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Mit Alice gemeinsam leben, nicht next door

„Als verletzlich, mit einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele habe noch nicht wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, nicht war? Sie ist kein rohes Ei mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden lassen. Jetzt ist der Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“ sagte Alice und warf mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles schaffen. Wenn du mal ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der schwarze Mantel der Melancholia sich wieder von deinen Schultern hebt. Dass du etwas verloren hast, werden wir beide nicht ungeschehen machen, aber mit deiner Trauer werden wir leben können.“ Ja, so würde es sein, wie Alice es sagte, genau so. Das wusste ich nicht, aber ich spürte es und es gab mir ein wohliges Hochgefühl ebenso mit Lust zu Albernheiten und auch auf Ringkämpfe. „Alice, es ist so, wenn ich auch dem Pastor in der Kirche nicht glaube, aber an dich glaube ich fest.“ erklärte ich lachend. „Ich könnte dich verprügeln und gleichzeitig auffressen. Dabei mag ich doch gar keine Männer. Sie stinken, ihre Haut ist rau und überall sind sie voller Haare. Es ist schon eine Krux, ein bisschen schöner könnten sie doch wohl sein.“ offenbarte sich Alice. „Schön, was ist schön? Was dein Auge für schön hält, aber ästhetisch ansehnliche Männerbilder gibt es doch schon, wenn du zum Beispiel an den David von Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist Michelangelos Liebe für den Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön, ich weiß nicht. Niemand käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu bewundern, und die Männer können nicht akzeptieren, dass die Evolution es bei den Menschen andersherum gewollt hat. Das ist ja auch nicht so schlimm, nur ein bisschen handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn auch Haare auf der Brust? Bestimmt, nicht wahr?“ wollte Alice wissen. Ich lachte schon die ganze Zeit und konnte vor Lachen gar nicht antworten. „Zeig mal.“ sagte sie und begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu ziehen. Sie stoppte, dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder sollen wir ins Bett gehen? Möchtest du?“ fragte Alice fast andächtig mit leicht unsicherem Unterton. „Ja! Ja! Ja!“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war ich erschrocken, völlig überrascht.

„Als verletzlich, mit einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele habe noch nicht wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, nicht war? Sie ist kein rohes Ei mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden lassen. Jetzt ist der Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“ sagte Alice und warf mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles schaffen. Wenn du mal ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der schwarze Mantel der Melancholia sich wieder von deinen Schultern hebt. Dass du etwas verloren hast, werden wir beide nicht ungeschehen machen, aber mit deiner Trauer werden wir leben können.“ Ja, so würde es sein, wie Alice es sagte, genau so. Das wusste ich nicht, aber ich spürte es und es gab mir ein wohliges Hochgefühl ebenso mit Lust zu Albernheiten und auch auf Ringkämpfe. „Alice, es ist so, wenn ich auch dem Pastor in der Kirche nicht glaube, aber an dich glaube ich fest.“ erklärte ich lachend. „Ich könnte dich verprügeln und gleichzeitig auffressen. Dabei mag ich doch gar keine Männer. Sie stinken, ihre Haut ist rau und überall sind sie voller Haare. Es ist schon eine Krux, ein bisschen schöner könnten sie doch wohl sein.“ offenbarte sich Alice. „Schön, was ist schön? Was dein Auge für schön hält, aber ästhetisch ansehnliche Männerbilder gibt es doch schon, wenn du zum Beispiel an den David von Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist Michelangelos Liebe für den Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön, ich weiß nicht. Niemand käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu bewundern, und die Männer können nicht akzeptieren, dass die Evolution es bei den Menschen andersherum gewollt hat. Das ist ja auch nicht so schlimm, nur ein bisschen handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn auch Haare auf der Brust? Bestimmt, nicht wahr?“ wollte Alice wissen. Ich lachte schon die ganze Zeit und konnte vor Lachen gar nicht antworten. „Zeig mal.“ sagte sie und begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu ziehen. Sie stoppte, dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder sollen wir ins Bett gehen? Möchtest du?“ fragte Alice fast andächtig mit leicht unsicherem Unterton. „Ja! Ja! Ja!“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war ich erschrocken, völlig überrascht.

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Carmen Sevilla<br />

<strong>Mit</strong> <strong>Alice</strong> <strong>gemeinsam</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong><br />

Wer komponiert dein Leben?<br />

Erzählung<br />

Il en est du véritable amour comme de l'apparition des esprits:<br />

tout le monde en parle, mais peu de gens en ont vu.<br />

La Rochefoucauld<br />

„Als verletzlich, mit einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele<br />

habe noch <strong>nicht</strong> wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, <strong>nicht</strong> war? Sie ist<br />

kein rohes Ei mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden<br />

lassen. Jetzt ist der Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“<br />

sagte <strong>Alice</strong> und warf mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles<br />

schaffen. Wenn du mal ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der<br />

schwarze Mantel der Melancholia sich wieder von deinen Schultern hebt. Dass<br />

du etwas verloren hast, werden wir beide <strong>nicht</strong> ungeschehen machen, aber mit<br />

deiner Trauer werden wir <strong>leben</strong> können.“ Ja, so würde es sein, wie <strong>Alice</strong> es<br />

sagte, genau so. Das wusste ich <strong>nicht</strong>, aber ich spürte es und es gab mir ein<br />

wohliges Hochgefühl ebenso mit Lust zu Albernheiten und auch auf<br />

Ringkämpfe. „<strong>Alice</strong>, es ist so, wenn ich auch dem Pastor in der Kirche <strong>nicht</strong><br />

glaube, aber an dich glaube ich fest.“ erklärte ich lachend. „Ich könnte dich<br />

verprügeln und gleichzeitig auffressen. Dabei mag ich doch gar keine Männer.<br />

Sie stinken, ihre Haut ist rau und überall sind sie voller Haare. Es ist schon<br />

eine Krux, ein bisschen schöner könnten sie doch wohl sein.“ offenbarte sich<br />

<strong>Alice</strong>. „Schön, was ist schön? Was dein Auge für schön hält, aber ästhetisch<br />

ansehnliche Männerbilder gibt es doch schon, wenn du zum Beispiel an den<br />

David von Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist Michelangelos Liebe für<br />

den Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön, ich weiß <strong>nicht</strong>.<br />

Niemand käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu bewundern, und<br />

die Männer können <strong>nicht</strong> akzeptieren, dass die Evolution es bei den Menschen<br />

andersherum gewollt hat. Das ist ja auch <strong>nicht</strong> so schlimm, nur ein bisschen<br />

handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn auch Haare auf der<br />

Brust? Bestimmt, <strong>nicht</strong> wahr?“ wollte <strong>Alice</strong> wissen. Ich lachte schon die ganze<br />

Zeit und konnte vor Lachen gar <strong>nicht</strong> antworten. „Zeig mal.“ sagte sie und<br />

begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu ziehen. Sie stoppte,<br />

dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder sollen wir ins Bett<br />

gehen? Möchtest du?“ fragte <strong>Alice</strong> fast andächtig mit leicht unsicherem<br />

Unterton. „Ja! Ja! Ja!“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war ich<br />

erschrocken, völlig überrascht.<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 1 von 26


Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> - Inhalt<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong>.......................................4<br />

I suppose you've heard about <strong>Alice</strong>................................................ 4<br />

Täuschungen.................................................................................. 4<br />

Spezialbegrüßung...........................................................................4<br />

Eigenes Revier................................................................................ 5<br />

War es ein schönes Bild?................................................................ 8<br />

Übersinnliche Verzückung............................................................ 10<br />

Kirchenliebe.................................................................................10<br />

Er ist so voll Musik........................................................................12<br />

Schwere Lebenskrise.................................................................... 13<br />

Chorbesuch...................................................................................14<br />

Liebe mit Betrug gibt es <strong>nicht</strong>.......................................................14<br />

Mein glückliches Leben................................................................. 16<br />

Entscheidungsqualen....................................................................17<br />

Daran denken, dass ich dich liebe.................................................18<br />

Frierende Seele.............................................................................18<br />

Wir werden das alles schaffen...................................................... 20<br />

Die Kunst der Fuge....................................................................... 21<br />

Männer sind schön, ja?................................................................. 23<br />

Cavalleria Rusticana mit Butterkremtorte....................................24<br />

Das Leben als Kunst der Fuge.......................................................25<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 2 von 26


Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong><br />

Täuschungen<br />

Als angenehm empfindest du das <strong>nicht</strong>, wenn dich jemand zu täuschen versucht.<br />

Vielleicht solltest du es besser <strong>nicht</strong> so genau nehmen, denn der größte<br />

Täuscher bist du selbst. Deine Primärsensoren für das, was sich außerhalb von<br />

dir ereignet, sind deine Augen und deine Ohren. Sie sind deine Mikrofone, mit<br />

denen du Geräusche und Klänge um dich herum aufnimmst und die Kamera,<br />

mit der du die dich umgebende Bilderwelt ablichtest. Wie eine Kamera oder ein<br />

Mikrofon funktionieren sie allerdings <strong>nicht</strong>. Sie zeigen dir <strong>nicht</strong> die Wirklichkeit<br />

in Klängen und Bildern, sondern <strong>nicht</strong> selten etwas ganz anderes. Bei der Polizei,<br />

wo die Menschen bezeugen sollen, was sie wirklich erlebt haben, kennt<br />

man die kuriosesten Geschichten. Die Menschen haben <strong>nicht</strong> nur andere Haarfarben<br />

erkannt, sondern auch mehr oder andere Leute gesehen, als wirklich<br />

anwesend waren, es ereignete sich etwas anderes und die Beteiligten haben<br />

etwas anderes gesprochen, als es sich in Wirklichkeit zugetragen hat. Keinesfalls<br />

beabsichtigen die Zeugen Täuschungen, sie sind von der Exaktheit ihrer<br />

Aussagen überzeugt. Auf objektive Ablichtungen der Realität durch deine Augen,<br />

solltest du <strong>nicht</strong> setzen. Dein Kopf verarbeitet die visuellen Informationen,<br />

bedient sich starker Filter und kann hervorragend retuschieren. Das Produkt<br />

wird deinem Bewusstsein übermittelt, du täuscht dich selbst, und siehst letztendlich<br />

nur das, was du sehen wolltest. Dabei bevorzugst du, das zu sehen,<br />

was dir schon gut bekannt ist.<br />

Spezialbegrüßung<br />

Ich hatte gestern Abend eine junge Frau in der Oper gesehen, jetzt sah ich sie<br />

im Entree des Instituts. Bestimmt war sie mir schon öfter begegnet, aber ohne<br />

Oper hätte ich geschworen, sie noch nie gesehen zu haben. Wir hatten in der<br />

Oper <strong>nicht</strong> miteinander gesprochen, nur einen kurzen Blick gewechselt, junge<br />

Leute gibt’s ja in der Oper <strong>nicht</strong> so viele. Ich wusste und kannte <strong>nicht</strong>s von ihr,<br />

und heute Morgen erlebe ich sie plötzlich hier im Institut. <strong>Mit</strong> lachender Mimik<br />

und vorgerecktem, auf mich zeigenden Finger kommt sie mir entgegen. <strong>Mit</strong> einem<br />

„Hah!“ als ob sie mich bei irgendetwas erwischt hätte, spricht sie mich an,<br />

„Was machst du in „Don Giovanni“?“ Eine alberne, blöde Antwort hätte ich geben<br />

können, wie: „Ach, ich habe mich nur mal so umgehört.“, denn die Frage<br />

kam ja auch <strong>nicht</strong> wie ein Elaborat intellektueller Glanzleistung daher. Trotzdem<br />

war es mir zu dumm, und ich hatte Lust, zu spielen. „Ich könnte jetzt etwas<br />

sagen, was man gewöhnlich auf so eine Frage antwortet, könnte sagen, was<br />

sie alle sagen, wenn man sie fragt, warum sie in der Oper waren, aber das sagt<br />

ja <strong>nicht</strong>s darüber, was ausgerechnet ich persönlich in der Oper gemacht habe.<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 3 von 26


Ich weiß es gar <strong>nicht</strong>. Eine sehr gute Frage. Ich werde darüber nachdenken<br />

müssen.“ antwortete ich ihr, wobei mein Gesicht <strong>nicht</strong> ganz ernst bleiben konnte,<br />

und sie mich leicht erstaunt skeptisch grinsend musterte. Für eine zwar kuriose,<br />

aber abschließende Antwort hielt sie es wohl. Anscheinend war diese nie<br />

gesehene Kommilitonin jetzt immer und überall gegenwärtig. Zwei Tage später<br />

traf ich sie schon wieder, und wieder begrüßte sie mich mit einem „Hah!“. Offensichtlich<br />

war das ihre individuelle Spezialbegrüßungsfloskel, statt eines biederen,<br />

gesitteten „Hallo“ oder „Hey“ wie es in der Alltagsroutine üblich ist, dieses<br />

„Hah!“, das jedenfalls eine gewisse Aufmerksamkeit erregte, <strong>nicht</strong> trocken<br />

bekundete: „Ich habe dich gesehen.“, sondern den Begrüßten zu Interpretationsversuchen<br />

animierte. „Immer noch „Deh, vieni alla finestra“ oder alles<br />

längst verschwunden und vergessen?“ fragte sie auf eine Arie aus Don Giovanni<br />

anspielend. „Nein, keineswegs, eine Oper bleibt immer ein herausragendes<br />

Erlebnis, ein Faszinosum, bei dem du nur wie bei einem Eisberg die kleine Spitze<br />

siehst, aber die ist auch nur weiß wie alles andere. Bei der Oper entspricht<br />

die Aufführung eher dem Glanz des Lichtes einer großen Kerze. Wie auch immer,<br />

sie ist das kunstvolle Produkt umfänglicher und langwieriger Arbeit. Aber<br />

was ich gemacht habe, war <strong>nicht</strong> zufriedenstellend. Ich habe mich umgeschaut<br />

und umgehört, wie man einen Opernbesuch eben so erlebt. Habe mir die Frau<br />

vorzustellen versucht, die so ein Kleid für elegant hält, habe überlegt, wie lange<br />

der Oboist sein Instrument schon wohl spielt und ähnliche Kinkerlitzchen<br />

mehr. Als die Oper begann war ich <strong>nicht</strong> konzentriert, meine Augen und Ohren<br />

waren überall. Ich habe wiederzuerkennen versucht, was ich schon kannte. Die<br />

Emphase des Operngeschehens hat meine emotionale Basis <strong>nicht</strong> tiefgreifend<br />

erreicht. Ich habe sie oberflächlich wahrgenommen und mir den vollen Genuss<br />

dadurch versagt. Ich habe in Don Giovanni Fehler gemacht.“ antwortete ich.<br />

Die Frau schien verdutz, machte einen erstaunten Eindruck. <strong>Mit</strong> einem Lächeln<br />

das skeptische und unsichere Züge beinhaltete musterte sie mich.<br />

Eigenes Revier<br />

Kurze Pause, dann erklärte sie: „Ach, übrigens, ich heiße <strong>Alice</strong>. Wie heißt du?“<br />

