te sie und lachte.<br />

Aber ich hatte bei Jeanne tatsächlich nie daran gedacht. Ich sah sie als attraktive<br />

Frau, zweifellos, auch als wir am Strand waren, und ich sie im Bik<strong>in</strong>i sah,<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 12 von 26


e<strong>in</strong>e wundervolle Frau, aber dass ich sie anfassen könnte, das Bedürfnis spürte,<br />

mit ihr <strong>in</strong>s Bett zu gehen, das war nie aufgekommen. Sie war e<strong>in</strong> Mensch,<br />

der <strong>in</strong> allem zu mir zu passen schien, me<strong>in</strong> Freund. E<strong>in</strong> Edelste<strong>in</strong> war sie, Jeanne<br />

wirke auf mich <strong>in</strong> gewisser weise als untouchable. Sie schrieb, das Zauberland<br />

sei erloschen und alle Sterne verglüht. Es habe nur mit mir für uns beide<br />

existieren können. Auch die dicken Ste<strong>in</strong>e lägen überall wieder auf den Wegen,<br />

und die Wolken zeigten sich <strong>in</strong> bedrohlich dunklen Farben, als ob jederzeit e<strong>in</strong><br />

Blizzard here<strong>in</strong> brechen könne. Polare Kälte habe <strong>Boston</strong> und ihre Welt erfasst,<br />

seitdem ich sie verlassen hätte. Ich solle zurückkommen, damit sie das Empf<strong>in</strong>den<br />

spüre, sich auf e<strong>in</strong>en herannahenden Frühl<strong>in</strong>g freuen zu können. Liebesbriefe<br />

waren es, die wir uns schrieben, sicherlich, aber dass ich e<strong>in</strong> Mann und<br />

Jeanne e<strong>in</strong>e Frau war, kam dar<strong>in</strong> nie zum Ausdruck, und auch das Wort 'Liebe'<br />

selbst fiel ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges mal. Philia, Freundesliebe, also, <strong>in</strong> re<strong>in</strong>ster Form, wie<br />

Aristoteles sie beschrieben hatte. Wenn aber alle Aktivitäten letztendlich, wie<br />

nach Freuds Me<strong>in</strong>ung, mit der Libido zusammen h<strong>in</strong>gen, konnte man es da<br />

denn überhaupt ignorieren, dass der Freund zum anderen Geschlecht gehörte.<br />

Das war es sicherlich, was Mutter me<strong>in</strong>te. Mir lag unendlich viel daran, Jeanne<br />

als me<strong>in</strong>en Freund zu sehen, me<strong>in</strong>e Frauengeschichten wollte ich ke<strong>in</strong>esfalls<br />

mit ihr verbunden wissen. Dazu sollte sie nicht gehören, und me<strong>in</strong><br />

Unbewusstes hielt sie automatisch davon fern. Jeden Tag wuchs die Sehnsucht,<br />

e<strong>in</strong>ander wiederzusehen. Das war nicht nur tatsächlich so, es nahm auch <strong>in</strong><br />

unseren E-Mails immer <strong>in</strong>tensivere Formen an. Ich musste <strong>in</strong> den Ferien nach<br />

<strong>Boston</strong>, obwohl ich weder Zeit noch Geld hatte. Zwei Wochen könnte mich<br />

auch e<strong>in</strong>e Grippe quälen, dann wäre ich auch nicht arbeitsfähig, und me<strong>in</strong>e<br />

Mutter bekäme ich sicher rum, mir das Geld zu leihen.<br />

Du bist e<strong>in</strong> <strong>Macho</strong><br />

Viel <strong>in</strong>tensiver als der Abschied war die Begrüßung. Als ob wir <strong>in</strong> der Zwischenzeit<br />

alles vermisst hätten. Ich bestaunte und bewunderte das Bild von Joanne,<br />

als ob ich sie zum ersten mal sehen würde. Immer hatte ich sie gesehen, beim<br />

Schreiben me<strong>in</strong>er Mails und beim Lesen ihrer. Geträumt von Joanne? Ich weiß<br />

es nicht, aber am Tage war sie meistens gegenwärtig. Jetzt stand sie mir lebendig<br />

gegenüber, fast e<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung. Wir küssten uns auch richtig.<br />

Warum? So war es selbstverständlich. Wir schienen beide high zu se<strong>in</strong>, aber<br />

worüber wir uns freuten, wusste ke<strong>in</strong>er ganz genau. Es war e<strong>in</strong>fach excit<strong>in</strong>g,<br />

wieder beie<strong>in</strong>ander zu se<strong>in</strong>. Bestimmt hatte sich die Freude über unser geme<strong>in</strong>sames<br />

Erleben <strong>in</strong> der harten Zeit der Entbehrung noch gesteigert.<br />

Wir hatten über so vieles gesprochen, waren uns dabei sehr nahe gekommen<br />

und kannten uns gegenseitig genau, nur direkt Persönliches war kaum zur<br />

Sprache gekommen. Ob wir me<strong>in</strong>ten, e<strong>in</strong>e Distanz wahren zu müssen? Ich<br />

wusste, dass Jeanne ke<strong>in</strong>en Partner oder Freund hatte, aber mehr auch nicht.<br />

Darüber sprachen wir nicht, das schien Privatangelegenheit zu se<strong>in</strong>. „Warum<br />

hast du eigentlich ke<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>?“ fragte mich Jeanne plötzlich, „Hast du Probleme<br />

mit Frauen, oder möchtest du lieber nicht darüber reden?“ Ich machte<br />

wohl e<strong>in</strong>e nachdenkliche M<strong>in</strong>e, weil ich nicht genau wusste, was ich sagen sollte.<br />

„Ne<strong>in</strong>, ne<strong>in</strong>, du brauchst es nicht zu erzählen, wenn du nicht möchtest. Mich<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 13 von 26


hat es nur verwundert, weil du doch e<strong>in</strong> ganz angenehmer, handlicher Boy<br />

bist.“ erklärte Jeanne. Nach e<strong>in</strong>em verlegenen Lächeln erzählte ich Jeanne<br />

me<strong>in</strong>e Geschichte. Stille. Mit entsetzt großen Augen starrte mich Jeanne an.<br />

„Du bist e<strong>in</strong> <strong>Macho</strong>. Ich habe gedacht, du seist gar ke<strong>in</strong> Mann, aber du bist e<strong>in</strong><br />

<strong>Macho</strong>.“ erklärte sie. „Ich, e<strong>in</strong> <strong>Macho</strong>? So etwas kann ich gar nicht. Das Gegenteil<br />

ist eher der Fall. Ich habe jede Frau geliebt, ke<strong>in</strong>e zu irgendetwas genötigt<br />

oder über sie verfügt. Ke<strong>in</strong>e hat sich von mir schlecht behandelt oder zu irgendetwas<br />

gedrängt gefühlt. Ich habe zu allen e<strong>in</strong> freundschaftliches Verhältnis.<br />

<strong>Macho</strong> passt da wohl nicht ganz.“ lautete me<strong>in</strong>e Ansicht dazu. „Trotzdem.“<br />

me<strong>in</strong>te Jeanne, „Du hast sie für de<strong>in</strong>e Zwecke gebraucht. Du hast dich gefreut,<br />

sie zu besiegen, aber geliebt und als Mensch geachtet, hast du sie nicht.“ Wir<br />

sprachen weiter darüber, Jeanne erläuterte es mir genau, wie sie es sehe und<br />

letztendlich musste ich e<strong>in</strong>gestehen, dass sie nicht völlig Unrecht hatte. Ob ich<br />

das denn immer noch so mache, wollte sie wissen, und ich erklärte, dass ich<br />

weder damals <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> noch jetzt, seitdem ich wieder zu Hause sei,<br />

irgendwann e<strong>in</strong> Bedürfnis dazu verspürt habe. Jeanne me<strong>in</strong>te, sich <strong>in</strong> mir ja<br />

völlig getäuscht zu haben. Ich sei ihr gar nicht als Mann erschienen, und das<br />

habe ihr gefallen. Das Männliche könne sie nämlich nicht ausstehen. Alle<br />

Männer hätten wie den Geruch, der nur ihnen eigen sei, auch für sie typische<br />

Verhaltensweisen, die sie nicht ablegen könnten. Unerträglich empf<strong>in</strong>de sie das<br />

auf die Dauer. Deshalb habe sie sich auch damals von ihrem Freund getrennt,<br />

obwohl er im Pr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong> lieber Mensch gewesen sei. Ich hätte auf sie den<br />

E<strong>in</strong>druck gemacht, als ob mir diese männlichen Attitüden fehlen würden. Bei<br />

