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Silke kann noch träumen

Aber davon konnte er nur sinnierend träumen. Er musste arbeiten und saß in seinem Behandlungszimmer. „Frau Fehrenbach zu Dr. Pohle, bitte.“ tönte es aus dem Lautsprecher im Wartezimmer. Florian Pohle war Arzt in einer Ge­meinschaftspraxis und Frau Fehrenbach eine neue Patientin. Eine neue Patien­tin mit vierzig Jahren hatte er zwar nicht jeden Tag, aber unüblich war es nicht. Als die Tür aufging schaute Florian Pohle kurz, riss seine Augen auf, stürmte lachend hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte die neue Patientin. „Silke, wo kommst du her?“ fragte er überrascht, weil ihm nichts Gescheiteres einfiel. „Silke, meine Liebste, wo steckst du?“ „Na hier, genau wie du.“ antwortete sie lächelnd. „Eine Patientin hatte als Hausarzt Dr. Pohle angegeben, und da musste ich mich doch mal genauer informieren.“ Florian starrte sie nur an. Vor zwanzig Jahren hatten sie sich einfach so aus den Augen verloren. Ihr Studentenkabarett „Die fünf Scharfrichter“, das sie nach den historischen „Elf Scharfrichtern“ benannt hatten, löste sich auf. Sie hatten zwar Erfolge, aber verstanden sich untereinander nicht mehr. Silke, die wie ein Groupie an allem beteiligt war, aber nie auf die Bühne ging, stand immer zu Florian. Mit ihm hatte sie am meisten zu tun, und sie mochten sich wohl auch, aber mehr war da nicht. Jetzt waren bei Florian plötzlich die alten Zeiten wieder lebendig, wie sie gemeinsam die Texte zusammengeschustert und die Auftritte geplant hatten, und immer war Silke mit dabei. „Was machst du? Wo praktizierst du? Und wieso heißt du nicht mehr Bäumer?“ fragte Florian und grinste. Alles mussten sie klären, trafen sich öfter, natürlich nicht in der Praxis. Völlig verschiedene Leben waren es, damals und heute. Silke und Florian versuchten ein neues, einer Knospe im Frühling gleich.

Aber davon konnte er nur sinnierend träumen. Er musste arbeiten und saß in seinem Behandlungszimmer. „Frau Fehrenbach zu Dr. Pohle, bitte.“ tönte es aus dem Lautsprecher im Wartezimmer. Florian Pohle war Arzt in einer Ge­meinschaftspraxis und Frau Fehrenbach eine neue Patientin. Eine neue Patien­tin mit vierzig Jahren hatte er zwar nicht jeden Tag, aber unüblich war es nicht. Als die Tür aufging schaute Florian Pohle kurz, riss seine Augen auf, stürmte lachend hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte die neue Patientin. „Silke, wo kommst du her?“ fragte er überrascht, weil ihm nichts Gescheiteres einfiel. „Silke, meine Liebste, wo steckst du?“ „Na hier, genau wie du.“ antwortete sie lächelnd. „Eine Patientin hatte als Hausarzt Dr. Pohle angegeben, und da musste ich mich doch mal genauer informieren.“ Florian starrte sie nur an. Vor zwanzig Jahren hatten sie sich einfach so aus den Augen verloren. Ihr Studentenkabarett „Die fünf Scharfrichter“, das sie nach den historischen „Elf Scharfrichtern“ benannt hatten, löste sich auf. Sie hatten zwar Erfolge, aber verstanden sich untereinander nicht mehr. Silke, die wie ein Groupie an allem beteiligt war, aber nie auf die Bühne ging, stand immer zu Florian. Mit ihm hatte sie am meisten zu tun, und sie mochten sich wohl auch, aber mehr war da nicht. Jetzt waren bei Florian plötzlich die alten Zeiten wieder lebendig, wie sie gemeinsam die Texte zusammengeschustert und die Auftritte geplant hatten, und immer war Silke mit dabei. „Was machst du? Wo praktizierst du? Und wieso heißt du nicht mehr Bäumer?“ fragte Florian und grinste. Alles mussten sie klären, trafen sich öfter, natürlich nicht in der Praxis. Völlig verschiedene Leben waren es, damals und heute. Silke und Florian versuchten ein neues, einer Knospe im Frühling gleich.

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Carmen Sevilla<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen<br />

Frühlingswetter für Dr. Pohle<br />

Erzählung<br />

On revient toujours à ses premiers amours<br />

Etienne »Joconde«<br />

Aber davon konnte er nur sinnierend träumen. Er musste arbeiten und saß in<br />

seinem Behandlungszimmer. „Frau Fehrenbach zu Dr. Pohle, bitte.“ tönte es<br />

aus dem Lautsprecher im Wartezimmer. Florian Pohle war Arzt in einer Gemeinschaftspraxis<br />

und Frau Fehrenbach eine neue Patientin. Eine neue Patientin<br />

mit vierzig Jahren hatte er zwar nicht jeden Tag, aber unüblich war es nicht.<br />

Als die Tür aufging schaute Florian Pohle kurz, riss seine Augen auf, stürmte<br />

lachend hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte die neue Patientin.<br />

„<strong>Silke</strong>, wo kommst du her?“ fragte er überrascht, weil ihm nichts Gescheiteres<br />

einfiel. „<strong>Silke</strong>, meine Liebste, wo steckst du?“ „Na hier, genau wie du.“<br />

antwortete sie lächelnd. „Eine Patientin hatte als Hausarzt Dr. Pohle<br />

angegeben, und da musste ich mich doch mal genauer informieren.“ Florian<br />

starrte sie nur an. Vor zwanzig Jahren hatten sie sich einfach so aus den Augen<br />

verloren. Ihr Studentenkabarett „Die fünf Scharfrichter“, das sie nach den<br />

historischen „Elf Scharfrichtern“ benannt hatten, löste sich auf. Sie hatten zwar<br />

Erfolge, aber verstanden sich untereinander nicht mehr. <strong>Silke</strong>, die wie ein<br />

Groupie an allem beteiligt war, aber nie auf die Bühne ging, stand immer zu<br />

Florian. Mit ihm hatte sie am meisten zu tun, und sie mochten sich wohl auch,<br />

aber mehr war da nicht. Jetzt waren bei Florian plötzlich die alten Zeiten<br />

wieder lebendig, wie sie gemeinsam die Texte zusammengeschustert und die<br />

Auftritte geplant hatten, und immer war <strong>Silke</strong> mit dabei. „Was machst du? Wo<br />

praktizierst du? Und wieso heißt du nicht mehr Bäumer?“ fragte Florian und<br />

grinste. Alles mussten sie klären, trafen sich öfter, natürlich nicht in der Praxis.<br />

Völlig verschiedene Leben waren es, damals und heute. <strong>Silke</strong> und Florian<br />

versuchten ein neues, einer Knospe im Frühling gleich.<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 1 von 21


<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Inhalt<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen.......................................................4<br />

Wetterbericht........................................................................4<br />

Neue Patientin....................................................................... 4<br />

Frühlingsspaziergang.............................................................6<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen.......................................................6<br />

Paradies am Waldspielplatz...................................................6<br />

Wo fängt denn Liebe an?........................................................8<br />

Du bist auch kein Scharfrichter mehr..................................... 9<br />

Mein Bauch verlangte danach..............................................10<br />

Verdorrte Blüte.................................................................... 12<br />

Kann das nicht auch etwas mit Liebe zu tun haben?............12<br />

Ganzheitliches und gefühlsreiches Leben.............................13<br />

Den Akku wieder aufladen...................................................14<br />

Das Paradies ist nicht in dieser Welt....................................15<br />

Irreale Spinnereien?............................................................ 16<br />

Gemeinschaftspraxis............................................................17<br />

Ich bin jeden morgen glücklich............................................ 17<br />

Ich weiß nicht mehr, was das soll........................................ 18<br />

Des Lebens schönster Lenz ist mein.....................................18<br />

On revient toujours à ses premiers amours.........................19<br />

Neue Blütenpracht............................................................... 20<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 2 von 21


<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen<br />

Wetterbericht<br />

Ob die Aktienkurse steigen oder sinken, das interessiert sie nicht. Sie haben<br />

keine Aktien und halten die Berichte in den Nachrichten für überflüssig. Aber<br />

wie das Wetter morgen wird, ob es ein Grad kälter oder wärmer wird und<br />

warum, das wollen sie genau wissen. Dabei besteht die einzige Zeit, die sie<br />

draußen verbringen werden, aus ihrem Weg zum Auto. Natürlich <strong>kann</strong> sich das<br />

Wetter an einem Tag rapide ändern. Die schöne Sonnenscheinzeit <strong>kann</strong> heute<br />

Mittag plötzlichen Regeneinbrüchen weichen, aber sind sie Landwirt? Wollten<br />

sie eigentlich heute ihren Weizen ernten oder Kartoffeln pflanzen. Unabhängig<br />

davon sehen sie doch wie das Wetter ist, sie können sich doch dann entscheiden,<br />

ob sie ein dünneres oder dickeres Jäckchen anziehen. Wozu ist es so<br />

wichtig, dass sie es schon am Abend vorher wissen. Da sei mehr, vermuten<br />

manche, es sei tiefer in uns verwurzelt. In der Steinzeit oder <strong>noch</strong> davor konnten<br />

die Auswirkungen des Wetters viel gravierender oder bedrohlicher sein.<br />

Wer gut die kommenden Witterungsbedingungen einschätzen konnte, hatte<br />

größere Überlebenschancen. Evolutionär waren die Wetterkundler im Vorteil<br />

und konnten sich besser durchsetzen. Wir tragen das Interesse am Wetter also<br />

in unseren Genen, und deshalb ist uns jede Information darüber, wie's Wetter<br />

wird, so wertvoll? Absoluter Quatsch, ein Unfug den ich nicht glauben <strong>kann</strong>. Ein<br />

Wettergen hat <strong>noch</strong> niemand entdeckt. Trotzdem habe ich auch ein Interesse<br />

daran, zu erfahren, ob sich das wunderschöne warme Sonnenscheinwetter halten<br />

wird, oder wann endlich diese trüben, grauen Regentage vorüber gehen.<br />

Wie ich geschlafen habe, wie die Stimmung heute morgen zu Hause war, welche<br />

Aufgaben mich erwarten und Dergleichen sind dafür entscheidend, wie ich<br />

aufgelegt bin, aber an wundervollen Frühlingstagen <strong>kann</strong> ich alles bewältigen.<br />

Die Strahlen der Sonne versüßen mein Gemüt, während an tristen Novembertagen<br />

alles mies sein <strong>kann</strong>, ohne dass es einen konkreten Anlass dafür gibt.<br />