„Ja, nur Tim, sonst <strong>nicht</strong>s. Nicht Tim, Tom, Toni, einfach nur Tim Frazer.“ erläuterte<br />

ich und erhielt als Reaktion ein fragendes: „Mhm?“. „Ja, es gab mal einen<br />

Krimi, Tim Frazer, und seitdem fanden alle Tim als Vornamen für einen Jungen<br />

chic, auch die, die den Krimi gar <strong>nicht</strong> gesehen hatten, vorher kannte ihn keiner.“<br />

erklärte ich. „Bei mir herrscht keine Einigkeit unter den Experten, ob „<strong>Alice</strong><br />

in wonderland“ oder eher „Living <strong>next</strong> <strong>door</strong> to <strong>Alice</strong>“ den Ausschlag für die<br />

Verwendung des Namens in Deutschland gegeben haben.“ erklärte <strong>Alice</strong>. Ich<br />

kannte das Lied <strong>nicht</strong> und bekam es vorgesungen. „Süß, <strong>nicht</strong> wahr? Meine<br />

Mutter überfiel auch immer die Wehmut, wenn sie es hörte oder selber sang.<br />

Sie singt gern und viel. Sag mal, hast du Zeit? Sollen wir <strong>nicht</strong> einen Kaffee<br />

trinken?“ fragte <strong>Alice</strong>. Hatte ich nur kurz, aber die Vorlesung, die ich eigentlich<br />

besuchen musste, war bestimmt keine Oper, auch wenn in ihr viel Vorbereitung<br />

steckte. Warum interessierte mich der Kaffee mit <strong>Alice</strong> mehr, war mir wichtiger<br />

als die Vorlesung? Rationale Anhaltspunkte dafür gab es <strong>nicht</strong>, und wenn, dann<br />

konnte ich sie <strong>nicht</strong> benennen. „Deine Mutter singt sehr viel, hast du gesagt,<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 4 von 26


du selber auch?“ fragte ich an der Theke beim Kaffee holen. „Vielleicht.“ antwortete<br />

<strong>Alice</strong>, „Bei uns trällert immer jemand, aber meine Mutter ist ein Profi.“<br />

„Ja, Singen ist immer sehr schön, aber allein zu Hause hört es ja niemand.“<br />

mischte sich die mediterran wirkende Barista ein. „Bei der Arbeit, früher haben<br />

die Frauen immer bei der Arbeit gesungen.“ versuchte ich sie zu animieren.<br />

„Hier? Im Café?“ fragte die Barista ungläubig erstaunt und schüttete sich bei<br />

der Vorstellung aus vor Lachen. „Meine Mutter singt in einem tollen Chor.<br />

Früher war sie nur im Kirchenchor, aber das wurde ihr zu öde. <strong>Mit</strong> Singen sind<br />

wir, meine Schwester und ich geboren und aufgewachsen, aber noch mehr wird<br />

bei uns gelacht als gesungen. Nur die Zeit mit Mami und den beiden Gören ist<br />

vorbei. Meine Mutter hat mir mal erklärt, ich sei jetzt erwachsen und sie würde<br />

sich <strong>nicht</strong> mehr um mich kümmern. Eine Katze würde ihr Junges vertreiben,<br />

wenn sie der Ansicht sei, dass es sich selbst um ein eigenes Revier kümmern<br />

könne, auch wenn sie sich vorgestern noch mütterlich liebevoll um das kleine<br />

Kätzchen gekümmert habe. Ich brauche keine Angst zu haben, sie würde mich<br />

<strong>nicht</strong> vertreiben, aber sie würde mir <strong>nicht</strong> mehr sagen, was ich zu tun und zu<br />

lassen hätte. Ich sei jetzt ein selbständiger, erwachsener Mensch, allerdings<br />

derjenige Mensch, den sie am liebsten als ihre ganz, ganz enge Freundin haben<br />

würde. Da wurden mir die Augen feucht, und es kullerten die Tränen. Sich<br />

geborgen, wie bei Mami auf dem Schoß zu fühlen, das wollte ich doch <strong>nicht</strong><br />

verlieren, aber ihre liebste erwachsene Freundin sein zu sollen, Was war das<br />

für ein Angebot und eine Anerkennung, es ergriff mich enorm. Schade und<br />

schön ist es, beides zugleich, wenn du erwachsen sein sollst. Kannst du auch<br />

vor Glück und Traurigkeit gleichzeitig weinen?“ wollte <strong>Alice</strong> von mir wissen.<br />

„Bestimmt, aber ich war immer nur eins von beiden, entweder glücklich oder<br />

traurig. Dabei gibt es doch sicher manches, was so schön traurig sein kann.<br />

Einige türkische Lieder sind auch ganz traurig, und die Menschen sind nach<br />

einem Abend mit Musik nur glücklich, wenn sie auch weinen konnten.“<br />

bemerkte ich dazu. „Ich glaube die Deutschen wollen lieber nüchtern sein, zu<br />

viel Gefühl gilt als obsolet. Und Traurig sein sieht man sowieso eher als<br />

Schwäche an. Ganz schön dumm, <strong>nicht</strong> wahr?“ kommentierte <strong>Alice</strong>.<br />

„Allerdings, alles ist doch immer auch mit Gefühlen verbunden, du willst sie<br />

nur <strong>nicht</strong> wahrhaben, lässt sie <strong>nicht</strong> zu, erkennst sie oft gar <strong>nicht</strong>, lebst sie<br />

<strong>nicht</strong> aus. Ich mache das, glaube ich, auch <strong>nicht</strong>. Du erscheinst mir, viel<br />

gefühlsbetonter zu <strong>leben</strong>.“ war meine Ansicht. <strong>Alice</strong> lachte auf. „Meinst du? Wie<br />

kommst du darauf?“ wollte sie wissen. „Du wirkst auf mich impulsiver. In allem<br />

was du sagst, und vor allem wie du es sagst, vermittelst du Energie und<br />

Lebensfreude. Ja, bei dir spüre ich immer das Emotionale.“ erklärte ich. „Kann<br />

schon sein. Wir waren immer sehr glücklich und hatten viel Spaß zu Hause.<br />

Das gewohnte Leben hat natürlich Einfluss.“ meinte <strong>Alice</strong> dazu. „Lebst du denn<br />

jetzt auch noch zu Hause? Du hast doch bestimmt einen Freund?“ erkundigte<br />

ich mich. <strong>Alice</strong> war offensichtlich bemüht, möglichst neutral und <strong>nicht</strong>ssagend<br />

auszuschauen, aber sie sprach <strong>nicht</strong>. „Weißt du,“ sagte sie nach geraumer Zeit,<br />

„das ist nur für die Libido, ein Leben wie zu Hause kann ein Freund <strong>nicht</strong><br />

bieten.“ erklärte sie dann und lachte. „Nein, es war eben selbstverständlich,<br />

dass man einen Freund hatte. <strong>Mit</strong> dem machte man, was man eben mit einem<br />

Freund so macht. Ins Kino, in die Disco und schließlich auch ins Bett. Dadurch<br />

ist unsere Beziehung eigentlich erst entstanden. Diesen Verliebtheitsrausch<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 5 von 26


hatte es bei uns <strong>nicht</strong> gegeben. Im Bett befriedigst du dich ja <strong>nicht</strong> nur<br />

gegenseitig sexuell, du bist dir auch sozial sehr nahe, offen und intim. Ein<br />

Verbundenheitsempfinden hat das unter uns gestiftet, wie es vorher <strong>nicht</strong><br />

existierte. Also umgekehrt, <strong>nicht</strong> verliebt und dann ins Bett, sondern ins Bett<br />

und dadurch verliebt.“ berichtete <strong>Alice</strong> von ihrer Beziehung. Ich staunte nur,<br />

was sie wie erzählte, und hörte ihr fasziniert zu. „Und du, was macht deine<br />

Freundin?“ wollte <strong>Alice</strong> von mir wissen. „Oh!“ erschrak ich, „Das habe ich noch<br />

nie umfänglich, allgemein zusammenfassend betrachtet.“ <strong>Alice</strong> lachte, hielt die<br />

Antwort wohl für urkomisch. „Mein lieber Timmy, ich wollte doch keine<br />

detaillierte Analyse deiner Beziehung hören. Erzähl einfach etwas von deiner<br />

Freundin, ob sie schwarze oder blonde Haare hat und vielleicht ein bisschen<br />

mehr.“ <strong>Alice</strong> zu mir. „Meine Freundin studiert auch.“ sagte ich, aber Lust zu<br />

erzählen, verspürte ich überhaupt <strong>nicht</strong>, <strong>nicht</strong> einmal Lust, jetzt an sie zu<br />

denken. „Und wie heißt sie?“ fragte <strong>Alice</strong>. „Du lässt dir alles aus der Nase<br />

ziehen. Eure Beziehung ist <strong>nicht</strong> glücklich, oder?“ so <strong>Alice</strong>. „Doch schon, aber<br />

lass uns doch jetzt lieber von <strong>Alice</strong> und Tim reden, als von Marie, meiner<br />

Freundin, die gar <strong>nicht</strong> hier ist.“ meinte ich dazu. „Du musst ja <strong>nicht</strong>, wenn du<br />

<strong>nicht</strong> möchtest. Ich dachte nur, die meisten Jungs würden gern und stolz von<br />

ihrer Freundin erzählen.“ reagierte <strong>Alice</strong> und brachte mich dadurch zum<br />

Lachen. „Ich glaube, du bist klein, doof und frech.“ meinte ich und lachte<br />

immer noch. „Lucy, meine Schwester kann das hervorragend, das war ihr Part<br />

in unseren komischen Opern, die kleine ahnungslose Doofe spielen. Mir fehlt<br />

das sehr, ich vermisse es ungemein. Was meine Mutter wohl macht, wenn Lucy<br />

auch geht und mein Vater erst, für ihn schufen seine lustigen Weiber doch das<br />

Paradies. Das fehlt mir auch. <strong>Mit</strong> meinem Vater habe ich öfter abends ein Glas<br />

Wein getrunken. Eine Beziehung wie zu meiner Mutter, hatte ich zu ihm <strong>nicht</strong>,<br />

sie hatte einen völlig anderen Charakter. Zwischen zwei unterschiedlichen<br />

Elementen besteht immer, solange sie <strong>nicht</strong> verschmolzen sind, eine gewisse<br />

Distanz. Zwischen ihnen gibt es stets eine, wenn auch noch so geringe Fuge,<br />

und das ist zwischen Menschen auch <strong>nicht</strong> anders. Wie du diese Fuge<br />

überbrückst und womit du sie ausfüllst, das entscheidet über die Qualität und<br />

Enge der Beziehung. Abends beim Wein waren mein Vater und ich uns absolut<br />

nah. Er ist ein weiser Mann, liebte und suchte das Gespräch mit mir. „Hast du<br />

auch Lust auf einen Wein?“ fragte er nur, wusste, dass ich hatte und ihm in<br />

sein Zimmer folgen würde. So eng war die Fuge und so kunstvoll gefügt, dass<br />

diese beschaulichen Momente mir im Nachhinein erscheinen, als ob ich noch<br />

nie einem anderen Menschen so nahe gewesen wäre.“ erklärte <strong>Alice</strong>. „Du lebst<br />

noch sehr stark zu Hause, <strong>nicht</strong> wahr? Bist zwar erwachsen, aber hast du auch<br />

dein eigenes Revier schon gefunden? Ich habe mich auch zu Hause sehr wohl<br />

gefühlt, aber das Leben zu Hause ist <strong>nicht</strong> mehr ständig präsent, es ist meine<br />

Geschichte.“ meinte ich dazu. „Kann schon sein, aber wie findest du denn dein<br />

eigenes Revier? Ich möchte Freundinnen haben wie meine Schwester und<br />

meine Mutter und einen Freund wie meinen Vater. Sie sind mir <strong>nicht</strong> nur<br />

Freund und Freundin, sie haben das Prinzip in mir festgelegt, was Freunde und<br />

Freundinnen sind.“ erklärte <strong>Alice</strong>. „Dann bist du <strong>nicht</strong> nur erwachsen, sondern<br />

schon auch schon ziemlich alt. Wenn du weißt, wie alles zu sein hat, was<br />

brauchst du noch Neues zu lernen? Ein eigenes Revier ist ein ganz neues<br />

Terrain und <strong>nicht</strong> eine Kopie des alten. Das wird <strong>nicht</strong>s, gibt es <strong>nicht</strong> und kann<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 6 von 26


es <strong>nicht</strong> geben.“ lautete meine Ansicht. Wir waren die einzigen die noch in der<br />

Cafeteria saßen. Die Barista kam und sagte: „Kinder, ich muss jetzt nach<br />

Hause.“ Lustig, <strong>nicht</strong> weil die Cafeteria geschlossen wurde, sondern weil sie<br />

nach Hause musste, sollten wir doch auch gehen. „Und ab morgen wird<br />

gesungen.“ forderte ich streng. „Ja, ja,“ sagte sie, fing an zu singen: „Ô ô ô, la<br />

bella polenta cosi, Tchá tchá pum, Tchá tchá pum, Tchá tchá pum pum pum<br />

pum.“ und lachte sich schief.<br />

War es ein schönes Bild?<br />

Und wir? Ich hatte meinen ganzen Tag durchgeplant. '<strong>Alice</strong> treffen' kam darin<br />

<strong>nicht</strong> vor, jetzt bestand aber alles nur noch daraus. „Was machen wir denn<br />

jetzt?“ fragte sie. „Musst du <strong>nicht</strong> nach Hause? Wartet dein Freund <strong>nicht</strong> auf<br />

dich?“ fragte ich. „Wir wohnen <strong>nicht</strong> zusammen.“ antwortete <strong>Alice</strong>. Mein Blick<br />

musste wohl so fragend sein, dass sie weiter erläuterte: „Wir mögen uns zwar<br />

gut leiden, aber sein Leben ist <strong>nicht</strong> mein Leben, und unser beider Leben ergeben<br />

kein <strong>gemeinsam</strong>es Leben. Das passte <strong>nicht</strong>, und das will ich <strong>nicht</strong>. Aber<br />

deine Freundin wartet doch sicher, oder lebt ihr auch <strong>nicht</strong> zusammen.“<br />

„Schon, aber ich habe keine festen Zeiten, zu denen ich zu Hause zu sein hätte.<br />

So viel Freiheit habe ich noch.“ beantwortete ich <strong>Alice</strong>s Frage. Düfte können<br />

so betörend sein, dass du den Raum <strong>nicht</strong> verlassen möchtest. Fengshui versucht<br />

die Räume zu harmonisieren, dass du es liebst, dich in ihnen aufzuhalten.<br />

Aber <strong>Alice</strong>? Ihre Düfte konnten es <strong>nicht</strong> sein, so nahe war ich ihr noch<br />

<strong>nicht</strong> gekommen und in der Raumgestaltung kam ihrem Corpus nur ein irrelevanter<br />

Stellenwert zu. Trotzdem wollte ich unbedingt den Raum mit <strong>Alice</strong> teilen.<br />