Europäern wisse man ja nie, vielleicht seien sie ganz anders. Ich musste<br />

lachen, und fragte Jeanne, wie sich das Männliche denn konkret für sie äußere<br />

und darstelle. Dann redeten wir sehr lange über Mann und Frau, obwohl wir<br />

das schon so oft getan hatten. „Mann oder Frau gibt es nicht, nur Babys mit<br />

Geschlechtsorganen für unterschiedliche Funktionen, alles andere ist<br />

gesellschaftlich vermittelt, und das Verhalten der Männer natürlich sowieso.“<br />

konstatierten wir als e<strong>in</strong>vernehmliche Conclusio unserer Debatte.<br />

Jeanne d'Arc hat sich nicht erobern lassen<br />

„Wie sich Männer zu verhalten haben, konnte ich nur von me<strong>in</strong>er Mutter lernen,<br />

und da hatte sie mir nicht viel zu bieten. Vielleicht fehlen mir auch deshalb<br />

die von dir beklagten Accessoires. Bestimmt ist mit me<strong>in</strong>em „Mann werden“<br />

etwas schief gelaufen. Den Umgang mit ihren Freund<strong>in</strong>nen werde ich imitiert<br />

haben, und nicht den e<strong>in</strong>es Frauen verachtenden <strong>Macho</strong>s. Nur kam es dadurch<br />

bei mir zu Konflikten, weil ich ke<strong>in</strong>e nette Freund<strong>in</strong> war, sondern doch<br />

e<strong>in</strong> Mann, er auch gerne mit der Frau <strong>in</strong>s Bett g<strong>in</strong>g.“ erläuterte ich me<strong>in</strong>e Situation.<br />

Wie ich Jeannes Blick <strong>in</strong>terpretieren sollte, war für mich nicht ganz e<strong>in</strong>deutig.<br />

Er war liebevoll, zweifellos, aber e<strong>in</strong> wenig von 'du Schl<strong>in</strong>gel' lag auch<br />

dar<strong>in</strong>. „Ich hätte dich oft gern berührt, dich gestreichelt, dich geküsst, ja, ich<br />

habe oft daran gedacht, zärtlich zu dir se<strong>in</strong> zu wollen, aber mir kam es vor, als<br />

ob du ke<strong>in</strong>en Wert drauf legen würdest. Asexuell? Das weiß ich nicht, so habe<br />

ich dich nicht gesehen, aber dass du mich auch begehrtest, hast du <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er<br />

weise erkennen lassen.“ me<strong>in</strong>te Joanne. „So ist es auch, ich mag dich über al-<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 14 von 26


les, ich liebe dich, aber dass du e<strong>in</strong>e Frau bist, ist e<strong>in</strong>e andere Geschichte. Mir<br />

kommt es vor, als ob ich das gar nicht verb<strong>in</strong>den möchte, als ob ich panische<br />

Angst davor hätte, dass ich dich dann mit me<strong>in</strong>en Frauenerfahrungen verb<strong>in</strong>den<br />

würde und du auch zu den verwelkten Blumen gehören könntest. Etwas<br />

anderes kenne ich ja nicht, aber dieses Risiko möchte ich zwischen uns beiden<br />

ke<strong>in</strong>esfalls e<strong>in</strong>gehen. Es funktionierte automatisch. Me<strong>in</strong> Unbewusstes wollte<br />

dich dich da nicht sehen. Ich möchte dich als me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> lieben, und nicht<br />

als e<strong>in</strong>e Frau, mit der ich <strong>in</strong>s Bett gehe.“ erklärte ich. Jeanne gr<strong>in</strong>ste. „Alles<br />

was wir zusammen gemacht und erlebt haben, könnte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Nacht, <strong>in</strong> der<br />

wir zusammen im Bett wären, für dich bedeutungslos werden, befürchtest du<br />

das? Ich will nicht mit dir <strong>in</strong>s Bett, aber ist das de<strong>in</strong> Ernst, hast du davor wirklich<br />

Angst?“ fragte sie. Sie hatte Recht, das konnte nicht se<strong>in</strong>. Es war ja ke<strong>in</strong><br />

lockeres, flirtendes Gespräch, was mich und Jeanne verband. Wir liebten uns <strong>in</strong><br />

unserem geme<strong>in</strong>sam Erlebten, <strong>in</strong> unserer geme<strong>in</strong>samen kurzen, glücklichen<br />

Geschichte. Das würde immer Bestand haben, das war unsere Verbundenheit,<br />

unsere Liebe, und so etwas hatte es <strong>in</strong> der Tat früher nie gegeben. Das hatte<br />

ich bislang nicht gekannt. E<strong>in</strong> sehr anderer Mensch, wie Mutter es gesagt<br />

hatte, war die Freund<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>e Nacht mir immer gewesen. Joanne war mir<br />

näher als e<strong>in</strong>e es aus diesem Spiel je hätte se<strong>in</strong> können, sie war qualitativ<br />

etwas anderes, sie war me<strong>in</strong>e geliebte Freund<strong>in</strong>, und das vor allem anderen.<br />

„Erkennen kann ich es schon, und auch dass es mich wahrsche<strong>in</strong>lich von<br />

me<strong>in</strong>er Fixierung lösen und heilen könnte, aber praktisch b<strong>in</strong> ich blockiert,<br />

kann gar nichts tun.“ erklärte ich. „Also, du begehrst mich schon, aber traust<br />

dich nicht, mich zu berühren.“ stellte Jeanne es dar. „Das ist allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong><br />

Problem.“ sagte sie und lachte sich krumm. „Soll ich de<strong>in</strong>e Hand nehmen, und<br />

sie mir irgendwo h<strong>in</strong>legen?“ fragte sie rhetorisch. „Sei doch mal klar, und lieb<br />

mich e<strong>in</strong>fach, wie du e<strong>in</strong>e Frau liebst.“ me<strong>in</strong>te Jeanne. Ich gr<strong>in</strong>ste. „Küssen<br />

gehörte bestimmt dazu, nicht wahr?“ fragte ich. „Ja, aber zärtlich se<strong>in</strong>, ist<br />

unverzichtbar. E<strong>in</strong>e Frau wünscht, dass du <strong>in</strong> ihr die Fee siehst, und dich<br />

entsprechend sanft und milde ihr gegenüber verhältst.“ ergänzte Jeanne. „Ist<br />

das bei allen so? Bist du da sicher? Me<strong>in</strong>st du nicht auch, dass es unter ihnen<br />

Jeanne d'Arcs gibt, die gern im Kampf erobert werden möchten?“ ich darauf.<br />

Jeanne stürzte sich auf mich und warf mich um. „Jeanne d'Arc hat sich nicht<br />

erobern lassen, sie hat selbst erobert. Das ist seitdem bei allen Frauen auf der<br />

ganzen Welt, die Jeanne heißen so. Sie erobern, man kann sie nicht<br />

bezw<strong>in</strong>gen.“ Jeannes launige Reaktion. Was für e<strong>in</strong>e Welt? Jeanne lag auf mir.<br />

Wir küssten, schmusten, lachten und rangelten. In der Tat, Jeanne hatte<br />

me<strong>in</strong>en Körper erobert. E<strong>in</strong> Hochgefühl hatte unser Wiedersehen <strong>in</strong> mir<br />

ausgelöst, aber jetzt erfasste es me<strong>in</strong>en ganzen Körper. Küssen war gut, aber<br />

wir mussten tanzen. Immer mussten wir uns jetzt berühren, streicheln,<br />

küssen, <strong>in</strong> die glücklichen Augen des anderen sehen. Hatte es unsere<br />

Beziehung verändert? Gewaltig. „Wie es wohl verlaufen wäre, wenn wir uns<br />

von Anfang an so geliebt hätten?“ wollte Jeanne wissen, deren Sitzgelegenheit,<br />

wenn ich auf e<strong>in</strong>em Stuhl saß, immer me<strong>in</strong> Schoß bildete. Auf wessen Schoß<br />

hatte sie vorher Platz nehmen können, welche Arme hatten sie umschlungen?<br />

Welche Lippen e<strong>in</strong>er Frau hatten me<strong>in</strong>e geküsst? Emotional war es zutiefst<br />

bewegend und so bedeutsam, aber wir mussten und konnten es auch so lange<br />

entbehren. Vielleicht, weil du das, was du entbehrst vorher nicht kennen<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 15 von 26


kannst, und sich se<strong>in</strong>e Fasz<strong>in</strong>ation dir erst im Erleben offenbart. Gefühle, die<br />

du nicht imag<strong>in</strong>ieren und antizipieren kannst. Ständig spielten wir jetzt<br />

