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Keine E-Mails mehr aus Berlin

Peter meinte, ein Lifekontakt würde ihre wundervolle E-Mail Beziehung zerstören, schließlich kam er doch nach Berlin. Den Abschluss bildete ein Besuch in Zillys Lieblingscafé am Abend. Hier erklär­te Zilly nicht viel, vielleicht weil es zu gegenwärtig war und keine alten Emotio­nen weckte. „Sag etwas,“ forderte sie Peter auf, „ich möchte dir zuschauen. Ja, es gefällt mir sehr, dass wir uns treffen, nur du bist so zurückhaltend. Bist du eine wenig schüchtern?“ Beide lachten wieder. Es war eine so ungewöhnliche Situation, die beiden, die sich so gut kannten und mochten, saßen sich jetzt fa­ce-to-face gegenüber, konfrontiert mit dem, was sie vom anderen überhaupt nicht kannten; seiner Stimme, seinem Gesichtsausdruck, seiner Mimik und Gestik, seiner Körpersprache. Wie war das alles mit ihren geschriebenen Wor­ten in Einklang zu bringen, mit dem Bild das sie sich voneinander gemacht hat­ten, welches neue Gesamtbild ergab sich daraus. Peter merkte nur, dass er al­les an Zilly toll und begeisterungswürdig fand, und sein Mail-Bild durch den Kontakt noch erheblich positiv verstärkt wurde. Er bedankte sich bei Zilly für den wunderschönen Nachmittag und Abend und erläuterte, was ihm daran so gefallen habe. Durch zwei Gläser Wein schienen sich auch ihre Zungen ein wenig mehr gelöst zu haben, sie aßen noch etwas zu Abend, weil es ja bei Peters Schwester jetzt auch nichts mehr gebe, und Zilly sonst auch Brote essen müs­se. So wurde es immer später und Peter hatte schon seine Schwester infor­miert. Als sie sich vorm Lokal verabschiedeten, umarmten und küssten sie sich. Bevor sie ihre Umarmung lösten, schauten sie sich tief schweigend an. Zilly instruier­te Peter noch mal über seine Fahrtstrecke und schloss mit der Frage: „Oder wie­der zu mir?“. „Ich? Zu dir? Heute Abend? Und heute Nacht?“ stotterte Pe­ter. Zilly nickte nur und ließ ein bestätigendes „Mhm“ vernehmen. „Aber du weißt doch...“ begann Peter wieder zu stottern. Peter schien völlig verwirrt. Dass er liebend gern bei Zilly über Nacht geblieben wäre, stand außer Frage, nur war ihm das überhaupt nicht gegenwärtig geworden, weil es außerhalb je­der realis­tischen Erwägung lag. „Wer sagt denn, dass ich gleich mit dir ins Bett will, klei­ner Macho.“ feixte Zilly als Antwort. Sie küssten sich noch eimal, Zilly hakte sich bei Peter ein, und sie machten sich auf den Weg.

Peter meinte, ein Lifekontakt würde ihre wundervolle E-Mail Beziehung zerstören, schließlich kam er doch nach Berlin. Den Abschluss bildete ein Besuch in Zillys Lieblingscafé am Abend. Hier erklär­te Zilly nicht viel, vielleicht weil es zu gegenwärtig war und keine alten Emotio­nen weckte. „Sag etwas,“ forderte sie Peter auf, „ich möchte dir zuschauen. Ja, es gefällt mir sehr, dass wir uns treffen, nur du bist so zurückhaltend. Bist du eine wenig schüchtern?“ Beide lachten wieder. Es war eine so ungewöhnliche Situation, die beiden, die sich so gut kannten und mochten, saßen sich jetzt fa­ce-to-face gegenüber, konfrontiert mit dem, was sie vom anderen überhaupt nicht kannten; seiner Stimme, seinem Gesichtsausdruck, seiner Mimik und Gestik, seiner Körpersprache. Wie war das alles mit ihren geschriebenen Wor­ten in Einklang zu bringen, mit dem Bild das sie sich voneinander gemacht hat­ten, welches neue Gesamtbild ergab sich daraus. Peter merkte nur, dass er al­les an Zilly toll und begeisterungswürdig fand, und sein Mail-Bild durch den Kontakt noch erheblich positiv verstärkt wurde. Er bedankte sich bei Zilly für den wunderschönen Nachmittag und Abend und erläuterte, was ihm daran so gefallen habe. Durch zwei Gläser Wein schienen sich auch ihre Zungen ein wenig mehr gelöst zu haben, sie aßen noch etwas zu Abend, weil es ja bei Peters Schwester jetzt auch nichts mehr gebe, und Zilly sonst auch Brote essen müs­se. So wurde es immer später und Peter hatte schon seine Schwester infor­miert. Als sie sich vorm Lokal verabschiedeten, umarmten und küssten sie sich. Bevor sie ihre Umarmung lösten, schauten sie sich tief schweigend an. Zilly instruier­te Peter noch mal über seine Fahrtstrecke und schloss mit der Frage: „Oder wie­der zu mir?“. „Ich? Zu dir? Heute Abend? Und heute Nacht?“ stotterte Pe­ter. Zilly nickte nur und ließ ein bestätigendes „Mhm“ vernehmen. „Aber du weißt doch...“ begann Peter wieder zu stottern. Peter schien völlig verwirrt. Dass er liebend gern bei Zilly über Nacht geblieben wäre, stand außer Frage, nur war ihm das überhaupt nicht gegenwärtig geworden, weil es außerhalb je­der realis­tischen Erwägung lag. „Wer sagt denn, dass ich gleich mit dir ins Bett will, klei­ner Macho.“ feixte Zilly als Antwort. Sie küssten sich noch eimal, Zilly hakte sich bei Peter ein, und sie machten sich auf den Weg.

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Carmen Sevilla<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Frühlingsglück im Herbst<br />

Erzählung<br />

I'm a great believer in luck<br />

Thomas Jefferson<br />

Peter meinte, ein Lifekontakt würde ihre wundervolle E-Mail Beziehung<br />

zerstören, schließlich kam er doch nach <strong>Berlin</strong>. Den Abschluss bildete ein<br />

Besuch in Zillys Lieblingscafé am Abend. Hier erklärte Zilly nicht viel, vielleicht<br />

weil es zu gegenwärtig war und keine alten Emotionen weckte. „Sag etwas,“<br />

forderte sie Peter auf, „ich möchte dir zuschauen. Ja, es gefällt mir sehr, dass<br />

wir uns treffen, nur du bist so zurückhaltend. Bist du eine wenig schüchtern?“<br />

Beide lachten wieder. Es war eine so ungewöhnliche Situation, die beiden, die<br />

sich so gut kannten und mochten, saßen sich jetzt face-to-face gegenüber,<br />

konfrontiert mit dem, was sie vom anderen überhaupt nicht kannten; seiner<br />

Stimme, seinem Gesichts<strong>aus</strong>druck, seiner Mimik und Gestik, seiner<br />

Körpersprache. Wie war das alles mit ihren geschriebenen Worten in Einklang<br />

zu bringen, mit dem Bild das sie sich voneinander gemacht hatten, welches<br />

neue Gesamtbild ergab sich dar<strong>aus</strong>. Peter merkte nur, dass er alles an Zilly toll<br />

und begeisterungswürdig fand, und sein Mail-Bild durch den Kontakt noch<br />

erheblich positiv verstärkt wurde. Er bedankte sich bei Zilly für den<br />

wunderschönen Nachmittag und Abend und erläuterte, was ihm daran so<br />

gefallen habe. Durch zwei Gläser Wein schienen sich auch ihre Zungen ein wenig<br />

<strong>mehr</strong> gelöst zu haben, sie aßen noch etwas zu Abend, weil es ja bei Peters<br />

Schwester jetzt auch nichts <strong>mehr</strong> gebe, und Zilly sonst auch Brote essen müsse.<br />

So wurde es immer später und Peter hatte schon seine Schwester informiert.<br />

Als sie sich vorm Lokal verabschiedeten, umarmten und küssten sie<br />

sich. Bevor sie ihre Umarmung lösten, schauten sie sich tief schweigend an.<br />

Zilly instruierte Peter noch mal über seine Fahrtstrecke und schloss mit der<br />

Frage: „Oder wieder zu mir?“. „Ich? Zu dir? Heute Abend? Und heute Nacht?“<br />

stotterte Peter. Zilly nickte nur und ließ ein bestätigendes „Mhm“ vernehmen.<br />

„Aber du weißt doch...“ begann Peter wieder zu stottern. Peter schien völlig<br />

verwirrt. Dass er liebend gern bei Zilly über Nacht geblieben wäre, stand außer<br />

Frage, nur war ihm das überhaupt nicht gegenwärtig geworden, weil es<br />

außerhalb jeder realistischen Erwägung lag. „Wer sagt denn, dass ich gleich<br />

mit dir ins Bett will, kleiner Macho.“ feixte Zilly als Antwort. Sie küssten sich<br />

noch eimal, Zilly hakte sich bei Peter ein, und sie machten sich auf den Weg.<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 1 von 30


<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> - Inhalt<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong>........................................................ 2<br />

Verlust und Trauer..........................................................................4<br />

Herbst.............................................................................................4<br />

Älter werden...................................................................................4<br />

Peters <strong>Berlin</strong>besuch........................................................................5<br />

Dank ans Theater...........................................................................5<br />

E-Mail <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong>.............................................................................6<br />

Tägliche <strong>Mails</strong>................................................................................. 7<br />

Peters beste Freundin.....................................................................9<br />

Kein Theaterbesuch in <strong>Berlin</strong>........................................................ 10<br />

Verlustängste............................................................................... 12<br />

Große P<strong>aus</strong>e................................................................................. 12<br />

Zezilia schreibt wieder..................................................................13<br />

Neu Perspektiven für Zilly?...........................................................16<br />

Peters Krankheit...........................................................................18<br />

Peter wieder in <strong>Berlin</strong>................................................................... 19<br />

Peter trifft Zilly............................................................................. 20<br />

Oder wieder zu mir?..................................................................... 21<br />

Bleib bei mir................................................................................. 24<br />

Bei Sophia und Rolf......................................................................24<br />

Gemeinsamer Geschmack.............................................................25<br />

Always aroused?...........................................................................25<br />

Zusammenleben........................................................................... 26<br />

Gespräche.....................................................................................27<br />

Tiefe Beziehung............................................................................ 28<br />

Verluste im Alter?.........................................................................29<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 2 von 30


<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Verlust und Trauer<br />

Traurigkeit und Verlust, ein hässliches Geschwisterpaar, immer wieder versucht<br />

es sich in die emotionale Befindlichkeit der Menschen zu drängen. Wer traurig<br />

ist hat fast immer etwas verloren. Nicht Materielles, der Verlust von Geld und<br />

Gegenständen ist schnell überwunden, berührt meist nur kurzfristig und nicht<br />

nicht tief. Verlorenes von dem, was Vertrauen bewirkte, Freude bereitete,<br />

Heiterkeit vermittelte, für das Empfinden von Lust und Glück verantwortlich<br />

war, tut weh und lässt uns traurig werden. Beim Tod eines Freundes betrauern<br />

wir selbstverständlich nicht seine derzeitige Situation, sondern uns selbst. Wir<br />

werden die Freude und alles Angenehme, was uns seine Anwesenheit<br />

vermittelte, nicht <strong>mehr</strong> erleben können, das stimmt uns traurig. Trauer über<br />

emotionale Verluste kann sehr tiefgreifend und oft schwer zu bewältigen sein.<br />

Sie kann unsere Sicht- und Lebensweise beeinflussen, und zu Veränderungen<br />

der Persönlichkeit führen. Die Prozesse der Trauer über den Verlust dessen,<br />

was in uns angenehme Empfindungen hervorrief, spielen sich zum<br />

überwiegenden Teil in Bereichen unseres Gehirns ab, die unserer Ratio nicht<br />

direkt zugänglich sind. Zum größten Teil führen sie ein Eigenleben in uns wie<br />

vieles andere Emotionale auch.<br />

Herbst<br />

Als eine Metapher für für Verlust und die Erzeugung von Tristesse steht der<br />

Herbst als Jahreszeit. Nicht weil die Bäume ihr Laub und das Thermometer seine<br />

Kletterkünste verlieren, es gehen langsam die mit den Sommermonaten<br />

verbundenen angenehmen emotionalen Erlebnisse verloren. Wir können nicht<br />

<strong>mehr</strong> die Treffen mit Freunden in der lauen Abendluft genießen und die Sonne<br />

kann mit ihrer verlorenen Kraft uns unsere Umgebung nicht <strong>mehr</strong> in freudig<br />

strahlenden Farben präsentieren. Ihre uns aufheiternde Anwesenheit reduziert<br />

sie stark, und überzieht stattdessen an vielen Tagen den Himmel mit einem<br />

Wolkenteppich, der wie graue Auslegeware den uns lieben Anblick der Sonne<br />

hermetisch versperrt. Das uns im Sommer beschwingende Gefühl einer Glück<br />

vermittelnden strahlenden Umgebung ist nicht <strong>mehr</strong> vorhanden, an unangenehme<br />

feuchte, kalte und trüb graue Tristesse verbreitende Tage haben wir es<br />

verloren. Nicht umsonst liegen die Feiertage, die mit Trauer, Tod und Trübsal<br />

verbunden sind, alle im Herbst. Da es sich beim Herbst um eine intermittierende<br />

Erscheinung handelt, von der man weiß, dass sie um die Weihnachtszeit ihren<br />

Abschluss findet, und es sich ab dann auf eine Zeit zubewegt, in der alles<br />

wieder neu entsteht, werden die Verluste des Herbstes hingenommen und ertragen.<br />

Glücklich preisend besungen hat den Herbst aber noch nie jemand.<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 3 von 30


Älter werden<br />

Im Herbst des Lebens weißt du, dass es kein Frühlingserwachen geben wird. In<br />

der Regel bei klarem Bewusstsein musst du erleben, wie das körperliche<br />

Kunstwerk deiner Persönlichkeit nach und nach Funktionsfähigkeiten und ästhetische<br />

Erträglichkeiten verliert, für immer. Nichts von dem, was mit deiner<br />

Physiologie zusammen hängt, wird angenehmer, akzeptabler, es geht nur verloren.<br />

Du weißt, dass es so üblich ist, du wusstest es vorher, trotzdem gefallen<br />

dir dein nicht <strong>mehr</strong> richtig funktionierender Blutdruck und deine schlaff hängenden<br />

Brüste nicht. Du musst es akzeptieren, eine Alternative dazu gibt es<br />

nicht. Tiefe Traurigkeit hilft dir nicht, eine Phase, die von unangenehmen Verlusten<br />

gekennzeichnet ist, bleibt das Älterwerden trotzdem. Alle anderen Interpretationen<br />

dienen der Augenwischerei und verschleiern die tatsächlichen Verhältnisse.<br />

Am unangenehmsten und wirklich schmerzhaftesten ist es jedoch,<br />

als alte Frau oder alter Mann betrachtet und behandelt zu werden. Als jemand,<br />

der nicht <strong>mehr</strong> im Vollbesitz seiner Kräfte ist, auch seiner mentalen, und als<br />

minderwertig, nicht <strong>mehr</strong> dazugehörig sondern außerhalb angesiedelt wird.<br />