Heute, an einem warmen Frühlingstag hätte ich gern auf dem Lande gelebt.<br />

Die Strahlen der Sonne lassen zwar auch in den Städten die grauen Häuserfassaden<br />

nicht ganz so trübe erscheinen, aber draußen in der Natur und in den<br />

Vorgärten <strong>kann</strong>st du die wiedererwachende Natur sprießen hören. Als ob deine<br />

Seele sich danach gesehnt hätte, nach der langen Herbst- und Winterzeit wieder<br />

neues Leben wachsen zu sehen.<br />

Neue Patientin<br />

Aber davon konnte er nur sinnierend träumen. Er musste arbeiten und saß in<br />

seinem Behandlungszimmer. „Frau Fehrenbach zu Dr. Pohle, bitte.“ tönte es<br />

aus dem Lautsprecher im Wartezimmer. Florian Pohle war Arzt in einer Gemeinschaftspraxis<br />

und Frau Fehrenbach eine neue Patientin. Eine neue Patientin<br />

mit vierzig Jahren hatte er zwar nicht jeden Tag, aber unüblich war es nicht.<br />

Als die Tür aufging schaute Florian Pohle kurz, riss seine Augen auf, stürmte<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 3 von 21


lachend hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte die neue Patientin.<br />

„<strong>Silke</strong>, wo kommst du her?“ fragte er überrascht, weil ihm nichts Gescheiteres<br />

einfiel. „<strong>Silke</strong>, meine Liebste, wo steckst du?“ „Na hier, genau wie du.“<br />

antwortete sie lächelnd. „Eine Patientin hatte als Hausarzt Dr. Pohle<br />

angegeben, und da musste ich mich doch mal genauer informieren.“ Florian<br />

starrte sie nur an. Vor zwanzig Jahren hatten sie sich einfach so aus den Augen<br />

verloren. Ihr Studentenkabarett „Die fünf Scharfrichter“, das sie nach den<br />

historischen „Elf Scharfrichtern“ benannt hatten, löste sich auf. Sie hatten zwar<br />

Erfolge, aber verstanden sich untereinander nicht mehr. Drei gegen zwei das<br />

ergab keinen Sinn. <strong>Silke</strong>, die wie ein Groupie an allem beteiligt war, aber nie<br />

auf die Bühne ging, stand immer zu Florian. Mit ihm hatte sie am meisten zu<br />

tun, und sie mochten sich wohl auch, aber mehr war da nicht. Er traf sie <strong>noch</strong><br />

hin und wieder in der Uni, da sie beide Medizin studierten, aber die Kontakte<br />

waren kurz und substanzlos. Jetzt waren bei Florian plötzlich die alten Zeiten<br />

wieder lebendig, wie sie gemeinsam die Texte zusammengeschustert und die<br />

Auftritte geplant hatten, und immer war <strong>Silke</strong> mit dabei. „Was machst du? Wo<br />

praktizierst du? Und wieso heißt du nicht mehr Bäumer?“ fragte Florian und<br />

grinste. „Na, was wohl? Man heiratet irgendwann mal und praktizieren tue ich<br />

überhaupt nicht.“ <strong>Silke</strong> dazu. Das musste sie erklären. Kurz vorm Examen<br />

hatte sie abgebrochen. Immer <strong>noch</strong> könnte sie sich dafür kreuzweise, aber sie<br />

sei damals völlig neben der Spur gewesen. „Unser Kabarett machte das Schöne<br />

im Leben aus, aber das stellst du erst viel später fest. Es war nur <strong>noch</strong><br />

gewohnter Alltagstrott. Dann hatte ich einen Freund und wurde auch <strong>noch</strong> zu<br />

allem Überfluss durch eine Unachtsamkeit schwanger. Selbstverständlich<br />

wegmachen, Mutti und Familie das wollte ich doch auf keinen Fall. Aber ich<br />

konnte nicht. Ich sah immer den kleinen potentiellen Mec vor mir. Wer war ich<br />

denn, dass ich ihm den Faden abschneiden sollte. Ich bekam nichts mehr auf<br />

die Reihe und habe nur <strong>noch</strong> geheult. So hatte ich mir mein weiteres Leben<br />

überhaupt nicht vorgestellt.“ berichtete <strong>Silke</strong>. „Und wie sieht es heute aus?<br />

Hast du neue Vorstellungen entwickelt?“ wollte Florian wissen. <strong>Silke</strong> lachte.<br />

„Ich bin nüchtern geworden. Nach Vorstellungen oder Wünschen lebe ich nicht<br />

mehr. Ich versuche mit der Realität fertig zu werden, wie sie kommt. Wenn ich<br />

als MTRA dem Herrn Professor etwas erkläre, oder ihn auf etwas aufmerksam<br />

mache, dann spüre ich schon manchmal die Wut im Bauch. Er liquidiert dafür<br />

und ich bekomme mein Angestelltensalaire. Ich habe doch eine volle<br />

medizinische Ausbildung und an der CT-Röhre stehe ich und nicht er. Aber ich<br />

bin nicht völlig unzufrieden. Mein Mann ist Oberarzt bei uns, und da stimmt's<br />

mit der Kohle schon.“ erklärte <strong>Silke</strong>. „Oh mann!“ stöhnte Florian auf, „<strong>Silke</strong> es<br />

verwirrt mich. Stehst auf einmal hier vor mir in der Tür. Wieso haben wir uns<br />

denn nicht schon früher mal getroffen, in der Fußgängerzone oder so. Aber<br />

Quatsch, da bin ich ja nie. Du machst mich nervös, meine Liebe. Ich möchte<br />

<strong>noch</strong> viel mehr von dir wissen. Alles musst du mir erzählen, aber jetzt? Ich<br />

<strong>kann</strong> die Patienten ja nicht ewig warten lassen. Können wir uns nicht mal<br />

treffen?“ fragte ich. „Bei schönem Wetter bin ich am Spätnachmittag öfter auf<br />

dem Waldspielplatz, damit sich unsere Fußballer austoben können.“ antwortete<br />

<strong>Silke</strong>. Sie tauschten Adressen und Handy Nummern aus, damit sie sich nicht<br />

wieder verlieren und vorher informieren konnten.<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 4 von 21


Frühlingsspaziergang<br />

Florian musste sich zusammenreißen, damit er sich bei den nächsten Patientinnen<br />

und Patienten konzentrierte. Immer wieder waren seine Gedanken in seiner<br />

Studentenzeit mit ihrem Kabarett, den Scharfrichtern. Sie waren jung und<br />

unerfahren, hatten es wegen Lappalien, die sie nicht bewältigen konnten, zur<br />

Krise kommen lassen. Sicher hatte ihr Gruppenzusammenhang jedem unterschiedlich<br />

viel bedeutet, aber wie wertvoll diese soziale Eingebundenheit für die<br />

Psyche jedes Einzelnen war, hatte keiner er<strong>kann</strong>t. Als selbstverständlich hatten<br />

sie es wahrgenommen, dass sie sich freiwillig aus Lust an der gemeinsamen<br />

Arbeit trafen, um gemeinsam Freude dabei zu haben. Sie waren offen und es<br />

gab unendlich viel zu lachen. Natürlich war es schade, dass es zu Ende war,<br />

aber große Trauer konnte Florian damals nicht empfinden. Ihm war gar nicht<br />

bewusst, wie wertvoll dies gewesen sein musste, und was es ihm bedeutet hatte,<br />

was jetzt so unbedacht verloren gegangen war. Im Nachhinein sah er es. Er<br />

hatte nicht wenige Freunde, <strong>kann</strong>te nette Leute, aber so wie damals hatten<br />

sich die Beziehungen nie mehr entwickelt. Wundervolle Zeiten waren es jetzt<br />

für ihn. Sie hatten ganz lange geschlafen. <strong>Silke</strong>s Besuch war wie eine Frühlingsknospe,<br />

die das vergessen Geglaubte zu neuem Leben erweckte. Sonst<br />

war nach Praxisschluss immer <strong>noch</strong> einiges zu erledigen, heute wollte Florian<br />

sofort nach Hause, das Notwendige organisieren und dann spazieren gehen,<br />

wollte in der Natur den Frühling, das neue, wiedererwachende Leben genießen.<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen<br />

<strong>Silke</strong> musste sich um den Haushalt kümmern, einkaufen und die Vorbereitungen<br />

für's Abendbrot treffen. Der Besuch bei Florian war gar nicht eingeplant<br />

gewesen, aber aufschieben hatte sie ihn nicht können. Eine andere Zeit war<br />

das damals, ein anderes Leben. Jetzt war alles gebunden, sie wusste was sie<br />

zu tun hatte. Wie es damals war, kam ihr dagegen frei vor. Selbstverständlich<br />

hatte sie auch Verpflichtungen, musste Seminare und Vorlesungen besuchen,<br />

hatte Praktika zu machen und zu pauken, aber ihre Seele war frei. Jetzt trug<br />

sie Verantwortung, hatte sich darum zu kümmern, dass alles ordnungsgemäß<br />

erledigt wurde. Alles schien ihr vorgegeben zu sein. Wer <strong>Silke</strong> selber war, das<br />

wusste sie kaum <strong>noch</strong>. Sie hatte sich in ihrem eigenen Leben verloren. Der Besuch<br />

bei Florian, ihn einfach nur zu sehen, ein paar Worte zu wechseln, kam ihr<br />

wie eine Wiederentdeckung vor. Das war sie, an die sie bei dem Treffen gedacht<br />

hatte. Wenn sie jetzt auch Ärztin wäre und mit Florian zusammen die<br />

Gemeinschaftspraxis führte? Unsinnige, irreale Spinnereien, aber <strong>Silke</strong> entdeckte,<br />

dass sie doch <strong>noch</strong> Träume haben konnte.<br />

Paradies am Waldspielplatz<br />

Am Freitag kam Florian zum Waldspielplatz. <strong>Silke</strong> legte ihr Buch auf die Bank,<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 5 von 21


stand auf und ging Florian entgegen. Nach der Umarmung setzten sie sich gemeinsam<br />

auf die Bank und starrten sich an. „Was liest du Schönes?“ fragte Florian<br />

aus Verlegenheit. „Ach, das wollte ich schon lange lesen, von Mario Vargas<br />

Llosa „Das Paradies ist anderswo.“. Den Nobelpreis hat er verdient, finde ich.“<br />

antwortete <strong>Silke</strong>. „Und, hast du schon erfahren oder weißt du, wo das Paradis<br />

wirklich ist.“ fragte Florian, der das Buch auch <strong>kann</strong>te, schelmisch. „Ja,“ meinte<br />