übermütig und albern herum, als ob wir es gerade erfahren hätten, dass wir<br />

uns liebten.<br />

O Nachtigall<br />

Nach dem Abendbrot war es e<strong>in</strong> wenig beschaulicher geworden. Wir saßen<br />

beim We<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Couch und spielten mit unseren F<strong>in</strong>gern und Blicken. „<strong>Claude</strong>,<br />

weißt du, am liebsten würde ich de<strong>in</strong>e Zärtlichkeiten auch heute Nacht nicht<br />

gerne verlieren. Die Vorstellung, dass du im Gästebett lägst, ich alle<strong>in</strong> wäre<br />

und du mich nicht berühren und streicheln könntest, behagt mir überhaupt<br />

nicht. Bleib bei mir heute Nacht, ja? Bitte! Nur mite<strong>in</strong>ander schlafen, das<br />

möchte ich noch nicht. Würde dir das auch gefallen, wäre es dir recht so? "<br />

fragte Jeanne. Ich schien nicht genau zu realisieren, was ich hörte. Geme<strong>in</strong>sam<br />

mit Jeanne <strong>in</strong>s Bett gehen, ihre Haut berühren sie streicheln. Ich konnte es<br />

nicht fassen, es überwältigte mich:<br />

O Nachtigall, das ist ke<strong>in</strong> wacher Sang,<br />

Ist nur im Traum gelöster Seele Drang.<br />

aus der durchwachten Nacht von Anette von Droste Hülshoff fiel mir e<strong>in</strong>. Ich<br />

sollte es übersetzen, verweigerte es aber. Alle potentiellen Bilder der kommenden<br />

Nacht liefen mir durch den Kopf, wie ich die Haut von Jeannes Rücken<br />

streichelte, ihre Wärme fühlte, ihre Brüste küsste, wach war ich auch nicht. In<br />

Regionen e<strong>in</strong>er Trance schienen me<strong>in</strong>e Gedanken und Empf<strong>in</strong>dungen zu schweben.<br />

„Benötigst du ke<strong>in</strong>e Hilfe?“ fragte ich Jeanne, die begonnen hatte, sich auszuziehen.<br />

Sie stutzte, schaute mich an, gr<strong>in</strong>ste und kam zu mir. „Ja, natürlich<br />

brauche ich de<strong>in</strong>e Hilfe. Wie konnte ich nur so vermessen se<strong>in</strong>, anzunehmen,<br />

ich könne mich auch ohne de<strong>in</strong>e Hilfe alle<strong>in</strong> ausziehen.“ sagte sie, ließ uns lachen<br />

und natürlich wieder umarmen und küssen. E<strong>in</strong>e Zeremonie, die jedes<br />

Öffnen und Ausziehen e<strong>in</strong>es Kleidungsstückes bestätigen musste. Lange Zeit<br />

nahm das Ausziehen <strong>in</strong> Anspruch und wir liebten uns schon sehr, als Jeanne<br />

mich nach dem letzten Strumpf aufs Bett warf. Das Bewusstse<strong>in</strong> ist <strong>in</strong> Angelegenheiten<br />

der Liebe e<strong>in</strong> nutzloses Organ. Se<strong>in</strong>e Verlautbarungen treffen nicht<br />

zu und se<strong>in</strong>e Beschlüsse gleichen irrelevantem Gewäsch. Zarte Liebkosungen,<br />

sanftes Streicheln, das würde uns auch sicher irgendwann sehr gefallen, aber<br />

jetzt fanden wir e<strong>in</strong>ander nur aufregend und nichts war uns wichtiger als die<br />

gegenseitige Erregung zu forcieren. E<strong>in</strong>e breite gr<strong>in</strong>sende Schnute und Augen,<br />

die das Glück direkt sehen mussten, es aber <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en suchten, <strong>in</strong> ihrem verschwitzen<br />

Gesicht mit e<strong>in</strong>igen verklebten Haarsträhnen, zog Joanne me<strong>in</strong> Gesicht<br />

zu sich und wollte mit F<strong>in</strong>gerspitzen und leichtem Lippentouchieren die<br />

Empf<strong>in</strong>dungen ihres post orgasmic bliss auf mich übertragen. Aber die Glückseligkeit<br />

war schon da. Den ganzen Abend war sie schon da gewesen. E<strong>in</strong><br />

Rausch war es nicht, aber e<strong>in</strong>e gewisse Ekstase bestimmt. Wir schliefen bald<br />

e<strong>in</strong>. Das wundervoll entspannte Gefühl, de<strong>in</strong>e glückseligen Gedanken und die<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 16 von 26


Wärme und Berührung de<strong>in</strong>er Liebsten wirken wie e<strong>in</strong> Himmelbett, der wohligste<br />

Ort für de<strong>in</strong>en Schlaf und de<strong>in</strong>e Träume. Wir weckten uns aber immer<br />

gegenseitig. Wurden Jeanne oder ich wach, mussten wir unsere Anschmiegposition<br />

korrigieren, was den anderen natürlich automatisch wach werden ließ.<br />

Das störte ke<strong>in</strong>esfalls, sondern wurde als sehr erfreulich aufgefasst. Vielleicht<br />

träumst du gerade etwas langweilig Tristes von de<strong>in</strong>er letzten Bahnfahrt, und<br />

dann ersche<strong>in</strong>t dir plötzlich der Engel de<strong>in</strong>er Liebe. Was kann dir Schöneres ersche<strong>in</strong>en?<br />

Können Träume schöner se<strong>in</strong>, als die Liebste direkt zu erleben? Vielleicht<br />

müssen de<strong>in</strong>e Nächte e<strong>in</strong> wenig länger werden, aber das ist ja davon abhängig,<br />

wie umfangreich ihr die Intermezzi gestaltet. Von der im Osten aufflammenden<br />

Morgenglut bekamen wir jedenfalls nichts mit, geschweige denn,<br />

dass bei uns im Bett das Leben aus schäumendem Pokale quellen würde.<br />

Unsere Körper brauchten e<strong>in</strong>fach Schlaf. Den ganzen Tag über brauchten wir<br />

noch mit kle<strong>in</strong>en Unterbrechungen <strong>in</strong> Bad und Küche im Bett. „E<strong>in</strong>e vorzügliche<br />

E<strong>in</strong>richtung ist das Bett.“ vermittelte Jeanne ihre Gedanken. „Es wird die erste<br />

Erf<strong>in</strong>dung des Menschen gewesen se<strong>in</strong>, und nicht der Hammer. Was braucht e<strong>in</strong><br />

Mensch? Liebe, Sex und Was zu essen, und das geht alles im Bett.“ „Aber<br />

wenn du auch morgen etwas zu essen haben möchtest, wirst du aufstehen und<br />

dir etwas anziehen müssen.“ wand ich e<strong>in</strong>. „Wieso das denn, das ist<br />

kulturgeschichtliche Equipage aber nichts menschlich Essenzieles. Ziehen sich<br />

die Frauen am Amazonas etwa an, wenn sie Essen besorgen gehen?“ reagierte<br />

Jeanne. „Ich weiß es nicht. Ich war da noch nie, nur hier würde ich zum<br />

E<strong>in</strong>kaufen schon lieber Hemd und Hose anziehen.“ erklärte ich dazu. Quatsch<br />

reden, aber auch Ernsthaftes mit Jeanne im Bett glich e<strong>in</strong>em Tag auf e<strong>in</strong>er<br />

Wolke. Ich war nicht der Liebesgott, der die sterbliche Jeanne auf die Wolke<br />

geholt hatte, aber direkt umgekehrt war es auch nicht. Bestimmt ist es nur<br />

e<strong>in</strong>e süße Geschichte von Amor und Psyche, aber dass unsere Liebe me<strong>in</strong>e<br />

Welt und me<strong>in</strong>e Psyche verändert hatte, stimmte sicherlich. Ich hatte nicht von<br />

Jeanne, sondern mit ihr zum ersten mal erfahren, was Liebe se<strong>in</strong> konnte. Dazu<br />

musste ich vierundzwanzig Jahre alt werden und <strong>in</strong> den USA die amerikanische<br />

Romantik erforschen.<br />

Jeanne, die so sehr geliebt hat<br />

Übermütig se<strong>in</strong>, Gefühle und Empf<strong>in</strong>dungen haben, die sich oberhalb des gewöhnlichen<br />