Nicht wenige ältere Menschen machen sich dieses menschenverachtende Bild<br />

selbst zu eigen, und tragen zu den körperlichen Verlusten auch noch an Verlusten<br />

ihrer psychischen und mentalen Komplexität. Traurigkeit und Tristesse sind<br />

im Lebensherbst weit verbreitete Phänomene, die sehr verständlich sind, aber<br />

keine Hilfe bieten, mit den tatsächlichen Verlusten leben zu können.<br />

Peters <strong>Berlin</strong>besuch<br />

Finde das, was in dir angenehme Empfindungen hervorruft und versuche es jeden<br />

Tag zu leben. Peter mochte seine Schwester sehr. Sie war mittlerweile<br />

auch schon achtundfünzig Jahre alt. Leider sah er sie viel zu selten. Sie wohnte<br />

700 Kilometer entfernt in <strong>Berlin</strong>. Ihr Mann hatte dort damals eine sehr lukrative<br />

Professur angeboten bekommen, und so hatten sie den größten Teil ihres<br />

Lebens getrennt in <strong>Berlin</strong> und er weiterhin in Wien verbracht. Meistens schaffte<br />

er es, sie wenigstens einmal im Jahr zu besuchen. Sie schrieben sich häufig E-<br />

<strong>Mails</strong>, trotzdem waren ihre gemeinsamen Treffen immer ein freudiges Erlebnis<br />

für Peter. Von den Kindern lebte niemand <strong>mehr</strong> bei den Eltern, und so hatten<br />

sie viel Spielraum, etwas gemeinsam zu unternehmen. An einem Abend besuchten<br />

sie eine Theateraufführung an einer kleinen autonomen Bühne, dem<br />

Theater in der Werkhalle. Peter hatte eine nette Vorstellung im Stil einer etwas<br />

arrivierteren Laiendarstellung erwartet. Er war verblüfft über die hochprofessionellen<br />

sch<strong>aus</strong>pielerischen Qualitäten der Darstellerinnen, eine von ihnen<br />

hatte ihn besonders fasziniert. Auch das sozialkritische Stück selbst gefiel ihm<br />

<strong>aus</strong>gezeichnet. Ein absolut gelungener Abend, der ihn in vielem auch an seine<br />

Theaterbesuche während des Studiums denken ließ. Das Theaterenvirement<br />

ähnelte sich sehr, nur waren die Sch<strong>aus</strong>pielkünste der Darsteller häufig nicht so<br />

faszinierend. Seine Schwester und sein Schwager waren der Ansicht, dass es<br />

eine Vielzahl von sehr guten Sch<strong>aus</strong>pielerInnen gebe, die keine feste Anstellung<br />

bei einem Ensemble finden würden, und daher an den freien Bühnen auch<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 4 von 30


überwiegend hervorragende Sch<strong>aus</strong>pieler wirkten.<br />

Dank ans Theater<br />

Wieder in Wien wollte er dem Theater für den gelungenen Abend und die <strong>aus</strong>gezeichnete<br />

Vorstellung noch einmal danken. Nur wie? E-Mail-Adressen gab es<br />

nur zur Kartenvorbestellung oder zum Infoletter bestellen. Nirgendwo war etwas<br />

von Lob, Kritik oder Zuschauermeinungen zu sehen. Er schrieb einfach an<br />

die Infoletteradresse und erreichte Tom, den „Intendanten“ persönlich. Den<br />

Vorschlag, eine Rückmeldungsseite für Zuschauer einzurichten, unterstütze er,<br />

und die Mail hatte er an Zilly Pohl, die besonders gelobte Sch<strong>aus</strong>pielerin, weitergegeben.<br />

Peter versuchte <strong>mehr</strong> über die Sch<strong>aus</strong>pielerin Zilly Pohl zu erfahren, aber sie<br />

schien nicht zu existieren, in keinem Verzeichnis, mit keiner E-Mail-Adresse, in<br />

keinem Telefonbuch. Es erweckte den Eindruck, als ob sie inkognito unter<br />

falschem Namen gespielt hätte. Ein wenig kurios kam es ihm schon vor.<br />

Nach etwa einem Monat fiel es Peter wieder ein. Tatsächlich verfügte die Website<br />

des Theaters in der Werkhalle jetzt über eine Zuschauerseite. Wenn Tom<br />

die E-Mail der Sch<strong>aus</strong>pielerin gegeben hatte, wäre es ja nicht sehr unhöflich<br />

gewesen, sich kurz für das Lob zu bedanken, aber sie konnte ja schließlich<br />

nicht jedem Zuschauer <strong>Mails</strong> schreiben. Andererseits hatte er ja auch nicht mit<br />

der Intention geschrieben, von der Sch<strong>aus</strong>pielerin für ein Kompliment Dank zu<br />

erhalten, sondern wollte sich selbst beim Theater für die tolle Vorstellung bedanken.<br />

E-Mail <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong><br />

Noch einen Monat später, es war bereits November, erhielt er eine E-Mail <strong>aus</strong><br />

<strong>Berlin</strong> und zwar nicht von seiner Schwester:<br />

Lieber Zuschauer Peter Linder <strong>aus</strong> Wien,<br />

sie haben mein Leben verändert. Das hat längere Zeit in Anspruch genommen.<br />

Erst kraft dieser Veränderung bin ich in der Lage, mich für ihr her<strong>aus</strong>gehobenes<br />

Lob meiner Darstellung zu bedanken. Dass Tom mir ihre E-Mail gab, löste<br />

in mir starke Zweifel über bestimmte Praktiken meiner bisherigen Lebensführung<br />

<strong>aus</strong>. Ich hatte nämlich gar keine Mailadresse, kein E-Mailkonto, ja nicht<br />

mal einen eigenen Computer. Dachte einfach, ich brauche so etwas nicht. Als<br />

ich feststellte, dass es mir ein Bedürfnis war, ihnen für ihr Kompliment zu danken,<br />

wurde mir klar, dass ich dazu so nicht in der Lage war. Schade! In mir kamen<br />

Zweifel auf, bis ich mich schließlich mit allem versorgte. Ihretwegen besitze<br />

ich jetzt einen eigenen Laptop und eine E-Mail-Adresse mit Box, und finde<br />

es prima. Danke auch hierfür.<br />

Ich bin mittlerweile schon so erfahren, dass ich weiß, in <strong>aus</strong>gebufften E-Mail<br />

Kreisen redet man sich, außer in offiziellen geschäftlichen Bereichen mit dem<br />

Vornamen an. Ich werd' dich jetzt einfach Peter nennen und möchte von dir<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 5 von 30


mit Zilly angesprochen werden.<br />

Angesprochen werden möchte ich von dir nämlich schon nochmal, weil es mich<br />

interessiert, was du denn an meiner, beziehungsweise warum du denn meine<br />

sch<strong>aus</strong>pielerische Leistung so her<strong>aus</strong>ragend empfandest. Es würde mich freuen,<br />

wenn du es mir ein wenig erläutern könntest. Ich hoffe, meine Mail kommt<br />

nicht so spät, dass du alles schon wieder vergessen hast.<br />

Übrigens, wie bekannt ist denn unser Theater in der Werkhalle in Wien, dass<br />

man dafür so weite Anreisen unternimmt?<br />

Ich freu mich auf eine Antwort<br />

Zilly<br />

Peter schmunzelte über die lustige Mail, las sie ein zweites Mal und antwortete<br />

Zilly Pohl. Auf eine Beantwortung seiner Mail brauchte er diesmal keine zwei<br />

Monate zu warten. Sie kam am gleichen Tag:<br />

Lieber Peter,<br />

dass du meine Mail für funny hieltest, freut mich. Ich glaube es hängt damit<br />

zusammen, dass mir das <strong>Mails</strong> schreiben im Moment noch richtig Spaß macht.<br />

Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie trübe, grau und tranig werden, aber das<br />

werde ich wahrscheinlich gar nicht erfahren, weil dann keiner <strong>mehr</strong> Lust hat,<br />

mir zu antworten.<br />

Deine Mail fand ich zwar auch ein wenig lustig, aber viel <strong>mehr</strong> habe ich mich<br />

über deine Schilderung, wie du mich im Theater empfunden und erlebt hast,<br />

gefreut. Ich habe gestaunt. So etwas habe ich noch nie gehört. Es kommt mir<br />

zwar auch manchmal so vor, als ob ich ein wenig wie in Trance agierte, wenn<br />

ich versuche, mich mit einer Rolle sehr stark zu identifizieren, was man ja eigentlich<br />

seit Brecht nicht <strong>mehr</strong> so voll tun soll, aber du hast dieses Erlebnis ja<br />

auch zum ersten Mal in Mutter Courage gehabt. Mir gelingt es nicht wie dir,<br />

beim Zuschauen alles völlig <strong>aus</strong>zublenden und mich total auf einen Sch<strong>aus</strong>pieler<br />

zu konzentrieren, aber bei dir geschieht es ja auch unabsichtlich. Dass ich<br />

es bei dir <strong>aus</strong>lösen konnte, macht mich ein wenig stolz. Vielleicht ist es so eine<br />

Art Trance, die bei totaler Identifikation der Sch<strong>aus</strong>pielerin <strong>aus</strong>gelöst wird. Als<br />

eine tolle Erfahrung, kann ich es mir gut vorstellen. Ich beneide dich ein wenig<br />

darum.<br />

Du darfst sicher sein, dass mein Gesang diese Reaktion bei dir nicht evoziert<br />

hätte. Verlange also bitte keinen Opernauftritt von mir.<br />

Nach deinem Bericht scheinen ja in naher Zukunft keine Invasionen <strong>aus</strong> Wien<br />

bevorzustehen. Ich selber habe auch längere Zeit dort gelebt. Meine Ausbildung<br />

habe ich nämlich am Max-Reinhardt-Seminar gemacht, und sogar an der<br />

Burg habe ich gearbeitet, allerdings nur als Elevin.<br />

Du siehst, eine große kleine Sch<strong>aus</strong>pielerin hat dich verzaubert. Vielleicht sind<br />

es aber auch nur meine wienerischen Reste, die dir eine Identifikation erleichterten<br />

und dieses tiefe Erlebnis ermöglichten.<br />

Besuchst du deine Schwester öfter? Soll ich dir mitteilen, wenn ich etwas anderes<br />

spiele?<br />

Mit der Lust, dich zu verzaubern<br />

Zilly<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 6 von 30


Tägliche <strong>Mails</strong><br />

Selbstverständlich erfolgte Peters Antwort am nächsten Tag, und Zilly ließ auch<br />

keinen Tag verstreichen, ohne Peter geschrieben beziehungsweise geantwortet<br />

zu haben. Ihnen beiden schienen die gegenseitigen <strong>Mails</strong> sehr zu gefallen, und<br />

sowohl Zilly als auch Peter, bereitete es Freude, in der gespannten Erwartung<br />

der Reaktion etwas für den anderen zu formulieren. Nachdem sie schon längere<br />

Zeit sich gegenseitig täglich E-<strong>Mails</strong> zugesandt hatten, schrieb Zilly eines<br />

Tages:<br />

Lieber Peter,<br />

das Lesen und Beantworten deiner Mail ist zu einem festen Ritual in meinem<br />

Tagesablauf geworden, ein sehr freudiges, das keinesfalls versäumt werden<br />

darf. Wenn ich so etwas hätte erwarten können, wäre ich sicher nicht jahrelang<br />

ohne E-Mail-Adresse durch die Welt getrottelt. Nur kannte ich vorher ja deine<br />

Adresse auch gar nicht.<br />

Etwas anderes bewegt mich. Deine <strong>Mails</strong> bereiten mir ja Freude, weil es mir<br />

gefällt, wie du sprichst, wie du denkst, wie du reagierst. Ich mag es sehr. Es<br />

bereitet mir sehr angenehme Empfindungen, und vermittelt mir ein kleines<br />

wohliges Glücksempfinden. Ich freue mich jeden Tag darauf und möchte nicht,<br />

dass sich da etwas ändert. Andererseits nehme ich schon wahr, dass unser<br />

Aust<strong>aus</strong>ch immer persönlichere Züge annimmt und unser Verhältnis immer –<br />

naja – zutraulicher wird. Ich weiß nicht, wohin sich das entwickeln könnte. Es<br />

ist ja schon recht emotional belegt, aber dass so eine andere Beziehung als unsere<br />

Mailfreundschaft entsteht, möchte, kann und will ich nicht. Ich bin verheiratet,<br />

habe zwei Kinder und möchte nicht, das durch unsere <strong>Mails</strong> etwas in mir<br />

entsteht, das Turbulenzen in dieses Gefüge bringen könnte. Also Beziehung<br />

und Amore tabu, wenn wir uns zukünftig weiter schreiben wollen, was ich mir<br />

sehr wünsche. Ich will auch nichts von deinen Liebesverhältnissen hören. Ausgenommen<br />

ist die Liebe zum Theater und ähnliche Vorlieben.<br />

Ist dir das recht, gefällt dir das so, oder hattest du eine heimliche Strategie,<br />

dich in mich zu verlieben, bist jetzt enttäuscht und hast kein Interesse <strong>mehr</strong>.<br />

Sag es genau und ehrlich<br />

Zilly<br />

Peter braute nicht lange zu überlegen, denn Zillys Erwägungen waren ihm noch<br />

nie bewusst geworden. Jetzt, nachdem Zilly ihn darauf gebracht hatte, las er<br />

sich einiges noch einmal durch, und stellte fest, dass ihr Umgang miteinander<br />

erheblich an Distanz verloren hatte. Sie erschien ihm vertraut wie eine<br />

Schwester, mit der er zusätzlich noch scherzte und ironische, leicht provokante<br />

Späße machte. Ihre in manchen Formulierungen leicht kindlich-naiv anmutenden<br />

Wendungen, gefielen ihm, und ließen ihn schmunzeln. Im Theater hatte er<br />

Zilly bewundert, jetzt mochte er sie.<br />

Lieber Peter,<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 7 von 30


nicht nur, dass du so schnell, klar und prägnant geantwortet hast, hat meine<br />

Sorge über mögliche andere Entwicklungen gegenstandslos werden lassen,<br />

mich zufrieden gestellt und erfreut, ich möchte dir einen Kuss geben, für die<br />

Art und Weise, wie du es dargestellt und formuliert hast. Es war nicht nur interessant<br />

und aufregend zu lesen, sondern enthielt wiedermal ein wenig Honig<br />

für mich, wie viele deiner oft frech anmutenden Bemerkungen. Ich denke auch,<br />

dass wir uns in unseren <strong>Mails</strong> recht frei und unbefangen fühlen, und dies ein<br />

Zustand ist, den man im alltäglichen Leben nur selten oder gar nicht erfährt,<br />

ihn aber intensiv wünscht, liebt und glücklich dabei ist. So wie du alles vergisst,<br />

was dich wegen deines Älterwerdens nervt, habe ich das Gefühl von der<br />

Allwaysready-Mutter, -Ehefrau und -Sch<strong>aus</strong>pielerin nichts zu verspüren. Ein<br />

wenig ist es schon eine tägliche glückliche Enklave, deine <strong>Mails</strong> zu lesen und zu<br />

beantworten. Nirgendwo sonst habe ich das Empfinden, derart frei von irgendwelchen<br />