<strong>Silke</strong>, „das Paradies ist immer nur in deinen Träumen.“ „Die du aber doch leben<br />

solltest.“ ergänzte Florian. „Und dein Traum vom Leben ist eure Praxis, in der<br />

du jeden Tag lebst?“ <strong>Silke</strong> grinsend darauf. „Ja natürlich, zu mir kommen jeden<br />

Tag die neuen Seelen, bei denen ich entscheide, ob ich sie von ihren Gebrechen<br />

reinige, und ihnen das Tor zum Paradies öffne.“ meinte Florian und lachte.<br />

„<strong>Silke</strong>, ich weiß gar nicht, ob ich mal vom Paradies geträumt habe. Die meisten<br />

Leute würden ja sagen, ein dicker Bunker am Strand im Süden, Knete ohne<br />

Ende und Dergleichen. Nur das ist Stuss, so viel weiß ich heute wenigstens<br />

schon. Aber das andere ist viel schwieriger. Das <strong>kann</strong>st du dir nicht erarbeiten<br />

oder erben. Was willst du denn vorsätzlich machen, um dich als glücklich zu<br />

empfinden. Zum Waldspielplatz fahren. <strong>Silke</strong> treffen, das lässt mich glücklich<br />

sein.“ antwortete Florian und beide lachten. „Wieso bist du denn nicht<br />

verheiratet, hast keine Kinder?“ fragte <strong>Silke</strong>. „Ich denke, deshalb werde ich<br />

wohl mal zum Psychotherapeuten müssen. Ich war ja verheiratet, aber nur<br />

ganz kurz. Meine Freundin und ich, wir machten alles zusammen und verstanden<br />

uns gut. Da kamen wir auf die Idee, wir könnten ja auch heiraten und<br />

dann später Kinder haben. Vorher lief alles problemlos zwischen uns, und fast<br />

vom Tag nach der Heirat an, sahen wir nur <strong>noch</strong> die Fehler und was uns am<br />

anderen nicht gefiel. Wir wollten schon sehr bald beide nicht mehr. Das scheint<br />

mich heute <strong>noch</strong> zu blockieren. Ich könnte mich wieder völlig verschätzen, und<br />

mir würde das gleiche wieder passieren. Während der Probleme mit meiner<br />

Frau habe ich an dich gedacht. Wir hatten zwar alles zusammen gemacht, aber<br />

im Gegensatz zu dir war mir meine Frau immer äußerst fern. Wir haben uns<br />

bestimmt geliebt, <strong>Silke</strong>.“ erklärte er. „Aha,“ staunte <strong>Silke</strong> lachend, „das habe<br />

ich aber gar nicht gemerkt.“ „Ich doch auch nicht, <strong>Silke</strong>. Wir waren zu blöd,<br />

haben es einfach so hingenommen, als wenn Beziehungen selbstverständlich<br />

so wären. Das sie das nicht, sondern etwas ganz Besonderes waren, ist mir<br />

erst in meinem späteren Leben klar geworden. <strong>Silke</strong> träumte und sinnierte:<br />

„Ja, wohlgefühlt habe ich mich schon. Es war eine sehr schöne Zeit. Ich <strong>kann</strong><br />

mich nicht entsinnen, dass ich so etwas je mit anderen wieder erlebt hätte.“<br />

„Und dein Mann, deine Familie?“ fragte Florian nach. „Bitte, Florian, ich möchte<br />

da nicht jetzt und nicht mit dir drüber reden. Nur ich erlebe es so, als ob für<br />

mich alle Weichen gestellt wären. Du denkst nicht daran, ob du auch mal die<br />

vorgegebenen Gleise verlassen könntest, weil du weißt, dass es katastrophale<br />

Folgen haben würde.“ <strong>Silke</strong> darauf. „Das musst du aber mal ein wenig näher<br />

erläutern. Du bist nicht glücklich, <strong>Silke</strong>, nicht wahr?“ Florian dazu. „Ich weiß es<br />

selbst nicht genau. Eigentlich läuft alles wunderbar. Ich freue mich ja auch<br />

über die Kinder und wüsste gar nicht, was ich denn eigentlich anders wollte.<br />

Trotzdem <strong>kann</strong> ich ein gewisses Unbehagen nicht verleugnen. Ich muss mir alles<br />

schön reden, damit es für mich selbst und die Betroffenen und Abhängigen<br />

am besten ist. Frei empfinde ich mich nicht mehr, sondern eher wie in einer<br />

mentalen Zwangsjacke. Aber da denke ich überhaupt nicht drüber nach, weil<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 6 von 21


mir das selbst nicht zum Besten gereicht.“ antwortete <strong>Silke</strong>. „Das sehe ich<br />

nicht so, <strong>Silke</strong>.“ reagierte Florian darauf, „Über etwas nicht nachzudenken,<br />

<strong>kann</strong> nie der beste Weg sein, aber ich verdränge mein Problem ja auch. Nur<br />

resignieren und sich irgendwie anpassen, <strong>kann</strong> keine Lösung bringen. Deine<br />

Bedürfnisse befriedigt es nicht.“ „Und was sind meine Bedürfnisse, sag es mir.“<br />

<strong>Silke</strong> darauf. Florian grinste. „Ich wüsste ja gern, was deine Bedürfnisse sind,<br />

aber mit der Harmonie zwischen Kopf, Herz und Bauch scheint bei dir etwas<br />

nicht zu funktionieren. Du hast ja selbst gesagt, du empfindest dich als<br />

gezwungen. Vielleicht sind die Ansprüche, denen du meinst gerecht werden zu<br />

müssen, nicht deine eigenen. Du solltest dich leben und nicht nach dem Bild,<br />

von dem du meinst, dass andere dich so sehen wollen. Aber ich <strong>kann</strong> gut<br />

Ratschläge erteilen. Ich fühle mich relativ wohl, aber glücklich würde ich das<br />

auch nicht nennen. Damals, unsere Zeit im Kabarett, im Nachhinein erscheint<br />

es mir, als ob wir da glücklich waren. Und du hast bei deinem Besuch in der<br />

Praxis das Glück wieder mitgebracht.“ erklärte Florian und <strong>Silke</strong> lächelte auch.<br />

„Ja, aus allem Aussteigen, alles hinter sich lassen, in die Toskana gehen und<br />

satirische Verse schreiben wie Robert Gernhardt. Ob ich wohl <strong>noch</strong> etwas auf<br />

die Reihe bekäme? Ich habe seit damals keine einzige Zeile mehr verfasst.“<br />

meinte <strong>Silke</strong>. „Eine Reise brauchtest du vielleicht schon.“ dachte Florian laut,<br />

„Zwar nicht in die Toskana, sondern eine Entdeckungsreise, um dich selber<br />

wieder zu finden, zu entdecken wo deine wahren Bedürfnisse sind. Wie du<br />

erzählst, kommt es mir eher vor, als ob du dich verbrauchen ließest und dabei<br />

wärest, dich selbst zu verlieren.“ „Und gibst du mir eine reelle Chance, mich<br />

wieder zu finden?“ fragte <strong>Silke</strong> scherzend, „Dich habe ich ja schließlich auch<br />

wieder gefunden.“ Florian drängte es, <strong>Silke</strong> zu küssen. Sie wehrte ihn ab.<br />

„Nicht hier, die beiden könnten uns beobachten.“ so <strong>Silke</strong>. Sie zeigte Florian<br />

<strong>noch</strong>, wer ihre beiden Söhne waren und sie unterhielten sich darüber. Dann<br />

fuhr Florian wieder. Bei der Verabschiedung streichelte er <strong>Silke</strong>s Wange und sie<br />

lächelte.<br />

Wo fängt denn Liebe an?<br />

<strong>Silke</strong> hatte das aufgeschlagene Buch auf ihrem Schoß liegen, aber sie las nicht<br />

mehr. Natürlich memorierte sie auch, was gesagt worden war. Florian hatte<br />

schon Recht, aber <strong>Silke</strong> konnte für sich keine Ansatzpunkte ausmachen. Im<br />

Vordergrund stand aber das Gesamterlebnis. Sie hatte mit Florian gesprochen<br />

und es ließ sie empfinden, als ob es wie früher gewesen wäre. Dabei hatten sie<br />

sich doch über etwas völlig anderes unterhalten und keine gemeinsamen Auftritte<br />

geplant. Mit Florian zu sprechen belebte auch wieder das Empfinden von<br />

damals in ihr. <strong>Silke</strong> war warm und glücklich ums Herz. Sie hätten sich bestimmt<br />

geliebt, hatte er gemeint. <strong>Silke</strong> schmunzelte. Na ja, sie hatte ihn schon<br />

gern gemocht, sich aber keine weiteren Gedanken gemacht. Das hatte ja auch<br />

mit dem was sie arbeiteten, nichts zu tun. Aber wenn sie sich darauf freute,<br />

Florian bei den Sitzungen zu treffen, war das denn nicht schon ein Zeichen, das<br />

man auch amourös interpretieren konnte. Wo und wie fing denn Liebe an. Sie<br />

war ja auch in Benni, ihren Mann, verliebt gewesen, aber da gab es eine völlig<br />

andere Ebene. Bei den Scharfrichtern waren sie wie Geschwister einer Familie<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 7 von 21


gewesen. Das Empfinden gab es nie wieder, auch nicht zu Benni. In gewisser<br />

weise blieb er doch immer der andere, der fremde Mann.<br />

Du bist auch kein Scharfrichter mehr<br />

„Hach,“ stöhnte <strong>Silke</strong>, „das war ein Tag heute. Gleich drei alte Weiber in Panik.<br />

Bei den Geräten zu Anfang konnte man das vielleicht <strong>noch</strong> halbwegs verstehen,<br />

aber heute ist es ja völlig lächerlich. Die haben sich vielleicht etwas erzählen<br />

lassen und imaginieren dann die dämlichsten Klaustrophobien zusammen.<br />

Und es dauert ewig, bis du sie beruhigt bekommst.“ „Du musst also auch<br />

<strong>noch</strong> über psychotherapeutische Qualifikationen verfügen?“ fragte Florian mehr<br />

scherzhaft. „Ja unbedingt, aber da bin ich ja durch unsere beiden in ständigem<br />

Training. Pubertät ist ohne Therapeuten nicht zu schaffen. Vor allem musst du<br />

dich selbst therapieren, damit du nicht öfter mal ausrastest. Warst du damals<br />

auch so bekloppt?“ wollte <strong>Silke</strong> wissen. „Nicht ich war bekloppt, sondern meine<br />