Gemütslebens bef<strong>in</strong>den, das tritt bei K<strong>in</strong>dern und bei Verliebten<br />

häufig auf, wobei es sich <strong>in</strong> der Ausprägung nicht immer sehr stark unterscheiden<br />

muss. Vielleicht gibt es Leute, die wissen, wieso es zu dem Bedürfnis nach<br />

<strong>in</strong>fantilem Blöds<strong>in</strong>n und Albernheiten bei Verliebten gleich welchen Alters<br />

kommt, wir kümmerten uns nicht darum, sondern praktizierten es. Geliebt hatten<br />

wir uns doch immer schon, aber bisher lag darauf eher e<strong>in</strong> stiller Glanz. Mit<br />

der gegenseitigen Verkündigung schien das emotionale Hochgefühl se<strong>in</strong>en Höhepunkt<br />

erreicht zu haben und musste sich ansche<strong>in</strong>end <strong>in</strong> all se<strong>in</strong>er Verrücktheit<br />

austoben. Vielleicht hätte man vorher planen können, dies und das und jenes<br />

nicht zu tun, aber wir gaben uns e<strong>in</strong>fach unserer Verliebtheit h<strong>in</strong> und ließen<br />

sie mit uns spielen. „Es gibt tausend Bezeichnungen für die Liebe. Leidenschaftlich,<br />

<strong>in</strong>nig oder tief kann sie se<strong>in</strong>. Wie ist unsere Liebe eigentlich?“ fragte<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 17 von 26


Jeanne. Ich bot noch e<strong>in</strong>ige andere Vokabeln an, aber Jeanne schüttelte jedes<br />

mal den Kopf. „Vielleicht gibt es <strong>in</strong> der Sprache unserer Wörter gar ke<strong>in</strong>en Namen<br />

dafür. Es wird e<strong>in</strong>e Sprache se<strong>in</strong>, die nur unsere Herzen sprechen, und<br />

den Klang ihrer Worte können wir mit unseren Augen verstehen.“ sprach Jeanne,<br />

deren Augen me<strong>in</strong> Herz sicher richtig verstehen konnte.<br />

Der W<strong>in</strong>ter und die Gefahr von Schneegestöber waren längst vorüber. Frühl<strong>in</strong>g<br />

konnte man schon sagen, aber die schlauen Blumen öffneten ihre Knospen<br />

noch nicht. Sie rechneten wohl mit Nachtfrösten. Nur den frechen Haselstrauch<br />

schien es nicht zu stören. Er ließ auch jetzt schon von dem kle<strong>in</strong>sten W<strong>in</strong>dstoß<br />

se<strong>in</strong>e gelben Samenwolken durch die Lüfte blasen. Wir g<strong>in</strong>gen immer spazieren.<br />

Das hatten wir damals nicht getan. Wir besuchten Parks, die im Sommer<br />

sehr schön se<strong>in</strong> sollten, aber auch im W<strong>in</strong>ter stellen sie e<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>fonie der Natur<br />

da, deren Klänge und Harmonien nicht alle hören und empf<strong>in</strong>den können, aber<br />

für e<strong>in</strong> liebend Herz s<strong>in</strong>d sie durch die wundervollsten Melodien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er prächtigen<br />

Philharmonie nicht zu überbieten. Bestimmt harmoniert die Liebe eher<br />

mit der Natur als mit von Menschen geschaffenen Werken, ist sie Natur <strong>in</strong> dir<br />

selbst, die sich verbunden weiß, mit dem Leben <strong>in</strong> anderen Gestaltungs- und<br />

Äußerungsformen. „Beim ersten mal haben wir uns kennengelernt, jetzt haben<br />

wir uns richtig verliebt, was tun wir, wenn wir uns das nächste mal treffen?“<br />

fragte Jeanne schelmisch. „Heiraten und K<strong>in</strong>der kriegen.“ verkündigte ich lapidar.<br />

„Ja, und beim nächsten mal kommen sie <strong>in</strong> die Schule, und dann s<strong>in</strong>d sie<br />

fertig, wir werden alt, treffen uns beim nächsten mal im Seniorenheim und<br />

dann auf dem Friedhof.“ setzte Jeanne es fort. „Ich will das nicht. Unsere Liebe<br />

ist zeitlos, oder denkst du je daran, wie spät es jetzt sei?“ nach dem Lachen<br />

setzte sie fort: „<strong>Claude</strong>, zweimal war ich verliebt, würde ich sagen, aber jetzt,<br />

das hat damit nichts zu tun, ist etwas ganz anderes. Es ist auch für mich völlig<br />

neu und vor allem total überwältigend. Es erfasst mich ganz, e<strong>in</strong> Gefühl, so<br />

stark wie ich es noch nie erlebt habe. Das b<strong>in</strong> ich, das gehört zu mir, und nicht<br />

zum Alltag, der se<strong>in</strong>en üblichen Verlauf nimmt.“ „Das denke ich auch, dass es<br />

nicht zum Alltagsgeschehen gehört und mit ihm vergehen wird. Es gehört zu<br />

dir und dem was von dir bleibt. Wenn zukünftige Generationen e<strong>in</strong>mal über<br />

dich sprechen werden, wird man sagen: „Jeanne, das war doch die, die so sehr<br />

geliebt hat.“.“ kommentierte ich. Wofür ich aus me<strong>in</strong>er vertikalen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e horizontale<br />

Position befördert wurde, auch wenn das Grass noch nass und kalt war.<br />

Gewe<strong>in</strong>t haben wir schon am Abend vor dem Abschied im Bett. Gegenseitig ermutigt<br />

haben wir uns. Es sei doch jetzt alles klar für uns, da würde die Trennung<br />

sicher nicht so schwer fallen. Bis zum Sommer, zeitlich e<strong>in</strong> Klacks sei das<br />

doch, der uns <strong>in</strong> unserer Liebesgewissheit nur wie Sekunden ersche<strong>in</strong>en würde.<br />

Noch mehr fiel uns e<strong>in</strong> und beim Abschied auf dem Flughafen gab es auch ke<strong>in</strong>e<br />

Träne.<br />

Completely Disturbed<br />

Ich empfand mich <strong>in</strong> Köln nicht ratlos und unbehaust. War gut gelaunt und rief<br />

Sibylle an. Die Luft <strong>in</strong> den USA oder <strong>Boston</strong> hätten E<strong>in</strong>fluss auf me<strong>in</strong>e Libido<br />

genommen, aber ich hätte e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> gefunden, das habe wohl alles verän-<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 18 von 26


dert. Dass ich so etwas könne und wie es sich entwickele, hätte ich nicht gewusst<br />

und gekannt, nur dass es so nicht funktioniere, wie ich es früher versucht<br />

hätte, sei mir jetzt völlig klar. Sybille wollte noch Näheres über Jeanne<br />

hören. Ich schrieb Jeanne, dass ich mich im Moment ganz wohlfühle, aber heute<br />

Abend wieder nach <strong>Boston</strong> müsse, weil Jeanne auf mich warte. Im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

ersche<strong>in</strong>t es mir als makaber. Wir schrieben uns immer sehnsuchtsvolle<br />

Brief, wie sehr wir den anderen vermissten und se<strong>in</strong>er dr<strong>in</strong>gend bedürften. Bis<br />

Jeanne schrieb, sie sei beim Therapeuten gewesen, der habe ihr aber nicht zugehört,<br />

sie habe sich mit ihm angelegt und sei gegangen. Trotzdem habe er<br />

e<strong>in</strong>e Rechnung geschickt. E<strong>in</strong> Anwalt habe ihm gedroht, jetzt müsse sie den<br />

bezahlen. Er verlange mehr als der Therapeut. Sie sei completely disturbed,<br />

glückliche Tage gebe es für sie nicht mehr. „Natürlich freue ich mich über de<strong>in</strong>e<br />

schönen Mails, und ich kann mich auch an unsere schönen Tage er<strong>in</strong>nern, aber<br />

was ich jeden Abend erfahren muss, ist, dass du nicht da bist, ke<strong>in</strong>en Abend,<br />

nicht gestern, nicht heute, nicht morgen. Ich kann dich nicht imag<strong>in</strong>ieren, ich<br />

erlebe dass du fehlst, de<strong>in</strong> Platz <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Bett ist leer, du bist nicht da, das<br />

tut weh und stimmt mich traurig, jeden Abend. Tagsüber b<strong>in</strong> ich nicht ständig<br />

traurig, aber bestimmt sehr ernst und ke<strong>in</strong>esfalls glücklich und freudig. <strong>Claude</strong>,<br />

du musst kommen, ich werde krank oder b<strong>in</strong> es schon.“ schrieb Jeanne. Ich<br />

rief sie sofort an. Ich könne nicht ertragen, was sie geschrieben habe und<br />

würde alles tun, um ihr zu helfen. Aber jetzt mitten im Examen me<strong>in</strong> Studium<br />

abbrechen? Ob sie nicht kommen könne, sie brauche doch Erholung und<br />

Rekreation. Die würde es bei mir <strong>in</strong> Deutschland bestimmt für sie geben. Auf<br />

die Idee war sie noch nicht gekommen, denn normalerweise war Deutschland<br />

für sie etwas, wo man eher nicht h<strong>in</strong>fuhr.<br />

Ich wollte eigentlich zu dir<br />

Angekommen bei mir mussten wir zunächst unsere Liebe <strong>in</strong> ihrer vollsten und<br />

umfänglichsten Form direkt erleben. Das stellte unsere eigentliche Begrüßung<br />

dar. Die Küsse auf dem Flughafen waren nur kle<strong>in</strong>es Geplänkel. „<strong>Claude</strong>?“ fragend<br />

und mit ganz langgezogenem 'O' begann Jeanne, während ihr Kopf auf<br />

me<strong>in</strong>er Schulter lag. Sie sprach aber nicht weiter, sondern begann zu we<strong>in</strong>en.<br />