Rollenerwartungen zu sein, als in dieser kleinen täglichen Out-of-<br />

Bounds-Area der persönlichen Freude.<br />

Es stellt sich mir auch als ein glücklich machendes Surplus dar, das ich nicht<br />

missen möchte und das ich mir vorher nicht vorstellen konnte. Es macht meinen<br />

Alltag freudiger und reicher, und allein der Gedanke daran ist in der Lage,<br />

mich auch zu anderer Zeit freundlich und zufrieden zu stimmen.<br />

Übrigens, dass ich nicht der Täter bin, der dir diese Bescherung bereitet, muss<br />

anscheinend nochmal verdeutlicht werden. Wenn du mir nicht per Mail Komplimente<br />

vermittelt hättest, würden meine Finger heute keine PC-Taste in Bewegung<br />

versetzen, und <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> müsstest du dich mit den <strong>Mails</strong> deiner Schwester<br />

begnügen, aber darüber freust du dich ja schließlich auch.<br />

Schreib mir weiter so ergreifende <strong>Mails</strong>. Ein wenig frech sein darfst du dann<br />

auch.<br />

Zilly<br />

Peters beste Freundin<br />

Zillys Briefe waren Peter <strong>mehr</strong> als nur eine tägliche freudige Abwechselung. Er<br />

wusste, dass sie an ihn dachte, sie sich über seine <strong>Mails</strong> freute und der Kontakt<br />

mit ihm ihr viel bedeutete. Er hatte eine wichtige Funktion in Zillys emotionalem<br />

Lebensalltag. Zufällig war er für einen anderen Menschen, der ihn beachtete<br />

und schätzte bedeutsam geworden. Es passte nicht in das Bild der missmutig<br />

zu ertragenden Verluste beim Älterwerden. Es war nicht nur eine mit angenehmen<br />

Erfahrungen assoziierte Aktivität, der Kontakt mit Zilly war etwas<br />

Neues, etwas zu seinem Leben Hinzugekommenes, wie eine frische Blüte, die<br />

er für sich im Herbst nicht <strong>mehr</strong> erwartet hatte. Das Mailen mit Zilly belebte<br />

nicht nur seine gesamte emotionale Stimmungslage, sondern fügte auch seinem<br />

Selbstbild einen freudigen Sicherheitspunkt hinzu. Zilly hatte Lust daran,<br />

ihm zuzuhören, sich auf ihn einzulassen und mit ihm zu lachen und zu scherzen.<br />

Sehr bedeutsam war sie für ihn, eigentlich seine beste Freundin.<br />

Er dachte nach über seine Beziehungen, die er zu Bekannten und Freuden in<br />

Wien hatte. Peter hatte <strong>mehr</strong>ere gute Freunde. Besonders eng war seine<br />

Freundschaft mit Leonard und Christian und ihren Familien. Zwischen Leonard<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 8 von 30


und ihm gäbe es keine Geheimnisse, sie könnten über alles miteinander reden,<br />

hätte er verkündet. Peter mochte und schätzte beide sehr. Mit seinem Verhältnis<br />

zu Zilly war das nicht zu vergleichen. Mit ihnen zusammen konnte er feiern,<br />

mit Zilly traf er sich auf einer tieferen Ebene seiner Freude vermittelnden emotionalen<br />

Basis. Peter und Zillys Beziehung entbehrte jeder realen persönlichen<br />

Erfahrungspraxis. Wie zwei Wesen von den unsichtbaren Leuten erlebten sie<br />

sich gegenseitig zwar nicht durch Schicksalsbeeinflussungen, sondern nur<br />

durch ihre an den anderen gerichteten geschriebenen Texte. Peter hatte Lilly<br />

zwar gesehen, und es war ja auch Anlass für ihre Korrespondenz gewesen,<br />

aber das war auf der Bühne, im Sch<strong>aus</strong>piel und war heute für seine Vorstellungen<br />

irrelevant. Ihm war Zilly ebenso unbekannt wie sie ihm. Sie kommunizierten<br />

nur mit dem Imago, dem Eindruck den die Texte des anderen in ihnen erweckten,<br />

dem Bild, das sich dar<strong>aus</strong> für sie ergab. Welche Verbindungen oder<br />

Beeinflussungen gab es zwischen einer derartigen Beziehung, die nur im Cyberspace<br />

stattfand und seinem Lebensalltag. Konnte er zu der virtuellen Beziehung<br />

mit Zilly Pohl überhaupt sagen: „Ich habe eine Freundin.“, wenn ihr alle<br />

Ansätze realen Erlebens fehlten? Ihre Texte, und wie er mit ihr sprechen konnte,<br />

gehörten allerdings schon zu seiner Lebensrealität und spielten für Peters<br />

Psyche und sein emotionales Befinden eine her<strong>aus</strong>ragende Rolle. Die Beziehungen<br />

zu seinen Freunden schienen ihm vor dem Hintergrund seines Verhältnisses<br />

zu Zilly wie raue soziale Gebilde. Die Kommunikation mit Zilly fand auf einer<br />

anderen Ebene statt. Nicht selten kam es ihm vor, er könne mit ihr reden,<br />

als ob er zu sich selber spräche. Dass sich irgendwelche gegenseitigen Ressentiments<br />

entwickeln könnten, <strong>aus</strong>geschlossen. Es erinnerte Peter manchmal<br />

daran, wie er früher mit seiner Mutter gesprochen hatte. Bei ihrem Lächeln<br />

wusste er, dass sein Glück sie selber zutiefst erfreute. Im persönlichen Kontakt<br />

erwachsener Menschen ist diese tiefste Sicherheit und derart unbegrenztes<br />

Vertrauen in der Regel kaum anzutreffen. Vielleicht war es die Anonymität des<br />

Mail-Kontaktes, die dies zuließ und ermöglichte, die Bedeutung von Peters Beziehung<br />

zu Zilly beeinflusste das nicht.<br />

Lieber Peter,<br />

ich bin böse mit dir. Kommst einfach <strong>aus</strong> Wien, siehst mich im Theater und findest<br />

es wundervoll. Jetzt habe ich dir schon so oft und viel von unserem neuen<br />

Stück geschrieben, von den Proben, wie ich gelernt habe und welche Schwierigkeiten<br />

es gab, aber du erwähnst mit keinem Wort, dass du es sehen möchtest.<br />

Du schreibst nichts davon, dass du deine Schwester besuchen willst, obwohl<br />

es eigentlich längst überfällig wäre. Willst du es nicht sehen? Ist dein Interesse<br />

an mir als Sch<strong>aus</strong>pielerin verblasst? Was ist los? Lass mich nicht rätseln<br />

und wilde Mutmaßungen anstellen. Sag es mir! Klär mich auf! Die Vorstellung,<br />

dass du bei einem Auftritt im Publikum säßest, ließ mich schon leicht nervös<br />

werden, erfreute mich aber trotzdem. Zur Premiere sind nur noch zehn<br />

Plätze frei, du müsstet sofort bestellen, aber an normalen anderen Abenden<br />

wäre es mir ebenso lieb, vor dir zu spielen. Ob es diesmal auch bei dir zu der<br />

beschriebenen Entrücktheit führen wird, kann ich natürlich nicht wissen. Sieh<br />

es dir an und lass dich darauf ein. Gefallen wird es dir sicher auch ohne Ekstase<br />

ähnliche Erlebnisse.<br />

Komm bitte, ich möchte von dir bewundert werden<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 9 von 30


Zilly<br />

Kein Theaterbesuch in <strong>Berlin</strong><br />

Natürlich hätte Peter Zilly gern gesehen. Es hätte ja auch kein Problem bedeutet,<br />

nach <strong>Berlin</strong> zu fahren, aber was bedingte dann der persönliche Kontakt mit<br />

Zilly, der sich ja zwangsläufig ergeben würde. Er war unsicher, wie es sich gestalten<br />

und entwickeln würde, ob ihre bislang anonyme Offenheit durch den direkten<br />

persönlichen Kontakt nicht gestört würde, ob ihre <strong>Mails</strong> dadurch nicht<br />

eine andere Basis bekämen. Sicher, dass sich nichts ändern würde, war er nur,<br />

wenn er ihre Vorstellung nicht besuchte und sie nicht persönlich traf.<br />

Lieber Peter,<br />

zunächst: ich habe deine Argumentation verstanden und akzeptiere sie auch.<br />

Du führst gute Gründe an und hast es reiflich überlegt. Deine Versicherung,<br />

dass du mich sehr, sehr gern gesehen hättest, tröstet mich ein wenig. Für mich<br />

persönlich stellt sich die Situation jedoch ein wenig, wenn nicht sehr viel<br />

anders dar. Ich habe mich sehr stark für das Stück engagiert, viel Arbeit, Empathie<br />

und Begeisterung investiert, in der sicheren Annahme, das du kommen<br />

und es dir anschauen würdest. Es hatte sich vieles bei mir darauf fokussiert.<br />

Der Gedanke, dass dadurch unser E-Mail Verhältnis beeinflusst werden könnte,<br />

ist mir selbst nicht gekommen. Ich sehe es auch nicht zwangsläufig so. Vielleicht<br />

ist hier eben eine Frau ein wenig wagemutiger, als viele Männer in ihren<br />

zögernden Befürchtungen. Nein, ich kann deine Gründe schon nachvollziehen,<br />

hätte es allerdings für mich nicht so gesehen, und bleibe natürlich maßlos traurig,<br />

dass du nicht kommst und mich bewunderst.<br />

Sieh zu wie du das wieder hin bekommst. Mit leichtfüßigen Floskeln bin ich<br />

nicht zu besänftigen und zu trösten.<br />

Sei lieb und schreib mir etwas sehr Warmes und Freundliches.<br />

Zilly<br />

Das machte Peter gern und konnte es mühelos. Zilly bewunderte ihn dafür und<br />

ließ sich gern von seinen Texten umschmeicheln. Sie hatte gemeint, wie er<br />

schreibe, wirke meist sehr poetisch und habe nicht selten einen lyrischen Anflug.<br />

Man könne seine <strong>Mails</strong> gut vortragen, sie seien fast immer kleine runde,<br />

und nicht selten spannende Geschichten. Sie wollte wissen, ob er schon mal<br />

schriftstellerische Aktivitäten entwickelt habe, sonst würde sie ihm sehr dazu<br />

raten. Sie warte auf eine Short Story oder ein Gedicht von ihm. Selbst<br />

geschrieben hatte er zwar nie. Er war Lehrer, in Österreich Professor, in der<br />

AHS Oberstufe gewesen, und hatte sich dort vornehmlich mit Literatur<br />

beschäftigt. Vielleicht hatte sich die Kritik der Arbeiten seiner Schüler ja ein<br />

wenig auf seine eigenen Formulierungsqualitäten <strong>aus</strong>gewirkt. Dass es ihm<br />

selbst während seiner eigenen Schulzeit gefallen hatte, Aufsätze zu schreiben,<br />

war ja nicht zuletzt ein Grund für seine Studienwahl gewesen, nur außer<br />

Seminar- und Examensarbeiten hatte er später selber nichts <strong>mehr</strong> verfasst. Es<br />

freute ihn, dass Zilly seine selbst längst vergessenen Formulierungskünste neu<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 10 von 30


entdeckte. Es war ja schließlich nicht irgendjemand, der seine Texte ganz nett<br />

fand, sondern die Max-Reinhardt-Schülerin Zilly Pohl, die sich davon begeistern<br />

ließ. Peter meinte, über ein hohes Maß an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen<br />

zu verfügen, jetzt merkte er, wie Zillys Anerkennung und Lob seinem<br />

Selbstwertgefühl sehr zuträglich sein konnten. Öfter entdeckte sie etwas an<br />

ihm, das sie erfreute, Peter selbst aber als belanglose Alltäglichkeit erschienen<br />

oder gar nicht direkt bewusst war. Manchmal wollte es ihm so scheinen, dass<br />

Zilly ihm verdeutliche, welch toller Typ er doch eigentlich sei. Glücklich war er<br />

mit Zilly, welch ein Geschenk, das er nicht erwartet oder gefordert hatte.<br />

Verlustängste<br />

Die Erfahrungen von Vertrauen, Geborgenheit, Freude, Heiterkeit, Lust und<br />

Glück bergen gleichzeitig auch immer die Gefahr des Verlustes in sich. <strong>Keine</strong><br />

Phobie ist so gut verständlich, wie die Verlustangst. Dass sich in die Freude<br />

und das erfahrene Glück leicht auch der Gedanke an den Verlust einmischen<br />

kann, ist gut erklärlich. Oft werden Menschen von Verlusten besonders hart<br />

schockiert, weil ihnen die Möglichkeit dafür nie gegenwärtig war. Natürlich sollte<br />

man sich den Genuss des Frühlings nicht durch ständige Gedanken an den<br />

Herbst verleiden, aber dass Menschen sich fürchten vor den Qualen der Trauer,<br />

die Verluste mit sich bringen können, sollte jeder verstehen.<br />

Dass Peter seine Mail-Beziehung zu Zilly verlieren könnte, war auch für ihn<br />

selbst nicht <strong>aus</strong>zuschließen. Es könnten sich Entwicklungen ergeben, unter deren<br />

Bedingungen das Schreiben für den einen oder die andere nicht <strong>mehr</strong> möglich<br />

gewesen wäre, oder keine Lust <strong>mehr</strong> bestanden hätte, auf diese Art von<br />

Kontakt. Im Grunde war ihre Art von Beziehung ja doch sehr lose, auch wenn<br />

sie zur Zeit für beide recht intensiv und bedeutsam war. Wie es Peter treffen<br />

würde, wenn Zilly ihren Kontakt beendete, wagte er sich nicht vorzustellen. Er<br />

konnte nicht ermessen, was im fehlen würde, was es für ihn wäre, das er verlöre.<br />

Er wusste nur, dass der Kontakt zu Zilly seinen Alltag verändert hatte, ihn<br />

selbst hatte freudiger, reger und glücklicher werden lassen und sein Denken<br />

und Empfinden erfrischend belebte. Vielleicht hatte sich ja schon einiges bleibend<br />

verändert, er war allerdings der Ansicht, er brauche Zilly einfach. Bei den<br />

vielen Freundlichkeiten, die sie ihm übermittelt hatte, würde sie ihn nicht einfach<br />

vergessen und ignorieren können. Sie würde das auch nicht tun, so gut<br />

glaubte er sie mittlerweile zu kennen. Seine Verlustängste hielten sich daher in<br />

Grenzen, und er war weit davon entfernt, ihren Kontakt für ein nettes temporäres<br />

Intermezzo zu halten.<br />

Große P<strong>aus</strong>e<br />

Lieber Peter,<br />

ich kann jetzt nicht.<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 11 von 30