Die Operatoren in meinem Unbewussten hatten wohl einheitlich beschlossen,<br />

dass ich mich in <strong>Alice</strong>s Gegenwart wohl zu fühlen habe. Nach Hause kam<br />

da <strong>nicht</strong> in Frage. Meine Bedürfnislage wollte mich bei <strong>Alice</strong> sehen, nur eine Erklärung<br />

dafür blieb sie mir schuldig. „Sollen wir in die Steinburg gehen, da gibt<br />

es auch etwas zu essen?“ schlug <strong>Alice</strong> vor. Dass wir <strong>nicht</strong> nach Hause gingen,<br />

schien ihr selbstverständlich. „Den „Barbier von Sevilla“ geben sie als nächste<br />

Oper. Wirst du auch hingehen?“ fragte ich. „Na klar, meine Mutter, meine<br />

Schwester und ich haben doch ein Abo. Meine Mutter und meine Schwester<br />

waren auch in „Don Giovanni“ hast du sie <strong>nicht</strong> gesehen? „wollte <strong>Alice</strong> wissen.<br />

Ich schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, alles nur oberflächlich wahrgenommen.<br />

Nur du bist mir aufgefallen, und hast ein Bild von dir in meinem Gedächtnis<br />

hinterlassen.“ erklärte ich und lächelte. <strong>Alice</strong> lächelte auch und fragte: „Ja?<br />

War es ein schönes Bild? Habe ich dir gefallen? Muss man als Frau ja schließlich<br />

wissen, wenn man einem Mann gefällt.“ ihre Mimik ließ auch erkennen,<br />

dass es ihr Spaß machte und <strong>nicht</strong> sehr ernst gemeint war. „<strong>Alice</strong>, das ist doch<br />

alles Quatsch, das weiß ich doch <strong>nicht</strong>. Mir ist nur morgens im Institut genau<br />

wie dir aufgefallen, dass wir uns am Abend vorher in der Oper gesehen hatten.“<br />

erklärte ich. „Das stimmt <strong>nicht</strong>. Das gibt es <strong>nicht</strong>. Wenn du jemanden anschaust,<br />

bewertest du immer, entweder Daumen rauf oder Daumen runter. Ein<br />

unbedingter Dualismus, neutral kannst du niemanden sehen. Also wie hast du<br />

mich erkannt, sag es.“ forderte <strong>Alice</strong>. „Wenn der Daumen runter gewesen<br />

wäre, hätte ich am anderen Morgen im Institut geantwortet: „Da müssen sie<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 7 von 26


sich täuschen, Madame. Ich war den ganzen Abend zu Hause und habe Socken<br />

gestopft.“ erklärte ich. „Und ich hätte geantwortet: „Warum haben sie das<br />

<strong>nicht</strong> vorher gesagt? Da hätte ich ihnen viel lieber geholfen, als mich von diesen<br />

italienischen Stimmband Traktieren quälen zu lassen.““ <strong>Alice</strong> darauf. „Und<br />

was hättest du geantwortet, wenn ich gesagt hätte: „Madame, warum haben<br />

sie mich <strong>nicht</strong> eingeladen? Welch größeren Genuss könnte es für mich geben<br />

als den Wohlklang dieser Oper <strong>gemeinsam</strong> mit ihnen zu genießen?““ wollte ich<br />

wissen. „Du Idiot.“ reagierte <strong>Alice</strong> knapp. „Es quält dich, mir zu sagen, wie du<br />

mich empfunden hast, <strong>nicht</strong> wahr?“ meinte <strong>Alice</strong> grinsend. „Nein, zur Oper<br />

habe ich wirklich keine Meinung, ist mir <strong>nicht</strong>s bewusst, aber muss wohl positiv<br />

gewesen sein, sonst hätte ich mich ja <strong>nicht</strong> darüber gefreut, dass du mich<br />

angesprochen hast. Aber jetzt ...“ ich brauchte eine Pause, um nachzudenken,<br />

wie ich es formulieren sollte und meinte: „Jetzt ist es schon ganz eindeutig<br />

positiv. Sehr sympathisch, sagen die Leute, eine <strong>nicht</strong>ssagende Phrase, wenn<br />

sie <strong>nicht</strong> wissen, was sie sagen sollen. Ich wüsste schon etwas zu sagen, aber<br />

das möchte ich <strong>nicht</strong>.“ <strong>Alice</strong> musterte mich. „Traust dich <strong>nicht</strong>? Denkst, dass du<br />

gerne mit mir ficken möchtest.“ <strong>Alice</strong> dazu. <strong>Mit</strong> einem lang gezogenen „Nein“<br />

lachte ich auf, „Vielleicht keine schlechte Idee, nur bin ich darauf überhaupt<br />

noch <strong>nicht</strong> gekommen.“ reagierte ich. „Solltest du aber. Alle Jungs tun das als<br />

erstes. Jetzt sag schon, wie dein Bild von mir aussieht.“ forderte <strong>Alice</strong> mich<br />

auf. „Ich empfinde es, als ob ich etwas ganz Neues sähe, was ich noch nie<br />

gesehen habe. Aber das gibt es ja <strong>nicht</strong>. Ein Traum, aber der kommt ja auch<br />

aus dir selbst. Etwas, das <strong>nicht</strong> schon in dir ist, kannst du auch <strong>nicht</strong> träumen.<br />

Nur woher mein Bild von dir bei mir kommen soll, dazu habe ich keine Idee.<br />

Vielleicht eine Collage aus Elementen meines tiefsten Unbewussten, und <strong>nicht</strong>s<br />

sagte mir bislang, dass ich so etwas zu sehen wünschte.“ erläuterte ich. <strong>Alice</strong><br />

schwieg. Ihre Mimik lächelte mit einem leicht skeptischen Grinsen, während ihr<br />

Blick mich musterte. „Du magst mich, <strong>nicht</strong> wahr?“ fragte sie schließlich. Ich<br />

sagte <strong>nicht</strong>s, mein Blick erklärte Zustimmung. <strong>Alice</strong> schwieg wieder, schaute in<br />

die Gegend und schien nachzudenken. „Ich muss dich ja auch wohl mögen.<br />

Warum hätte ich dich sonst angesprochen, mich jetzt so lange mit dir<br />

unterhalten und dir alles Mögliche von mir erzählt. Faszinierend ist es schon,<br />

wenn du es von außen siehst. Für uns hat es sich wie selbstverständlich<br />

ergeben. Wir kennen uns gar <strong>nicht</strong> und k<strong>leben</strong> den ganzen Nachmittag<br />

zusammen. Sprechen im Grunde auch über sehr Persönliches. Nur mit sehr<br />

guten Freunden würde man das tun, zwischen uns ist es selbstverständlich.<br />

Normal ist das alles doch <strong>nicht</strong>, oder?“ lautete <strong>Alice</strong>s Ansicht. Seitdem ich <strong>Alice</strong><br />

am frühen Nachmittag getroffen hatte, verhielt ich mich bei <strong>nicht</strong>s mehr so,<br />

wie ich es für normal gehalten hätte. Augen und Ohren waren auf <strong>Alice</strong><br />

fokussiert, daneben existierte so gut wie <strong>nicht</strong>s mehr. Mir wurde bewusst, dass<br />

ich im Allgemeinen wohl ein sehr biederer, braver Mensch war, der immer tat,<br />

was rational geboten schien. <strong>Alice</strong> zeigte mir, dass ich auch anders konnte.<br />

„Was machen wir damit, wenn wir uns so gut verstehen?“ wollte ich wissen.<br />

„Was fragst du mich? Wir werden uns ja häufiger treffen, miteinander reden,<br />

<strong>gemeinsam</strong> einen Kaffee trinken und dabei wird sich jedes mal ein kleines<br />

Fitzelchen verändern. Wie und in welche Richtung das kannst du vorher doch<br />

<strong>nicht</strong> wissen. Vielleicht kommt es dazu, dass wir uns im nächsten Semester<br />

schon öde finden, oder du die große Illusion erkennst, die in deinem Bild von<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 8 von 26


mir steckte, das wissen wir doch alles <strong>nicht</strong>. Wenn zwei Menschen miteinander<br />

zu tun haben, ist es immer ein Prozess, den du begleiten, aber <strong>nicht</strong> vorher<br />

festlegen kannst.“ <strong>Alice</strong> zur Perspektive. Ich hätte am liebsten gesagt: „Ich<br />

möchte dich aber ab sofort jeden Tag sehen und alle Nachmittage mit dir<br />

verbringen.“ Ich war verrückt, richtig berauscht und konnte gar <strong>nicht</strong> erklären<br />

warum. Natürlich, alles an <strong>Alice</strong> gefiel mir, aber es war etwas anderes. Als ob<br />

<strong>Alice</strong> für mich den Wunschtraum dessen verkörperte, was ich für Leben hielt.<br />

<strong>Alice</strong> schien mir anders als alles, was ich bisher kannte. <strong>Mit</strong> ihr ein neues<br />

Revier begründen, so sollte die Welt für mich aussehen.<br />

Übersinnliche Verzückung<br />

Heute Abend konnte ich meinem Rausch noch weiter nachhängen und von <strong>Alice</strong><br />

träumen. Marie nahm ich kaum war. Aber ab Morgen ging für mich das Leben<br />

weiter. Da würde wieder normaler Studienalltag herrschen. Früher hatten<br />

die Menschen Visionen, sahen die Madonna, unseren Herrn Jesus persönlich<br />

oder andere Heilige, die sich bei Erscheinungen so zeigen, und ließen sie etwas<br />

zu sich sagen, heute gehören ekstatische Verzückungen zum normalen Beiwerk<br />

eines üblichen Liebesrausches. <strong>Mit</strong> den Heiligen war es in der Regel einfacher<br />

und ungefährlicher, während heute die Zeit der Ernüchterung <strong>nicht</strong> selten<br />

schmerzliche Überraschungen und Enttäuschungen mit sich bringen kann. Bei<br />

meinem ersten Opernbesuch musste ich auch eine Art ekstatische Verzückung<br />

erlebt haben. Als die Sopranistin ihre Arie beendet hatte, wurde ich aus einem<br />

Traum in einem anderen Land wach. Das hatte ich auch noch nie erlebt, diese<br />

Stimme mit dieser Musik und die Sopranistin im Scheinwerferkegel auf einer<br />

relativ abgedunkelten Bühne. So habe ich es gar <strong>nicht</strong> erkannt, es hat mich<br />

einfach nur in einen Rausch versetzt. Ekstasen waren also <strong>nicht</strong> nur mit Heiligen<br />

und den Geliebten möglich, auch andere Menschen konnten einen in den<br />

Zustand übersinnlicher Verzückung versetzen. So ähnlich würde es bei mir mit<br />

<strong>Alice</strong> auch gewesen sein, aber was hatte ich denn bei ihr gesehen? Licht, Sonne,<br />

Wärme, glückliches Lachen, freudiges Leben, Lust zu scherzen waren keine<br />

mir unbekannten Assoziationen, wenn sie auch nur höchst selten <strong>gemeinsam</strong><br />

im Zusammenhang mit einer Person angesprochen wurden, aber <strong>Alice</strong>, die<br />

Frau, der Mensch, fehlte dabei. Was sie ansprach, dafür habe ich gar keine<br />

Worte, die es beschreiben könnten. Es war nur dieses umfassende Gefühl einer<br />

beglückenden Empfindung, die in den unbewussten emotionalen Tiefen meiner<br />

Psyche ihren Ursprung haben musste. Ein wundervolles Bild, das ich bisher<br />

noch <strong>nicht</strong> gesehen hatte. Es fehlte in meiner Ausstellung, jetzt würde es ein<br />

Prachtstück meiner Sammlung sein. Ein tolles Erlebnis gestern. Böses Erwachen<br />

brauchte ich <strong>nicht</strong> zu befürchten. Wer <strong>Alice</strong> wirklich war, würde sich bei<br />

unseren künftigen Treffen, Gesprächen und Kaffeemeetings gewiss deutlicher<br />

erkennen lassen.<br />

Kirchenliebe<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 9 von 26


Das „Hah“ als Begrüßung war verschwunden. Statt dessen bekam ich jetzt in<br />

gleicher Tonlage, Melodie und Lautstärke ein „Tim“ zu hören, wenn sie mich<br />

traf. Darauf folgten immer ein oder zwei Sätze, in denen sie ihre Freude darüber<br />

zum Ausdruck brachte, mich zu sehen. Sie sagte immer etwas anderes,<br />

wiederholte sich nie. Eine wundervolle Begrüßung. Ich konnte es nur genießen<br />

und einfallslos erklären, dass mich unser Treffen ebenso erfreue. Meistens begegneten<br />

wir uns nur sehr kurz auf dem Wege zu einer Veranstaltung. Etwas<br />

<strong>gemeinsam</strong> belegen, machte keinen Sinn, da <strong>Alice</strong> im ersten und ich schon im<br />

fünften Semester war. Und etwas L’art pour l’art <strong>gemeinsam</strong> zu besuchen, da<br />

gingen wir lieber einen Kaffee trinken, denn dazu kam es wegen der unterschiedlichen<br />

Zeiten kaum noch, so dass wir donnerstags sechzehn Uhr als regelmäßigen<br />

wöchentlichen Termin in der Cafeteria festlegten. Die Barista sang<br />

immer noch <strong>nicht</strong>, aber sie bestätigte, dass ihre Mutter erzählt habe, wie hart<br />

die Frauen früher auf den Reisfeldern gearbeitet hätten und die Freude des <strong>gemeinsam</strong>en<br />

Singens ihnen die Arbeit erleichtert habe. Heute gebe es keine<br />

Reisfelder mehr, und die Frauen könnten nur noch in der Oper singen, erklärte<br />

sie lachend. „In der Kirche, da können sie doch auch singen.“ ergänzte ich. „Ja,<br />

stimmt.“ meinte die Barista, „Aber da geht ja heute keiner mehr hin.“ Ich erklärte<br />

<strong>Alice</strong>, dass ich als Kind gern in die Kirche gegangen sei. „Wegen der<br />

Musik. Da mochte ich alles, die gregorianischen Gesänge des Priesters, auch<br />

die anderen Gesänge in all ihrer Unterschiedlichkeit, vom bösen „Dies irae dies<br />

illa“ bis zu den brausenden Grölgesängen, wie „Fest soll mein Taufbund immer<br />

stehen“. Vor allem aber hat mir die Orgel imponiert. Das ist bis heute so geblieben.<br />

Was in der Kirche erzählt und gebetet wurde, habe ich fast gar <strong>nicht</strong><br />

wahrgenommen, auch wenn es oft quälend lange dauerte. Meine Ohren hatten<br />

dann die Jalousien runter gelassen. Meine Mutter hat mir deutlich gemacht,<br />

dass es sich bei Grimms Märchen <strong>nicht</strong> nur um lustige Geschichten handele,<br />

sondern dass darin auch immer erklärt werde, wie es auf der Welt zuginge<br />

oder zugehen solle. Man lerne zum Beispiel beim Hasen und Igel, dass lange<br />

Beine und eine große Klappe eben doch <strong>nicht</strong> entscheidend seien, sondern dass<br />

es auf das Köpfchen ankomme. Wenn ich alles genau über die Welt wissen wolle,<br />

müsse ich die Bibel lesen. Darin sei alles von Anfang an erklärt. Dass Gott<br />

an einem Tag die Vögel und am anderen die Fische erschaffen hatte, war <strong>nicht</strong>s<br />