Eltern, mit denen ich immer gut ausgekommen war. Jetzt wurden sie auf einmal<br />

so uneinsichtig.“ scherzte Florian. „Ja, so wird es sein.“ kommentierte <strong>Silke</strong>,<br />

„das Problem ist nicht der Pubertierende, sondern es sind seine Eltern in ihrer<br />

Starrköpfigkeit und mit ihren vermoderten Ansichten.“ Wir grinsten uns an.<br />

„Florian, das Treffen hier können wir übrigens nicht mehr öfter machen. Die<br />

Pubertierenden haben sich schon nach dir erkundigt.“ erklärte <strong>Silke</strong>. „Was ist<br />

denn so geheimnisvoll daran, was gibt es denn, das sie nicht wissen dürften?“<br />

Florian dazu. „Dann könntest du ja auch zu uns nach Hause kommen. Das will<br />

ich aber nicht. Du gehörst mir, bist meine Geschichte und sollst nicht Familiengut<br />

werden.“ meinte <strong>Silke</strong> dazu. „Also weiterhin okkulte Treffen zwischen<br />

Scharfrichter und -richterin?“ interpretierte Florian. <strong>Silke</strong> versuchte es <strong>noch</strong><br />

weiter zu begründen, dass sie nicht die unterschiedlichen Erlebenswelten miteinander<br />

vermengen wolle und Ähnliches, aber Florian hatte schon verstanden.<br />

„Mir geht ja manchmal unsere ganze Firma ziemlich auf den Nerv, aber so ganz<br />

allein wie du, das wäre absolut keine Perspektive. Hast du denn gar keine<br />

Freundin?“ meinte <strong>Silke</strong>, und Florian lachte wegen der Formulierung. „Nein,<br />

überhaupt gar keine, nicht mal 'ne ganz kleine habe ich. <strong>Silke</strong>, ich habe einige<br />

gute Be<strong>kann</strong>te. Ich komme mir nicht allein vor. Es gibt auch <strong>noch</strong> andere Männer<br />

und Frauen unter meinen Be<strong>kann</strong>ten, die alleine leben und zufrieden damit<br />

sind. Natürlich ist es schön Kinder beim Aufwachsen zu erleben. Das hatte ich<br />

mir ja auch so vorgestellt, aber Kleinfamilie <strong>kann</strong> auch der Horror sein und ist<br />

es nicht selten, meistens am schlimmsten für die Frau.“ meinte Florian. <strong>Silke</strong><br />

reagierte nicht darauf. Sie schien zu träumen, obwohl sie ihre Familie sicher<br />

nicht als Horror erlebte. „Deine Empfindungen sind häufig nicht eindeutig, sondern<br />

viel öfter zwiespältig. Da wo du Negatives siehst, ist auch das Positive<br />

nicht zu leugnen.“ meinte sie schließlich. „Und wo siehst du zum Beispiel Negatives<br />

an deinen Kindern?“ erkundigte sich Florian. „Nirgendwo, da gibt es<br />

nichts. Wenn sie mal etwas Kurioses machen oder wollen, das gehört mit dazu<br />

und stört nicht. Unser gemeinsames Projekt habe ich im Nachhinein auch idealisiert.<br />

Bis auf die letzten Treffen gab es nichts Negatives, nichts zu kritisieren.<br />

Du hast Recht, da stimmte die Harmonie von Kopf, Herz und Bauch völlig. Nur<br />

es ist nicht ungewöhnlich, wenn es nicht so ist. Bei den meisten Menschen wird<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 8 von 21


es nicht so sein. Dass dein Herz mit deinem Leben völlig in Einklang sein soll,<br />

<strong>kann</strong> ich mir auch nur schwer vorstellen.“ erklärte <strong>Silke</strong>. „Natürlich wäre ich<br />

lieber mit einer Frau zusammen, die mich liebt. Ich sag ja, da stimmt etwas<br />

nicht bei mir, ich muss zum Therapeuten.“ Florian darauf. „Du spinnst ja.“<br />

meinte <strong>Silke</strong>, „Du willst zum Therapeuten, um erkennen zu können, ob es<br />

Liebe ist oder nicht?“ <strong>Silke</strong> lachte, „Das solltest du doch wohl mittlerweile auch<br />

selbst herausfinden können, wenn du es sogar für unsere damalige Beziehung<br />

im Nachhinein diagnostizierst. Das siehst du doch sofort, ob da ein tieferer<br />

Wunsch besteht oder ob der Blick nur oberflächlich freundlich ist, und sie nicht<br />

gegen dich ist, weil sie nix anderes hat. Mann, Florian, du bist doch nicht blind.<br />

Ich denke eher du sperrst dich gegen irgendetwas. Haste Angst vor Frauen<br />

gekriegt?“ bewertete <strong>Silke</strong>. „Quatsch.“ reagierte Florian, „Es müsste sich für<br />

mich nur aus Zusammenhängen ergeben. Also, Liebe auf den ersten Blick, da<br />

bin ich skeptisch. Aber so Arbeitszusammenhänge wie damals bei uns, die<br />

habe ich ja gar nicht mehr, außer mit unseren Sprechstundenhilfen. Die sind<br />

alle liiert, und außerdem sind da bei mir auch <strong>noch</strong> keine erotischen<br />

Bedürfnisse erwacht.“ meinte Florian und verzog seine Mimik zu einem<br />

Grinsen. „Ich weiß es nicht, vielleicht müsstest du doch zum Therapeuten, aber<br />

ich vermute eher etwas anderes. Du bist auch kein Scharfrichter mehr, hast<br />

dich genauso etabliert wie ich. Kannst dich nicht mehr bewegen, kommst aus<br />

deinen Bahnen nicht mehr heraus. Vor Veränderungen fürchtest du dich<br />

tatsächlich mehr, als dass du sie dir wünscht. Wir bringen's nicht mehr, Florian.<br />

Wir sind alt, und das Richtschwert ist stumpf geworden. Wir haben uns damals<br />

primär auf Uni-Zusammenhänge bezogen, die elf Scharfrichter aber auf<br />

allgemeine politische und kulturelle Gegebenheiten und Bedingungen. Das<br />

sehen wir nicht oder nur im Nebel. Dafür sind wir blind. Darum sollten wir uns<br />

mehr bemühen, alle beide, ich und du genauso gut.“ kritisierte <strong>Silke</strong>. Florian<br />

schwieg. Vielleicht hatte <strong>Silke</strong> ja Recht. Dass die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

sie zu sehr im Griff haben könnten, wollte er nicht leugnen. Sehr<br />

individualistisch hatte er und auch <strong>Silke</strong> alles zu interpretieren versucht. Aber<br />

wo solle man denn ansetzen? Welches Gesellschaftsmodell und<br />

Menschenverständnis würden ihm denn Klärungshilfen für seine persönliche<br />

Situation bieten können? Vielleicht ließe der Frühling ja auch Knospen neuer<br />

Einsichten sprießen und würde seinen Erkenntnishorizont erweitern.<br />

Mein Bauch verlangte danach<br />

Am Telefon hatten sich <strong>Silke</strong> und Florian gestritten. Sie hatte ihm immer etwas<br />

von ihrer engen Terminplanung vorgejammert, und Florian hatte es falsch verstanden.<br />

„Wenn du keine Lust mehr hast, <strong>kann</strong>st du es doch sagen.“ meinte er<br />

am Telefon zu <strong>Silke</strong>. Erbost giftete sie Florian an. Wenn er so etwas denke,<br />

habe sie bald wirklich keine Lust mehr. „Ich glaube schon dass deine Kurzsichtigkeit<br />

für die Gefühle anderer dringender Behandlung bedarf.“ hatte <strong>Silke</strong> ihm<br />

vorgeworfen. Genauso problematisch war der Ort des Treffens, bis man sich<br />

schließlich doch auf Florians Wohnung einigte. „Florian, es tut mir leid, ich wollte<br />

nicht so böse mit dir sein.“ entschuldigte sich <strong>Silke</strong>. „Ich habe das gar nicht<br />

wahrgenommen.“ meinte Florian, „Du darfst das doch, da bin ich nicht belei-<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 9 von 21


digt.“ „Nimmst du denn wenigstens einen Kuss zur Entschuldigung? Hier sieht<br />

uns ja niemand.“ fragte <strong>Silke</strong> mit einem leicht verlegenen Lächeln. Obwohl Florian<br />

sie ja am Waldspielplatz schon hatte küssen wollen, konnte er leichte Verwunderung<br />

nicht unterdrücken. Entgeistert blickte Florian <strong>Silke</strong> nach dem Kuss<br />

an. Er hatte mit einem leichten Küsschen gerechnet, aber <strong>Silke</strong> hatte es ausgesprochen<br />

leidenschaftlich werden lassen. „Was war das?“ fragte der immer<br />

<strong>noch</strong> erstaunte Florian. „Die erste Tour auf der Reise zu mir selbst.“ erklärte<br />

<strong>Silke</strong> stolz lächelnd. „Mein Bauch verlangte danach, und ich wollte seine Harmonie<br />

nicht stören.“ erläuterte <strong>Silke</strong> es scherzend weiter. „Ich dachte es wäre<br />

von deinem Herzen gekommen.“ reagierte Florian mit scherzhafter Enttäuschungsmimik.<br />

„Kam es auch, kam es ganz bestimmt. Sicher war das Herz beteiligt.<br />

Ich freue mich außerordentlich dich zu sehen. Dann ist es wie damals,<br />

und seit ich dich besucht habe, <strong>noch</strong> ein bisschen mehr. Ich liebe unsere Treffen<br />

und vielleicht auch dich selber. Ich weiß es nicht genau. Wir waren damals<br />

zu dumm es zu erkennen, hast du gesagt, und jetzt bin ich zu dumm, es zu<br />

verstehen und zu entscheiden.“ Einen Moment standen sie sich stumm gegenüber,<br />

als wenn es in ihren Köpfen etwas neu zu sortieren gäbe. Dann begab<br />

sich Florian zur Espresso Machine. Der Tisch war schon gedeckt und <strong>Silke</strong><br />

stand hinter Florian am Küchenschrank. „Es würde mir schon gefallen, wenn du<br />

mich bei den Terminabsprachen jetzt regelmäßig ausschimpfst.“ meinte Florian<br />

zu ihr als er sich umdrehte. „Und einfach so zur Begrüßung ohne Beleidigung,<br />

ginge das auch?“ erkundigte sich <strong>Silke</strong>. Beide grinsten und weil sie direkt face<br />

to face standen, gab's wieder einen kleinen Kuss. „Es gefällt mir sehr, <strong>Silke</strong>,<br />

wenn wir uns küssen, und es ist ja auch richtig, wenn es deinen Bauch und<br />

dein Herz danach drängt, aber eigentlich will der Kopf auch in die Harmonie<br />

einbezogen sein. Das <strong>kann</strong> ich aber bei dir nicht erkennen oder zumindest<br />

nicht verstehen.“ meinte Florian. „Ich habe draußen <strong>noch</strong> nie einen anderen<br />