Erkläre alles später.<br />

Liebe, allerliebste Grüße<br />

Zilly<br />

Das besorgte Peter wenig. Er hätte zwar gern gewusst, was Zilly wohl widerfahren<br />

wäre, aber er würde es ja später erfahren. Nur später ereignete sich<br />

nicht. Eine ganze Woche hatte er schon auf eine Mail gewartet. Eine unvorstellbar<br />

lange Zeit bei ihren sonst täglichen Kontakten. Er wollte Zilly aber keinesfalls<br />

drängeln. Peter wartete eine zweite Woche, keine Nachricht. Er wollte<br />

schon seine Schwester anrufen, ob sie in der Presse etwas über die Sch<strong>aus</strong>pielerin<br />

Zilly Pohl erfahren hätte, ob ihr vielleicht etwas zugestoßen sei, aber dann<br />

hätte sie ja nicht selbst geschrieben, dass sie jetzt nicht könne, und seiner<br />

Schwester sagen, dass er sich große Sorgen mache, weil er seit zwei Wochen<br />

keine Mail von ihr erhalten habe, na ja. Dass er sich mit ihr schrieb, wusste<br />

seine Schwester zwar, aber dass sie sich täglich per Mail unterhielten, wusste<br />

sie nicht. Er hatte es nicht gesagt, weil er sicher war, dass sie falsche Schlussfolgerungen<br />

dar<strong>aus</strong> ziehen würde. Er beschloss eine weitere Woche zu warten,<br />

und verbat sich, ständig neu darüber zu grübeln, was Zilly dazu veranlassen<br />

könnte, seit nun länger als zwei Wochen keinen Kontakt mit ihm zu wünschen.<br />

Nach drei Wochen schrieb er selbst. Er mache sich ernsthafte Sorgen, und er<br />

sehne sich nach ein wenig <strong>mehr</strong> Informationen von ihr. Zilly antwortete:<br />

Allerliebster Peter,<br />

Entschuldigung, ich kann jetzt wirklich nicht.<br />

Sei nicht böse, habe noch ein wenig Geduld.<br />

Du wirst alles erfahren.<br />

Mach dir keine Sorgen, ich lebe und bin gesund.<br />

Alles Liebste<br />

Zilly<br />

Peter übte sich in Geduld, aber Zilly meldete sich nicht. Da sein trotz Selbstverbot<br />

ständiges Nachdenken über Zillys Beweggründe allmählich in wilde Spekulationen<br />

<strong>aus</strong>uferte, hatte er es langsam eingestellt. Sie würde ihm noch mal<br />

schreiben, daran glaubte er schon, aber dass ihre Kontakte durch Zillys derzeitige<br />

Erlebnisse stark beeinflusst würden, dessen war er sich im Grunde auch sicher,<br />

obwohl er ja gar nicht wusste, was sie denn eigentlich zur Zeit erlebte.<br />

Vielleicht war dies auch der Einstieg zu einem Ende. Dadurch, dass er immer<br />

auf <strong>Mails</strong> wartete und daran glaubte, fiel es Peter vielleicht nicht so schwer, als<br />

wenn sie plötzlich erklärt hätte, weiterhin kein Interesse <strong>mehr</strong> an seinen <strong>Mails</strong><br />

zu haben. Aber das hätte auch überhaupt nicht zu Zilly gepasst, so konnte sie<br />

nicht reagieren, das wusste er. Er war sich sicher, dass sie ihn mochte und das<br />

nicht einfach wegwerfen würde. Nach weiteren drei Wochen Wartezeit kam<br />

tatsächlich eine E-Mail von Zilly mit überschwänglicher Begrüßung:<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 12 von 30


Zezilia schreibt wieder<br />

Hallo! Hallo! Hallo!<br />

Mein allerallerliebster Peter,<br />

ich lebe wieder und muss mich natürlich zutiefst für meinen sechswöchigen<br />

Mailentzug entschuldigen.<br />

Allerdings war ich wirklich bei den Verhältnissen hier nicht in der Lage, irgendwelche<br />

freundlichen Formulierungen zu entwickeln. Vor allem aber war es mir<br />

nicht möglich zu der Stimmungslage zu finden, die ich brauche, um dir zu<br />

schreiben. Dir sind die sechs Wochen wahrscheinlich endlos lang vorgekommen,<br />

aber bei mir haben sich meine Lebensumstände in der Zeit völlig verändert.<br />

Ich habe in den sechs Wochen meine komplette Familie verloren. Mann<br />

samt Kindern, alles weg. Ich lebe jetzt allein in einer kleinen relativ billigen<br />

Wohnung in Kreuzberg. Schuld daran sind deine Briefe gewesen. Nein, nein,<br />

aber Auslöser waren sie schon.<br />

Ich werde dir die ganze Story mal <strong>aus</strong>führlich erzählen, muss dazu allerdings<br />

unseren Tabubereich verletzen, denn da hat sich ja alles abgespielt. Mittlerweile<br />

verfüge ich über gar keine Tabuzonen <strong>mehr</strong>, also völlig tabulos.<br />

Ich rede wieder so quatschig wie immer, wenn ich mich mit dir unterhalte, aber<br />

in diesen sechs Wochen bestand für mich nicht einmal der Anlass zu Freude<br />

und Lustigkeit. Für mich war es wohl die härteste Zeit, die ich je erleben<br />

musste. Ich erzähl es mal auf einem extra Blatt und lade es als Anhang dazu.<br />

Das Schreiben in einem normalen Schreibprogramm fällt mir leichter. Du<br />

kannst es dir ja dann mal nachts, wenn du nicht schlafen kannst, herunter laden<br />

und durchlesen.<br />

Ich liebe deine <strong>Mails</strong>, sie werden mir wichtige Unterstützung geben.<br />

Bitte, lass uns wieder schreiben wie vorher.<br />

Zezilia, so heiße ich nämlich offiziell, oder doch lieber Zilly<br />

Anlage:<br />

Ich mag deine <strong>Mails</strong> sehr gern und lese sie oft <strong>mehr</strong>fach. Manchmal erinnere<br />

ich mich an eine und möchte sie gern noch einmal lesen, aber es ist oft sehr<br />

mühsam sie wieder zu finden, wenn man nicht das genaue Datum weiß. So bin<br />

ich auf die Idee gekommen, mir einmal die Mühe zu machen, und sie alle <strong>aus</strong>zudrucken.<br />

Ein ganzes Buch ist es geworden. Ich habe sie abends mit ins Bett<br />

genommen und darin gelesen. Mein Mann wollte wissen, was ich denn da<br />

Schönes habe. Wahrscheinlich hatte ich einige lautliche Äußerungen von mir<br />

gegeben. Ich erklärte ihm, ich habe mir etwas <strong>aus</strong> dem Internet <strong>aus</strong>gedruckt.<br />

Das genügte, für <strong>mehr</strong> von mir interessierte er sich sowieso nicht. Am nächsten<br />

Spätnachmittag, gab es wie üblich einige spitze Bemerkungen unter uns,<br />

worauf mein Mann meinte, ich könnte ja zu meinem Internetfreund nach Wien<br />

ziehen, wenn es mir hier nicht passe, der würde mich sicher sehr gut<br />

verstehen.<br />

Schockiert musste ich zunächst überlegen, was passiert war. Er musste also<br />

meine Sachen durchsucht und deine <strong>Mails</strong> gelesen haben. Ich konnte es nicht<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 13 von 30


fassen. Das war der Gipfel unserer im Grunde schon lange so gut wie nicht<br />

<strong>mehr</strong> existierenden Beziehung.<br />

Deshalb wollte ich mit dir auch nicht über persönliche Beziehungen reden. Ich<br />

befürchtete, dass es im Laufe der Zeit dazu führen könnte, und ich mich bei dir<br />

über meine persönliche Situation <strong>aus</strong>heule, aber das wollte ich gerade nicht, es<br />

hätte unsere Schreibsituation umfunktioniert und zerstört. Ich habe gedacht,<br />

es so einrichten zu können, dass ich es ertragen kann, bis die Kinder <strong>aus</strong> dem<br />

H<strong>aus</strong> sind, und dann wäre Fini.<br />

Jetzt aber war ich so erbost, dass ich ihn anschrie: “Du bist nicht nur dumpf<br />

und stupide geworden was die Liebe und unsere Beziehung betrifft. Ich bedeute<br />

dir nichts, du brauchst anscheinend meine Persönlichkeit überhaupt nicht zu<br />

respektieren. Du kannst in meinen persönlichsten Angelegenheiten wühlen und<br />

meine intimsten Bereiche verletzen und hältst das für selbstverständlich. Bin<br />

ich schon vollends deine Sklavin? Nur leider hast du dich ein wenig verschätzt.<br />

Mir fehlt jede Art von masochistischer Ambition. Ich spüre kein Verlangen danach,<br />

durch dich zu leiden. Du kannst mich nicht einfach verletzen wie du<br />

willst. Ich kann dich nicht <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong>stehen, ich will dich nicht <strong>mehr</strong> ertragen<br />

müssen. Verschwinde ich will dich nicht <strong>mehr</strong> sehen. Es tut mir allein schon<br />

weh, wenn ich daran denken muss, wie du dich mir gegenüber verhältst.“ Ich<br />

musste immer wieder sein unmögliches Verhalten verdeutlichen, bezog mich<br />

auf die Menschenrechte und das Grundgesetz,die für ihn im Umgang mit mir irrelevant<br />

zu sein schienen, denn Kurt, mein Mann, versuchte immer wieder mir<br />

Vorwürfe zu machen wegen meiner Internetliebschaft. Selbst wenn es so wäre,<br />

würde es ihn wahrscheinlich gar nicht sonderlich interessieren, nur jetzt hielt<br />

er es für ein gutes Argument, um meinen Vorwürfen zu begegnen. So hat er es<br />

auch seinen Eltern dargestellt, und auch Merle und Jesse, unsere Kinder, werden<br />

diese Version öfter zu hören bekommen haben. Die Mutter zerstört also<br />

das traute Familienglück, indem sie mit jemandem im Internet fremd geht,<br />

zumindest verbal. Ich musste mich ständig verteidigen.<br />

Allerdings Kurts Argumentation, dass es für die Kinder eine sehr schwierige Situation<br />

sei, sich jetzt für die letzten Jahre zu H<strong>aus</strong>e noch einmal völlig umstellen<br />

zu müssen, war nicht einfach von der Hand zu weisen, denn einfach selbst<br />

im H<strong>aus</strong> bleiben konnte ich ja nicht. Es gehörte nicht uns sondern Kurt. Ich<br />

hatte mich „eingeheiratet“ und dass er sich liebevoll um die beiden kümmern<br />

würde, daran hatte ich überhaupt keine Zweifel. Trotzdem schmerzt es sehr,<br />

sie nicht <strong>mehr</strong> um mich zu haben, auch wenn sie im Moment in einer Phase<br />

sind, in der sie von den Eltern nicht so viel hören wollen. Es sind ja meine Mäuse,<br />

meine beiden Säugetiere, die Träger meiner Liebe und Zuneigung. Merle<br />

kommt mich oft besuchen, und ich glaube sie versteht mich sehr gut und kann<br />

es für sich nachvollziehen. Kurts Eltern unterstützten natürlich auch fleißig ihren<br />

Sohn, und meine Argumentation konnten sie wahrscheinlich gar nicht verstehen,<br />

weil nach dem was ich weiß, ihre Beziehung auch kaum <strong>mehr</strong> als<br />

funktionalen Charakter hat.<br />

Wir waren sehr verliebt, Kurt und ich, nur seit Merles Geburt habe ich ihn wohl<br />

ein wenig vernachlässigt. Ich war so fasziniert von der Kleinen, sie hat mich<br />

emotional völlig okkupiert. Dazu hat sie mich auch noch physisch sehr geschafft.<br />

Meine Lust auf Sexuelles hielt sich auch sehr in Grenzen. Einen Mann<br />

schien ich hauptsächlich dafür zu brauchen, um ihm wieder die neuesten Ereignisse<br />

von Merle zu berichten. Kurt hatte zwar auch starkes Interesse an Merle,<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 14 von 30


aber sein Interesse an mir schien sich zu verändern. Wir waren immer weniger<br />

ein verliebtes Paar, sondern entwickelten uns zusehends zu einem Duo zur Organisation<br />

von Familie. Als mir deutlich wurde, was ich da abgespielt hatte,<br />

war es schon viel zu spät. All meine Erklärungsversuche und Bemühung prallten<br />

an ihm ab. Er verstand mich schon nicht <strong>mehr</strong> und schien auch keine Lust<br />

zu haben, sich darum zu bemühen. Er erklärte mir nur im Gegenzug seine<br />

Sichtweise, nach der alles so in Ordnung und passabel sei. Dass ich dabei aber<br />

unzufrieden war und mir etwas anderes wünschte, beeinflusste seine Vorstellung<br />

nicht. Unsere Beziehung bestand seit langem darin, Streit zu vermeiden<br />

und halbwegs zivilisiert miteinander umzugehen. Geschlafen habe ich mit ihm<br />

noch bis letztes Jahr. Ich habe ja trotzdem sexuelle Gelüste, und habe erfahren,<br />

dass Sex auch ohne Liebe geht. Nur wenn die Vorstellung vom Partner all<br />

zu ablehnend ist, und sich überhaupt keine positiven Imaginationen <strong>mehr</strong> entwickeln<br />

wollen, wird’s dir unangenehm. Als du mich im Theater gesehen hast,<br />

war schon alles vorbei. Und wenn jemand, der dir nichts <strong>mehr</strong> bedeutet, sich<br />

her<strong>aus</strong>nimmt, so mit dir umgehen zu können, wird alles unerträglich, ich weiß<br />

nicht, wie lange ich Kurt noch ertragen hätte, wenn er deine E-<strong>Mails</strong> nicht gelesen<br />

hätte, aber dass es noch fünf Jahre, bis Jesse 19 ist, gut gegangen wäre,<br />

kann ich mir jetzt kaum vorstellen. Ich bin im Grunde froh, dass alles vorbei<br />

ist. Auch wenn mir der Verlust der Kinder nicht gefällt, fühle ich mich jetzt<br />

doch unendlich erleichtert und frei. Genau die tolle Stimmung die ich brauche,<br />

um scharf auf deine <strong>Mails</strong> zu sein, und Lust entwickeln zu können, dir zu<br />

schreiben.<br />

Jetzt weißt du alles <strong>aus</strong> meiner Tabuzone, hoffe ich, sonst kannst du ja noch<br />

mal nachfragen. Ich habe nur keine Lust, mit dir darüber lange zu diskutieren.<br />

Ich möchte, dass wir über etwas anderes reden, und unsere <strong>Mails</strong> so werden<br />

wie vorher auch, so haben sie mir gefallen und mich erfreut, und dann werden<br />

sie es auch weiterhin tun. Da bin ich mir ganz sicher.<br />

Zilly<br />

Peter hatte natürlich sofort alles verschlungen. Er versuchte sich Zillys Erfahrungen<br />

vorzustellen, wie sie die ihm unerträglich erscheinende Tortur ihrer Familie<br />

ertragen hatte. Ihr gemeinsamer Mail-Aust<strong>aus</strong>ch erschien ihm in einem<br />

ganz anderen Licht. Wo hatte diese Frau die Kraft hergenommen, täglich für<br />

kurze Zeit <strong>aus</strong> ihrem Alltag <strong>aus</strong>zubrechen, und in eine ganz andere Welt einzutauchen,<br />

in der sie frei und offen war, scherzen und lachen konnte? Vielleicht<br />

war es ja auch so, dass ihr der relativ kurze Tages<strong>aus</strong>schnitt ihrer Mail--<br />