Besonderes. So ging es in Wundern eben zu. Dass Adam und Eva sich schämten,<br />

weil sie ungehorsam gewesen waren und einen Apfel stibitzt hatten, war<br />

auch verständlich, ebenso dass sie sich deshalb verstecken wollten. Kleine Kinder<br />

halten sich zum Verstecken die Hände vor die Augen und meinen andere<br />

könnten sie dann auch <strong>nicht</strong> sehen, aber sich große Blätter vor Penis oder<br />

Scheide zu halten, darauf ist außer Adam und Eva noch nie jemand gekommen.<br />

Nur die Menschen machen es bis heute immer noch genauso. Wenn sie<br />

ohne Rock und Hosen Einkaufen, zur Arbeit oder zur Schule gehen sollten,<br />

schämen sie sich, obwohl sie sich da unten <strong>nicht</strong> mehr unterscheiden als bei<br />

ihren Gesichtern und Händen auch. Nicht wegen der Wunder, sondern wegen<br />

der Rätsel und Widersprüchlichkeiten habe ich den Brüdern <strong>nicht</strong> getraut. Deinen<br />

Eltern und Omi und Opi kannst du gut glauben, aber dem Pastor lieber<br />

<strong>nicht</strong>. Nur die Musik war mir so wichtig, dass ich unbedingt hin musste.“ erzählte<br />

ich von meiner Kirchenliebe. „Dann erlebst du sicher heute noch jede<br />

Oper ähnlich wie ein Hochamt in der Kirche. Die Rezitative entsprechen den<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 10 von 26


Predigten und Gebeten.“ verglich es <strong>Alice</strong>. „Alle Komponisten haben doch auch<br />

Missae geschrieben. Viele werden fast nur noch ohne Gottesdienst als Solokunstwerke<br />

aufgeführt. Stell dir mal vor in Beethovens „Missa solemnis“ fing<br />

plötzlich jemand an zu predigen.“ meinte ich dazu. „Ja, toll, <strong>nicht</strong> wahr. Meine<br />

Mutter möchte gern, dass ihr Chor mal Bachs H moll Messe singt. Das sei zu<br />

schwer, sagt die Chorleiterin, aber Mutter wird sich schon durchsetzen. Gehst<br />

du denn auch öfter in Konzerte?“ wollte <strong>Alice</strong> wissen. „Ja, natürlich, ich nehme<br />

alles mit, was an klassischer Musik geboten wird. Als ganz kleines Kind muss<br />

ich wohl schon mit einem Süchtigkeitsvirus nach unseren klanglichen<br />

Harmonien infiziert worden sein. Wahrscheinlich hat meine Mutter während der<br />

Schwangerschaft immer schon fleißig Brahms Lullaby geübt. Nein, aber im<br />

Musikunterricht hat mich auch alles maßlos fasziniert. Ein Komponist wäre ich<br />

gerne geworden, aber dazu gab es gar keine Ansätze. Ein Instrument zu<br />

spielen, ist etwas ganz anderes. Das okkupiert dich und gibt deinem Leben<br />

eine andere Richtung. Es ist <strong>nicht</strong> nur ein Surplus zum Allgemeinen, wenn du<br />

hinterher der Pianomann bist.“ erklärte ich zu meiner Musikliebe.<br />

Er ist so voll Musik<br />

„Das ist Tim, er ist ein Kommilitone und gleichzeitig Opernfetischist.“ stellte<br />

<strong>Alice</strong> mich ihrer Mutter und der Schwester Lucy in der Oper „Der Barbier von<br />

Sevilla“ vor. Die beiden und und ich schmunzelten. „Haben sie denn auch schon<br />

anderes von Rossini gesehen?“ fragte <strong>Alice</strong>s Mutter. „Ja, natürlich,“ antwortete<br />

ich, „La Cenerentola“ in Barcelona. Ihr „Non piu mesta“ hätte mich beinahe<br />

zum Teresa Berganza Fetischisten werden lassen.“ erklärte ich lächelnd, „Die<br />

einzige von den ganz Großen, die ich bislang erlebt habe. In Berlin auf der<br />

Waldbühne könnte man ja immer alle möglichen Stars sehen, aber dafür bin<br />

ich zu faul.“ „Worin liegt denn ihr Fetischismus primär begründet? Ist es der<br />

Gesang, die Musik oder sind es die Frauen in ihren prächtigen Roben, die sie<br />

am Abend in der Oper er<strong>leben</strong>?“ erkundigte sich Frau Lehnsdorf, <strong>Alice</strong>s Mutter<br />

lachend. „Weiß man das bei einem Fetisch so genau? Die Opernkleider sind natürlich<br />

faszinierend, aber ich war immer der Ansicht, dass mich der Gesang neben<br />

der Musik doch mehr begeistern würde.“ antwortete ich. „Hast du meine<br />

Mutter eigentlich schon mal singen gehört? Warst du mal in einer Aufführung<br />

von ihrem Chor?“ wollte <strong>Alice</strong> wissen. Ein wenig verlegen antwortete ich, dass<br />

ich ihren Chor zwar kenne, aber bislang nur Opernchöre gehört hätte, ob der<br />

Chor von Frau Lehnsdorf denn auch in Opern auftrete. „Wir sind zwar alles Laien,<br />

aber das könnten wir bestimmt. Nur wir machen mehr Modernes. Unsere<br />

Chorleiterin ist da sehr findig und innovativ, und es macht uns absolut Spaß.“<br />

erklärte Frau Lehnsdorf. „Mami, du sagst mir eueren nächsten Auftrittstermin<br />

und ich werde Tim mitschleppen.“ kommentierte <strong>Alice</strong>. „Sollen wir <strong>nicht</strong> versuchen,<br />

dass sie bei uns sitzen können? Ich werde mal mit der Nachbarin sprechen.“<br />

schlug Frau Lehnsdorf vor. Das tat sie, verschwand zur Kasse, sprach<br />

wieder mit der Frau auf dem Nachbarplatz, und die wechselte <strong>nicht</strong> auf meinen,<br />

sondern auf einen teureren Platz. „Soll Tim denn allein ganz außen<br />

sitzen?“ fragte <strong>Alice</strong> und schlug vor, „Komm, Lucy, wir nehmen ihn zwischen<br />

uns.“ „Kann er sich denn auch benehmen?“ wollte die wissen, „Oder wird er<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 11 von 26


anfangen, mir gleich am Bein hoch zu krabbeln?“ <strong>Alice</strong> blieb ganz ernst, saugte<br />

die Luft hörbar durch die Nase und meinte mit Ungewissheit ausdrückender Mimik:<br />

„Vorhersagen kann man das <strong>nicht</strong>, aber rechnen wirst du damit schon<br />

müssen. Er ist so voll Musik, weißt du, und die geht ihm bis in die Fingerspitzen.“<br />

lautete <strong>Alice</strong>s Einschätzung. „Ich werd' im schon auf die Finger klopfen,<br />

wenn er das macht.“ reagierte Lucy. „Ich weiß <strong>nicht</strong>, ob man das tun sollte, auf<br />

so musikdurchtränkte Finger einfach draufhauen?“ gab <strong>Alice</strong> kritisch zu bedenken<br />

und Frau Lehnsdorf tippte nur abfällig lächeln mit einem Finger an die<br />

Schläfe. Sonderbar, ich kannte die beiden doch überhaupt <strong>nicht</strong>, hatte sie noch<br />

nie gesehen. Dadurch dass <strong>Alice</strong> mich kannte, war ich wohl direkt Familienmitglied<br />

geworden. Lucy und ich blickten uns öfter lächelnd an, <strong>nicht</strong> mit einem<br />

freundlich distanzierten Lächeln unter Fremden, sondern eher wie Freunde, die<br />

sich gut verstehen. In der Pause unterhielt ich mich mit ihr. Ihr Herz wolle Gesang<br />

studieren oder Dirigentin werden, Schauspielerin gefiele ihr auch noch,<br />

aber weil alles schon zu spät sei und die Perspektiven horrible wären, würde<br />

sie wohl Chemie studieren. „Aber später für Bayer neue Gifte kreieren, das will<br />

ich auch <strong>nicht</strong>.“ meinte Lucy. <strong>Alice</strong> und ihre Mutter hatten sich von der Bar mit<br />

einem Glas in der Hand an den Rand verzogen und gestikulierten beide heftig<br />

mit ihren freien Händen. Wenn sie vielleicht auch keinen Streit hatten, aber<br />

dass sie unterschiedliche Meinungen austauschen mussten, war auf Grund ihrer<br />

Gestik und Körpersprache <strong>nicht</strong> zu leugnen. „Hast du dich mit deiner Mutter<br />

gestritten?“ fragte ich <strong>Alice</strong> anschließend. Deutlich hörbar blies sie ihre Atemluft<br />

genervt durch die vorgewölbten Lippen. „Die spinnt.“ sagte <strong>Alice</strong> nur. Meinen<br />

fragenden Blick beantwortete sie so: „Die will mir beweisen, dass du <strong>nicht</strong><br />

nur ein Kommilitone, sondern mein Freund bist. Lässt gar <strong>nicht</strong> mit sich darüber<br />

reden, hört mir gar <strong>nicht</strong> zu, setzt einfach fest, dass es so ist.“ „Und womit<br />

beweist man so etwas?“ wollte ich Genaueres erfahren. „<strong>Mit</strong> allem. Ronny<br />

gegenüber würde ich mich mit gewisser Distanz wie seine Freundin verhalten,<br />

aber mit dir ginge ich um, als ob du meinen Bruder seist, sagt sie. Ronny gegenüber<br />

sei ich charmant und nett aber auf dich habe ich einen ...“ erklärte<br />

<strong>Alice</strong> und stockte. „Was hast du auf mich?“ wollte ich wissen. „einen Biss.“ sagte<br />

<strong>Alice</strong> lachend und ein wenig verschämt. Ja, das war es. So ähnlich hatte ich<br />

<strong>Alice</strong> auch fast vom ersten Moment an erfahren, vertraut, als ob sie meine<br />

Schwester sei. Offensichtlich brauchst du dazu <strong>nicht</strong> die jahrelange Erfahrung<br />

des <strong>gemeinsam</strong>en Aufwachsens, sondern es kann auch ein spontanes Empfinden<br />

geben, das dir diese Gefühlslage der selbstverständlichen Vertrautheit vermittelt.<br />

Als ob du direkt spürtest, dass die andere und du zu einer imaginierten<br />

<strong>gemeinsam</strong>en Familie gehören würdet. „Lucy mag dich übrigens auch gut leiden.“<br />

erklärte <strong>Alice</strong>, „Das wäre doch was, ihr beiden. Sie hat zur Zeit keinen<br />

Freund. Aber mit ihr ist es gefährlich, sie verscheucht ihre Liebhaber schon<br />

nach kurzer Zeit. Alle <strong>nicht</strong> gut genug. Gesang kann sie <strong>nicht</strong> studieren, aber<br />

die Allüren einer Diva praktiziert sie schon fleißig.“<br />

Schwere Lebenskrise<br />

Die Begrüßung durch 'Tim' hatte im Laufe der Zeit an Lautstärke eingebüßt,<br />

war moderater geworden, und vor den Worten der Freude erfolgte jetzt eine<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 12 von 26


Umarmung. „Tim, du musst mir helfen. Ich befinde mich heute in einer schweren<br />

Lebenskrise.“ verkündete <strong>Alice</strong> eines Tages, als ich mich zum Kaffee setzte.<br />

„Nein, Entschuldigung, damit scherzt man <strong>nicht</strong>. Mir ist auch gar <strong>nicht</strong> zum Lachen<br />

zu Mute. Ich habe es getan, Tim. Ich habe Ronny gesagt, dass wir uns<br />

trennen müssten.“ erklärte <strong>Alice</strong>. Was war denn jetzt geschehen? Noch nie hatte<br />

<strong>Alice</strong> davon gesprochen, dass sie so etwas beabsichtige. Meinetwegen? Nein,<br />

direkt sicher <strong>nicht</strong>, aber indirekt hatte es bestimmt damit zu tun. Sie habe sich<br />

Gedanken über ihre Perspektive gemacht. Dass Ronny sie <strong>nicht</strong> als Partner in<br />

ihrem Leben begleiten könne, sei ihr immer klar gewesen. Er sei ein netter,<br />

lieber Mensch, den sie möge und schätze, aber mit Ronny <strong>gemeinsam</strong>, das<br />

könne <strong>nicht</strong> ihr Leben werden. Es einfach immer so aus Gewohnheit und weil<br />

es im Moment keine Alternative gebe weiter schleppen, das habe sie <strong>nicht</strong><br />

gewollt. Sie hätte es auch vor einem halben Jahr oder in einem halben Jahr<br />

beenden können, warum dann <strong>nicht</strong> jetzt. Mir stand der Mund offen. Wie<br />

konnte man so etwas tun, sich mal rational Gedanken über die Perspektive<br />

machen und beschließen, sich direkt von seinem Freund, einem geliebten<br />

Menschen, seinem Liebsten zu trennen. „Du bist brutal.“ erklärte ich nur.<br />

„Vielleicht kann ich das bei anderen Menschen sein, aber Ronny gegenüber<br />

keinesfalls. Als er weinte, kamen mir auch die Tränen. Wenn du erahnen<br />

könntest, wie sehr ich mir für ihn wünsche, dass er glücklich werden möge. Ich<br />

liebe ihn schon. Er ist ein so guter Mensch, wie man es bei Männern sonst gar<br />

<strong>nicht</strong> vermutet, aber wir beide zusammen, das hat auf Dauer keinen Zweck.<br />

Wir <strong>leben</strong> in anderen Welten. Ich habe ihn ja auch <strong>nicht</strong> als Partner fürs Leben<br />

kennen gelernt, ich fand ihn damals einfach nur ganz nett, und als Schülerin<br />

reicht das für einen Freund.“ erläuterte <strong>Alice</strong>. Mich machte es trotzdem<br />

betreten, auch wenn ich <strong>Alice</strong> <strong>nicht</strong> mehr als brutal sah. Die Trennung von sich<br />

liebenden Menschen will einfach keine freudigen Emotionen zulassen. Mir<br />

wurde deutlich, wie nahe ich <strong>Alice</strong> war und mit ihr zu empfinden trachtete.<br />

„Wen wirst du jetzt heiraten, deinen Vater?“ fragte ich provozierend.<br />

„Blödmann.“ reagierte <strong>Alice</strong>, „Aber mit einem Partner musst du doch mehr<br />

Gemeinsamkeiten auf gleicher Ebene verspüren. Für Ronny war ich die<br />

Überlegene, er hat zu mir aufgeschaut. Das kann dir manchmal schmeicheln,<br />

aber auf Dauer ist das keine Basis.“ meinte <strong>Alice</strong>. „Du suchst einen Mann, zu<br />

dem du aufschauen kannst, <strong>nicht</strong> wahr?“ spottete ich. „Du bist heute so<br />

kratzbürstig, versuchst, mich immer zu ärgern, was ist los mit dir?“ reagierte<br />