Mann geküsst. Das brauchte ich mir nicht zu verbieten, weil ich kein Bedürfnis<br />

danach verspürte. Aber wenn wir uns treffen, dann befinden wir uns in einem<br />

anderen Land, in einer anderen Zeit. In einem Land, in dem die gegebenen<br />

einengenden Spielräume fehlen, in einer Zeit, in der meine Persönlichkeit <strong>noch</strong><br />

einheitlich und frei war. Hier <strong>kann</strong> ich meine Gefühle wahrnehmen und leben<br />

und muss sie nicht als unbedeutend einem technologisierten Alltagsgeschehen<br />

unterordnen. Eine andere Welt tut sich jedes mal für mich auf, Florian, eine<br />

Welt, in der ich mich wieder frei fühlen darf.“ erläuterte <strong>Silke</strong>. „Du lebst nicht in<br />

zwei Welten <strong>Silke</strong>. Es gibt nur die eine, die Welt von heute, in der wir beide leben.<br />

Das andere sind Erinnerungen, Geschichte von vor zwanzig Jahren. Das<br />

ist vorbei, darin leben wir nicht mehr.“ war Florians Ansicht. „Natürlich, wir tun<br />

selbstverständlich nicht mehr das von damals, alles hat sich völlig verändert,<br />

aber Empfindungen, Einstellungen, Beziehungen sind doch nichts Temporäres.<br />

Du vergisst doch auch nicht plötzlich, dass du deine Mutter liebst. Unser Leben<br />

und wie wir es empfunden haben, ist Teil unserer Persönlichkeit, den wir viel zu<br />

lange nicht mehr erkennen konnten. Was heute ist, wird nie das von gestern<br />

sein, so wie die Blume nie die vom Vorjahr ist, aber immer wird sie die gleiche<br />

Farbe tragen.“ war <strong>Silke</strong>s Reaktion. „Lieber die neue Blütenpracht gießen und<br />

düngen, damit sie voll zur Entfaltung kommen <strong>kann</strong>, entspräche das eher deinen<br />

Vorstellungen?“ erkundigte sich Florian. <strong>Silke</strong> antwortete nicht, sondern lächelte<br />

nur verschmitzt.<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 10 von 21


Verdorrte Blüte<br />

„Du hast deine Blüte verdorren lassen, ein fast abgeschlossenes Studium und<br />

<strong>kann</strong>st nichts damit anfangen. Hast du denn später nie daran gedacht, es abzuschließen?“<br />

fragte Florian. „Na, erst kam mal der Dominique. Mit zweitem<br />

Namen heißt er übrigens Florian. Nur weil es ein so schöner Name sei. Da war<br />

ich mir absolut sicher. Aber warum bekam er ihn dann nicht als ersten. Mein<br />

Unbewusstes hat bestimmt entschieden, dass ich mich dazu nicht traute, weil<br />

doch wohl mehr dahinter steckte. Der schönste Name ist ja sowieso immer der<br />

deines Liebsten. Von all dem hat meine Ratio aber nichts erfahren. Wir überlegten,<br />

ob wir <strong>noch</strong> mehr Kinder haben wollten. Mit dem Studium und der Doktorarbeit<br />

schien mir das zu stressig, und für die MTRA Ausbildung hatte ich ja<br />

schon gute Grundlagen, also nicht so schwierig. Erst hinterher habe ich mich<br />

geärgert.“ erklärte <strong>Silke</strong>. „Und warum machst du es nicht jetzt? Deine Burschen<br />

sind doch schon groß. Verständnis hätten sie bestimmt dafür. Viel wird<br />

da nicht sein, was du nachholen musst, und außerdem bist du ja auch ständig<br />

in der Praxis.“ fragte sie Florian. <strong>Silke</strong> überlegte. Der Gedanke war ihr <strong>noch</strong> nie<br />

gekommen. „Dann kommt die Facharzt Ausbildung, ich mach mich als Radiologin<br />

selbständig, wir schaffen uns 'ne Röhre an und die Kohle fließt ohne Ende.“<br />

sagte es und lachte laut. „Findest du das so lächerlich, <strong>Silke</strong>? Du könntest dich<br />

doch zumindest mal erkundigen, bevor du dich entscheidest. Das wäre doch<br />

etwas von dir selber und keine Familienverpflichtung.“ meinte Florian. <strong>Silke</strong><br />

schaute ihn träumend an. Ihre Lippen hatte sie zu einem leichten Lächeln geformt.<br />

Vielleicht keine schlechte Idee oder war es ein irrealer Traum. „Wir werden<br />

sehen. Ich muss <strong>noch</strong> darüber nachdenken.“ sagte sie, und Florian grübelte<br />

darüber, was das „Wir schaffen uns 'ne Röhre an“ zu bedeuten hatte. Sie<br />

konnte es ja auch einfach im Scherz so formuliert haben.<br />

Kann das nicht auch etwas mit Liebe zu tun haben?<br />

Bei <strong>Silke</strong> hatte das Handy im Dienst <strong>noch</strong> nie so oft geklingelt. „Ja, wenn du<br />

Familie und große Kinder hast, dann wollen alle ständig etwas von dir.“ sagte<br />

sie zur Erklärung für die Kollegin. In Wirklichkeit war es natürlich Florian. Es<br />

war schwierig, gemeinsame Termine zu finden, aber auch wenn man sich nur<br />

kurz sehen konnte, war es doch besser als gar nicht. Meistens kam <strong>Silke</strong> zwar<br />

zu Florian, wenn auch nur auf einen Kaffee, aber schon mal ging er auch mit<br />

ihr Einkaufen oder traf <strong>Silke</strong> sonst wo. „Auf den ersten Blick müsste ich es doch<br />

erkennen, hast du gesagt, <strong>Silke</strong>. Ich habe dich schon so oft angeschaut, aber<br />

da hat sich mir nichts offenbart, nur wenn ich einen Tag für misslungen halte,<br />

an dem ich dich nicht gesehen habe, <strong>kann</strong> das nicht auch etwas mit Liebe zu<br />

tun haben?“ wollte Florian wissen. <strong>Silke</strong> starrte ihn mit großen Augen an und<br />

lachte. „Ich weiß das auch nicht ganz genau, Florian. Das ist eine schwierige<br />

Frage. Unsere Gemeinsamkeit ist uns genauso selbstverständlich wie damals<br />

vor zwanzig Jahren. Könnte es sein, dass wir heute auch genauso doof sind wie<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 11 von 21


damals, und nicht erkennen, dass wir uns lieben?“ meinte <strong>Silke</strong> und lachte wieder,<br />

so dass Florian auch lachen musste. „Mein Liebster, ich weiß gar nicht genau,<br />

was Liebe ist. Alle kennen sie, nur ich habe sie <strong>noch</strong> nie gesehen. Ist es<br />

ein Syndrom, bei dem eine entsprechende Anzahl von Symptomen erkennbar<br />

sein muss, um von Liebe sprechen zu können? Keiner hat deshalb Pusteln,<br />

Flecken oder Fieber, man <strong>kann</strong> bedenkenlos weiter zur Schule gehen oder Auto<br />

fahren, also schlimm scheint es ja wohl nicht zu sein. Mein Süßer, die Liebe<br />

gibt es nicht. Sie ist eine Idee, der jede und jeder andere Gehalte, Werte und<br />

Bereiche seiner Persönlichkeit zukommen lässt. Dass du Sehnsucht nach mir<br />

hast, ist sicher nicht schlecht, aber das reicht mir nicht. Deshalb würde ich dich<br />

nicht lieben.“ führte <strong>Silke</strong> zur Liebe aus. „Und welche Symptome wären sonst<br />

<strong>noch</strong> für dich wichtig?“ wollte Florian wissen. „Zum Beispiel mit jemandem, der<br />

so blöde Fragen stellt, hätte ich auch meine Probleme. Ich meine, dass Liebe<br />

sich der Systematik unseres kausalen Denkens entzieht, sie gehört zu den<br />

menschlichen Grundbedingungen und war schon da, bevor du lerntest, wie du<br />

zu denken hast, aber die kommunikativen Prozesse, die sie fördern oder nicht,<br />

<strong>kann</strong>st du schon beeinflussen. Du hast deiner Frau wahrscheinlich auch gesagt,<br />

dass du sie liebt, weil's gerade so schön war. Ich denke schon, dass du Lust<br />

haben müsstest, sie immer tiefer zu verstehen, es dir Freude bereiten müsste,<br />

ihr Anerkennung zu schenken und sie dadurch glücklich zu sehen, dass starkes<br />

gegenseitiges Vertrauen zwischen euch herrschen müsste und dergleichen<br />

mehr. Das war aber bestimmt nicht so, oder?“ fragte <strong>Silke</strong>. „Ja, aber das<br />

findest du doch nicht einfach so, meinst du denn, dass es zwischen uns der Fall<br />

wäre?“ fragte Florian. „Selbstverständlich, ich sag ja selbstverständlich, wir<br />

nehmen's einfach als gegeben hin, obwohl wir's eigentlich bewundern müssten,<br />

genau wie damals beim Kabarett. Genauso doof scheinen wir mit vierzig auch<br />

<strong>noch</strong> zu sein, fragen uns was Liebe sei, und ob sie zwischen uns beiden<br />

vorhanden wäre.“ <strong>Silke</strong> dazu. „Das ist aber doch nicht ungewöhnlich. Was<br />

Liebe ist, fragen sich die Leute seit über zweitausend Jahren immer wieder aufs<br />