Beschäftigung die angenehmen Empfindungen vermittelte, die ein Mensch<br />

braucht, um vieles andere ertragen zu können. Bewundert hatte Peter Zilly im<br />

Theater wegen ihrer Darstellung, er mochte sie gern, wegen ihrer E-<strong>Mails</strong>, jetzt<br />

war sie für ihn zu einer sehr beachtenswerten Frau geworden. Womöglich würde<br />

sein erweitertes Bild von Zilly dazu führen, das er ein wenig anders mit ihr<br />

spräche, vielleicht etwas <strong>mehr</strong> Ernsthaftes und nicht so viele dieser kleinen Albernheiten.<br />

Aber sie hatte es ja so gemocht, und nicht sie hatte sich verändert<br />

sondern Peters Bild von ihr.<br />

Sie schrieben sich weiter ihre E-<strong>Mails</strong> wie vorher, nur Family war jetzt nicht<br />

<strong>mehr</strong> Tabu. So berichtete Zilly schon mal darüber, was sie mit Merle unternommen<br />

habe, dass sie eigentlich den Wunsch hege, sie von ihrer beruflichen<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 15 von 30


Vorstellung als Sch<strong>aus</strong>pielerin abzubringen, es andererseits natürlich toll finden<br />

würde, sie auf der Bühne zu sehen.<br />

Neu Perspektiven für Zilly?<br />

Lieber Peter,<br />

mir gefällt dein Tipp, mich für eins zu entscheiden gut. Ich sehe es auch so,<br />

dass ständiges Schwanken zwischen zwei Entscheidungsmöglichkeiten keine<br />

Erkenntnisfortschritte bring, und eine mögliche Fehlentscheidung besser zu<br />

verkraften ist, als sich permanent mit Zweifeln zu quälen. Ich freue mich, wenn<br />

Merle auf die Bühne will, fertig.Vielleicht schafft sie es ja auch am Max-<br />

Reinhardt, wer weiß.<br />

Hättest du erwartet, dass ich mich so entscheiden würde. Mir kommt es so vor,<br />

dass ich in letzter Zeit viel häufiger emotionalen Aspekten den Vorrang bei Entscheidungsfindungen<br />

gebe. Vielleicht sind das ja erste Anzeichen dafür, wie<br />

sich meine Persönlichkeit als freie Frau langsam verändert. Merkst du auch etwas<br />

davon? Haben sich meine <strong>Mails</strong>, ihr Stil, ihre Inhalte verändert? Für mich<br />

hat sich die Situation unseres Schriftwechsels allerdings sehr verändert. Es ist<br />

nicht <strong>mehr</strong> eine knappe exklusive intime halbe Stunde. Ich kann dir jederzeit<br />

schreiben, es ist im Tagesablauf nichts Außergewöhnliches <strong>mehr</strong>. Versteh das<br />

bitte nicht so, dass für mich unser Schreiben an Bedeutung verloren hätte, es<br />

ist nur die ein wenig prickelnde Exklusivität verloren gegangen. Ich brauche<br />

dieses Empfinden nicht, um mich über deine <strong>Mails</strong> zu freuen und dir zu schreiben,<br />

ich frage mich nur, wenn ich so frei bin, es den ganzen Tag zu tun, warum<br />

ich dann nicht auch <strong>mehr</strong> andere Erlebnisse habe, die mir ähnliche Freude bereiten.<br />

Was soll ich tun? Meinst du, ich sollte mal versuchen mich zu verlieben?<br />

Ich liebe dich ja schon<br />

Zilly<br />

Was bedeuteten denn solche Worte. Peter war ein wenig konsterniert. Er<br />

schrieb ihr in ironischen Worten etwas über die Schönheit und Lust der Liebe,<br />

empfahl ihr, ihn aber damit zu verschonen, da es ihm zu anstrengend sei, und<br />

am besten bis zum Frühling damit zu warten, denn besonders der Monat Mai<br />

sei für derartige Vorhaben zu empfehlen.<br />

Lieber Peter<br />

deine Blödelei war zwar lustig, aber warum schreibst du so etwas, du brauchst<br />

keine Angst zu haben, ich werde schon nicht zu dir ins Bett kriechen. Auf anderes<br />

hab ich im Moment absolut keine Lust, und ich kann auch keine Vorstellung<br />

davon entwickeln, wie es denn im Mai anders sein sollte. Mein Körper wird sich<br />

bis dahin auch nicht so entwickelt haben, dass er an Begehrlichkeiten weckender<br />

Attraktivität zugenommen hätte. Ich glaube ehr, dass sich da überhaupt<br />

nichts <strong>mehr</strong> tun wird mit meinen achtundvierzig Jahren. Auch bei den<br />

Imaginationen über die Wonnen des Monats Mai bilden kleine alte Frauen nur<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 16 von 30


äußerst selten das dominierende Sujet. Aber selbst wenn mich so etwas, wie<br />

du sagst „r<strong>aus</strong>chhaft überfallen“ sollte, wird es an unserem Verhältnis nichts<br />

ändern. Das gehört mir, ist mein Privatissimum, und ein Partner, der versuchen<br />

wollte, darauf Einfluss zu nehmen, oder es lieber sähe, wenn wir uns nicht<br />

schrieben, wäre für mich grundsätzlich unvorstellbar.<br />

Also keine Angst, in keiner Richtung.<br />

Aber welchen Namen man für das Verhältnis zwischen uns finden sollte, weiß<br />

ich auch nicht. Liebe ist alles und nichts. Was weißt du denn, wenn jemand<br />

sagt, 'Ich liebe dich.“ Da möchte ich schon etwas <strong>mehr</strong> über sein Verhältnis,<br />

seine Beziehung zu mir wissen. Bei uns ist es ja schon so, dass wir uns darauf<br />

freuen, etwas vom anderen zu hören, uns freuen, ihn durch unser Handeln<br />

glücklich machen zu können. Wir haben schon freudig stimmende Lust aneinander,<br />

denken an den Anderen, seine Gefühle sind uns wichtig, ob man dafür<br />

das Wort Liebe verwenden sollte, weiß ich nicht, es ist mir aber auch gleichgültig,<br />

wichtiger ist, dass ich weiß, wie es ist und was es mir bedeutet.<br />

Ich liebe alles an dir, was ich kenne, ob das reicht, um verliebt zu sein? Vielleicht<br />

wird mein Liebhaber im Mai ja eifersüchtig sein, dann werde ich es genau<br />

wissen.<br />

Deine dich liebende<br />

Zilly<br />

Peters Krankheit<br />

Natürlich ist es ja das entscheidende Kriterium in einer Beziehung, wie viel einem<br />

der Partner bedeutet, wie sehr man ihn schätzt, wie wichtig einem sein<br />

Wohlbefinden ist, wie sehr man daran interessiert ist, in ihm Assoziationen an<br />

glücklich machende Empfindungen zu wecken. Eigentlich sah Peter alles in seinem<br />

Verhältnis zu Zilly sehr positiv. Ob er verliebt war, ob man verliebt sein<br />

kann, ohne das Bedürfnis nach sexuellem Kontakt zu haben. Er konnte keine<br />

schlüssige Antwort finden, er wusste nur, dass es ihm sehr viel Freude bereitete<br />

und ihn glücklich machte. Warum praktizierten nicht viel <strong>mehr</strong> Menschen so<br />

Ähnliches, hatten Lust daran, sich tiefer auf andere einzulassen. Wusste man<br />

nicht, wie viel Freude es einem selber vermitteln konnte, oder hinderte sie das<br />

grundsätzliche Mistrauen anderen gegenüber daran? Warum hatte es zwischen<br />

Zilly und ihm eigentlich nie so etwas wie einen Hauch von Misstrauen dem anderen<br />

gegenüber gegeben. Es wäre ja lächerlich gewesen. Warum sollte man<br />

denn dem anderen worin misstrauen. Jeder hätte ja dem anderen irgendwelche<br />

erfundenen Storys auftischen können, was hätte es denn bewirkt, außer dass<br />

wahrscheinlich die Lust aneinander abgenommen hätte.<br />

Peter war krank geworden. Prostatakarzinom. Natürlich teilte er Zilly alles mit,<br />

beklagte seine Malaise und verfluchte das Älterwerden entsprechend.<br />

Lieber Peter,<br />

du armes altes Männlein. Was ist denn eigentlich los. So lange ich dich kenne,<br />

hast du nie davon erzählt, das du Frauen zum Ficken suchst, jetzt scheint es<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 17 von 30


für dich das nächste halbe Jahr oder auch länger das Wichtigste auf der Welt<br />

zu sein. Ohne diese Möglichkeit bis du nichts <strong>mehr</strong> wert. Die Bedeutung eines<br />

Mannes scheint sich darauf zu reduzieren, ob er einen dicken steifen Schwanz<br />

bekommen kann. Wie denkst du Peter? Mir gefällt das überhaupt nicht. Lass es<br />

und verhalt dich wieder normal. Ich will das Unangenehme deiner Krankheit<br />

überhaupt nicht in Abrede stellen, aber deine Schlussfolgerungen sind grässlich.<br />

Du brauchst das nicht. Ich habe die Erkenntnis gewonnen, dass du ein<br />

toller wunderbarer Mann bist, ohne je etwas über den Zustand deiner Genitalien<br />

zu erfahren. Wenn du infolge deiner Krankheit, dein Persönlichkeitsbild darauf<br />

fokussieren willst, ist das fatal. Nimm's hin wie zu hohen Blutdruck oder<br />

andere Wehwehchen, und fang nicht an, dich in deinem Alter über deinen<br />

Schwanz zu definieren. Du tust uns beiden, mir und dir selbst auch nicht den<br />

geringsten Gefallen damit, im Gegenteil.<br />

Versteh es bitte nicht falsch. Ich höre dir gerne zu, wenn du etwas von deiner<br />

Krankheit erzählst, aber die Schlussfolgerungen, die du für deine Psyche dar<strong>aus</strong><br />

ziehst, halte ich für abstrus und und empfinde sie als hypermachomäßig.<br />

Viel Glück und wenig Leid für dein Schwänzlein, kleiner Macho<br />

Zilly<br />

Peter wieder in <strong>Berlin</strong><br />

Ja, völlig recht gab Peter Zilly. Wie hatte er nur ohne selber nachzudenken,<br />

sich derartige männliche Gewohnheitsansichten zu eigen machen können. Vielleicht<br />

weil es seinen Vorstellungen über den Fluch des Älterwerdens sehr entgegen<br />

kam. Zilly war eben nicht nur eine tolle Frau, jetzt war sie auch noch<br />

seine andrologische Therapeutin, die ihm half, besser damit fertig zu werden.<br />

Zilly war ein selbstverständlicher Part in Peters Leben geworden, vielleicht der<br />

wichtigste. Er teile ihr mit, dass er wieder seine Schwester in Wannsee besuchen<br />

werde. Er habe nichts davon gehört, was sie zur Zeit spiele. Er würde ihr<br />

jetzt gerne zuschauen.<br />

Lieber Peter,<br />

gar nix spiele ich zur Zeit. Wir sind dabei etwas zu planen, bei dem ich wahrscheinlich<br />

mitspielen werde. Wir werden uns aber doch selbstverständlich treffen,<br />

deine Argumente über die Veränderung unserer Mail-Situation lasse ich<br />

diesmal nicht gelten. Ich freue mich riesig darauf, dich hier zu sehen, nur leider<br />

weiß ich gar nicht, was wir dann eigentlich anstellen sollen. Im Café sitzen, uns<br />

anstarren und die gleichen Geschichten erzählen, die wir uns sonst mailen,<br />

komisch. Oder soll ich dir etwa <strong>Berlin</strong> zeigen? Das Brandenburger Tor ist sehr<br />

imposant und der Fernsehturm am Alex sehr hoch. Mit so etwas möchte ich<br />

meine Zeit mit dir nicht verplempern. Aber ich hoffe mir wird schon noch etwas<br />

einfallen, oder mach du doch Vorschläge, wie dir unser Treffen gefallen könnte.<br />

Sag mir genau wann du kommst, und wann wir uns treffen können.<br />

Ich muss jetzt schon mal anfangen zu putzen, damit meine riesige Wohnung<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 18 von 30


is zu deinem Besuch dann endlich schön sauber ist. Über die Fortschritte werde<br />

ich dich auf dem Laufenden halten.<br />

Zilly<br />

Auch dass er sich einen ganzen Nachmittag lang mit Zilly treffen würde war<br />

Peter recht. Seine Vorbehalte im Hinblick auf die Mail-Situation hatten sich<br />

nicht geändert, nur sein Bild von Zilly war ein anderes, und das Interesse, sie<br />

persönlich zu treffen, hatte sich stark in den Vordergrund gedrängt. Seiner<br />

Schwester hatte Peter zwar immer noch nicht mitgeteilt, dass sie sich täglich<br />

<strong>Mails</strong> schickten, er hatte ihr aber gesagt, dass sie sich sehr gut verständen,<br />

und er sie bei seinem <strong>Berlin</strong>besuch unbedingt treffen wolle.<br />

Lieber Peter,<br />

ich freue mich, dich am Samstag zu sehen. Deinen Vorschlag, dir Lieblingsorte<br />

von mir in <strong>Berlin</strong> zu zeigen finde ich prima und spannend. Ich habe mir schon<br />

überlegt, was denn eigentlich meine Lieblingsorte sind und waren, welche man<br />

am Samstagnachmittag sehen kann, und wozu ich dir etwas erzählen könnte.<br />

Am besten machen wir es so, dass du zu mir kommst, denn wir werden ja von<br />

hier<strong>aus</strong> starten. Ich habe dir alles genau kopiert, wie und wann du am Samstagmittag<br />

von Wannsee zu mir kommst. Ich könnte dich auch an der U-Bahn<br />

abholen, nur wir werden uns ja gar nicht erkennen. Ich könnte zwar ein Schild<br />

mit Zilly hochhalten, aber ich finde es netter, wenn du zu mir kommst und ich<br />

dir die Tür öffnen kann. Wenn sich plötzlich etwas ändern sollte, wirst du schon<br />

mit mir telefonieren müssen. Meine Nummer steht auf dem Blatt mit meiner<br />

Adresse in der Anlage.<br />

Pass gut auf dich auf, enttäusche nicht meine Freude und komme am Samstag<br />

Zilly<br />

Natürlich mailten sie auch weiter, und seine Schwester nahm es mit leichter<br />

Verwunderung zur Kenntnis, dass Peter Zilly noch am Freitagabend eine Mail<br />

schicken musste, obwohl sie sich doch am nächsten Tag trafen. Ob sich denn<br />

<strong>mehr</strong> zwischen Zilly und ihm abspiele, als dass sie sich ganz nett fänden und<br />

gegenseitig <strong>Mails</strong> schickten, wollte Sophia, seine Schwester, wissen. Wie denn,<br />

meinte Peter, dafür sei die Entfernung zwischen ihnen doch ein wenig groß.<br />

Und außerdem sei es so..., und dann erläuterte Peter das Verhältnis zwischen<br />

ihnen, was Sophias Vermutung aber eher bekräftigte als abschwächte.<br />

Peter trifft Zilly<br />

„Kommen sie rein, Herr Linder.“ Zilly lachte und starrte Peter an als sie ihm die<br />