<strong>Alice</strong>. „Ich weiß es <strong>nicht</strong>, <strong>Alice</strong>, es ist <strong>nicht</strong>s, was ich benennen könnte. Es<br />

scheint nur ein wenig bewölkter zu sein.“ antwortete ich ihr.<br />

Chorbesuch<br />

Der Chorbesuch bei <strong>Alice</strong>s Mutter glich einem Fest. <strong>Alice</strong> war auch noch nie<br />

nach der Aufführung im Backstagebereich gewesen. In einem großen Garderobenraum<br />

legte man Mäntel und Jacken ab und konnte sich vor Spiegeln ein wenig<br />

zurecht machen. Frau Lehnsdorf stellte uns allen Freundinnen vor. Fast alle<br />

brachten auf irgendeine Art zum Ausdruck, dass sie Interesse an Musik und<br />

Gesang für eine wesentliche Bedingung eines guten Psychologen hielten. Wer<br />

Musik <strong>nicht</strong> verstehe und liebe, könne auch den Menschen <strong>nicht</strong> verstehen.<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 13 von 26


Teilweise vermutete man auch, wir seien beide Kinder von Frau Lehnsdorf oder<br />

eben ein Pärchen, gab uns Tipps für die nächste Aufführung und lobte Frau<br />

Lehnsdorfs gesangliche Qualitäten. <strong>Alice</strong>s Mutter brachte uns nach Hause. Zum<br />

Abschied bekam ich von ihr einen Kuss auf die Wange.<br />

Liebe mit Betrug gibt es <strong>nicht</strong><br />

Ich mochte <strong>Alice</strong> schon sehr, und das Bild von ihr blieb bei unseren Treffen<br />

<strong>nicht</strong> in meiner Ausstellung, tauchte immer auf und ließ sich <strong>nicht</strong> zurückhalten.<br />

Für die Beziehung unter uns war jedoch klar, dass es uns glücklich sein<br />

ließ, gegenseitig so gute, verstehende Freunde zu sein, aber eine darüber hinausgehende<br />

Liebesbeziehung kam in unseren Gedanken <strong>nicht</strong> vor. Durch <strong>Alice</strong>s<br />

Trennung machte sich jedoch ein gewisser Verwirrtheitszustand breit. Wir sprachen<br />

<strong>nicht</strong> direkt darüber, aber unsere Treffen wurden immer vertrauter und<br />

vertraulicher. Nicht mehr wie Bruder und Schwester kam es mir vor, sondern es<br />

hatte eher die Selbstverständlichkeit im Umgang eines altvertrauten Paares an<br />

sich. Das 'Tim' war aus der Begrüßung ganz verschwunden. Wie <strong>gemeinsam</strong><br />

Wissende eines Spionageduos lächelten wir uns an. Nicht französisch, mit huschenden<br />

Küsschen begrüßten wir uns, wir legten für kurze Zeit unsere Wangen<br />

aneinander. Natürlich dauerte es <strong>nicht</strong> lange, bis ich <strong>Alice</strong> auch zum Kaffee<br />

zu Hause besuchte. Wir saßen nebeneinander auf ihrer Couch, und in einem<br />

besinnlichen Moment kam ich mit meinen Lippen auf <strong>Alice</strong>s Gesicht zu. Sie kam<br />

mir <strong>nicht</strong> mit ihren Lippen entgegen, sondern hielt mich an den Schultern zurück.<br />

„Dass ich dich sehr gern mag, brauche ich dir <strong>nicht</strong> zu sagen, Tim. Ich<br />

möchte schon auch gern, dass wir zärtlich zueinander sein könnten, nur wenn<br />

der Tim liebevoll zu mir sein will und weiß, dass er gleichzeitig einem geliebten<br />

Menschen damit sehr weh tun wird, es ihn aber überhaupt <strong>nicht</strong> interessiert,<br />

dann mag ich den gar <strong>nicht</strong>. Seine Küsse werden <strong>nicht</strong> schmecken und seine<br />

Zärtlichkeiten werden mir Schmerzen bereiten. So gefällt er mir <strong>nicht</strong>, der<br />

Tim.“ erklärte <strong>Alice</strong>. Langes Schweigen. Was erwarte sie denn von mir. Einen<br />

Kuss gab es nur, wenn ich mich von Marie trennte? So ein Unsinn. Sagen konnte<br />

ich <strong>nicht</strong>s, schaute wohl nur konsterniert. „Ja, Timmy, so ist das.“ reagierte<br />

<strong>Alice</strong> und strich mir dabei übers Haar, „Sag es Marie, dass du mich küssen wolltest,<br />

und dann berichte mir, wie sie reagiert hat.“ „<strong>Alice</strong>, das ist Schwachsinn,<br />

was du sagst.“ antwortete ich ihr, „Ich ganz allein, meine Gefühle, meine Emotionen,<br />

meine Psyche, mein Herz, was immer du willst, haben dich gesehen,<br />

gemocht und noch viel mehr. Sie haben noch <strong>nicht</strong> einmal mich selbst gefragt,<br />

ob das so sein dürfte, und jetzt soll ich Marie um Erlaubnis bitten, so empfinden<br />

zu dürfen, <strong>Alice</strong>, ich bitte dich.“ <strong>Alice</strong>s Lächeln wirkte ein wenig süß säuerlich.<br />

„Tim, es geht um etwas anderes. Ich will <strong>nicht</strong> die Geliebte von einem<br />

Mann sein, der seine Frau mit mir betrügt. Dafür bin ich mir zu schade. Das<br />

will ich <strong>nicht</strong>, das bin ich <strong>nicht</strong> und werde es auch nie sein. So ein Mann entspricht<br />

<strong>nicht</strong> dem Bild, das ich von einem Mann habe, den ich möglicherweise<br />

lieben könnte.“ erklärte <strong>Alice</strong>, „Deine Gefühle und dein Herz sind <strong>nicht</strong> ganz allein<br />

hier. Du bist kein Schmetterling, der zufällig hier hereingeflogen ist, deine<br />

Geschichte hast du immer bei dir. Nur wegen unserer Geschichte konnten wir<br />

uns überhaupt kennenlernen, und zu deiner Geschichte gehört auch jederzeit,<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 14 von 26


dass du Marie liebst. Du sagst es ihr <strong>nicht</strong>, wie gern du mich magst, weil du<br />

weißt, dass es ihr weh tun würde. Verhältst dich so, als ob es <strong>nicht</strong> existierte.<br />

Das ist <strong>nicht</strong> die Wahrheit, sondern eine Lüge. Du betrügst deine geliebte Marie.<br />

Aber Liebe und Betrug und Lüge das sind Paare die <strong>nicht</strong> zusammen passen<br />

wollen. Eine Liebe mit Betrug kann es <strong>nicht</strong> geben. Du wirst das für dich<br />

klären müssen, Tim, anders geht es <strong>nicht</strong>.“ Reden konnte ich <strong>nicht</strong> mehr viel.<br />

Ich ging bald. Nach Hause? Nein, dafür kam ich mir zu verwirrt vor. Ausweglos<br />

erschien mir meine Situation. <strong>Alice</strong> mochte mich, aber wir durften uns <strong>nicht</strong> lieben,<br />

weil ich sonst Marie betrügen würde. Nur mich von Marie trennen, das<br />

konnte es <strong>nicht</strong> geben. Unsere Beziehung hatte doch mit <strong>Alice</strong> <strong>nicht</strong>s zu tun.<br />

Ich liebte Marie wie eh und je, warum sollte ich da etwas ändern. Der<br />

Spaziergang im Park konnte dazu <strong>nicht</strong>s klären, vielleicht beruhigte er mich ein<br />

wenig.<br />

Mein glückliches Leben<br />

„Ich weiß <strong>nicht</strong>, was ich tun soll.“ klagte ich <strong>Alice</strong>, „Es würde Marie umbringen<br />

und mich genauso. Ich will das auch gar <strong>nicht</strong>. <strong>Mit</strong> Marie ist es etwas völlig anderes,<br />

man kann unsere Beziehungen <strong>nicht</strong> vergleichen.“ „Ich sehe das <strong>nicht</strong><br />

unbedingt so.“ erklärte <strong>Alice</strong>, „Ich habe mein Leben mit Ronny gesehen und<br />

wusste: „Das will ich <strong>nicht</strong>.“ Wenn du dein Leben mit Marie und dein Leben mit<br />

<strong>Alice</strong> siehst, wirst du sagen können, dieses oder jenes ist mir wichtiger, erscheint<br />

mir wertvoller, das möchte ich auf keinen Fall verlieren. Du wirst schon<br />

vergleichen und dich entscheiden können.“ So sah ich es <strong>nicht</strong>, aber 'dein Leben<br />

mit <strong>Alice</strong>', woher kamen denn solche Worte? Das hatte ich mir bislang<br />

<strong>nicht</strong> vorzustellen gewagt, mir versagt, es zu denken. Unsere Beziehung bestand<br />

allein aus den kurzen Momentaufnahmen unserer Begegnungen. Jetzt<br />

hatte <strong>Alice</strong> es benannt. Wie ein Ohrwurm ging es mir immer wieder durch den<br />

Kopf 'dein Leben mit <strong>Alice</strong>', den ganzen Tag, in allen Situationen, immer wieder<br />

tauchte es auf 'dein Leben mit <strong>Alice</strong>'. Vorstellen konnte ich mir darunter zur<br />

Zeit gar <strong>nicht</strong>s, trotzdem war es von einem unsäglichen Wohlklang erfüllt. Nur<br />

mit Marie, das war meine Liebe, mein Leben, mein Glück. Wir beide waren total<br />

gegensätzlich. Während ich eher das Musische, Kulturelle, die Lust am Philosophieren,<br />

des humanen Empfindens und der Einfühlsamkeit verkörperte,<br />

war Marie eine absolute Bewusstseinsfetischistin. Was man <strong>nicht</strong> rational erklären<br />

und kausal begründen konnte, existierte für sie <strong>nicht</strong>. Sie war fest davon<br />

überzeugt, dass Stephen Hawking, seine Apologeten und Nachfolger in <strong>nicht</strong><br />

ferner Zukunft die Weltformel entwickeln würden, und dann sei alles zu erklären.<br />

Zu allem Möglichen äußerte sich Marie in Form apodiktischer Verkündigungen,<br />

mit denen sie <strong>nicht</strong> nur oft völlig daneben lag, sondern die auch böse und<br />

rassistisch durchtränkt sein konnten. Ich musste meistens schrecklich lachen.<br />

Marie reagierte aber keineswegs, als ob ich sie ausgelacht hätte, war böse und<br />

versuchte sich zu verteidigen, sie lachte mit und erkundigte sich, wie ich es<br />

denn sehe und was mir an ihrer Sicht <strong>nicht</strong> gefiele. Oft änderte sie ihre Meinung<br />

völlig, aber es konnte auch vorkommen, dass sie dabei blieb. Die Form<br />

unserer Diskussion war das Entscheidende. Ein Streit zwischen gegensätzlichen<br />

Auffassungen, bei dem sich jeder zu behaupten versuchte, das war uns fremd.<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 15 von 26


Unsere Auseinandersetzungen hatten eher den Charakter eines Liebesspiels,<br />

bei dem jeder dem anderen bedingungslose Anerkennung vermittelt und glühende<br />

Lust empfindet, dem anderen seine Liebe zu verdeutlichen. Nicht selten<br />

landeten wir anschließend im Bett. So hatten wir uns auch kennengelernt. Ich<br />

hatte Marie mit harschen Worten widersprochen, die mir schon peinlich waren,<br />

als ich sie ausgesprochen hatte. Marie reagierte aber völlig anders, als man es<br />

von jedem Menschen erwartet hätte. Freundlich lächelnd fragte sie nach. Das<br />

lässt dich auch anders reagieren. Sie ist <strong>nicht</strong> mehr die Frau mit der dummen<br />

oder unverschämten Ansicht, sondern jemand der dich fragt, der Interesse an<br />

dir hat, deine Meinung hören will. Du nimmst sie anders wahr und verhältst<br />

dich selber anders. Das war so ungewohnt, stand völlig im Widerspruch zu<br />

dem, wie derartige Diskussionen gewöhnlich ablaufen, es ließ mich in Marie<br />

den warmen, milden, verständnisvollen Menschen sehen. Ich war fasziniert von<br />

ihr und wir landeten gleich am ersten Abend <strong>gemeinsam</strong> im Bett. Marie<br />

erkundigte sich, ob das <strong>nicht</strong> ein wenig zu schnell sei. Der Ansicht waren wir<br />

beide, während wir leidenschaftlich das Gegenteil praktizierten. Marie hat mich<br />

Menschen anders sehen lassen. Der raubeinige, vierschrötige Dekan würde<br />

genauso ein Bedürfnis nach Liebe verspüren und sich über Zärtlichkeiten<br />

freuen. Wenn ich ihn mir so vorstellte und mit ihm sprach, schien er es zu<br />

spüren und reagierte freundlicher, netter, als ich es von ihm erwartet hätte.<br />

Maries Rationalität war sicher <strong>nicht</strong>s Aufgesetztes, aber vielleicht war es ein<br />

Schutz, ein Verhalten, das sie sich schon in der Kindheit zugelegt hatte, um die<br />

Verletzlichkeit ihres mild, sanftes Empfindens zu schützen. Eine Freundin wie<br />

Marie zu haben, sie zu lieben und von ihr geliebt zu werden, ließ mich glücklich<br />

empfinden. Das war mein Leben, mein glückliches Leben, das ich hatte. Mein<br />

Leben mit <strong>Alice</strong>? Eine Windsbraut war es, bestand aus offenen Wünschen,<br />

vagen Hoffnungen und blumigen Träumen.<br />

Entscheidungsqualen<br />

„Ich werde das <strong>leben</strong>, was mein Leben ist.“ würde ich <strong>Alice</strong> sagen. Eine Alternative<br />

dazu gebe es <strong>nicht</strong>. Unsere Beziehung sei wunderschön, aber <strong>nicht</strong> mein<br />

Leben, und es gebe keinen Grund, es zu zerstören. Nein, einen triftigen Grund<br />

gab es <strong>nicht</strong>. Ich versuchte es mir vorzustellen, lebe wie bisher glücklich mit<br />

Marie, und <strong>Alice</strong> wird langsam aus meinem Leben verschwinden. Vielleicht hätte<br />

ich es damals noch so regeln können, nachdem wir uns kurz getroffen hatten,<br />

aber jetzt? Lächerlich war der Gedanke. Meine Beziehung zu <strong>Alice</strong> war keine<br />

große Oper, die ich mit einem Finale hätte beenden können. <strong>Alice</strong> hatte in<br />

mir die Grundlage meiner Wünsche, Bedürfnisse und meines Verlangens entwickelt,<br />

die mich nie wieder verlassen würde. Sie war zu einem Teil von mir, meiner<br />

Persönlichkeit heute geworden, den ich niemals vergessen oder wieder<br />

auslöschen könnte. Ein Leben mit Marie, wie vorher ohne <strong>Alice</strong>, würde es <strong>nicht</strong><br />

geben können. <strong>Alice</strong> bliebe immer gegenwärtig. Sie verkörperte ein anderes<br />