„Ich b<strong>in</strong> verrückt.“ sagte sie nach e<strong>in</strong>iger Zeit. „Das ist doch alles Uns<strong>in</strong>n, was<br />

ich mache. Ich habe mich immer für e<strong>in</strong>e starke Frau gehalten, die weiß, was<br />

sie will und tut. Jetzt komme ich mir vor wie e<strong>in</strong> Wrack. Nichts funktioniert so,<br />

wie ich es will, und wie ich es mir vornehme.“ E<strong>in</strong>e Pause, <strong>in</strong> der ich Jeanne<br />

über Haar und Wangen strich und ihre benetzten Augen abzuwischen versuchte.<br />

„Ich sehe dich immer noch so als e<strong>in</strong>e starke Frau mit e<strong>in</strong>em starken Willen,“<br />

erklärte ich dazu „nur das ist es nicht alle<strong>in</strong>, was dich ausmacht. In dir ist<br />

vieles mehr als de<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> und de<strong>in</strong> Wille und manches, was gewiss<br />

stärker ist. Das gehört alles zu dir. Das ist genauso gut Jeanne. Das bist du<br />

auch, und das ist nicht schlechter oder m<strong>in</strong>derwertiger als de<strong>in</strong> Wille oder de<strong>in</strong>e<br />

vom Bewusstse<strong>in</strong> gefassten Beschlüsse. Die Liebe ist fast immer bei allen<br />

Menschen die stärkste Kraft, und vom Bewusstse<strong>in</strong> etwas vorschreiben, lässt<br />

sie sich so gut wie nie. Aus Liebe s<strong>in</strong>d die Menschen zu allem fähig, was haben<br />

sie nicht schon alles aus Liebe getan, sogar sich selbst und andere umge-<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 19 von 26


acht.“ me<strong>in</strong>te ich dazu. „Sollte ich das auch tun?“ fragte Jeanne. „Was, dich<br />

umbr<strong>in</strong>gen?“ ich. „Ne<strong>in</strong>, dich. Dann wäre das Problem <strong>Claude</strong> gelöst.“ Jeanne<br />

darauf. Nach kle<strong>in</strong>en Rangeleien me<strong>in</strong>te Jeanne: „Ne<strong>in</strong>, das Problem <strong>Claude</strong><br />

gibt es ja nicht. Ich b<strong>in</strong> süchtig nach unserer Liebe. Ich denke, unsere Zeit war<br />

zu kurz. Es kommt mir wie abgebrochen vor.“ „Und wie lange hätte es dauern<br />

müssen, de<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung nach?“ erkundigte ich mich. „Dreißig Jahre, vierzig<br />

Jahre? Was weiß ich? Ob Philemon und Baucis auch noch wohl zusammen <strong>in</strong>s<br />

Bett g<strong>in</strong>gen, oder ob Zeus bei se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung da ke<strong>in</strong>en Wert drauf legte,<br />

was me<strong>in</strong>st du?“ fragte sie. Offensichtlich war Jeanne wieder <strong>in</strong> ihrer Welt angekommen.<br />

Ich schlug vor, zu me<strong>in</strong>er Mutter zu fahren. Sie würde uns sicher<br />

noch Kaffee und Kuchen bereiten. Wir könnten auf der Terrasse sitzen und es<br />

sei <strong>in</strong>sgesamt geräumiger. „Ich habe nichts gegen de<strong>in</strong>e Mutter, aber ich wollte<br />

eigentlich zu dir.“ wand Jeanne e<strong>in</strong>. Wir können uns jederzeit zurückziehen und<br />

ganz alle<strong>in</strong> unter uns se<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>e Mutter wird uns nicht stören und volles Verständnis<br />

für uns haben. Ich hatte vergessen, Jeanne zu sagen, dass me<strong>in</strong>e<br />

Mutter auch Englisch sprechen und verstehen könne. Jeanne sagte mir zur Begrüßung<br />

etwas, was ich ihr übersetzen sollte. Me<strong>in</strong>e Mutter hatte es schon verstanden<br />

und reagierte darauf. E<strong>in</strong>e wundervolle Szene, sie lagen sich lachend<br />

<strong>in</strong> den Armen. Wir kamen aus dem E<strong>in</strong>gang gar nicht raus, weil Jeanne nicht<br />

aufhörte, sich mit me<strong>in</strong>er Mutter zu unterhalten und zu scherzen. Auch beim<br />

Kaffee schien es so, als ob Jeanne primär me<strong>in</strong>e Mutter besuche und dabei<br />

auch auf mich getroffen sei. Mutter me<strong>in</strong>te auch, das man von allen möglichen<br />

psychischen E<strong>in</strong>flüssen ständig höre, aber die Liebe dabei nicht gebührend berücksichtige.<br />

Vielleicht könne man sie nicht konkret genug fassen, aber sie bee<strong>in</strong>flusse<br />

doch alles. Für sie selbst sei es nicht anders. Dass sie betrogen wurde,<br />

habe sie nicht verkraftet. Dass sie nicht durchgedreht sei, habe sie mir zu<br />

verdanken. Nur e<strong>in</strong>er Phobie ähnlich habe sie seitdem Angst davor gehabt, so<br />

etwas vielleicht wieder zu erleben. Unendlich viele Menschen würden sicher unter<br />

zerbrochener Liebe leiden, und bestimmt genauso viele darunter, dass sie<br />

ke<strong>in</strong>e Liebe erführen. „Ja, die Welt ist e<strong>in</strong>e andere für dich, wenn du liebst und<br />

Liebe erfährst. „Im Tal des Vielfarbigen Grases““ er<strong>in</strong>nerte Jeanne und schaute<br />

mich an. „Ist das nicht Poe?“ fragte me<strong>in</strong>e Mutter, und ich versank vor Scham,<br />

während Jeanne nickte und lächelte. Me<strong>in</strong>e Mutter war Lehrer<strong>in</strong> für Englisch<br />

und kannte sicher e<strong>in</strong>iges, obwohl mir Eleonora damals <strong>in</strong> der Schule verborgen<br />

geblieben war. Selbstverständlich würden wir bei me<strong>in</strong>er Mutter übernachten,<br />

nur damit hatte Jeanne überhaupt nicht gerechnet. Sie hatte nichts mitgenommen.<br />

Ich bot mich an es zu holen. Da ich nicht wusste, was sie benötigte,<br />

holte ich ihr ganzes Gepäck rüber zu me<strong>in</strong>er Mutter. Da blieb es auch.<br />

Neue Planungslage<br />

Mit mir redete Jeanne kaum noch. Der kommunikationsbetonte Mensch liebte<br />

es, die Farben des Spektrums se<strong>in</strong>er Redekunst für me<strong>in</strong>e Mutter erstrahlen zu<br />

lassen. Natürlich sprach Jeanne auch mit mir, aber die beiden schienen sich<br />

ausgesprochen viel zu sagen zu haben. Alles machten sie zusammen. Essen<br />

zubereiten und dergleichen sowieso, aber Jeanne schaute me<strong>in</strong>er Mutter auch<br />

beim Korrigieren von Klassenarbeiten über die Schulter. Sie g<strong>in</strong>gen geme<strong>in</strong>sam<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 20 von 26


zum Markt, und wenn Mutter <strong>in</strong> der Schule war, erledigte Jeanne häufig irgendwelche<br />

Arbeiten im Haushalt. Ständig hatten sie Spass und lachten. Zu mir gekommen?<br />