Tür öffnete. Sie begrüßten sich gar nicht, hatten es vergessen, wussten gar<br />

nicht wie oder konnten es nicht abwarten sich gegenseitig strahlend zu fixieren.<br />

„Zieh deine Jacke <strong>aus</strong>.“ meinte Zilly plötzlich, „willst du Kaffee, Espresso<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 19 von 30


oder etwas anderes? Zu lange sollten wir allerdings nicht hier bleiben, sonst<br />

wird alles zu spät.“ Peter sah ihr zu, wie sie den Espresso zubereitete. Zilly<br />

wirkte auf ihn <strong>aus</strong>gesprochen elegant und reizvoll. Sie trug ein enganliegendes<br />

kurzes Kleid und ihre schulterlangen schwarzen Haare mit dem asymmetrischen<br />

Langpony wirkte so gestylt, dass sie bestimmt extra beim Frisör gewesen<br />

war. Sie sprachen kaum. Zilly drehte nur manchmal ihren Kopf zu Peter,<br />

und strahlte ihn mit breiten Lippen lächelnd an. „Jetzt siehst du meine Wohnung<br />

<strong>aus</strong> der du immer deine <strong>Mails</strong> erhältst,“ erklärte Zilly neben Peter beim<br />

Espresso auf der Couch sitzend. Peter bewunderte spöttisch die hervorragende<br />

Sauberkeit der Wohnung. „Ja, ja“ klärte Zilly ihn auf, „ich nehme immer Saphira,<br />

denn Saphira geht dem Schmutzteufel an die Wurzel.“ und sie lachte laut.<br />

Warum sich ihr Bett im Wohnraum befinde, wollte Peter wissen. „Ich habe nur<br />

drei Zimmer,“machte Zilly ihm deutlich, „ein abgeschlossenes Arbeitszimmer<br />

brauche ich aber unbedingt, da steht auch der PC, von dem <strong>aus</strong> ich dir immer<br />

schreibe, und dann habe ich noch ein kleines Zimmer, in dem mal jemand<br />

schlafen kann, und dass ich vornehmlich als Abstellraum benutze. Ich liege<br />

sehr gern auf dem Bett, beim Lesen, Reden oder sonst was. Außerdem finde<br />

ich es viel angenehmer, auch in meinem Lebensraum ins Bett zu gehen und<br />

morgens wieder aufzuwachen. Deshalb vielleicht ein innenarchitektonisches<br />

Problem, nicht aber für mein Wohlbefinden. Ich finde es <strong>aus</strong>gesprochen gemütlich,<br />

bequem und angenehm.“ Zilly hatte Peters Hand genommen, als er die<br />

Espressotasse wegstellte und sie in ihre Hand gelegt. Ihre erste Berührung untereinander.<br />

„Welcher Finger schreibt das Z?“ fragte sie ihn und ließ es sich von<br />

ihm zeigen, „und das i, und das l, und das y macht der Kleine von der anderen<br />

Hand, nicht wahr?“ schloss Zilly lächelnd ihre Betrachtung von Peters Hand.<br />

Immer lächelte sie mit diesen breiten Lippen, aber ihr Gesichts<strong>aus</strong>druck war<br />

trotzdem nicht immer gleich. Mit ihren Augen schien sie etwas Unterschiedliches<br />

<strong>aus</strong>zudrücken, auch der Mund konnte um Nuancen unterschiedlich<br />

sein. Sie sprachen kaum, schauten sich immer wider nur lächelnd an, saßen<br />

wie zwei sprachlos vergnügte Kinder nebeneinander auf der Couch. Vielleicht<br />

traute man sich nicht, etwas Belangloses zu plappern, aber als unangenehme<br />

Verlegenheit wurde die Situation von keinem der beiden empfunden. „Sollen<br />

wir mal?“ mahnte Zilly zum Aufbruch.<br />

Sie fuhren mit Zillys kleinem Autochen, denn sie mussten auch noch weit r<strong>aus</strong><br />

zu einem See im Süden. Hier war Zilly im Sommer immer Baden gegangen.<br />

Sie hatte an den warmen Tagen fast jeden Nachmittag mit ihren Freundinnen<br />

hier verbracht. Während ihrer Pubertät hatte sie hier die ersten Kontakte zu<br />

Jungs gehabt. Sie hatten sich einen Spaß dar<strong>aus</strong> gemacht, sie mit ihren kleinen<br />

Bikinis immer aufzuregen. „Ich glaube, Peter, hier habe ich mich so wohl<br />

und frei gefühlt, wie später nie wieder.“ erklärte Zilly, „Es war ein Gefühl als ob<br />

die Welt für dich da ist, und sie voll ist mit spannenden, angenehmen, lustigen<br />

Situationen, du musst sie nur genießen.“ Im Auto sprachen sie immer wenig,<br />

aber an den Orten plauderte Zilly emphatisch los, und Peter hörte ihr dabei<br />

fasziniert zu.<br />

Den Abschluss bildete ein Besuch in Zillys Lieblingscafé am Abend. Hier erklärte<br />

Zilly nicht viel, vielleicht weil es zu gegenwärtig war und keine alten Emotionen<br />

weckte. „Sag etwas,“ forderte sie Peter auf, „ich möchte dir zuschauen. Ja,<br />

es gefällt mir sehr, dass wir uns treffen, nur du bist so zurückhaltend. Bist du<br />

eine wenig schüchtern?“ Beide lachten wieder. Es war eine so ungewöhnliche<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 20 von 30


Situation, die beiden, die sich so gut kannten und mochten, saßen sich jetzt face-to-face<br />

gegenüber, konfrontiert mit dem, was sie vom anderen überhaupt<br />

nicht kannten; seiner Stimme, seinem Gesichts<strong>aus</strong>druck, seiner Mimik und<br />

Gestik, seiner Körpersprache. Wie war das alles mit ihren geschriebenen Worten<br />

in Einklang zu bringen, mit dem Bild das sie sich voneinander gemacht hatten,<br />

welches neue Gesamtbild ergab sich dar<strong>aus</strong>. Peter merkte nur, dass er alles<br />

an Zilly toll und begeisterungswürdig fand, und sein Mail-Bild durch den<br />

Kontakt noch erheblich positiv verstärkt wurde. Er bedankte sich bei Zilly für<br />

den wunderschönen Nachmittag und Abend und erläuterte, was ihm daran so<br />

gefallen habe. Durch zwei Gläser Wein schienen sich auch ihre Zungen ein wenig<br />

<strong>mehr</strong> gelöst zu haben, sie aßen noch etwas zu Abend, weil es ja bei Peters<br />

Schwester jetzt auch nichts <strong>mehr</strong> gebe, und Zilly sonst auch Brote essen müsse.<br />

So wurde es immer später und Peter hatte schon seine Schwester informiert.<br />

Oder wieder zu mir?<br />

Als sie sich vorm Lokal verabschiedeten, umarmten und küssten sie sich. Bevor<br />

sie ihre Umarmung lösten, schauten sie sich tief schweigend an. Zilly instruierte<br />

Peter noch mal über seine Fahrtstrecke und schloss mit der Frage: „Oder<br />

wieder zu mir?“. „Ich? Zu dir? Heute Abend? Und heute Nacht?“ stotterte Peter.<br />

Zilly nickte nur und ließ ein bestätigendes „Mhm“ vernehmen. „Aber du weißt<br />

doch...“ begann Peter wieder zu stottern. Peter schien völlig verwirrt. Dass er<br />

liebend gern bei Zilly über Nacht geblieben wäre, stand außer Frage, nur war<br />

ihm das überhaupt nicht gegenwärtig geworden, weil es außerhalb jeder realistischen<br />

Erwägung lag. „Wer sagt denn, dass ich gleich mit dir ins Bett will, kleiner<br />

Macho.“ feixte Zilly als Antwort.<br />

Sie küssten sich noch eimal, Zilly hakte sich bei Peter ein, und sie machten<br />

sich auf den Weg. In der Wohnung angekommen, schwiegen sie sich erst einmal<br />

wieder an. Zilly stand mir dem Rücken an den Küchenschrank gelehnt und<br />

blickte lauernd lächelnd zu Peter. Der ging auf sie zu, und die beiden küssten<br />

sich. Es schien als ob eine Mauer gefallen sei. Sie konnten gar nicht <strong>mehr</strong> aufhören<br />

sich zu küssen, nur manchmal schauten sie sich gegenseitig an und<br />

streichelten sich die Wangen. Es war wie ein entspanntes Ausatmen nach der<br />

erzwungen Zurückhaltung des Nachmittags. Sie pressten ihre Körper aneinander<br />

und rieben sich. Plötzlich meinte, Zilly zu Peter, der jetzt nur noch Liebster<br />

von ihr genannt wurde: „Sollen wir uns nicht ein wenig Zeit nehmen, und es<br />

langsam genießen. Wir wissen ja auch gar nicht, wie's gehen soll, aber Lust an<br />

mir scheinst du ja zu haben. Sollen wir nicht noch ein wenig Wein trinken und<br />

dabei schmusen und uns etwas erzählen?“<br />

Klar, es hatte Peter nur ein wenig r<strong>aus</strong>chhaft ergriffen. Sie lagen mit einem<br />

Glas Rotwein auf dem Bett, und Peter wollte wissen ob Zilly es beabsichtigt gehabt<br />

hätte. Sie nickte nur und lächelte. Peter meinte, es sei aber sehr riskant<br />

gewesen, wie sie da vorgegangen sei, er hätte nur nein zu sagen brauchen,<br />

und nichts wäre passiert. „Ich hätte darauf bestanden, dass wir uns nochmal<br />

treffen, und dann hätte ich dich massiver bearbeitet. Nur heute war mir das<br />

immer so riskant. Es gab keine Situation, in der ich es hätte ansprechen kön-<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 21 von 30


nen, ohne eventuell deine Ablehnung zu riskieren. Weißt du übrigens, dass du<br />

mir selbst dazu geraten hast. Der Mai sei der beste Monat, hast du gesagt. Ich<br />

habe extra bis jetzt gewartet. Und seit ich dich heute sah, bist du mir immer<br />

noch sympathischer geworden als in meiner Mail-Vorstellung. Ja, ja, da hat es<br />

mich eben 'r<strong>aus</strong>chhaft überfallen'. Die Wonnen des Mais ungenutzt verstreichen<br />

zu lassen, kam also für mich überhaupt nicht <strong>mehr</strong> in Frage.“ scherzte Zilly.<br />

Tatsächlich hatte sie lange über ihre Beziehung zu Peter nachgedacht. Fast<br />

zwei Jahre schrieben sie sich Tag für Tag, und sie wartete immer noch gespannt<br />

auf Peters Äußerungen, erwartete sie und schaute oft <strong>mehr</strong>mals täglich<br />

nach, ob er schon geschrieben hatte. Manchmal war sie der Ansicht, dass es<br />

weniger der Inhalt seiner Mitteilung war, der sie erfreute, sondern viel <strong>mehr</strong><br />

ihre Vorstellung davon, wie er bei sich in Wien am PC saß, freundlich an sie<br />

dachte und für sie etwas zu formulieren versuchte, die Intention hatte, ihr eine<br />

Freude zu machen. Jeden Tag machte er ihr ein Geschenk und sie hatte Lust<br />

ihn durch ihre Geschenke zu erfreuen. Ein Ziel verfolgte das nicht, eine Absicht<br />

steckte nicht dahinter. Sie mochten sich, und es war ihnen wichtig, den anderen<br />

glücklich zu wissen. Es war eine Beziehung, die so so tief, eng und absichtslos<br />

war, wie sie Zilly sonst noch nie zu einem anderen Menschen gehabt<br />

hatte. Die wertvolle Kostbarkeit dessen, was sich täglich so locker lächelnd<br />

zwischen ihnen ereignete wurde ihr gegenwärtig. Es mag vieles geben, was die<br />

Bezeichnung Liebe wertlos macht, aber wenn man selbstverständliches bedingungsloses<br />

gegenseitiges Vertrauen, die Lust am anderen und die Lust daran,<br />

ihn glücklich sehen zu wollen, als Grundlage für Liebe betrachtet, war Zilly<br />

noch nie so verliebt gewesen. Nur die Box in der sich ihre Kontakte abspielten,<br />

in der Liebe- und Beziehungsfragen <strong>aus</strong>geklammert waren, hatte sie das nicht<br />

wahrnehmen lassen. Ihr wäre nichts lieber, als Peter in ihrer Nähe zu haben.<br />

Sie sehnte sich danach, träumte davon, nur wie sie es realisieren könnte, war<br />

ihr rätselhaft.<br />

Auf dem Bett liegend redeten sie noch über Peters Lustempfinden und seine<br />

weiteren Möglichkeiten, streichelten sich dabei und küssten sich immer wieder.<br />

„Zieh dich <strong>aus</strong>, ich will deine Haut spüren. Soll ich das Kleid <strong>aus</strong>ziehen oder alles?“<br />

fragte Zilly lächelnd, „ich habe nämlich ein sehr schönes kostbares Set,<br />

magst du so etwas.“ Peter wusste gar nicht was er dazu sagen sollte, riet ihr,<br />

sie solle selbst entscheiden und ließ sich von Zilly erklären, warum ihr exquisite<br />

Dessous so gefielen, dass sie sich immer etwas kaufe, was sie sich eigentlich<br />

nicht leisten könne.<br />

Es wurde eine lange Nacht, in der beide viel lachten, redeten, sich streichelten,<br />

sich erregten und befriedigten. Ihre Lippen mussten wund sein vom Küssen<br />

und <strong>aus</strong> Peter und mein Liebster war mittlerweile in manchen Situationen ein<br />

Pitty-Pitty geworden. Zwischen vier und fünf fielen beiden die Augen zu, und<br />

sie schliefen aneinander gekuschelt ein.<br />

Als Peter gegen zehn Uhr aufwachte, weckte er wohl durch seine Bewegungen<br />

auch Zilly. „Wer bist du?“ konnte sie noch halb im Schlaf scherzen. Sie reckte<br />

Peter ihre <strong>aus</strong>gebreiteten Arme entgegen, umschlang ihn und bedeckte sein<br />

Gesicht mit Küssen. „Weißt du“ flüsterte sie ihm ins Ohr, „das war besser als<br />

normal Ficken.“ Sie begann sich wieder an Peters Körper zu reiben. „Nein,<br />

nein,“stoppte sie sich selbst, „lass uns aufstehen und etwas frühstücken.“<br />

Am Frühstückstisch saßen sie sich wieder schmunzelnd gegenüber. Jetzt waren<br />

Zillys breite Lippen am Rand ein wenig nach unten abgeknickt, ihr Kinn ein we-<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 22 von 30


nig vorgeschoben und ihre schelmisch blickenden Augen mit den tiefen Brauen<br />

wollten mit dem ganzen Gesichts<strong>aus</strong>druck ein wenig stolz und frech verkünden:<br />