Leben, ein Leben in einer anderen Welt, nach dem es mich drängte. Nichts<br />

Fassbares, Greifbares, Sicheres gab es, aber <strong>Alice</strong> berührte etwas tief in mir,<br />

das mich wie eine Sucht danach verlangen ließ. Es quälte mich, immer und immer<br />

wieder. Aus Träumen wachte ich schweißgebadet auf, hatte hässliche Bil-<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 16 von 26


der gesehen, die mich auch im Schlaf noch weiter quälen sollten. Es machte<br />

mich verrückt. Ich konnte Marie doch <strong>nicht</strong> sagen, dass wir unsere Liebe und<br />

unser <strong>gemeinsam</strong>es Leben beenden sollten. Warum denn? Was ich selbst <strong>nicht</strong><br />

verstand, würde Marie erst recht <strong>nicht</strong> verstehen können. Sie konnte mir <strong>nicht</strong><br />

weh tun, kein böses Wort zu mir sagen und ich ihr genauso wenig. In den Semesterferien<br />

blieben wir beide hier, Marie, weil sie ein Praktikum machen<br />

musste und ich, weil ich zu arbeiten hatte. Ich würde es mit Marie besprechen.<br />

Als ein Hirngespinst oder pure Einbildung würde sie meine Empfindungen für<br />

<strong>Alice</strong> <strong>nicht</strong> ansehen. Aber im Grunde waren sie das doch. Sie existierten nur in<br />

meinem Kopf. Aber was ist real, und was existiert nur in deinem Kopf? Sollte<br />

das vielleicht eine irrelevante Frage sein, oder war es entscheidend, was wie in<br />

deinem Kopf existierte. Marie war offen, konnte das, wie sie etwas sah, zur<br />

Disposition stellen. Ich auch? Meine Affinität zu <strong>Alice</strong> rührte <strong>nicht</strong> aus meinem<br />

Bewusstsein, disponibel war sie <strong>nicht</strong>.<br />

Daran denken, dass ich dich liebe<br />

„Tim, du musst mir ein Wort sagen. Ich weiß <strong>nicht</strong>s, ich verstehe <strong>nicht</strong>s. Wenn<br />

du dich vierzehn Tage <strong>nicht</strong> meldest, mache ich mir Sorgen.“ sagte <strong>Alice</strong> am<br />

Telefon. „Entschuldigung, <strong>Alice</strong>, ich bin <strong>nicht</strong> ganz bei mir selbst. Ich sollte lieber<br />

beim Therapeuten sein. Total verrückt bin ich. Das Dümmste, was ich in<br />

meinem Leben gemacht habe. Ich hätte es schon zehn mal rückgängig gemacht,<br />

wenn es ginge. Aber die Worte sind gesagt, zurückholen kann ich sie<br />

<strong>nicht</strong>. Soll ich etwa sagen: „Stimmt alles <strong>nicht</strong>. Hab ich mir nur mal so überlegt.“?<br />

Es trifft ja alles genauso zu. Was ich auch tue, es ist falsch. Wie zwischen<br />

Skylla und Charybdis komme ich mir vor.“ erklärte ich verwirrt. „Aha,<br />

und welches Ungeheuer davon bin ich?“ wollte <strong>Alice</strong> wissen. „Nicht du, <strong>Alice</strong>,<br />

mein Handeln ist das Ungeheuerliche, Verhängnisvolle, so oder so. Drei Tage<br />

haben wir nur geredet und geweint und geweint und geredet. Es ist ja <strong>nicht</strong>s<br />

anders geworden. Ich liebe Marie, nur darf ich <strong>nicht</strong> mehr mit ihr zusammen<br />

sein.“ erläuterte ich. „Meinetwegen?“ fragte <strong>Alice</strong> sehr bestimmt. „<strong>Alice</strong>, ich<br />

muss es schon für mich selbst wollen, was ich tue, das weißt du doch.“ reagierte<br />

ich. „Ich würde dir gerne helfen, wenn ich könnte, aber ich denke, meine<br />

Worte werden im Moment keine große Hilfe für dich sein. Wenn du mir etwas<br />

sagen oder etwas von mir hören möchtest, meldest du dich. Aber, bitte, Tim,<br />

versuche auch trotz all deiner Qualen, daran zu denken, dass ich dich liebe.“<br />

erklärte <strong>Alice</strong>. 'Dass ich dich liebe'? Noch mehr Verwirrung. Natürlich würde <strong>Alice</strong><br />

mich lieben, dessen war ich mir schon sicher, aber gesagt und gehört hatte<br />

es noch niemand von uns beiden. Warum <strong>nicht</strong> und warum dann jetzt? Zufällig<br />

rausgerutscht war es <strong>Alice</strong> sicher <strong>nicht</strong>, auch wenn sie es fast beiläufig erwähnt<br />

hatte. Es war ja <strong>nicht</strong>s Neues, <strong>nicht</strong>s hatte sich verändert, aber <strong>Alice</strong> diese<br />

Worte sagen zu hören, ließ alles erleuchten, machte es zu einem Licht. Eine<br />

sehr große Hilfe waren mir <strong>Alice</strong>s Worte gewesen. Ihr Ziel sei <strong>nicht</strong> ihr Studium<br />

und ihre berufliche Perspektive gewesen, sondern unsere Liebe, hatte Marie<br />

gesagt. Jetzt würde sie ihr Ziel verlieren. Ich wusste <strong>nicht</strong>, was für ein Ziel ich<br />

hatte. Jetzt begann sich eins abzuzeichnen. Trotzdem dauerte es noch, bis ich<br />

mir sicher war, dass mich <strong>nicht</strong> jeden Moment ein Traueranfall überwältigen<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 17 von 26


konnte. Ich hatte mittlerweile eine neue Behausung, Wohnung konnte man es<br />

<strong>nicht</strong> nennen. Dass Maries Eltern ihre Wohnung jetzt ganz allein finanzieren<br />

mussten, würde sie <strong>nicht</strong> stören, Hauptsache sie war diesen <strong>nicht</strong>snutzigen<br />

Psychologen los. Marie mochte ihre Eltern <strong>nicht</strong>. Von ihrer Mutter habe sie die<br />

Haare und von ihrem Vater die Statur, aber ihren Charakter, den habe sie von<br />

ihrem Kindermädchen geerbt, hatte sie gescherzt.<br />

Frierende Seele<br />

Wie zwei Kinder, die sich zum ersten mal trafen, sich aber gleichzeitig schon<br />

seit ewigen Zeiten kannten, standen wir uns gegenüber, starrten uns lächelnd<br />

an und musterten einander, als ob unsere Augen prüfen wollten, dass es auch<br />

stimmte, was sie uns beim ersten Blick gemeldet hatten. Wir würden uns wiedersehen,<br />

das wussten wir ja, aber wir taten so, als ob es geschehen sei, obwohl<br />

wir es <strong>nicht</strong> für möglich gehalten hätten. Wir hatten uns wieder und spürten<br />

wohl, dass sich dafür etwas verändert hatte. Nach der <strong>nicht</strong> enden wollenden<br />

Umarmung saß ich auf der Couch und <strong>Alice</strong> bemutterte mich. Fragte, ob<br />

ich dies gern möchte oder jenes, ob es mir so lieber wäre oder anders. Ob ich<br />

es gern ein wenig wärmer haben würde oder ob es so passend sei. Ich musste<br />

lachen und hielt sie am Arm fest. Sie kniete sich neben mich auf die Couch,<br />

lachte auch und hatte verstanden. „Ja,“ verkündete sie mit langem A, „eine geschundene<br />

Seele muss man doch umhegen, oder?“ „Aber mit der Raumtemperatur?“<br />

gab ich zu bedenken. „Na klar, wenn du auskühlst, friert auch deine<br />

Seele.“ lautete <strong>Alice</strong>s lächelnde Reaktion. „Als wir telefoniert haben, hast du<br />

gesagt, ich solle daran denken, dass du mich liebst. Das hat meine Seele ganz<br />

warm werden lassen. Seid wann weißt du das denn eigentlich?“ fragte ich. „Ich<br />

kann es gar <strong>nicht</strong> sagen, Tim. Nichts in mir hat verkündet: „Jetzt ist es soweit,<br />

<strong>Alice</strong>, jetzt liebst du Tim.“ Ich denke eher es war fast von Anfang an so ähnlich.<br />

Der Kaffe war es <strong>nicht</strong> und ebenso wenig die Atmosphäre in der Cafeteria,<br />

die in mir das Verlangen auslösten, bei dir sein zu wollen. Nicht viel anders ist<br />

das bis heute so geblieben. Ein bisschen stärker ist es wohl geworden. Ich<br />

spinne beim Einschlafen von uns und habe die süßesten Träume. Ich liebe meine<br />

Mutter, ich liebe Lucy, ich liebe meinen Vater, … nein, zu sagen, meine Liebe<br />

zu dir sei noch stärker, ist ein dummer, ein falscher Vergleich. Sie ist anders,<br />

lässt mich etwas anderes spüren. Ja, ich will dich, Tim, <strong>nicht</strong> nur freundliche<br />

Empfindungen spüre ich, so etwas wie ein Verlangen ist es, ist das bei dir auch<br />

so?“ fragte <strong>Alice</strong>. „Ich habe mich mal gefragt, welche reale Basis es für unsere<br />

Liebe gibt. So gut wie keine. Wir reden gern miteinander und lieben beide<br />

Musik, aber sonst ist da im Grunde <strong>nicht</strong>s. Trotzdem empfinde ich es wie eine<br />

Sucht. Nicht an dich zu denken, <strong>nicht</strong> dein Bild vor Augen zu haben, das geht<br />

<strong>nicht</strong>. Ich sehne mich nach unseren Treffen. Ich glaube, es wird Sehnsucht<br />

sein, <strong>Alice</strong>, mit der du mein Verlangen quälst.“ antwortete ich und lachte. „Ich<br />

habe schon nachgedacht, Tim, mich gefragt, ob es <strong>nicht</strong> ein Rausch wäre, und<br />

ob du denn überhaupt der Richtige für mich seist. Viele deiner Verhaltensweisen<br />

und Ansichten könnte man ja auch anders interpretieren, so dass du mir<br />

gar <strong>nicht</strong> mehr als richtiger Mann vorkämst.“ erläuterte <strong>Alice</strong> ihre Gedankengänge.<br />

Ich lachte schallend. „Welche genetischen Unterschiede, außer dass ihm<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 18 von 26


am Kinn Haare wachsen, machen denn für dich den richtigen Mann aus?“ wollte<br />

ich von ihr wissen. „Na ja, süßlich säuselnd schmusen ist vielleicht ganz<br />

schön, aber ein Mann muss auch schon etwas Härteres kennen. Dass er auch<br />

Lust hat, mal mit dir zu kämpfen, so zu balgen, weißt du?“ antwortete <strong>Alice</strong>.<br />

Jetzt bekam ich mich <strong>nicht</strong> wieder ein. „Meinst du <strong>nicht</strong>, dass es auch anderen<br />

Frauen vergönnt sein könnte, ebenso wie du mal Lust zum Toben zu haben?<br />

Oder ist das außer dir nur Männern vorbehalten?“ wollte ich von <strong>Alice</strong> wissen.<br />

Sie lachte auch stumm und überlegte. „Tim, du hast schon Recht. Ich quatsche<br />

sehr dummes Zeug. Bei meinem Bild von dem, was ein Mann ist, handelt es<br />

sich um ein primitives, populistisches Klischee. Ich habe mich aber auch noch<br />

<strong>nicht</strong> intensiver mit Männern befasst, mich haben die Frauen mehr interessiert.<br />

Aber als Freund, sagen mir die naiven Regungen meines Unbewussten, sollte<br />

es doch schon möglichst ein Mann sein.“ erklärte <strong>Alice</strong>. „Manche halten ja die<br />

Frauen für eine Extraspezies des Homo sapiens. Sie haben keine lesbischen<br />

Ambitionen, meinen aber, dass nur Frauen untereinander sich wirklich<br />

verstehen könnten. Männer sind allein zu Fortpflanzungszwecken von Nutzen.<br />

Das siehst du aber <strong>nicht</strong> so, oder?“ erkundigte ich mich. <strong>Alice</strong> lachte. „Am<br />

Vater liegt das bestimmt, wie sie ihren Vater erlebt haben, und da gibt es ja<br />

<strong>nicht</strong> selten das Übelste. Ja, jetzt fällt es mir auf. Wenn ich meinen Vater und<br />

dich abstrahiert von den großen äußerlichen Verschiedenheiten bezogen auf<br />

das Menschliche, Sozialkommunikative hin betrachte, habt ihr sehr viel<br />

Ähnlichkeit miteinander. Und mit Lucy hast du auch Ähnlichkeiten.“ erläuterte<br />

<strong>Alice</strong>. „<strong>Mit</strong> deiner Mutter verbindet mich <strong>nicht</strong>s?“ wollte ich wissen. <strong>Alice</strong> lachte.<br />

„Ich mag es, es gefällt mir, aber sie kommt mir immer noch ein wenig wie die<br />

Chefin vor. Wo soll ich so etwas bei dir denn sehen? Aber wenn du lachst, dann<br />

höre ich immer Lucy lachen, und wenn Lucy lachte, musste ich auch lachen,<br />

ohne zu wissen, worüber. Du hast übrigens Lucy infiziert. Ich glaube, sie ist<br />

verknallt in dich. Sie erkundigt sich immer nach dir, aber ich weiß doch auch<br />

<strong>nicht</strong>s.“ erklärte <strong>Alice</strong>.<br />

Wir werden das alles schaffen<br />

Jeden Nachmittag besuchte ich jetzt <strong>Alice</strong>. Einmal sah sie sich mein Appartement<br />

an, woraufhin wir aber doch zur weiteren Unterhaltung zu ihr fuhren. Wir<br />

redeten nur miteinander. Liebevoll und zärtlich waren unsere Gespräche schon,<br />

wie unter Liebenden im Bett, aber wir saßen dabei nebeneinander auf der<br />

Couch oder am Küchentisch. Zärtliches Streicheln mit den Fingerspitzen gab es<br />

allerdings. <strong>Alice</strong> liebte es, mir beim Reden kitzelnd mit ihrem <strong>Mit</strong>telfinger auf<br />

der Innenseite des Handgelenks zu malen, alles auszuwischen und einen Kuss<br />

darauf zu geben. Zu weitergehender körperlicher Nähe kam es aber <strong>nicht</strong>. Wir<br />

kamen <strong>nicht</strong> darauf, uns zu küssen. Warum <strong>nicht</strong>? Ich kann es <strong>nicht</strong> sagen,<br />

aber es kam mir vor, als ob wir eine stillschweigende Vereinbarung darüber getroffen<br />

hätten. Vielleicht trauten wir uns auch einfach <strong>nicht</strong>, aber was sollten<br />

wir befürchten? Nach gut einer Woche, <strong>Alice</strong> war gerade von draußen gekommen<br />

und hatte noch rote Bäckchen von der winterlichen Kälte, setzte sie sich<br />

breitbeinig bei mir auf den Schoß. „Du,“ sagte sie und boxte mir dabei in die<br />

Magengegend, „wie sieht es in deinem Kopf aus? Ist da schon wieder Platz für<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 19 von 26