Neue.“ meinte Florian. „Und was haben sie herausbekommen? Sind wir<br />

demnach verliebt?“ <strong>Silke</strong> darauf. Grinsend bewegten sich ihre Gesichter<br />

aufeinander zu. Nach Dauer und Intensität dieses Kusses konnte es keinen<br />

Zweifel mehr geben, dass sie sich lieben mussten.<br />

Ganzheitliches und gefühlsreiches Leben<br />

<strong>Silke</strong> war fest entschlossen, ihr Studium wieder aufzunehmen. Erst jetzt sprach<br />

sie mit ihrem Mann darüber, der es, wie sie vermutet hatte, für überflüssigen,<br />

kostspieligen Zeitvertreib hielt. Nur <strong>Silke</strong> war nicht davon abzubringen, so wie<br />

es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Ihr Mann meinte, dass sie sich in<br />

letzter Zeit verändert habe. Darüber kam es zum Streit, weil ihr Mann es negativ<br />

sah, und <strong>Silke</strong> ihm heftig verdeutlichte, für wie notwendig und wichtig sie es<br />

besonders für sich als Frau erachte, ein wenig selbstbewusster und selbstbestimmter<br />

zu leben. Ihr Mann war kein dominanter Macho, aber die üblichen<br />

Rollenmuster wurden gelebt, nicht nur von ihm, auch <strong>Silke</strong> hatte sich unbedacht<br />

und widerspruchslos hineingefügt. Das passte jetzt nicht mehr zu der<br />

Frau, die sie in ihrem anderen Land und ihrer anderen Zeit leben konnte. Na-<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 12 von 21


türlich war Florian auch ein Mann, aber diese Geschlechterrollen bedingte Distanz<br />

existierte für <strong>Silke</strong> bei ihm nicht. Ihm gegenüber erlebte sie sich nicht als<br />

'typische' Frau. <strong>Silke</strong>s Lebensmittelpunkt war auch weiterhin ihre Arbeit und<br />

die Familie, und den beiden Jungs galt ihre ganze Liebe, aber ihr emotionaler<br />

Schwerpunkt lag in dem Zusammensein mit Florian. Als sie wieder zu studieren<br />

begann, ließ sie sich von Florian helfen, nicht von ihrem Mann. Jetzt hatte <strong>Silke</strong><br />

mehr Zeit, nur am Spätnachmittag nach Praxisschluss fanden in der Regel ja<br />

auch keine Seminare mehr statt. Sie trafen sich häufig in der Mittagszeit, und<br />

manchmal kochten sie auch gemeinsam bei Florian etwas. Wegen Florians<br />

Unkenntnissen und Unbeholfenheit gab es viel zu lachen. „Es ist immer das<br />

Gleiche, völlig selbstverständlich ist es, dass wir gemeinsam kochen und Spaß<br />

dabei haben. Bei Benjamin wäre es eine absolute Ausnahme, und ich hätte<br />

<strong>noch</strong> nicht einmal Lust dazu. Ein anderes, ein ganzheitliches, gefühlsreiches<br />

Leben, in dem es keine Disharmonien zwischen Bauch, Herz und Kopf gibt, das<br />

ist es, was für uns selbstverständlich ist und uns mit Wohlempfinden erfüllt.“<br />

erklärte <strong>Silke</strong>.<br />

Den Akku wieder aufladen<br />

Für Florian hatte sich einiges verändert. Den Gedanken an seinen Psychiater<br />

hatte er abgeschrieben. Eine Freundin, der er vertrauen konnte, suchte er nicht<br />

mehr. Jetzt gefiel es ihm ja, aber wo sollte er denn eine Perspektive mit <strong>Silke</strong><br />

sehen. Bis ins Alter immer ihr Liebhaber bleiben, oder würde sie eines Tages<br />

„unsere Röhre“ besorgen? Bestimmt würde sie lieber mit ihm leben wollen, als<br />

mit ihrem Mann, meinte Florian, obwohl er überhaupt nichts Konkretes über<br />

ihre Beziehung wusste. Vor allem aber waren da die Kinder, denen sie und die<br />

Familie gehörte. „Mein Mann fährt mit den Jungs über's Wochenende zum Skifahren.<br />

Ich sollte zu Hause bleiben, „mal richtig auftanken und den Akku wieder<br />

aufladen“ hat Benni gesagt.“ und <strong>Silke</strong> lachte. „Meinst du, ich könnte dir<br />

dabei behilflich sein?“ fragte Florian und lachte ebenso. „Na klar, einer muss<br />

doch auf die richtige Spannung achten.“ scherzte <strong>Silke</strong> weiter. „Was brauchst<br />

du denn? Ich bin mit Hunderttausend Volt geladen.“ Florian darauf. „Florian,<br />

wir machen es uns ein wenig gemütlich, nicht wahr?“ schlug <strong>Silke</strong> vor. Gemütlich<br />

war es ja immer, wenn <strong>Silke</strong> kam, aber jetzt würde ihr wohl etwas anderes<br />

vorschweben. Florian wusste zwar nicht, was <strong>Silke</strong> sich vorstellte, aber mit ihr<br />

ins Bett gehen, ob er das wollte? Er für sich schon, nur würde sich dadurch ihre<br />

und besonders <strong>Silke</strong>s Situation verändern. Aber wie viele Frauen schliefen nicht<br />

irgendwann mal mit einem anderen Mann. Allerdings war Florian für <strong>Silke</strong> ja<br />

nicht irgendein anderer Mann. Freitag, am Spätnachmittag rief sie an: „Hol<br />

schon mal Kuchen. Ich komme gleich.“ Sie hatte einen alten l'Heremitage mitgebracht.<br />

Bestimmt aus der Zeit als sie auch <strong>noch</strong> verdiente. So etwas konnte<br />

sich der Herr Oberarzt mit Familie jetzt auch nicht mehr täglich leisten. <strong>Silke</strong><br />

erzählte etwas zu dem Wein und dann zankten sie sich darüber, ob man <strong>noch</strong><br />

bis zum Abend warten könne, oder jetzt schon einen Schluck probieren müsse.<br />

Natürlich jetzt, <strong>Silke</strong> war schon mal im Anbaugebiet an der Rhone gewesen<br />

und erzählte weiter von diesem und anderen Urlauben. Das und so redete sie<br />

nie, wenn sie zusammen waren. „<strong>Silke</strong>,“ unterbrach sie Florian, „so interessant<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 13 von 21


wie deine Urlaubsgeschichten auch sind, aber muss ich das unbedingt jetzt<br />

wissen?“ <strong>Silke</strong> lächelte verlegen. Sie erweckte einen leicht nervösen Eindruck.<br />

„Was soll ich denn sagen, Florian?“ fragte sie und beide lachten. „Sag einfach<br />

nichts oder etwas Liebes. Beides ist schön. Ich dachte bei uns wäre immer alles<br />

so selbstverständlich.“ meinte Florian. „Natürlich, aber Unsicherheit gehört<br />

auch zu den Gefühlen, und die muss du auch frei ausleben können.“ <strong>Silke</strong> darauf.<br />

„Und was verunsichert dich so?“ wollte Florian wissen. „Ach, Florian, ich<br />

weiß selbst nicht was ich will. Mal stelle ich mir vor, wie schön es sein könnte,<br />

wenn wir uns liebten und dann sagt mein Kopf mir, dass er es nicht will.“ erklärte<br />

<strong>Silke</strong>. „Dein Kopf aus unserer oder der anderen Welt? Welcher ist es, der<br />

dir das verbieten will?“ fragte Florian. <strong>Silke</strong> antwortete nicht, sondern warf Florian<br />

um. Sie legte sich neben ihn auf die Couch und meinte: „Du hast Recht.<br />

An diesem Wochenende wird auf nur Bauch und Herz gehört und auf sonst<br />

nichts. So will es die Harmonie, die zwischen uns beiden, nicht wahr?“ Die<br />

Knospen der Harmonie sprossen eifrig, so dass man sie sich schon bald im Bett<br />

weiter entwickeln ließ. „Wie schön du bist.“ hatte Florian <strong>noch</strong> zwischendurch<br />

bemerkt, was <strong>Silke</strong> mit einem mokanten Grinsen quittierte. „Ja, es ist wahr.<br />

Das <strong>kann</strong>st du mir schon glauben. Oder meinst du, nur Teenies könnten schön<br />

sein?“ so Florian. Einem Wunder kam es gleich, dass sie jetzt gegenseitig ihre<br />

Haut spüren konnten, sich überall berühren und stricheln durften. Neue Kontinente<br />

des Erlebens entdecken sie im Körper der oder des anderen. Nachdem<br />

sie sich geliebt gatten, scherzte <strong>Silke</strong> erschlafft strahlend: „Und was war das<br />

für eine Welt? Ich <strong>kann</strong> mich nicht erinnern, dass es zu meinen damaligen Erfahrungen<br />

gehören sollte.“ „Das ist die neue Blüte, die erst ab einer gewissen<br />

Reife ihre Knospe öffnet.“ Florian darauf. Wie lange es auch gedauert hatte, bis<br />

sie sich ihrer Liebe zu Florian sicher war, so schnell hatte <strong>Silke</strong> sich jetzt in seinen<br />

Körper verliebt. Sie war beglückt, lebhaft und hell wach. Sie könne die<br />

ganze Nacht mit Liebe verbringen, meinte sie, aber irgendwann schliefen sie<br />

doch ein.<br />

Das Paradies ist nicht in dieser Welt<br />

„Unser Leben ist grundsätzlich ein anderes, Florian, aber es ist auch leicht. Es<br />

kennt nur die schönen Stunden. Wir empfinden uns frei, können unsere Gefühle<br />

entdecken und sie leben. Das technologisierte Alltagsgeschehen kommt hier<br />

nicht vor. Es ist nicht die Lebensrealität, eher ein wenig Märchenland. Ich würde<br />

sehr gerne immer bei dir sein, mit dir leben, aber die Vorstellung geht von<br />

falschen Bildern aus. Es wird nicht so sein wie jetzt.“ meinte <strong>Silke</strong> und fügte<br />

<strong>noch</strong> scherzend an, „Vielleicht würdest du mich dann plötzlich ganz anders sehen,<br />

und es ginge dir wie bei deiner Frau.“ „<strong>Silke</strong>, sag nicht so etwas. Du hast<br />

ja Recht, dass wir uns dann auch um die Müllentsorgung, das Einkaufen und<br />

das Putzen kümmern müssten. Und das darf nicht sein? Das wäre dann nicht<br />

mehr unser Leben?“ fragte Florian. „Darum geht es doch nicht.“ <strong>Silke</strong> darauf,<br />

„Wir würden uns auch anders erleben. Wenn ich komme, erlebst du mich immer,<br />

wie ich mich darauf freue, dich zu sehen. Du erlebst mich nie erschöpft<br />

zurückkommend, nie genervt über idiotisches, das die Kids sich wieder ausgedacht<br />

haben, nie gestresst, weil ich irgendetwas zu erledigen habe, das mich<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 14 von 21


ankotzt. Die <strong>Silke</strong> kennst du nicht, die kommt bei uns nicht vor.“ „Also doch<br />

völlig aus allem raus, aussteigen und in die Toskana?“ fragte Florian scherzhaft.<br />