„Was können wir für böse Sachen machen.“ „Ich habe so etwas noch nie<br />

erlebt, wunderbar. Aber ich bin ja auch eigentlich sehr unerfahren trotz meines<br />

Alters. Ich gehöre nicht zu den reifen erfahrenen Frauen, die es ihnen besorgen.<br />

Aber du alter Macho scheinst sehr gut zu wissen, was Frauen wüschen.<br />

Mit wie vielen warst du eigentlich im Bett?“ rätselte Zilly. Peter bat seine Liebste<br />

nicht so einen Unfug zu reden. Wenn man mit jemandem im Bett sei, zähle<br />

man doch nicht. Außerdem an welchen Stellen eine Frau wie sexuelle Erregung<br />

empfinde, müsse sie doch schließlich wohl selbst am besten wissen. „Ja, ja<br />

jetzt weiß ich's, nur vorher ist da bei mir noch nie jemand drauf gekommen.<br />

Du bist ein ganz toller lieber Mensch Peter, ich wollte dich nicht verächtlich machen,<br />

höchstens ein wenig ärgern.“ erwiderte ihm Zilly und schaute ihn wieder<br />

direkt und tief lächelnd an. „Und was machen wir jetzt, wir zwei Verliebten?“<br />

fragte sie und versuchte selbst eine Antwort, „ich werde manchmal arbeiten,<br />

wobei du mich öfter stören wirst, und wenn ich nicht arbeite, werden wir uns<br />

lieben.“ Peter schmunzelte, und erklärte, er werde gleich zu seiner Schwester<br />

fahren, denn er sei ja zum <strong>Berlin</strong>besuch bei ihr und habe dort seine Sachen<br />

und nicht bei Zilly.<br />

Bleib bei mir<br />

„Mein Liebster, du wirst mich doch jetzt nicht einfach verlassen können. Eine<br />

Nacht im Bett und das war's? Woran wirst du denn denken, wenn du mit deiner<br />

Schwester heute am Abendbrottisch sitzt, wirst du keine Sehnsucht haben, bei<br />

mir zu sein? Ist das bei dir nicht so? Ist es für dich nur ein schönes amüsantes<br />

Erlebnis, mit mir zu reden, mich zu lieben? Spürst du kein Verlangen danach?<br />

Möchtest du es nicht behalten?“ schaute Zilly ihn entsetzt fragend an, und Peter<br />

erwiderte ihren Blick stumm. „Ich möchte nicht nur diese Nacht mit dir wieder<br />

erleben, ich möchte auch mit dir reden, dir zuhören, mit dir Essen kochen<br />

und Wein trinken und alles Mögliche unternehmen. Ich habe brennende Lust<br />

darauf, will es immer wieder erfahren. Denkst du nicht an so etwas, oder ist es<br />

dir gleichgültig, und du möchtest lieber zu deiner Schwester? Bitte Liebster,<br />

sag' mir nicht dass es so ist“ ergänzte Zilly ihre Vorstellungen. Er habe große<br />

Lust dazu, nur sei alles ein wenig kompliziert, weil er das alles überhaupt nicht<br />

hätte erwarten können, antwortete ihr Peter. Sie wollten zu seiner Schwester<br />

fahren, ihr alles erklären, und seine Sachen mit zu Zilly bringen. Peter rief seine<br />

Schwester an, um sie zu informieren, dass er nicht verschollen sei und dass<br />

er erst heute Nachmittag mit Zilly komme. Ja, strikte Anweisungen erteile sie,<br />

bei denen er keine Chance habe, sich zu widersetzen. Ein Knuff in die Rippen<br />

und Peters Aufschrei. Verdeutlichten Sophia zusätzlich, welche Szenerie sich<br />

zwischen den beiden abzuspielen schien.<br />

Bei Sophia und Rolf<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 23 von 30


Es wurde ein sehr lustiger Nachmittag, weil Zilly anscheinend auch große Fähigkeiten<br />

hatte geistreiche, amüsante Unterhaltungen zu führen und zu initiieren.<br />

Sie schien sehr sensibel für die Atmosphäre zu sein und ein großes rhetorisches<br />

Repertoire zu haben. Schwager Rolf und Schwester Sophia amüsierten<br />

sich über die <strong>aus</strong>gelassene Verliebtheit der beiden 63 und 48 Jährigen, und<br />

hielten es für selbstverständlich, Peter zu Zilly gehen zu lassen. Und wenn sein<br />

Rückflug anstehe, werde er Zilly einfach wieder allein lassen und ihr <strong>Mails</strong><br />

schicken, wollte seine Schwester noch wissen. Peter zuckte die Schultern. Kein<br />

Plan, aber schön fand er's wohl auch nicht. „Mensch, genieß doch jeden Tag,<br />

den du hast. Noch einmal passiert dir das nicht wieder. Komm hierher. Zur Not<br />

kannst du doch auch bei uns unterkommen.“ insistierte seine Schwester, als sie<br />

mal kurz mit ihm allein war.<br />

Wann er sie den sexuell angefasst habe, wie sie am Nachmittag in scherzhaftem<br />

Zusammenhang gesagt hatte, wollte Peter noch auf der Rückfahrt von Zilly<br />

lächelnd wissen. „Na gestern Nacht etwa nicht?“ war ihre Replik. Da habe sie<br />

es doch selbst gewollt, entgegnete Peter. „Habe ich ja auch gesagt, dass es mir<br />

gefällt, oder.“ reagierte Zilly. Ob sie denn heute Abend auch wieder von ihm<br />

'sexuell angefasst' werden wolle, versuchte Peter in Erfahrung zu bringen. „Du<br />

Ferkel, hast wohl Spaß an geilen Gesprächen, kannste beim Telefonsex<br />

machen, nicht mit mir. Ob ich deine Hand zwischen meinen Schenkeln spüren<br />

möchte, werde ich dich schon rechtzeitig wissen lassen, aber nicht auf der<br />

Fahrt von Wannsee nach Kreuzberg.“ machte ihm Zilly klar. Entschuldigung,<br />

drückte Peter Zilly einen Kuss auf die Wange. Es sei als Spaß gemeint<br />

gewesen.<br />

Gemeinsamer Geschmack<br />

Wieder zu H<strong>aus</strong>e bei Zilly wollte sie sich erst mal umziehen. Sie habe jetzt<br />

schon zwei Tage dieses Kleid an, das sie sonst fast nie trage. Eigentlich laufe<br />

sie so gut wie immer in Jeans rum. Und warum dann jetzt das Kleid, wollte Peter<br />

wissen. „Na mein Lieber, ein wenig schick und aufregend musste ich doch<br />

für dich schon <strong>aus</strong>sehen, oder hast du es gar nicht wahrgenommen“ fragte sie<br />

ihn. Peter bestätigte, dass es ihm sehr gut gefallen habe und meinte, sie solle<br />

doch öfter so etwas tragen als immer die monotonen, stets einheitlichen Jeans.<br />

Als sie das Kleid <strong>aus</strong>gezogen hatte, drückte Peter sie an sich und Küsste sie.<br />

„Lass es, Peter, lass es, oder sollen wir später essen, nein jetzt.“ haspelte Zilly<br />

und wand sich <strong>aus</strong> Peters Umarmung. Es wurden Schollenfilets mit kleinen Kartöffelchen<br />

gebrutzelt. Und Peter musste einen Salat zubereiten.<br />

Beim Abendessen berichteten sie sich gegenseitig über ihre bevorzugten kulinarischen<br />

Präferenzen. Sie schienen beide fast identisch Speisen zu bevorzugen,<br />

waren beide keine großen Fleischesser und liebten eher Fisch, Milchprodukte,<br />

Eier und Kartoffeln. Sie wollten übermorgen gemeinsam in die Markthalle<br />

gehen und sich einige Köstlichkeiten besorgen. „Es ist nicht nur wunderbar,<br />

dass du hier bist, wir miteinander reden und uns lieben können, mich freut es<br />

auch sehr, dass ich jetzt nicht <strong>mehr</strong> allein essen, mir allein etwas zubereiten<br />

muss. Es bedeutet mir viel und freut mich, es jetzt gemeinsam mit meinem<br />

Liebsten zu machen, dabei nicht <strong>mehr</strong> allein zu sein.“ sagte Zilly und für Peter<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 24 von 30


traf es ja in gleicher Weise zu.<br />

Always aroused?<br />

Zilly lachte über sich selber, als sie erklärte, dass es sie freudig, kribbelnd errege,<br />

wenn sie ans Zubettgehen denke. Gestern, heute schon wieder und sie<br />

könne sich gut vorstellen, dass es immer so wäre, wie selbstverständlich. Sie<br />

habe sich nie für sexuell besonders aktiv oder bedürftig gehalten. Es seien für<br />

sie Empfindungen gewesen, die sich von Zeit zu Zeit mal <strong>mehr</strong> oder weniger in<br />

den Vordergrund gedrängt hätten, so etwas wie jetzt, hätte sie für sich selbst<br />

<strong>aus</strong>geschlossen. Sie habe auch gar nicht an Sex gedacht, als sie Peter bei sich<br />

haben wollte. „Ich wollte schon unbedingt mit dir ins Bett, obwohl ich ja gar<br />

nicht wusste, ob du überhaupt mit mir etwas anfangen konntest, ob ich auf<br />

dich nicht wie ein Neutrum wirkte. Ich hab' mir gewünscht, dass wir uns ganz<br />

nahe sind, dass ich in deinen Armen liegen kann, dass wir uns streicheln und<br />

fühlen und uns unsere Liebe und Zuneigung körperlich erfahren lassen. Jetzt<br />

ist das alles natürlich ein bisschen anders, es ist aufregend und hitzig und verlangt<br />

nach Climax. Und allein schon, wenn du mich küsst und ein wenig streichelst<br />

merke ich immer, wie es anfängt. Unglaublich.“ erklärte Zilly zu ihrer sexuellen<br />

Disposition. „Aber lass uns nicht so viel darüber reden, es ist ja schön,<br />

wenn wir's machen und dass es so ist, aber es verwundert mich schon, erstaunt<br />

mich, aber macht Spaß.“ Zilly redete aber selbst doch häufig darüber.<br />

„Ich versteh das nicht. Ich habe sonst eigentlich nie über Sex gesprochen. Mit<br />

den Kindern natürlich, aber sonst kann ich mich nicht erinnern. Ich denke<br />

nicht, dass ich da irgendwelche Hemmungen hatte, einfach kein Bedürfnis, bin<br />

gar nicht drauf gekommen, obwohl ich ja eigentlich wenig Ahnung habe. Mir<br />

kommt es vor, als ob Sex jetzt für mich etwas ganz anderes wäre, es sich auf<br />

einer anderen Ebene, in anderen oder zusätzlichen Regionen meines Gehirns<br />

abspielte. Sonst war das nicht <strong>mehr</strong> als die aktuelle Befriedigung eines temporären<br />

Bedürfnisses, ich fand's nicht schlecht, aber irgendwelche Bedeutung<br />

habe ich dem nicht beigemessen. Jetzt ist das anders es bedeutet mir schon<br />

etwas, wenn ich auf dir liege, wir uns küssen, du mir Rücken, Po und Beine<br />

streichelst und mich so aroused machst. Wenn du meine Clit küsst, mich zum<br />

Höhepunkt bringst, und ich mich wie ein zerflossenes Ei mit strahlender Sonne<br />

in der Mitte fühle. Es macht mich glücklich und ist ein neuer zusätzlicher Bereich<br />

meines emotionalen Empfindens, der mit sehr angenehmen Assoziationen<br />

verbunden ist. Wenn ich dich anschaue, ist das in dem Imago, das sich mir<br />

darstellt, immer ein bisschen vorhanden, und lässt mich schmunzeln oder dir<br />

einen Kuss geben. Das ist sehr angenehm und ich habe es vorher nicht gekannt.“<br />

erläuterte Zilly die Wandlung ihres Verhältnisses zur Sexualität im Zusammenhang<br />

mit Peter.<br />

Zusammenleben<br />

Am Abend des zweiten Tages empfanden sie, als ob sie selbstverständlich im-<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 25 von 30


mer zusammenleben würden, und dies für sie nichts Neues, Ungewöhnliches<br />

sei. Zilly sah das tatsächlich so, etwas anderes war für sie nicht vorstellbar.<br />

„Was hast du für Befürchtungen, deine Tabletten wirst du mit Sicherheit hier<br />

auch bekommen. Wenn wir nicht r<strong>aus</strong>finden können, unter welchem Namen sie<br />

hier gehandelt werden, wird uns dein Schwager sicher behilflich sein, und wenn<br />

wir keinen Arzt finden, der sie dir verschreibt ebenfalls. Bei deinen Klamotten<br />

werden wir eben ein wenig öfter waschen, und dir vielleicht ja auch mal etwas<br />

Neues kaufen. Und dann fahren wir mal zusammen nach Wien und holen noch<br />

<strong>mehr</strong>.“ erläuterte Zilly ihre Planungen.<br />

Peter saß nachdenklich am Tisch, hatte sein Kinn auf beide Handballen gestützt,<br />

und die Handflächen umfassten das Gesicht. Er grübelte nicht über<br />

schwer abzuwägende Entscheidungsprozesse, sondern leicht schmunzelnd versuchte<br />

er sich klar zu machen, was eigentlich mit ihm geschah. Überfallen hatte<br />

ihn alles, nichts Vorhersehbares, nichts was in seinen Vorstellungen möglich<br />

gewesen wäre. Er steckte tief darin, keinesfalls widerwillig oder ablehnend, und<br />

versuchte her<strong>aus</strong>zufinden, was er für sich wollte, wie er sich eine Perspektive<br />

vorstellen konnte. Er machte Zilly deutlich, dass für ihn ihr Zusammenkommen<br />

ein unermessliches Glück, ein kleines Wunder darstelle. Er wolle es selbstverständlich<br />

nicht abbrechen, unterbrechen oder beenden, nur müsse sie verstehen,<br />

dass es eine völlige Veränderung seines Lebenszusammenhanges bedeute,<br />

die ihn im Moment ein wenig verwirre. „Für mich doch auch.“ bestätigte ihn<br />

Zilly, „Ich habe es mir gewünscht, sehr gewünscht, davon geträumt, nur eine<br />

Chance, wie es zu verwirklichen wäre, sah ich nicht. Ich habe auch eher gedacht,<br />

eine Nacht würdest du vielleicht bei mir bleiben, und dar<strong>aus</strong> könnte sich<br />

dann eventuell Weiteres entwickeln. Ich dich mal in Wien besuchen oder so etwas,<br />

bis wir eventuell eines Tages zu dem Entschluss kämen, dauerhaft zusammen<br />

zu leben. Jetzt weiß ich, ich will es sofort und keinen Tag anders, unbedingt.<br />

Kannst du dir das nicht so vorstellen? Sollen wir Tage nutzlos dahinfliegen<br />

lassen, ohne sie gemeinsam genießen zu können. Es ist doch nicht<br />

schöner, wenn du in Wien und ich in <strong>Berlin</strong> uns jeder allein etwas zum<br />