Ja, schon, abends im Bett war ich ja da, aber tagsüber da war sie<br />

zweifellos vorrangig zu Besuch bei me<strong>in</strong>er Mutter. Jeanne g<strong>in</strong>g es blendend und<br />

me<strong>in</strong>er Mutter ebenfalls. Wenn sie auch bei ihren Freund<strong>in</strong>nen bezweifelte, ob<br />

sie sie liebte, bei Jeanne konnte sie es nicht bestreiten. Ich hatte Mutter schon<br />

gefragt, ob Jeanne ihr gegenüber etwas von Rückreise erwähnt habe, aber sie<br />

wusste auch nichts. Zwei Wochen wollte Jeanne bleiben, als die vierte schon<br />

herum war, und Jeanne <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er weise erkennen ließ, dass sie irgendwann abzureisen<br />

gedenke, fragte ich sie: „Jeanne, du hast offensichtlich de<strong>in</strong>e Pläne<br />

geändert. Jeder Tag, an dem du hier bist, ist e<strong>in</strong> wundervoller Tag, nur du hattest<br />

geplant, für vierzehn Tage kommen zu wollen. Würdest du mich denn auch<br />

über de<strong>in</strong>e neue Planungslage <strong>in</strong>formieren?“ „Soll ich irgendwo h<strong>in</strong>fahren, wo<br />

du nicht bist? Und dann beg<strong>in</strong>nt alles wieder von vorn?“ antwortete sie. E<strong>in</strong>fach<br />

so glauben, dass sie tatsächlich aus Angst davor hier bleiben wollte, konnte ich<br />

ihr nicht. „De<strong>in</strong> Aufenthalt hier hat ke<strong>in</strong>erlei Veränderung für dich bewirkt, ke<strong>in</strong>erlei<br />

heilende Bedeutung, also?“ fragte ich mit skeptischem Gr<strong>in</strong>sen. Jeanne<br />

blickte mich mit e<strong>in</strong>em ganz leicht schelmischem Lächeln an. „Me<strong>in</strong>e Eltern haben<br />

schon geschimpft. Für so unvernünftig hätten sie mich nicht gehalten, dass<br />

ich mich von e<strong>in</strong>em Mann verführen ließe, se<strong>in</strong>etwegen e<strong>in</strong> ganzes Semester zu<br />

verlieren. Vorher hatten sie schon befürchtet, dass ich me<strong>in</strong> Studium abbrechen<br />

würde und zu me<strong>in</strong>em Geliebten nach Germany geflohen sei. Ja, du Verführer,<br />

das Semester ist <strong>in</strong> der Tat dah<strong>in</strong>. Was soll ich jetzt alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong>,<br />

während das Leben hier für mich bezaubernd ist.“ erklärte Jeanne. „You are astonished?“<br />

fragte sie me<strong>in</strong>e Augen betrachtend. In der Tat, mehr als das,<br />

sprachlos war ich. Ich würde ständig arbeiten müssen und mich kaum um sie<br />

kümmern können, aber das tat ich ja jetzt schon nicht. Me<strong>in</strong>e Mutter und sie<br />

regulierten alles und bereiteten mir e<strong>in</strong> herrliches Leben. Aber Jeanne machte<br />

die ganze Zeit nur Urlaub, allenfalls als deutsche Haushaltsgehilf<strong>in</strong> sammelte<br />

sie e<strong>in</strong>ige Erfahrungen. Als ich das ansprach und me<strong>in</strong>te, sie müsse für sich etwas<br />

tun, das sie fordere, und ich so e<strong>in</strong>e permanente Urlaubssituation nicht ertragen<br />

könne, wurde Jeanne ärgerlich und schimpfte. Me<strong>in</strong>te, ich solle mir vorher<br />

überlegen, was ich sage. „Urlaub, wie kannst du so etwas sagen? E<strong>in</strong>e<br />

enorme Bereicherung me<strong>in</strong>es Lebens habe ich erfahren.“ me<strong>in</strong>te Jeanne und<br />

zählte alles Mögliche auf, „Vor allem aber habe ich etwas erhalten, was du dir<br />

durch tausend Stunden am Schreibtisch nicht erarbeiten kannst und was für<br />

mich menschlich am bedeutsamsten ist. Dass e<strong>in</strong>e so tolle Frau wie de<strong>in</strong>e Mutter<br />

und ich uns so tief verbunden fühlen, überwiegt alles.“ Jeanne gegenüber<br />

nahm ich alles zurück, entschuldigte mich und bat bat sie um e<strong>in</strong>en versöhnenden<br />

Spaziergang. Völlig anders sah ich es aber trotzdem nicht. Sie genoss und<br />

war von sich aus nicht aktiv. Jeanne hatte es trotz der heftigen Abwehr, doch<br />

wohl zu denken gegeben. Sie kannte zwar e<strong>in</strong>e Menge deutscher Namen, Wörter<br />

und Wendungen, die sie lustig fand, aber jetzt wollte sie richtig Deutsch lernen.<br />

Wer unterstützte sie dabei? Vor allem me<strong>in</strong>e Mutter. Ob sie Jeanne so<br />

liebte, weil sie me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> war, oder weil sie selber lieber e<strong>in</strong>e Tochter gehabt<br />

hätte? Wer weiß. Ich glaube eher ke<strong>in</strong>s von beiden, sie mochte sie e<strong>in</strong>fach<br />

nur ungewöhnlich gut leiden. Sie bezog sie auch stärker <strong>in</strong> die Vorbereitung ihres<br />

Englischunterrichtes e<strong>in</strong> und nahm sie e<strong>in</strong>es Tages mit zur Schule. Das<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 21 von 26


achte das Fass der Begeisterung me<strong>in</strong>er Mutter für Jeanne zum Überlaufen.<br />

Sie sei e<strong>in</strong> natürliches Wunder kommunikativer und pädagogischer Qualitäten.<br />

Die Kle<strong>in</strong>en hätten am liebsten den Rest des Tages bei ihr auf dem Schoß verbracht,<br />

<strong>in</strong> der Mittelstufe habe sie neue Gedanken eröffnet und ernsthaftes<br />

Nachdenken ausgelöst, und <strong>in</strong> der Oberstufe habe sie durch gezielt provokante<br />

Äußerungen alle <strong>in</strong> heftige Diskussionen verwickelt. „Sie muss dich um den<br />

F<strong>in</strong>ger wickeln können.“ sagte me<strong>in</strong>e Mutter zu mir, „das wäre mir gut vorstellbar.“<br />

Mutters Liebe<br />

Diese tiefsitzende, entsetzliche Angst davor, dass Liebe und Vertrauen enttäuscht<br />

werden könnten, die me<strong>in</strong> Vater vor über zwanzig Jahren bei me<strong>in</strong>er<br />

Mutter hatte entstehen lassen, kam bei Jeanne nicht zum tragen. Bestimmt<br />

war es das erste mal, dass sie nach dieser langen Zeit e<strong>in</strong>em anderen Menschen<br />

vorbehaltlos ihre Liebe schenken konnte. Ich erlebte Mutter außergewöhnlich<br />

glücklich, aber ob und wie sich dadurch für sie die Welt verändert<br />

hatte, erfuhr ich natürlich nicht. Unbed<strong>in</strong>gt müssten sie sich wiedersehen. Unter<br />

dieser Bed<strong>in</strong>gung schenkte me<strong>in</strong>e Mutter Jeanne den Flug. Bestimmt würde<br />

sie auch krank werden, wenn Jeanne das e<strong>in</strong>es Tages vergessen sollte, drohte<br />

sie lachend. E<strong>in</strong>e Feier zum Examen? Da legten wir ke<strong>in</strong>en Wert drauf. Bei Mutter<br />

gestalteten wir es e<strong>in</strong> wenig festlich. Jeanne zog ihr Kleid für die Oper an,<br />

was sie hier nie gebraucht hatte, woraufh<strong>in</strong> Mutter auch e<strong>in</strong> elegantes Abendkleid<br />

anlegen musste. Und ich? Warum sollte ich denn me<strong>in</strong>e Jeans ausziehen?<br />

Das tat ich auch nicht, obwohl es auf außenstehende Betrachter beim Tanzen<br />

gewiss nicht sehr harmonisch gewirkt hätte.<br />

Neue Bilder der Liebe?<br />

Auch wenn wir bei me<strong>in</strong>er Mutter fast drei Monate wie e<strong>in</strong> Ehepaar gelebt hatten<br />

und ich viel arbeiten musste, empfand ich mich, wie verliebt am ersten<br />

Tag. Trotzdem sah die Welt für mich nicht viel anders aus als sonst. Der Dom<br />

trug ke<strong>in</strong>e Silberpalettierung und den Fernsehturm krönte ke<strong>in</strong> goldener Apfel.<br />

Vielleicht nahm ich die tristen Häuserfassaden jetzt gar nicht wahr, hatten me<strong>in</strong>e<br />

Augen ke<strong>in</strong> Verlangen danach, so etwas zu sehen, aber die Fluten des<br />