„Du bist meine Toskana. Auch wenn ich gern immer bei dir wäre, ist es,<br />

glaube ich, doch sinnvoller, es so zu belassen.“ überlegte <strong>Silke</strong>. „Natürlich ist<br />

es störend mit der kurzen Zeit, die wir immer nur für uns haben, und so ein<br />

Wochenende wird es wohl nicht häufig geben, aber trotzdem muss ich sagen,<br />

dass ich auch so glücklich bin. Nur für dich finde ich es quälend. Es kommt mir<br />

vor, wie ein gespaltenes Leben. Wer bist du denn? Immer mal die eine und<br />

dann wieder die andere? Meiner Ansicht nach, muss dich das irre machen. Wo<br />

ist denn deine einheitliche Persönlichkeit? Sie ist gespalten in das, wie du gerne<br />

leben möchtest und deine Verpflichtungen, denen du dich unterworfen<br />

siehst. Grundsätzlich sehr viel anders ist es ja bei mir auch nicht, nur ich bin<br />

weniger gebunden als du, und da zeigt sich das Schizophrene nicht so massiv.“<br />

meinte Florian dazu. „Aber das hat doch niemand, ein Leben wie er es sich<br />

wünscht. Das Paradies ist nicht in dieser Welt. Es sind nur deine Träume. Die<br />

Spaltung zwischen ihnen und dem was sich real abspielt, existiert für alle.“ äußerte<br />

<strong>Silke</strong> dazu. „Mag schon was dran sein, <strong>Silke</strong>, aber deine Träume entsprechen<br />

doch Bedürfnissen, die du hast. Nicht dem Bedürfnis nach Macht und<br />

Reichtum, das Bedürfnis ist der Wunsch nach Anerkennung, die du glaubst darin<br />

zu sehen. Anerkennung durch Liebe und das Bedürfnis sie zu schenken, beherrschen<br />

deine Träume. Glücklich möchtest du sein und durch nichts dabei<br />

gestört werden. Das Bedürfnis nach Einheit stiftender Harmonie ist Grundlage<br />

deines Traumes. Ich denke auch, dass sich diese Träume unter den bestehenden<br />

Verhältnissen nicht voll realisieren lassen, aber wir beide könnten für uns<br />

viel dazu beitrage und mit vielem anders umgehen, wenn wir uns dessen bewusst<br />

sind.“ war Florians Ansicht. <strong>Silke</strong> schaute ins Ferne und überlegte. Dann<br />

schlug sie vor, ein wenig spazieren zu gehen.<br />

Irreale Spinnereien?<br />

An Benjamin hatte <strong>Silke</strong> grundsätzlich nichts auszusetzen. Die große Liebe war<br />

es zwar nicht gewesen, aber daran hatte <strong>Silke</strong> auch überhaupt nicht gedacht.<br />

Sie waren befreundet, und dann hatte sich mit ihrer Schwangerschaft eben alles<br />

so entwickelt. Benni war zuvorkommend und rücksichtsvoll, ein guter Mann<br />

und Vater. Gedanken an andere Männer waren bei <strong>Silke</strong> nie aufgekommen.<br />

Benni war schon in Ordnung, was sollte sie sich mehr wünschen. Nicht nur<br />

Benni war in Ordnung, alles war in Ordnung. Alles klappte und funktionierte,<br />

wie es sollte. Erst ihre Begegnung mit Florian hatte das gestört. Störungen<br />

hätte <strong>Silke</strong> nicht gewollt. Waren ihre Treffen mit Florian nicht irreale Spinnereien,<br />

die langsam anfingen gefährlich zu werden. Sie hatten damals ihr Projekt<br />

beendet und zwanzig Jahre ohne diese Erfahrung gelebt. Nur die schöne Erinnerung<br />

war geblieben. Ob es nicht vielleicht besser sein könnte, die Erfahrungen<br />

mit Florian jetzt auch zu den schönen Erinnerungen zu nehmen, bevor sie<br />

mit ihrem Handeln eventuell große Schäden anrichtete! „<strong>Silke</strong>, du bist tatsächlich<br />

schizophren. Wie <strong>kann</strong> dein Kopf nur so denken.“ rief sie sich selber wach.<br />

Sie habe sich selbst mit Florian anders sehen und erleben gelernt. Das sei sie<br />

auch in dieser ach so geordneten und ordentlichen Welt. Da hinter könne und<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 15 von 21


wolle sie nicht wieder zurück. Sie wolle auch mit Florian leben, nur wie und<br />

wann, das bereitete ihr <strong>noch</strong> Kopfzerbrechen.<br />

Gemeinschaftspraxis<br />

<strong>Silke</strong> schrieb an ihrer Doktorarbeit. Natürlich hatte sie ein Radiologie affines<br />

Thema gewählt. Unmengen an Material musste sie sich besorgen und auswerten.<br />

Sie stöhnte nicht, sondern konnte lachen. Der Tag für die Frau Dr. Fehrenbach<br />

rückte in greifbare Nähe. „Und wenn du's geschafft hast?“ wollte Florian<br />

schmunzelnd wissen. „Na ja, Herr Kollege, dann geht’s weiter, dann kommt die<br />

Radiologin. Es ist zwar schade, aber das mache ich nicht. Ich will nicht als Oma<br />

endlich meine Ausbildung abgeschlossen haben. Als ich dich besucht habe,<br />

träumte ich, das wir beide die Praxis hätten. Jetzt bald könnten wir.“ antwortete<br />

<strong>Silke</strong>. Das wäre natürlich auch Florians Traum, nur er konnte ja nicht seinem<br />

Kollegen sagen, dass er sich aus dem Staube machen solle. Und mit <strong>Silke</strong> anderswo<br />

eine neue Praxis eröffnen. Oh je, das würde kompliziert und nicht billig.<br />

Florian wollte sich beraten lassen. Mit großen Einschränkungen und Unsicherheiten<br />

wäre es verbunden, aber für eine Zusammenarbeit mit <strong>Silke</strong>, was sollte<br />

da schon zu schwierig sein. Er machte seinen Kollegen frühzeitig darauf aufmerksam,<br />

dass es eventuell dazu kommen könne. „Das ist schade, Florian. Es<br />

hat doch immer gut zwischen uns geklappt.“ erklärte Sebastian Klingenberg,<br />

der mit ihm die Praxis führte. „Ob ich mir einen neuen Partner suchen werde?<br />

Ich glaube eher nicht. Jemanden, mit dem ich mich so gut verstehe wie mit dir,<br />

werde ich wohl voraussichtlich nicht finden. Und Lust auf Stress habe ich absolut<br />

nicht. Ich bin ja ein Junge vom Land.“ erklärte er und lachte, „Bei mir zu<br />

Hause ist die Praxis verwaist und sie suchen dringend einen neuen. Man hat<br />

mich schon gefragt, aber hier aussteigen, das wollte ich nicht. Ich werde mir<br />

überlegen, ob ich es jetzt nicht doch machen sollte. Für euch wäre das ja eine<br />

riesige Erleichterung. Wer ist die Frau denn überhaupt? Hast du 'ne Freundin?“<br />

Florian lächelte: „Ja gute Be<strong>kann</strong>te und Freundin, sie ist die Frau von Dr. Fehrenbach<br />

von der Uni. Wir haben zusammen studiert.“ <strong>Silke</strong> war ganz außer<br />

sich, als sie davon erfuhr. „Gib deinem Kollegen tausend Küsse von mir.“ sprudelte<br />

sie hervor und meinte, man müsse sich doch mal treffen. Sie wolle ihn<br />

auch kennen lernen. Ihrem Mann gegenüber stellte sie es andersherum dar.<br />

Sie habe davon erfahren, dass in einer Gemeinschaftspraxis jemand aussteige,<br />

und der Kollege sei bereit, sie als neue Partnerin zu nehmen.<br />

Ich bin jeden morgen glücklich<br />

Für Urlaub war in diesem Jahr keine Zeit. Darum musste sich <strong>Silke</strong>s Mann diesmal<br />

alleine kümmern. Sie musste ja die Wiedereröffnung der Praxis planen und<br />

das Verhältnis zu ihrem neuen Partner auf den rechten Weg bringen und pflegen.<br />

„So ganz up to date ist das ja alles nicht bei euch.“ nörgelte <strong>Silke</strong> schon<br />

bevor sie angefangen hatte. „Ihr versteht nichts von Marketing. Wie der Onkel<br />

Doktor von früher macht ihr alles und nichts. Wir brauchen irgendwelche<br />

<strong>Silke</strong> <strong>kann</strong> <strong>noch</strong> träumen – Seite 16 von 21


Schwerpunkte, mit denen wir werben können.“ Krebsverhütung und -vorsorge<br />

sollten ihre Spezialgebiete sein. Dazu brauchte es Information und Kontakte zu<br />

den Zentren. Nicht wenig wusste <strong>Silke</strong> aus ihrer radiologischen Praxis. Sie hatten<br />

tatsächlich viel zu tun, um alles zu organisieren und vorzubereiten. „Jetzt<br />

bist du auch geschafft und lachst trotzdem <strong>noch</strong>.“ bemerkte Florian. „Ja, weil<br />

es unser Baby ist, dem wir hier auf die Welt helfen. Ich glaube, du hattest<br />

schon Recht, dass wir vieles anders machen können. Aber die schönen Tage in<br />

Aranjuez werden bald zu Ende sein.“ meinte <strong>Silke</strong>. „Ja, das ist mehr als<br />

schade, aber mit unserer Arbeit hat das doch nichts zu tun.“ Florian dazu. „Ich<br />

finde doch,“ widersprach <strong>Silke</strong>, „auch wenn ich jetzt mal deinen Müll rausbringe<br />

oder die Spülmaschine einräume, diesen entfremdeten Alltag gibt es nicht bei<br />

uns, und das wirkt sich auf alles aus. Ich bin jeden morgen glücklich, wenn ich<br />

aufstehe. Das kenne ich nicht. Sonst schleppe ich mich immer pflichtgemäß<br />

aus dem Bett. Das Leben ist anders und beeinflusst deinen ganzen Tag.“<br />

Ich weiß nicht mehr, was das soll<br />

Wundervoll empfand es Florian. Sie hatten jetzt permanent miteinander zu tun,<br />

verbrachten die Mittagszeit gemeinsam und machten auch schon mal 'Überstunden'.<br />