Frühstück reinziehen, und dabei vielleicht an den anderen denken, als wenn<br />

wir gemeinsam am Frühstückstisch sitzen und gegenseitig unser Schmatzen<br />

bel<strong>aus</strong>chen. Mein Allerliebster, ich will nicht insistieren, dass du dich bedrängt<br />

fühlst, aber wenn du dir überlegst, welche Situation für dich die schönere,<br />

angenehmere, glücklich machendere ist, glaube ich nicht, dass zu große<br />

Zweifel haben wirst.“ Peter beugte sich zu Zilly, streichelte ihre Wangen und<br />

küsste sie. Tiefere Zustimmung konnte es nicht geben.<br />

Gespräche<br />

Peter merkte an, dass sie sich dann aber gar keine <strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> schreiben könnten<br />

und dieser wichtige, freudige Tagesabschnitt entfiele. „Du kannst ja schreiben,<br />

wer hindert dich daran?“ erwiderte Zilly launig lächelnd, „aber ich schaue<br />

dir auch sehr gerne zu, wenn du etwas erzählst.“ Zilly sagte immer 'zuschauen'<br />

oder 'zusehen', wenn sie zuhören meinte. Peter fragte sie danach, und Zilly erklärte,<br />

warum sie nicht zuhören meine: „Wenn du hinter mir stehst und mir etwas<br />

zurufst, dann höre ich dir zu. Dann verstehe ich den Inhalt deiner Infor-<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 26 von 30


mation, <strong>mehr</strong> nicht, den Tonfall deiner Stimme allenfalls noch. Wenn wir aber<br />

miteinander sprechen und uns gegenübersitzen oder -stehen, dann sagst du<br />

mir viel <strong>mehr</strong>. Dann drückst du dich in deiner Mimik <strong>aus</strong>, deine Gestik und deine<br />

ganze Körpersprache vermitteln mir etwas. Unbewusst nimmt jeder wahrscheinlich<br />

bei einem Gespräch immer ein bisschen davon wahr, aber man<br />

spricht immer so, als ob man nur die verbale Information wie einen geschriebenen<br />

Text wahrnehme. Wenn du weißt dass es <strong>mehr</strong> ist, wird deine Unterhaltung<br />

zu einem kleinen spannenden Sch<strong>aus</strong>piel. Wenn ich dir beim Sprechen<br />

zuschaue, weckt es in mir die Lust, dir auch etwas vorzuführen und deine Reaktion<br />

zu erwarten. Ich glaube mit unseren <strong>Mails</strong> war das ein bisschen so ähnlich,<br />

nur mussten wir uns dabei mit stilistischen und verbalen Möglichkeiten begnügen.<br />

Ich glaube, wenn du weißt, dass der andere <strong>mehr</strong> von dir wahrnimmt<br />

als die Information deines Textes, sprichst du auch anders, interessanter, und<br />

es macht dem 'Zuhörer' <strong>mehr</strong> Freude, sich mit dir zu unterhalten, so dass der<br />

Inhalt selbst oft fast zweitrangig wird.“ Für Peter war das eigentlich nicht völlig<br />

neu, nur in seinen alltäglichen Gesprächen dachte er nie daran oder versuchte<br />

derartiges gezielt zu berücksichtigen. Wahrscheinlich hatte er es aber wohl unbeabsichtigt<br />

internalisiert, denn er war seinen Schülern nie langweilig erschienen,<br />

sondern konnte sie mit dem, was er vortrug, faszinieren und begeistern.<br />

Es hatte ihn gefreut, dass es so war, weitere Gedanken hatte er sich darüber<br />

aber nicht gemacht.<br />

Ab jetzt endeten Gesprächsbeiträge unter den beiden häufig mit einem Lächeln<br />

in gemeinsamer Erinnerung an Zillys Erläuterungen. Nicht selten juxten sie damit<br />

und häufig konnten sie sich endlos unterhalten, obwohl inhaltlich eigentlich<br />

gar kein Anlass <strong>mehr</strong> dazu bestand. Sie hatten Lust, sich dem anderen vorzuführen<br />

im Wissen, dass er Freude daran fand, ihn genau zu betrachten.<br />

Tiefe Beziehung<br />

Für Peter und Zilly war ihre Beziehung die tiefste gegenseitige persönliche Erfahrung,<br />

die sie je in ihrem Leben gemacht hatten. Sie waren sich ihres Glücks<br />

bewusst, genossen es <strong>aus</strong>gelassen und redeten viel darüber. „Weißt du Peter,“<br />

bemerkte Zilly eines Tages, „für mich bis du eigentlich gar kein Mann.“ Auf Peters<br />

verdutzten Blick hin erläuterte sie weiter, „nein, ich meine das positiv. Mit<br />

deinem Pimmel hat das natürlich nichts zu tun. Sonst fühlt man sich immer in<br />

einer gewissen Rolle, deren Anforderungen, deren Erwartungen, ja deren ganzes<br />

Bild man internalisiert hat, und da ist man dem Mann gegenüber die Frau.<br />

Eine gewisse Art von Distanz erzeugt das, die ist einfach da, du bist einfach<br />

das andere, das vor dem Gegenüber seine eigene Identität wahren muss. Bei<br />

dir ist das gar nicht so, ich kann so etwas nicht empfinden. Natürlich hast du<br />

eine eigene Persönlichkeit, aber ich fühle mich dir sehr nahe, erlebe keine Distanz,<br />

ein Gegenüber existiert nicht. Es ist alles so echt, ehrlich, selbstverständlich<br />

und leicht. Du vermittelst mir unendliches Vertrauen, ich fühle mich<br />

wunderbar frei. Weißt du, so ähnlich wie ich dir am See erzählt habe. Ja tatsächlich,<br />

ich empfinde mich mit dir eher so, als ob du meine allerbeste Schulfreundin<br />

wärest. Kannst du das nachvollziehen?“<br />

Zilly war es, die Peter häufig Aspekte ihrer Beziehung aufzeigte, zu Auseinan-<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 27 von 30


dersetzungen darüber anregte und vieles sah, was Peter bislang nicht bewusst<br />

geworden war. Peter liebte es und meinte, er habe sich darüber gefreut, dass<br />

er sich immer für recht feinfühlig gehalten habe, aber Zilly vermittle ihm, dass<br />

seine Sensibilität, zumindest im Hinblick auf persönliche Beziehungen, durch<strong>aus</strong><br />

Erweiterungsbedarf habe. Er erläuterte Zilly wie sich ihre Beziehung für ihn<br />

darstelle. Vieles an ihr sei so außergewöhnlich, ihre Lebendigkeit, ihre Frische,<br />

ihre freudige Stimmung und Freundlichkeit: „Mich belebt deine ansteckende<br />

Freude und Lustigkeit, du kannst lachen und hast schelmische Lust an kleinen<br />

Scherzen, und doch sind deine Gedanken tiefgreifend und profund. Gleichzeitig<br />

quälst du dich mit den schmerzhaften Problemen eines zerrütteten Ehelebens.<br />

Ich bewundere dich. Du gefällst mir sehr und ich mag dich außerordentlich, nur<br />

meine Liebe ist das nicht. Ich habe keine Sehnsucht und denke stets an dich,<br />

weil du eine so wundervolle Frau bist. Es ist etwas anderes, dass meinen Empfindungen<br />

und Gedanken gleichzeitig Wärme, Lust und Begierde bereitet, das<br />

sich immer wieder in den Vordergrund drängt, an dich denken und von dir<br />

träumen lässt. Aber so viel ich auch darüber nachdenke und grübele, es will<br />

sich mir nicht offenbaren, ich kann es nicht erkennen. Du hast Zugang zu Bereichen<br />

in mir gefunden, die meiner Rationalität verschlossen sind. Vielleicht ist<br />

es ja das Herz, in dem die Liebe wohnt, nicht nur der Kopf, doch manchmal<br />

spür ich dich, so wie sich's anfühlt, in meinem Bauch am aller stärksten.“<br />

Zilly suchte Peters Nähe, direkten körperlichen Kontakt mit ihm. Sie liebte es,<br />

auf seinem Schoß zu sitzen oder sich eng aneinander geschmiegt auf die Couch<br />

zu setzen. Wenn sie auf dem Bett lagen, hatte sie meistens einen Arm und ein<br />

Bein über ihn gelegt und ihren Kopf an seine Schulter gekuschelt. Sie berührte<br />

gern sein Gesicht mit den Fingern und schaute ihn dabei liebevoll, ein wenig<br />

staunend an. „Seitdem du hier bist,“ erläuterte sie Peter, „ist es als ob ich unsere<br />

Beziehung, unser Glück direkt anfassen kann. Es kommt mir vor, als ob es<br />

mit dir körperlich geworden wäre, greifbar, ich kann es mit meinen Händen anfassen<br />

und erfahren, wie es sich anfühlt. Es ist ein wenig <strong>mehr</strong> als deine Person,<br />

es ist unser Gemeinsames, aber du verkörperst es. Es ist vielleicht viel<br />

Imagination, aber mir gefällt diese zusätzliche haptische Erfahrung mit dir, deinem<br />

Gesicht und deinem Körper sehr. Die Haut, sie scheint mir wie vertraut.<br />

Als ob ich sie schon eher erlebte, lange kenne, schon spürte in Gedanken fern<br />

von dir. Mir bist du die Gestalt des Traumes, der in mir war, und der jetzt lebend<br />

existiert.“<br />

Peter liebte Zillys Mund, ihre Lippen. Er betrachte sie ständig, schaute unwillkürlich<br />

auf diese weichen roten Wölbungen, die nicht nur beim Sprechen ständig<br />

ihre Form veränderten, sondern auch Zillys stummer Mimik so unterschiedliche<br />

Ausdrücke verleihen konnten. Er wünschte, sie auf seinen Wangen, seinem<br />

Mund zu spüren. Er hätte sich ständig von ihr küssen lassen können. Zilly<br />

merkte, wie sehr es ihm gefiel. Sie zögerte nicht, ihn bei jeder Gelegenheit mit<br />

<strong>mehr</strong> oder weniger feuchten Schmatzern zu verwöhnen, oder ihn auch liebevoller<br />

auf den Mund zu küssen; nur allzu intensiv mit reger Zungenbeteiligung<br />

und Peters Streichelliebkosungen durfte es nicht werden, dann musste sie<br />

frühzeitig unterbrechen, wenn sie sich nicht den absehbaren Entwicklungen<br />

überlassen wollte.<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 28 von 30


Verluste im Alter?<br />

Für Peter war es nicht nur das größte Glück, das er erleben konnte, sondern<br />

dies auch noch mit der absolut wunderbarsten Frau, die für ihn denkbar war. Er<br />

überlegte, ob es Situationen in seinem Leben gegeben hatte, die ihn ähnlich<br />

freudig gestimmt und glücklich gemacht hätten. Es hatte viele, nicht unangenehme<br />

Erfahrungen in seinem Leben gegeben, nur die Tiefe der Beziehung, wie<br />

er sie mit Zilly erfuhr, war ihm neu, wunderbar, war im bislang noch nie zuteil<br />

geworden und schien ihm der wichtigste Bereich menschlichen Glücksempfindens<br />

zu sein. So viel war ihm noch nie geschenkt worden, so viel hatte er noch<br />

nie erhalten.<br />

Seine Alterstheorie mit den traurig stimmenden Verlusten? Er war sich nicht sicher,<br />

ob er sie ganz verwerfen sollte, für ihn traf sie jedenfalls überhaupt nicht<br />

<strong>mehr</strong> zu. Natürlich gab es körperliche Verlusterscheinungen, aber er hatte tiefes,<br />

alles andere unbedeutend machendes Glück hinzugewonnen, dessen Erfahrung<br />

vielen in ihrem gesamten Leben versagt bleibt.<br />

FIN<br />

<strong>Keine</strong> E-<strong>Mails</strong> <strong>mehr</strong> <strong>aus</strong> <strong>Berlin</strong> – Seite 29 von 30


I'm a great believer in luck<br />

Thomas Jefferson<br />

Peter meinte, ein Lifekontakt würde ihre wundervolle E-Mail Beziehung<br />

zerstören, schließlich kam er doch nach <strong>Berlin</strong>. Den Abschluss bildete ein<br />

Besuch in Zillys Lieblingscafé am Abend. Hier erklärte Zilly nicht viel, vielleicht<br />

weil es zu gegenwärtig war und keine alten Emotionen weckte. „Sag etwas,“<br />

forderte sie Peter auf, „ich möchte dir zuschauen. Ja, es gefällt mir sehr, dass<br />

wir uns treffen, nur du bist so zurückhaltend. Bist du eine wenig schüchtern?“<br />

Beide lachten wieder. Es war eine so ungewöhnliche Situation, die beiden, die<br />

sich so gut kannten und mochten, saßen sich jetzt face-to-face gegenüber,<br />

konfrontiert mit dem, was sie vom anderen überhaupt nicht kannten; seiner<br />

Stimme, seinem Gesichts<strong>aus</strong>druck, seiner Mimik und Gestik, seiner<br />

Körpersprache. Wie war das alles mit ihren geschriebenen Worten in Einklang<br />

zu bringen, mit dem Bild das sie sich voneinander gemacht hatten, welches<br />

neue Gesamtbild ergab sich dar<strong>aus</strong>. Peter merkte nur, dass er alles an Zilly toll<br />

und begeisterungswürdig fand, und sein Mail-Bild durch den Kontakt noch<br />

erheblich positiv verstärkt wurde. Er bedankte sich bei Zilly für den<br />

wunderschönen Nachmittag und Abend und erläuterte, was ihm daran so<br />

gefallen habe. Durch zwei Gläser Wein schienen sich auch ihre Zungen ein wenig<br />

<strong>mehr</strong> gelöst zu haben, sie aßen noch etwas zu Abend, weil es ja bei Peters<br />

Schwester jetzt auch nichts <strong>mehr</strong> gebe, und Zilly sonst auch Brote essen müsse.<br />

So wurde es immer später und Peter hatte schon seine Schwester informiert.<br />

Als sie sich vorm Lokal verabschiedeten, umarmten und küssten sie<br />

sich. Bevor sie ihre Umarmung lösten, schauten sie sich tief schweigend an.<br />

Zilly instruierte Peter noch mal über seine Fahrtstrecke und schloss mit der<br />

Frage: „Oder wieder zu mir?“. „Ich? Zu dir? Heute Abend? Und heute Nacht?“<br />

stotterte Peter. Zilly nickte nur und ließ ein bestätigendes „Mhm“ vernehmen.<br />

„Aber du weißt doch...“ begann Peter wieder zu stottern. Peter schien völlig<br />

verwirrt. Dass er liebend gern bei Zilly über Nacht geblieben wäre, stand außer<br />

Frage, nur war ihm das überhaupt nicht gegenwärtig geworden, weil es<br />

außerhalb jeder realistischen Erwägung lag. „Wer sagt denn, dass ich gleich<br />

mit dir ins Bett will, kleiner Macho.“ feixte Zilly als Antwort. Sie küssten sich<br />

noch eimal, Zilly hakte sich bei Peter ein, und sie machten sich auf den Weg.<br />

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