Musik und schöne Klänge?“ „Aber ja, ich denke schon. Das bin ich, das ist immer<br />

in mir.“ antwortete ich. „Meine Mutter hat wieder einen Auftritt. Lucy<br />

kommt auch mit. Sie kann dir ja dann ihre Liebe gestehen.“ scherzte <strong>Alice</strong>.<br />

„Dann muss ich ja schon kommen, oder?“ antwortete ich. <strong>Alice</strong> saß direkt vor<br />

mir, schaute sich mein Gesicht genau an und betastete jede Stelle vorsichtig<br />

mit den Fingerkuppen ihrer rechten Hand. Sie kam näher, bis sich unsere Lippen<br />

gegenseitig berührten. <strong>Alice</strong> schaute noch einmal auf, dann schloss sie ihre<br />

Augen und hielt mit ihren Händen meinen Kopf, während wir uns küssten. Wie<br />

Lausbuben schauten wir uns an, grinsten schelmisch, als ob uns ein toller<br />

Streich gelungen sei. <strong>Alice</strong> holte tief Luft, und wir umschlangen uns wieder, um<br />

das Testergebnis zu verifizieren. „Es fühlt sich an, als ob du mich ständig kitzelst.<br />

Ich bin übermütig, möchte etwas Blödsinniges tun, möchte albern sein.<br />

Als ob eine Eisdecke zerbrochen wäre und du jetzt wieder voll lebst. Ich habe<br />

Angst gehabt, habe gedacht jedes Wort könnte falsch sein. Als verletzlich, mit<br />

einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele habe noch <strong>nicht</strong><br />

wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, <strong>nicht</strong> war? Sie ist kein rohes Ei<br />

mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden lassen. Jetzt ist der<br />

Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“ sagte <strong>Alice</strong> und warf<br />

mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles schaffen. Wenn du mal<br />

ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der schwarze Mantel sich wieder<br />

von deinen Schultern hebt. Dass du etwas verloren hast, werden wir beide<br />

<strong>nicht</strong> ungeschehen machen, aber mit deiner Trauer werden wir <strong>leben</strong> können.“<br />

Ja, so würde es sein, wie <strong>Alice</strong> es sagte, genau so. Das wusste ich <strong>nicht</strong>, aber<br />

ich spürte es und es gab mir ein leichtes Hochgefühl ebenso mit Lust zu<br />

Albernheiten und auch auf Ringkämpfe. „<strong>Alice</strong>, es ist so, wenn ich auch dem<br />

Pastor in der Kirche <strong>nicht</strong> glaube, aber an dich glaube ich fest.“ erklärte ich<br />

lachend. „Ich könnte dich verprügeln und gleichzeitig auffressen. Dabei mag<br />

ich doch gar keine Männer. Sie stinken, ihre Haut ist rau und überall sind sie<br />

voller Haare. Es ist schon eine Krux, ein bisschen schöner könnten sie doch<br />

wohl sein.“ offenbarte sich <strong>Alice</strong>. „Schön, was ist schön? Was dein Auge für<br />

schön hält, aber ästhetisch ansehnliche Männerbilder gibt es doch schon, wenn<br />

du zum Beispiel an den David von Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist<br />

Michelangelos Liebe für den Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön,<br />

ich weiß <strong>nicht</strong>. Niemand käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu<br />

bewundern, und die Männer können <strong>nicht</strong> akzeptieren, dass die Evolution es<br />

bei den Menschen andersherum gewollt hat. Das ist ja auch <strong>nicht</strong> so schlimm,<br />

nur ein bisschen handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn<br />

auch Haare auf der Brust? Bestimmt, <strong>nicht</strong> wahr?“ wollte <strong>Alice</strong> wissen. Ich<br />

lachte schon die ganze Zeit und konnte vor Lachen gar <strong>nicht</strong> antworten. „Zeig<br />

mal.“ sagte sie und begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu<br />

ziehen. Sie stoppte, dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder<br />

sollen wir ins Bett gehen? Möchtest du?“ fragte <strong>Alice</strong> fast andächtig mit leicht<br />

unsicherem Unterton. „Ja, ja, ja.“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war<br />

ich erschrocken, völlig überrascht.<br />

Die Kunst der Fuge<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 20 von 26


Welcher kühne Wagemut war heute in <strong>Alice</strong> gefahren. Gerade noch vorsichtig<br />

zum ersten mal geküsst, die Lippen noch <strong>nicht</strong> trocken, will sie schon ins Bett.<br />

Ich nickte nur, was ich mit meinem Grinsen oder Lächeln dabei ausdrücken<br />

wollte, wusste ich selber <strong>nicht</strong>. „Na und?“ fragte <strong>Alice</strong>, als wir uns ausgezogen<br />

hatten. „Was, na und?“ ich darauf. „Na, wie findest du mich?“ antwortete <strong>Alice</strong>,<br />

während wir uns umschlangen. Bei meiner Antwort: „Ich finde, dass du außergewöhnlich<br />

viel Ähnlichkeiten mit einer Frau hast.“ ließen wir uns aufs Bett fallen.<br />

„Komm, wir kriechen unter die Decke, sonst wird’s gleich kühl.“ schlug <strong>Alice</strong><br />

vor. „Weißt du, dass man über Liebe keine Witze macht, das sehe ich ja<br />

auch so. <strong>Mit</strong> der Liebe zu scherzen, das passt <strong>nicht</strong>, aber beim Sex? Sex soll<br />

doch Spaß machen, oder?“ meinte <strong>Alice</strong>. „Na ja, voll darauf einlassen musst du<br />

dich aber schon, sonst erlebst du nix.“ lautete meine Ansicht. <strong>Alice</strong> meinte bedenklich:<br />

„Aber mit Liebe oder Ähnlichem hat Sex doch <strong>nicht</strong>s zu tun. Ist doch<br />

nur ein rein physiologischer Prozess. Schau doch mal, fast alle Männer und<br />

Frauen masturbieren, sind die etwa in ihre Finger oder Dildos verliebt?“ fragte<br />

<strong>Alice</strong> rhetorisch. „Wenn es sich um Pianisten handelt, kann das schon sein.“<br />

wand ich ein. „Sag mal was ist eigentlich mit dir?“ wobei <strong>Alice</strong> die Lage mit<br />

verdächtig, besonders ernster Mimik zu sondieren suchte, „Bist du schüchtern,<br />

oder bei Frauen ein bisschen verklemmt?“ Lachend antwortete ich: „Nein, <strong>nicht</strong><br />

dass ich wüsste.“ „Und warum liegst du dann so steif neben mir, berührst mich<br />

gar <strong>nicht</strong>, fasst mich gar <strong>nicht</strong> an? Mein Körper interessiert dich <strong>nicht</strong>, wie?<br />

Hier, fühl doch mal meine Depeschen, das fühlt sich doch gut an, oder?“<br />

erklärte <strong>Alice</strong>, wobei sie meine Hand nahm und sich auf die Brust legte. Mein<br />

Zwerchfell befand sich in einem Zustand, dass ich jederzeit losplatzen konnte.<br />

Dass sie dazu etwas sagen musste, war <strong>Alice</strong> wohl ohne meine Frage klar. „Als<br />

ich das Wort zum ersten mal gelesen habe, war aus dem Zusammenhang<br />

schon ersichtlich, dass es sich um so etwas wie schnelle Post handeln musste,<br />

aber das Wort, ich hatte es noch nie gehört. Der Klang ist doch göttlich, sanft,<br />

weich und schwabbelig. Ist das denn <strong>nicht</strong> ein absolut passendes Wort?“ fragte<br />

<strong>Alice</strong>. „In der Tat, <strong>Alice</strong>, deine Brüste fühlen sich exakt an wie Depeschen.“<br />

wobei ich wegen des Lachens die Wörter fast nur stakkatomäßig, einzeln<br />

hervorbringen konnte. Wir lachten und streichelten uns dabei die Wangen. „Du<br />

wirst bestimmt noch mehr schöne Wörter wissen.“ vermutete ich. „Was sagst<br />

du zum Beispiel dazu?“ fragte ich, während ich meine Hand auf ihren<br />

Venushügel gelegt hatte. <strong>Alice</strong> grinste schelmisch. „Die Antischamfuge ist das,<br />

mein Süßer.“ antwortete sie lächelnd. „Erkläre es mir.“ bat ich. „Anti-Scham,<br />

hört sich doch gut an und ist frauenfreundlich. Die Scham ist vorbei für uns<br />

Frauen, das weißt du doch.“ erläuterte <strong>Alice</strong>. „Ja, ja, und Fuge? Das ist ja klar,<br />

solange deine Labien noch <strong>nicht</strong> verschmolzen sind.“ kommentierte ich, aber<br />

<strong>Alice</strong>s Mimik nahm eher säuerliche Züge an, die verdeutlichten, dass ihr das<br />

von mir Gesagte, wohl überhaupt <strong>nicht</strong> zu behagen schien. „Natürlich existiert<br />

da ein Zwischenraum. Da hast du schon Recht, aber niemals geht es um die<br />

Elemente oder die Distanz, die sie trennt, sondern um den Prozess, wie du<br />

damit umgehst, um dein Handeln und Verhalten. Eine Frau glücklich zu<br />

machen und sexuell zu befriedigen, das ist die Kunst der Fuge. Ein Kunstwerk,<br />

das Bach nur für ein Thema beendet hat. Es ist offen, wir können immer neue<br />

Themen aussuchen, und immer neue Präludien und Fugen können dazu<br />

komponiert werden.“ „Als Komposition eines musikalisch Kunstwerkes<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 21 von 26


empfindest du es also, sich zu lieben, sehr schön. Und die Kunst der Fuge<br />

endet im Crescendo?“ wollte ich wissen. „Nein, um Himmels Willen, das ist<br />

doch vorher, da darf sie doch <strong>nicht</strong> enden.“ <strong>Alice</strong> entrüstet. „Im Furioso<br />

vielleicht oder im Fortissimo mit vier F?“ bot ich an. „Ja schon eher, oder con<br />

Fuoco, feurig, aber so kann ja auch schon eher gespielt werden, <strong>nicht</strong> wahr.“<br />

meinte <strong>Alice</strong>. Wir machten uns noch weitere Gedanken, wann welche der uns<br />

bekannten musikalischen Vortragsarten bei der Kunst der Fuge zum Einsatz<br />

kämen. „Und mein Schwanz das ist dann der Kontrapunkt, <strong>nicht</strong> wahr?“<br />

erkundigte ich mich nach der Funktion in <strong>Alice</strong>s erotisch-musikalischer Diktion.<br />

Nochmal dieses angewiderte Gesicht. „Oh Gott, Tim.“ entfuhr es <strong>Alice</strong>,<br />

während sie mich mitleidig streichelte. „Du bist ganz stark dem Slang<br />

verhaftet, <strong>nicht</strong> wahr? Benutzt einfach diese dummen, ekeligen Wörter, weil sie<br />

sie alle gebrauchen. Und dabei soll Sex Spaß machen? Das unverzichtbare<br />

Fugenmorphem ist es, worüber du verfügst.“ gab mir <strong>Alice</strong> zu verstehen. Ich<br />

verstand aber <strong>nicht</strong>s, musste allerdings trotzdem schrecklich lachen. „Schau,<br />

wenn du aus zwei Wörtern, aus Liebe und Lied, ein Wort machen willst, muss<br />

in die Fuge zwischen den beiden Wörtern ein Buchstabe geschoben werden, ein<br />

s. Erst dadurch entsteht das <strong>gemeinsam</strong>e, das eine Wort 'Liebeslied'. Das s ist<br />

das Fugenmorphem, erst damit kann es zu einem werden.“ erläuterte <strong>Alice</strong>.<br />

„Ja, sehr verständlich und sehr durchdacht, aber deine Kunst der Fuge kommt<br />

ganz ohne Kontrapunkt aus?“ erkundigte ich mich. Ich weiß <strong>nicht</strong>, ob <strong>Alice</strong> sich<br />

das alles vorher ausgedacht oder ad hoc entwickelt hatte, aber dass sie Sex<br />

anders, musischer, beschwingter, freudiger sehen und er<strong>leben</strong> wollte, das war<br />

bestimmt so. Beim Kontrapunkt musste sie auch kurz überlegen, aber dann fiel<br />

es ihr ein. Lächelnd nahm sie meinen <strong>Mit</strong>telfinger und legte ihn auf ihre<br />

Klitoris. „Spürst du ihn?“ fragte sie, „Ich auch. Zur Kunst der Fuge gehört, dass<br />

ich den Kontrapunkt während der gesamten Inszenierung spüre. Er muss<br />

immer beachtet werden.“ <strong>Alice</strong> und ich wollten <strong>gemeinsam</strong> ins Bett, aber ich<br />

war mit ihr in einer komischen Oper über sexuellen Sprachgebrauch gelandet.<br />

Nein, es waren <strong>nicht</strong> nur andere Namen für das Gleiche, die Wörter<br />

veränderten das, worüber sie sprachen. Die Bilder in meinem Kopf konnten<br />

<strong>nicht</strong> mehr die alten sein, wenn ich jetzt an Sex dachte.<br />

Männer sind schön, ja?<br />

Während wir schmusend und küssend über die Einwirkung von Zentrifugal- und<br />

Zentripetal Kräften bei der Kunst der Fuge scherzten, fiel mir der Anlass für<br />

unseren <strong>gemeinsam</strong>en Bettaufenthalt ein. „Meine Liebste, du wolltest meine<br />

Behaarung überprüfen. Ist dir das so unwichtig, das du es schon wieder vergessen<br />

hast?“ erinnerte ich. „Ja, stimmt, lass mal fühlen.“ reagierte <strong>Alice</strong>, während<br />

sie mit einer Hand kreuz und quer über meine Brust strich. „Du hast ja<br />

gar keine Haare und ganz weich ist deine Haut auch.“ verkündete <strong>Alice</strong> erschrocken,<br />

als ob sie mit einem Wunder konfrontiert worden wäre. „Weißt du,<br />

<strong>Alice</strong>, mein Vater hat keine Haare auf der Brust, mein Cousin ebenfalls <strong>nicht</strong>,<br />

bei anderen nehme ich es gar <strong>nicht</strong> wahr, weil es selbstverständlich ist. Vielleicht<br />

gibt es mehr Männer, die keine Haare auf der Brust haben als welche mit<br />

Haaren.“ erklärte ich. „Und weiche Haut? Gibt es auch mehr Männer mit wei-<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 22 von 26


cher Haut?“ wollte <strong>Alice</strong> wissen. Lachend erklärte ich: „<strong>Alice</strong>, das kann ich<br />

überhaupt <strong>nicht</strong> sagen, weil es wirklich absolut selten vorkommt, dass ich andere<br />

Männer auf die Beschaffenheit ihrer Haut befühle.“ <strong>Alice</strong> hatte sich neben<br />

mich gekniet und streichelte abwechselnd mit ihren Wangen über meine Brust.<br />

Zwischendurch roch sie an meinen Achseln, erklärte dabei: „Und stinken tust<br />

du auch <strong>nicht</strong>. Ich mag das, wie du riechst. Alles nur Vorurteile, alles nur Klischees,<br />

<strong>nicht</strong> war? Männer haben keine Haare, stinken <strong>nicht</strong> und haben eine<br />

zarte Haut. Männer sind schön, ja?“ sagte es und lachte. Ich gab ihr einen<br />

Klaps auf den Po. Rangeleien waren die Folge, und <strong>Alice</strong> bat, ich möge ihr den<br />