Rhe<strong>in</strong>s waren trübe wie je, und es zeigten sich auch ke<strong>in</strong>e goldig glitzernden<br />

Schaumkrönchen auf ihren kärglichen Strudeln. E<strong>in</strong> anderer Klang war <strong>in</strong> mir.<br />

Früher hatte ich nichts gehört oder gespürt. Vielleicht war er spröde und disharmonisch,<br />

aber jetzt hörte und spürte ich die sanften, harmonischen Melodien.<br />

Sie beschw<strong>in</strong>gten mich den ganzen Tag. Me<strong>in</strong>e Stimmung glich e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>fonie,<br />

die alles <strong>in</strong> mir erfasst hatte. Sie bildete nicht nur me<strong>in</strong> H<strong>in</strong>tergrundgefühl,<br />

sondern hätte auch am liebsten me<strong>in</strong>en Körper <strong>in</strong> schw<strong>in</strong>genden Bewegungen<br />

tanzen lassen. Sicher bee<strong>in</strong>flusste sie auch me<strong>in</strong>e Sprache, me<strong>in</strong>e Gedanken,<br />

ließ mich andere Worte f<strong>in</strong>den, vor allem aber hörte ich anders. Wie und was<br />

die Menschen sprachen, weckte Assoziationen <strong>in</strong> mir, die auch zum Klang mei-<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 22 von 26


ner Harmonien passten. E<strong>in</strong>e veränderte Welt durch die Liebe? Mir zeigt es sich<br />

schon so. Wenn auch nicht <strong>in</strong> den konkreten Bildern die ich sah, so doch <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er gesamten Emotionalität und der Grundlage me<strong>in</strong>er Gefühle. Ich war e<strong>in</strong><br />

anderer Mensch und dadurch ebenso die Welt, die zu mir sprach.<br />

Reise zum Mittelpunkt me<strong>in</strong>er selbst<br />

Da saß das alte Ehepaar nebene<strong>in</strong>ander im Flieger und gr<strong>in</strong>ste sich glücklich<br />

an. Träumend sah ich mich vor e<strong>in</strong>em Jahr bei me<strong>in</strong>em ersten Flug nach <strong>Boston</strong>.<br />

Suchte e<strong>in</strong> Bild für das, was <strong>in</strong> diesem Jahr geschehen war. Unwirklich erschien<br />

mir alles. Auf e<strong>in</strong>er großen Reise befand ich mich. Auf der Reise zum<br />

Mittelpunkt me<strong>in</strong>er selbst? Wie Science-Fiction kam es mir schon vor, aber der<br />

umtriebige Professor Lidenbrock von Jules Verne war ich nicht, und die Frau<br />

neben mir auch nicht me<strong>in</strong>e Assistent<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>en Fluss entdecken wollte, den<br />

wir Jeanne-Dilana-River nennen würden. Den Merrimack River würden wir wiederentdecken,<br />

und nicht der Stromboli würde uns ausspucken, sondern der Logan<br />

International Airport. Auch wenn ich me<strong>in</strong>te, den <strong>Claude</strong> von vor e<strong>in</strong>em<br />

Jahr kaum noch zu kennen, so gut wie ke<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>samkeiten mehr sah, hatte<br />

die Liebe trotz aller Wolken und glücklich schwebender Gefühle uns doch<br />

wohl letztendlich auf dieser Welt belassen. Ob der verhaltene Kuss, zu dem wir<br />

unsere Köpfe zue<strong>in</strong>ander neigten, dies vers<strong>in</strong>nbildlichte? „Oh, <strong>Claude</strong>, was ist<br />

das denn?“ entfuhr es Jeanne empört, als sie me<strong>in</strong>en Kopf umschlang und zu<br />

sich herüberzog, um mit e<strong>in</strong>er heftigen, leidenschaftlichen Kussorgie zu<br />

beg<strong>in</strong>nen. Mit verwuseltem Haar und leicht außer Atem erklärte sie entrüstet<br />

zwischendurch: „<strong>Claude</strong>, wir lieben uns doch.“, um dann wieder erneut ihre<br />

Lippen zu me<strong>in</strong>en zu senken. Wir mussten schrecklich lachen, und die anderen<br />

Passagiere werden es gewiss eher als leicht outrageous klassifiziert haben. Für<br />

uns war es e<strong>in</strong>e Metapher, als wenn Jeanne verdeutlichen wollte, dass unsere<br />

Liebe lebt, jung und lebendig ist und nicht getragen, beschaulich, ruhig<br />

dah<strong>in</strong>fließt. In kle<strong>in</strong>en Liebkosungen waren wir jetzt ständig mit dem anderen<br />

beschäftigt. Jeanne kitzelte mich am Öhrchen, während ich versuchte Strähne<br />

für Strähne ihr Haar halbwegs wieder <strong>in</strong> Form zu br<strong>in</strong>gen. Die Passagiere h<strong>in</strong>ter<br />

uns nahmen bestimmt an, wir hätten uns gestern Abend kennengelernt und<br />

seien frisch verliebt.<br />

Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>nen wurden zu allen Zeiten entführt<br />

Dabei planten wir so wichtige D<strong>in</strong>ge wie unsere geme<strong>in</strong>same Zukunft. „Ich<br />

habe mich schon <strong>in</strong>formiert. E<strong>in</strong>fach wird es nicht se<strong>in</strong>, aber ich muss ja sowieso<br />

länger studieren. Nachdem ich so gut Deutsch sprechen kann, will ich auch<br />

e<strong>in</strong>en BA <strong>in</strong> German language and literature studies machen. Da musst du mir<br />

helfen, und ich muss viel lesen, denn deutsche Literatur ist noch e<strong>in</strong> Problem.<br />

Aber e<strong>in</strong>en deutschen Dichter kenne ich ja schon seit K<strong>in</strong>dertagen.“ erklärte<br />

Jeanne. „Und wer ist das?“ wollte ich wissen. „And the people cry: "Hold on!<br />

Hallo!" And still 10 m<strong>in</strong>utes to Buffalo.“ zitierte Jeanne Fontanes Gedicht „John<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 23 von 26


Maynard“ für den es wohl e<strong>in</strong>e Gedenktafel <strong>in</strong> Buffalo gibt. „Ist alle deutsche<br />

Literatur so schön traurig?“ fragte Jeanne. „Ne<strong>in</strong>, es ist mir noch nie aufgefallen.“<br />

erklärte ich lachend. „Ich bitte dich. Ist das denn nicht schön traurig, und<br />

das liebt die ganze Welt.“ setzte Jeanne dem entgegen und sang e<strong>in</strong> kurzen<br />

Part aus He<strong>in</strong>es Loreley:<br />

„The air is cool <strong>in</strong> the gloam<strong>in</strong>g<br />

And gently flows the Rh<strong>in</strong>e.<br />

The crest of the mounta<strong>in</strong> is gleam<strong>in</strong>g<br />

In fad<strong>in</strong>g rays of sunsh<strong>in</strong>e.“<br />

„Ja, ich glaube, du hast Recht. Deutscher Literatur geht es weniger darum gelesen<br />

zu werden, als die Leser zum Mitwe<strong>in</strong>en anzuregen.“ ich darauf lachend.<br />

„Aber wir brauchen gar ke<strong>in</strong>e deutsche Literatur zu lesen, wenn wir uns nicht<br />

sofort um geeignete Immobilien kümmern, werden wir we<strong>in</strong>en, weil wir ke<strong>in</strong>e<br />

Wohnung haben.“ bemerkte ich. „Ja, und groß genug muss sie se<strong>in</strong>, dass Maria<br />

– me<strong>in</strong>e Mutter – uns besuchen kann, denn zu me<strong>in</strong>en Eltern, das geht nicht.“<br />

Jeanne darauf. Ne<strong>in</strong>, konservativ könne man noch nicht e<strong>in</strong>mal sagen, sie seien<br />

nur verstockt, erklärte Jeanne. „Ja, sie leben nicht. Wie e<strong>in</strong> altes Victorian Couple.<br />

Alles steht still. Emotionen und Gefühle gibt es nicht. Irgendwann haben<br />

sie sich die Welt erklärt, haben es festgelegt und e<strong>in</strong>gefroren. Daran etwas ändern<br />

wollen? Das habe ich schon als junges Mädchen e<strong>in</strong>gesehen, dass dabei<br />

jeder Versuch e<strong>in</strong> völlig überflüssiges Bemühen ist.“ erläuterte es Jeanne. „Mit<br />