Rücken streicheln. „Nein, so ein bisschen mehr massieren, verstehst du?“ wies<br />

sie noch hin. Vom Nacken bis zu den Fersen massierte ich <strong>Alice</strong>. Bestimmt<br />

empfand sie darin das Präludium, das Teil der Kunst der Fuge war. Ob man<br />

beim Sex bei der Sache sein sollte oder konnte, ich musste jedenfalls immer<br />

Lachen. „<strong>Alice</strong>, ich kann <strong>nicht</strong>. Ich muss immer an den Kontrapunkt und die<br />

Depeschen denken.“ unterbrach ich. <strong>Alice</strong> grinste. „Das ist doch <strong>nicht</strong> schlimm,<br />

dann spielen wir diese Fuge eben dalle risate, mit Lachen.” schlug sie vor.<br />

„Nein, das geht <strong>nicht</strong>. Das wird nix.“ lehnte ich ab. „Was willst du denn? Willst<br />

deine Slang-Wörter benutzen, nur dann gefällt dir Sex?“ erkundigte sich <strong>Alice</strong><br />

ein wenig mürrisch. „Nein, bitte, <strong>Alice</strong>, keinesfalls, deine Sprache ist<br />

wunderschön, nur welche Frau nennt denn ihre Brüste Depeschen?“ fragte ich<br />

lachend. „Keine, das macht es ja eben. Es ist unser persönlicher Code. Stell dir<br />

vor, wir wären bei einer Veranstaltung oder auf einer Fète und man würde<br />

sagen: „Komm, lass uns nach Hause gehen, ficken.“ <strong>Alice</strong> gab Würgelaute von<br />

sich. „Wie schrecklich so zu sprechen, wie ekelig so etwas hören zu müssen,<br />

und dabei ist es auch noch so falsch. Wenn du aber sagtest: „<strong>Alice</strong>, wollen wir<br />

<strong>nicht</strong> nach Hause gehen und noch ein wenig die Kunst der Fuge üben?“ Ein<br />

Wohlklang wäre es für meine Ohren und mein Gesicht würde dir ein freundlich<br />

verstehendes Lächeln schenken. Verstehen kann es sonst niemand. Die<br />

denken, würden meinen, wir wollten noch Klavier spielen.“ begründete es<br />

<strong>Alice</strong>. „Es sind <strong>nicht</strong> nur deine speziellen Worte, es kommt mir vor wie eine<br />

eigene Welt, deine Welt der körperlichen Liebe.“ verstand ich es. „Natürlich,<br />

das ist meine Sexualität und <strong>nicht</strong> die der Leute, die von Titten, Ficken,<br />

Schwanz und Fotze reden. Wie ich damit umgehe, ist ganz allein meine<br />

Entscheidung. Niemand wird mich zwingen die Worte zu benutzen, die <strong>nicht</strong> zu<br />

mir und <strong>nicht</strong> zu dem was sie bezeichnen passen. Es gibt kein Argument, das<br />

wertloser ist, als zu sagen, dass alle es so tun. Ob du deshalb besonders<br />

kritisch bist? Ich weiß es <strong>nicht</strong>. Ich denke, dass es eher eine<br />

Charaktereigenschaft ist, die dir ganz früh vermittelt wird, ob du es bevorzugst<br />

allem nachzulaufen, oder deinen eigenen Weg finden willst. Du hast ja auch<br />

schon als Kind gesagt, dass man den Brüdern von der Kirche <strong>nicht</strong> trauen<br />

kann, obwohl doch alle Leute an die Bibel glauben. Entscheidend ist, das du an<br />

dich selbst glaubst. Als kleines Kind tust du das auch, da bist du ganz du<br />

selbst, bis dir später klar gemacht wird, dass andere es besser wissen, was du<br />

zu tun und zu glauben hast.“ erklärte <strong>Alice</strong>. Diese Fuge begann <strong>nicht</strong> nur mit<br />

einem Präludium sondern war auch gekennzeichnet durch ein ausführliches<br />

Interludium. Die Umarmung und das Küssen zur Bestätigung unseres<br />

gegenseitigen Verstehens brachte uns auch körperlich wieder zusammen. „Du<br />

hast Recht, Tim.“ erklärte <strong>Alice</strong> lachend, mich erschöpft umarmend, „Nur Liebe<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 23 von 26


ist es, Sex ist nur Liebe. Natürlich mögen physiologische Prozesse ablaufen,<br />

aber das ist so irrelevant. Die Kunst der Fuge kannst du nur mit Liebe<br />

komponieren, ohne Liebe geht es <strong>nicht</strong>.“<br />

Cavalleria Rusticana mit Butterkremtorte<br />

<strong>Alice</strong> musste wohl den ganzen Tag über noch weiterhin die Klänge der Fuge<br />

vom Vorabend vernehmen, <strong>nicht</strong> nur ihre Fröhlichkeit und ihr häufiges Lachen<br />

ließen das vermuten, vor allem ihre Bewegungen, die öfter in einzelnen<br />

Schrittfolgen zum Ausdruck brachten, dass sie dabei sei, die Fuge zu tanzen.<br />

Ich dachte <strong>nicht</strong> nur in glücklicher Freude an den gestrigen Abend, es hatte<br />

mich tief beeindruckt und stimmte mich nachdenklich. Auch wenn es sehr kalt<br />

war, mussten wir am Nachmittag spazieren gehen. „Der Mensch ist eigentlich<br />

dazu bestimmt, draußen, in der Natur zu <strong>leben</strong>. Schau mal in deinem Paradies<br />

gab's für Adam und Eva auch kein Haus. Gott kennt keine Häuser, er ist allgegenwärtig.<br />

Auf die Idee, die Menschen in Kästen einzusperren, sind erst die Architekten<br />

gekommen. Dass sie dabei <strong>nicht</strong> Gottes weisen Ratschlüssen gefolgt<br />

sein können, siehst du überall um dich herum. Meine erste Oper habe ich<br />

schon als ganz kleines Kind gesehen. Meine Mutter hatte mir etwas erklärt,<br />

aber das spielte gar keine Rolle. Die geschäftigen Landleute waren auch fast<br />

immer draußen. Verstanden habe ich <strong>nicht</strong>s, aber ich war begeistert. Cavalleria<br />

Rusticana, ich sah nur die warme Atmosphäre, die singenden Menschen und<br />

die wundervolle Musik. Es gibt ja heftige Auseinandersetzungen, aber mir schien<br />

es wundervoll harmonisch. Mein Bild stimmte mich glücklich. Wenn jemand<br />

gesagt hätte, da ist aber etwas falsch, das musst du so und so sehen, ich wäre<br />

böse geworden. Das war meine Cavalleria Rusticana, sie gehörte mir, so liebte<br />

ich sie, da hatte niemand etwas dran zu sagen. So bunt, so warm und so voll<br />

Gesang und Musik hätte ich mir das Leben bei uns gewünscht, aber es war voll<br />

von disharmonischen Klängen, Gegensätzen und allem was <strong>nicht</strong> zueinander<br />

passte und sich gegenseitig weh tat. Als ich in die Schule kam, musste das Leben<br />

dort meine Cavalleria Rusticana sein, das wusste ich und habe mir alles so<br />

vorgestellt. Die Schülerinnen und Schüler waren die geschäftigen Landleute<br />

und die Lehrerin war Turiddus Mutter, deren Wohlklang ich gerne hörte. „Du<br />

träumst manchmal, <strong>Alice</strong>.“ sagte sie. „Das ist doch schön. Träumen sie <strong>nicht</strong><br />

gern?“ antwortete ich. Sie lächelte und strich mir übers Haar. „Das, was du in<br />

ihr siehst, ist deine Welt. Wenn du nur das Gewöhnliche, Übliche und was<br />

schon immer deine Gewohnheit war siehst, muss es doch sehr öde sein. Aber<br />

es ist auch <strong>nicht</strong> leicht, etwas anderes zu sehen. Das Bekannte und Gewohnte<br />

drängt sich dir immer auf, und du brauchst auch Mut, deine eigene Welt, so wie<br />

sie zu dir passt, erkennen zu können und zu sehen.“ erzählte <strong>Alice</strong>. Als wir am<br />

Café vorbei kamen, wollte sie einen Kaffee trinken. „Und ein Stück Buttercremtorte<br />

brauche ich jetzt.“ sagte <strong>Alice</strong>. Im Café hatten sie aber im Moment nur<br />

andere aber keine Buttercremtorte. Wir sollten in die Stadt fahren, sie brauche<br />

jetzt unbedingt ein Stück Buttercremtorte. „Magst du die so gerne?“ erkundigte<br />

ich mich. „Ich weiß es <strong>nicht</strong>, ich habe sie noch nie gegessen. Meine Mutter<br />

schwärmte davon, dass sie die als Kind so gern gegessen habe. Voll fett, cremig-matschig<br />

und opulent habe ich sie mir immer vorgestellt, und genau das<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 24 von 26


entepricht meiner Gefühlslage jetzt. Deshalb brauche ich unbedingt ein Stück<br />

Buttercremtorte.“ erläuterte <strong>Alice</strong>. „Du machst auf mich eher einen leichten<br />

und beschwingten Eindruck, wie passt das zusammen?“ wollte ich wissen. „Na<br />

ja, bei der Oper ist es ja <strong>nicht</strong> anders. Die Musik spricht deine feinsten und zartesten<br />

Empfindungen an, aber die Opernhäuser sind wie Buttercremtorten, voll<br />

fett und opulent.“ antwortete <strong>Alice</strong>. Ich bestellte mir auch ein Stück Buttercremtorte.<br />

Schelmisch grinsten wir uns an, verharrten einen Moment und platzten<br />

los vor Lachen, denn weder den Geschmacksempfindungen von <strong>Alice</strong> noch<br />

mir schien diese opulente, fettig-matschige Creme zu schmeicheln. Aber damit<br />

würde man zu rechnen haben in <strong>Alice</strong>s Revier. Ihr neues, eigenes hatte sie<br />

längst gefunden. Sie wünschte sich, dass es auch zu meinem werden möge.<br />

Dann sah und würde mein Leben mit <strong>Alice</strong> so aussehen und sich so gestalten<br />

mit viel ungewohnt Neuem und vielen Überraschungen, <strong>nicht</strong> nur Buttercremtorten.<br />

Das Leben als Kunst der Fuge<br />

Auch wenn du jenes <strong>nicht</strong> mitmachst oder diese besonderen Vorlieben hast, im<br />

Allgemeinen läuft dein Leben doch so ab, wie bei den meisten, wie es gewöhnlich<br />

so läuft. Du bist es gewohnt, dich vom Leben <strong>leben</strong> zu lassen, ob beim Sex<br />

oder in der Schule oder auch sonst wo. Du kritisierst vielleicht das eine oder<br />

andere, lebst aber gewöhnlich so, wie sie alle eben so <strong>leben</strong>. Im Grunde hast<br />

du dein Leben an die Allgemeinheit abgegeben. Du lässt für dich <strong>leben</strong>. „Das<br />

ist mein Leben und was darin geschieht und wie es sich gestaltet, muss zu mir<br />

passen und ich entscheide darüber. Es gehört nur mir und keinem von den anderen.“<br />

so sah es <strong>Alice</strong>. Nicht nur ihre Sexualität, ihr gesamtes Leben gestaltete<br />

sie wie die Kunst der Fuge, und ihr Thema lautete in allen Variationen immer<br />

und immer wieder <strong>Alice</strong>.<br />

FIN<br />

Together mit <strong>Alice</strong> <strong>leben</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>next</strong> <strong>door</strong> – Seite 25 von 26


Il en est du véritable amour<br />

comme de l'apparition des esprits: tout le monde en parle, mais<br />

peu de gens en ont vu.<br />

La Rochefoucauld<br />

„Als verletzlich, mit einer offenen Wunde habe ich dich gesehen. Deine Seele<br />

habe noch <strong>nicht</strong> wieder eine feste Schale. Hat sie jetzt aber, <strong>nicht</strong> war? Sie ist<br />

kein rohes Ei mehr. Deine Reaktion auf die Musik hat mich mutig werden<br />

lassen. Jetzt ist der Punkt, an dem ich einen Mann zum Kämpfen brauche.“<br />

sagte <strong>Alice</strong> und warf mich dabei auf die Couch. „Tim, wir werden das alles<br />

schaffen. Wenn du mal ganz traurig bist, dann weinst du eben, bis der<br />

schwarze Mantel der Melancholia sich wieder von deinen Schultern hebt. Dass<br />

du etwas verloren hast, werden wir beide <strong>nicht</strong> ungeschehen machen, aber mit<br />

deiner Trauer werden wir <strong>leben</strong> können.“ Ja, so würde es sein, wie <strong>Alice</strong> es<br />

sagte, genau so. Das wusste ich <strong>nicht</strong>, aber ich spürte es und es gab mir ein<br />

leichtes Hochgefühl ebenso mit Lust zu Albernheiten und auch auf Ringkämpfe.<br />

„<strong>Alice</strong>, es ist so, wenn ich auch dem Pastor in der Kirche <strong>nicht</strong> glaube, aber an<br />

dich glaube ich fest.“ erklärte ich lachend. „Ich könnte dich verprügeln und<br />

gleichzeitig auffressen. Dabei mag ich doch gar keine Männer. Sie stinken, ihre<br />

Haut ist rau und überall sind sie voller Haare. Es ist schon eine Krux, ein<br />

bisschen schöner könnten sie doch wohl sein.“ offenbarte sich <strong>Alice</strong>. „Schön,<br />

was ist schön? Was dein Auge für schön hält, aber ästhetisch ansehnliche<br />

Männerbilder gibt es doch schon, wenn du zum Beispiel an den David von<br />

Michelangelo denkst.“ wand ich ein. „Das ist Michelangelos Liebe für den<br />

Knaben, die hat er gut rüber gebracht, aber schön, ich weiß <strong>nicht</strong>. Niemand<br />

käme auf die Idee, das prächtige Pfauenweibchen zu bewundern, und die<br />

Männer können <strong>nicht</strong> akzeptieren, dass die Evolution es bei den Menschen<br />

andersherum gewollt hat. Das ist ja auch <strong>nicht</strong> so schlimm, nur ein bisschen<br />

handlicher könnten sie doch wenigstens sein. Hast du denn auch Haare auf der<br />

Brust? Bestimmt, <strong>nicht</strong> wahr?“ wollte <strong>Alice</strong> wissen. Ich lachte schon die ganze<br />

Zeit und konnte vor Lachen gar <strong>nicht</strong> antworten. „Zeig mal.“ sagte sie und<br />

begann, mir Oberhemd und T-Shirt aus der Hose zu ziehen. Sie stoppte,<br />

dachte nach und musterte mich mit ihrem Blick. „Oder sollen wir ins Bett<br />

gehen? Möchtest du?“ fragte <strong>Alice</strong> fast andächtig mit leicht unsicherem<br />

Unterton. „Ja! Ja! Ja!“ hätte ich rufen müssen, aber gleichzeitig war ich<br />

erschrocken, völlig überrascht.<br />

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