Maria werden sie ke<strong>in</strong>e irgendwie geartete Basis f<strong>in</strong>den können, aber auch du<br />

wirst vor me<strong>in</strong>em Vater Rechenschaft für de<strong>in</strong>e Missetaten ablegen müssen.“<br />

me<strong>in</strong>te Jeanne und lachte. Sie spielte ihren Vater und konfrontierte mich mit<br />

se<strong>in</strong>en Vorwürfen. Ich bog mich vor Lachen. „Üblicherweise s<strong>in</strong>d Entführungen<br />

immer mit Lösegeldforderungen verbunden. Sie haben riesiges Glück gehabt,<br />

dass sie davon verschont geblieben s<strong>in</strong>d. Aber ob wir das <strong>in</strong> Zukunft nicht doch<br />

lieber auch so halten sollten?“ reagierte ich auf e<strong>in</strong>en Vorwurf, und auf e<strong>in</strong>en<br />

weiteren: „Aber ihre Tochter ist wirklich e<strong>in</strong>e Pr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>, die wurden zu allen<br />

Zeiten entführt, und das ist auch heute ke<strong>in</strong> bisschen anders.“ worauf<br />

Vater/Jeanne lachte, ich e<strong>in</strong>en Kuss bekam und Vater Dilana schwieg. „Lernst<br />

du denn nicht das meiste von de<strong>in</strong>en Eltern? Gibt es denn irgendwelche<br />

Garantien, das du dir mit zunehmendem Alter nicht auch solche Allüren<br />

zulegst?“ versuchte ich Jeanne zu provozieren. „Aber sie hören auch gerne<br />

klassische Musik. Ich denke das passte gar nicht zu ihnen. Aber versteh' du<br />

de<strong>in</strong>e Eltern, wenn du sie nicht schon als Baby verstanden hast.“ Jeanne<br />

darauf. „Das wird ihnen im Blut liegen. Sie haben doch italienische Vorfahren.“<br />

me<strong>in</strong>te ich dazu. „Ja, se<strong>in</strong> unverkennbarer Name nervt me<strong>in</strong>en Vater. Am<br />

liebsten würde er sich umbenennen <strong>in</strong> Mac Dilanroe oder so etwas, aber auch<br />

<strong>in</strong> <strong>Boston</strong> bist du mit diesem Namen am 17. März, St. Patrick’s Day, e<strong>in</strong>deutig<br />

italienischer Tourist.“ me<strong>in</strong>te Jeanne.<br />

Dilana, die aus Wolle<br />

Jetzt saßen wir wieder auf Jeannes Bett und gr<strong>in</strong>sten uns an. Küssend ließen<br />

wir uns darauf umfallen. „Ne<strong>in</strong>, <strong>Claude</strong>, jetzt nicht.“sagte Jeanne und stoppte<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 24 von 26


me<strong>in</strong>e amouröse Regsamkeit. „Ist es nicht wundervoll? Das müssen wir doch<br />

e<strong>in</strong> wenig feiern. Ich möchte me<strong>in</strong>e Freude auskosten und sie lange genießen.<br />

Natürlich gehen wir auch <strong>in</strong>s Bett. Ich muss es ja sehen, wie du wieder auf<br />

dem Platz liegst, wo du h<strong>in</strong>gehörst, aber das andere, das Glück wieder hier zu<br />

se<strong>in</strong>, geme<strong>in</strong>sam unsere Liebe leben zu können, erfasst mich sehr tief und<br />

kommt e<strong>in</strong>em alles überbietenden Gefühl gleich. Sollen wir das nicht e<strong>in</strong> wenig<br />

festlich gestalten.“ fragte Jeanne. Dilana, die aus Wolle, weich, warm und gefühlsbetont<br />

war Jeanne gewiss, sie lebte es und ließ mich verführend ihr folgen.<br />

Wenn wir e<strong>in</strong>mal heiraten sollten, würde ich bestimmt ihren Namen annehmen.<br />

Hatte Jeanne mir das Leben gerettet? Mich aus der kärglichen und<br />

psychisch desolaten Situation me<strong>in</strong>es Lebens als Student <strong>in</strong> Köln befreit? Ne<strong>in</strong><br />

so sah ich es nicht. Jeanne hatte mir ke<strong>in</strong>e therapeutische Hilfe zuteil werden<br />

lassen, allerd<strong>in</strong>gs hätten me<strong>in</strong>e Veränderungen ohne Jeanne jedoch niemals erfolgen<br />

können. Unsere Geme<strong>in</strong>samkeit hatte diese neue Welt nicht nur für<br />

mich, sondern auch für Jeanne wachsen und erblühen lassen.<br />

Freudig wie e<strong>in</strong> Held zum siegen<br />

Jetzt war ich schon zum dritten mal <strong>in</strong> <strong>Boston</strong>, und ob ich je wieder nach Köln<br />

zurückkommen würde, bezweifelte ich stark. E<strong>in</strong> notwendiges Auslandssemester<br />

hatte ich zu absolvieren. Erfahrungen <strong>in</strong> den USA wollte ich sammeln. Ob<br />

alle ähnliche Erfahrungen machen wie ich, wenn sie <strong>in</strong> den USA studieren? Ich<br />

glaube, kaum. Aber dr<strong>in</strong>gend empfehlen kann ich es nur jeder und jedem. Me<strong>in</strong><br />

Amerikanistikstudium sah ich und sonst nichts. Aber du reist immer mit dir<br />

<strong>in</strong>sgesamt, de<strong>in</strong>er ganzen Persönlichkeit. Wenn du das vergisst, werden de<strong>in</strong>e<br />

Erlebnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen schal bleiben. Jeanne hatte mich<br />

spüren lassen, dass auch etwas anderes angekommen war, als der im Sem<strong>in</strong>ar<br />

belächelte Studierende aus Köln. Vielleicht sprechen die Texte <strong>in</strong> den<br />

Sem<strong>in</strong>aren ja auch de<strong>in</strong>e Emotionen an, aber was dich ausmacht, ist de<strong>in</strong>e<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung, de<strong>in</strong>e Kommunikation mit anderen Menschen, und wie du<br />

de<strong>in</strong>e Beziehungen zu ihnen gestaltest. Der Dom <strong>in</strong> Köln wird sicher e<strong>in</strong><br />

bleibendes Erlebnis <strong>in</strong> Jeannes Er<strong>in</strong>nerungen e<strong>in</strong>nehmen, aber welche<br />

Bedeutung hat das gegen die tiefe, liebende Beziehung, die sie zu me<strong>in</strong>er<br />

Mutter entwickeln konnte. Wenn du viel Geld verlierst, de<strong>in</strong> teures Auto<br />

demoliert wird, ist es vielleicht schade, aber ob du glücklich oder traurig bist,<br />

entscheidet sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Kategorie de<strong>in</strong>er Persönlichkeit. De<strong>in</strong>e Seele<br />

korrespondiert nur mit dem Sozialen, mit de<strong>in</strong>en Beziehungen, de<strong>in</strong>er<br />

Verbundenheit oder Enttäuschung mit anderen Menschen. Der Gedanke dass<br />

die große Freude ausbrechen würde, wenn alle Menschen reich und vermögend<br />

seien, ist Schiller nicht gekommen, wohl aber, wenn sie alle Brüder würden,<br />

und 'e<strong>in</strong> holdes Weib errungen', so dass ich auch me<strong>in</strong>en Jubel e<strong>in</strong>mischen<br />

konnte, hatte ich ja nun schon mal.<br />

FIN<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 25 von 26


All mank<strong>in</strong>d love a lover.<br />

Ralph Waldo Emerson<br />

„Küssen gehörte bestimmt dazu, nicht<br />

wahr?“ fragte ich. „Ja, aber zärtlich<br />

se<strong>in</strong>, ist unverzichtbar. E<strong>in</strong>e Frau<br />

wünscht, dass du <strong>in</strong> ihr die Fee siehst,<br />

und dich entsprechend sanft und milde<br />

ihr gegenüber verhältst.“ ergänzte<br />

Jeanne. „Ist das bei allen so? Bist du<br />

da sicher? Me<strong>in</strong>st du nicht auch, dass<br />

es unter ihnen Jeanne d'Arcs gibt, die<br />

gern im Kampf erobert werden<br />

möchten?“ ich darauf. Jeanne stürzte<br />

sich auf mich und warf mich um.<br />

„Jeanne d'Arc hat sich nicht erobern<br />

lassen, sie hat selbst erobert. Das ist<br />

seitdem bei allen Frauen auf der<br />

ganzen Welt, die Jeanne heißen, so. Sie<br />

erobern, man kann sie nicht bezw<strong>in</strong>gen.“ Jeannes launige Reaktion. Was für<br />

e<strong>in</strong>e Welt?<br />

<strong>Claude</strong> <strong>Macho</strong> <strong>in</strong> <strong>Boston</strong> – Seite 26 von 26

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