„Ich weiß nicht mehr, was das soll.“ erklärte <strong>Silke</strong> eines Tages. „Ich<br />

habe Angst. Sehe mich als undankbar, grausam und verletzend, und das will<br />

ich nicht sein. Benjamin hat mir nichts getan, ist immer gut zu mir gewesen<br />

und war ein prima Vater. Trotzdem. Ich lebe ja gar nicht mehr mit ihm, ich bin<br />

ja nur <strong>noch</strong> öfter anwesend. Er scheint es nicht wahrzunehmen und ihn scheint<br />

es nicht zu stören. Ich ertrage es nicht, wenn er zärtlich zu mir sein will, und<br />

ich nicht <strong>kann</strong>. Ich mach' das nicht mehr. Ich hab' nur Angst und weiß nicht<br />

wie.“ Florian schloss die Lieder und hob die Augenbrauen an. Fragend, skeptisch<br />

fixierte er <strong>Silke</strong>. „Ja, ich werde es tun. Ganz sicher. Egal, ob du mich<br />

nimmst oder nicht.“ erklärte sie. Florian lachte laut und schloss <strong>Silke</strong> in die<br />

Arme. „Siehst du? Ich habe dich doch schon genommen, meine Süße, oder<br />

wäre es dir lieber, wenn ich dich rauben würde. „Ärztin nach Praxisschluss vom<br />

Kollegen entführt.“ Könnte dir das mehr gefallen?“ Florian zu <strong>Silke</strong>. „Au ja, so<br />

machen wir das. Dann bin ich ja unschuldig, nur du kämst wegen Frauenraub<br />

ins Kittchen, da hätten wir auch wieder nix von. Mach mich ganz stark, drück<br />

mir die Daumen und lass mich gute Worte finden.“ wünschte sich <strong>Silke</strong>.<br />

Des Lebens schönster Lenz ist mein<br />

Fast zwei Monate benötigte <strong>Silke</strong> <strong>noch</strong>, bis sie eine Gelegenheit fand, in der sie<br />

sich stark genug fühlte und die sie für günstig hielt. Sie hatte es mehr darauf<br />

bezogen, dass ihr Leben mit Benni zur Routine geworden sei und ihre Beziehung<br />

so jedes Anreizes entbehre. Ihre Beziehung sei hohl geworden und funktioniere<br />

nur <strong>noch</strong> formal. Das könne sie nicht ertragen und es mache sie empfänglich<br />

für Zuneigung, die ihr Praxispartner ihr entgegenbringe. Sie könne<br />

sich dem nicht entziehen. Was werde wisse sie überhaupt nicht, nur so weiter<br />

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könne sie nicht. Tausendfaches Lob und Dank ohne Ende für Benni, aber das<br />

könne die Lage nicht ändern. Nach zwei Stunden hatte sie es geschafft. Manchmal<br />

konnte sie das Heulen nur schwer unterdrücken, wenn Benni wehmutsvoll<br />

von alten Erlebnissen berichtete. „Geschichte, Geschichte, Geschichte“ redete<br />

sie sich ein, um nicht darüber ins Gespräch zu kommen. In ihrem Zimmer<br />

musste sich <strong>Silke</strong> erste mal wieder sammeln. Eine Geschichte von siebzehn<br />

Jahren hatte sie beendet. Keine Zweifel und keine Fragen, das ließ sie jetzt<br />

nicht zu. Als sie Florian anrief, konnte sie ihm nicht jubilierend mitteilen, dass<br />

es vollbracht sei und ihnen jetzt alle Türen offen stünden. „Florian, ich hab's<br />

gemacht.“ sagte <strong>Silke</strong> nur nüchtern, und Florian wusste im Moment nicht, wie<br />

er reagieren sollte. „Du bist stark, meine Liebe.“ sagte er und fügte hinzu:<br />

„Ich möchte dich gern so bald als möglich in die Arme schließen.“ <strong>Silke</strong><br />

überlegte, ob sie nicht nach dem Abendbrot <strong>noch</strong> zu Florian fahren sollte. Jetzt<br />

spielte es ja keine Rolle mehr und Benjamin könnte den Jungen in aller Ruhe<br />

davon berichten. Sie saßen am Tisch, betrachteten sich lächelnd, als ob sie<br />

sich neu zu entdecken hätten. Florian machte einen Wein auf und die<br />

getragene Stimmung wechselte langsam zu beschaulicher Freude. Sie saßen<br />

auf der Couch. <strong>Silke</strong> hatte ihren Kopf liebesbedürftig an Florians Schulter<br />

gelegt. Leise begann sie zu singen:<br />

„Er nahm sie um den Leib und lachte<br />

Und flüsterte: O, welch ein Glück<br />

Und dabei bog er sachte, sachte<br />

Den Kopf ihr auf die Couch zurück<br />

Seit jenem Tage lieb' ich alles<br />

Des Lebens schönster Lenz ist mein<br />

Und wenn ihr gar nichts mehr gefalle<br />

Dann wollt sie gern begraben sein.“<br />

Florian lachte, küsste und drücke sie. „Du <strong>kann</strong>st es ja doch <strong>noch</strong>, Ilse. Einfach<br />

so aus dem Stegreif Wedekind umdichten. Es gehört zu dir, wenn auch vielleicht<br />

nicht zu deiner Persönlichkeit aber verlieren wirst du es nie wieder können.“<br />

bemerkte Florian und streichelte der anlehnungsbedürftigen <strong>Silke</strong> übers<br />

Haar. „Es war anstrengend für dich. Jetzt bist du geschafft, nicht wahr?“ vermutete<br />

Florian. „Das vielleicht auch, aber ich habe ein großes Haus abgerissen.<br />

Eine Lücke wie eine offene Wunde ist dort verblieben. Die muss heilen und gut<br />

gepflegt werden.“ deutete es <strong>Silke</strong>. „Wer könnte die Wundpflege besser übernehmen<br />

als Dr. Pohle, nicht wahr?“ Florian dazu. Nein, getröstet werden<br />

brauchte sie nicht, brauchte auch keine Anerkennung für ihr mutiges, tapferes<br />

Handeln, nur spüren, dass sie geliebt wurde, eingebettet war in das Nest, das<br />

Florian und sie sich gebaut hatten. Warum sollte sie nach Hause fahren? Hier<br />

brauchten sie sich beide, brauchten die glückliche Wärme, die ihre Liebe ihnen<br />

gab. „Werden wir uns jetzt <strong>noch</strong> näher sein?“ wollte <strong>Silke</strong> wissen. „Ich denke<br />

schon.“ meinte Florian, „Nach und nach werden wir alle Störimpulse, die unserer<br />

vollkommenen Liebe <strong>noch</strong> im Wege stehen abbauen.“ „Und dann stehen<br />

uns die Pforten des Paradieses schon hier auf Erden offen, nicht wahr?“ scherzte<br />

<strong>Silke</strong> und schmunzelte. In der Nacht weckte sie den schon fast schlafenden<br />

Florian: „Hey, dies ist unsere Hochzeitsnacht. Hast du das gar nicht gemerkt?“<br />

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flüsterte <strong>Silke</strong> Florian ins Ohr. „Das ist ja unsere uralte Krux. Wir merken es<br />

nicht. Alles ist immer ganz selbstverständlich.“ Florian scherzend darauf und<br />

die beiden umschlangen sich wieder.<br />

On revient toujours à ses premiers amours<br />

Dominique und Fabian, die beiden Jungen, waren gar nicht begeistert. Ob sie<br />

nicht wenigstens so lange zusammen bleiben könnten, bis sie aus dem Haus<br />

wären, hatten sie vorgeschlagen. Ob sie lieber zu Benjamin oder <strong>Silke</strong> wollten,<br />

konnten sie nicht entscheiden, aber eine Trennung ließen sie nicht zu. Es gab<br />

ja rechtliche Regulierungen, aber sie wollten die Jungen selber entscheiden lassen.<br />

<strong>Silke</strong> sprach mit ihnen. Sie konnte ja vieles erzählen, von dem Benjamin<br />

überhaupt nichts wusste. Florian sei ihre erste Liebe gewesen und sie habe es<br />

gar nicht gewusst. Das musste sie erläutern und gab Anlass zum Lachen, zum<br />

Staunen und zu ausführlichen Diskussionen über das brennend heiße Thema<br />

Liebe allgemein und in speziellen Fällen. Er möge Fabia sehr, sehr gut leiden,<br />

aber für Liebe hielte er das auch nicht. Was er denn tun könne, wollte Dominique<br />

zum Beispiel wissen. Anschließend empfand sich Dominique als Liebesexperte.<br />

Das Unbewusste spiele eine endscheidende Rolle. Sein zweiter Name,<br />

Florian, sei auch ein Produkt ihres Unbewussten, erläuterte <strong>Silke</strong>. Ein unbezweifelbares<br />

Zeichen, dass sie Florian geliebt haben müsse. „Und so ist es gekommen.<br />

„On revient toujours à ses premiers amours“ Das war eben Florian.“<br />

„Oh Schreck!“ stöhnte Fabian auf. Er musste erzählen. Alle lachten und <strong>Silke</strong><br />

tröstete ihn, dass es ja vielleicht gar keine richtige Liebe gewesen sei. „Dominique<br />

ist ja nicht schlecht, aber Florian gefiele mir schon besser. Was meinst du,<br />

ob ich mich in Zukunft einfach so nennen <strong>kann</strong>?“ wollte Dominique wissen. Ein<br />

vertrautes, warmes, freundliches und lustiges Gespräch, wie <strong>Silke</strong> es schon<br />

lange nicht mehr mit den beiden gehabt hatte. Sie waren sich näher gekommen.<br />

„Meine erste Liebe warst du, nicht wahr.“ sagte Dominique und fiel <strong>Silke</strong><br />

um den Hals. Fabian schloss sich an, umarmte und drückte sie auch. Dass sie<br />

bei <strong>Silke</strong> bleiben würden, stand außer Frage. Sie konnten mit Benni vieles unternehmen,<br />

das war nicht schlecht, aber in Herzensangelegenheiten war <strong>Silke</strong><br />

ihr Ankerplatz. Wie bedeutsam es für sie war, hatte nicht zuletzt dieses Gespräch<br />

ihnen klar gemacht.<br />

Neue Blütenpracht<br />

Florian freute es maßlos, nur zu viert in seiner Wohnung, das wäre doch wohl<br />

ein wenig zu eng. Eine neue Wohnung oder ein Haus würde gebraucht. Benjamin<br />

war wie immer und trotz allem höchst anständig. Wenn die Jungen bei <strong>Silke</strong><br />

bleiben wollten, mache es ja keinen Sinn, dass sie sich etwas Neues suchen<br />

müssten, und er alleine in dem großen Haus wohnen bliebe. Er wollte ausziehen.<br />

Florian gefiel die Vorstellung, im Haus von <strong>Silke</strong>s Familie zu wohnen nicht<br />

besonders. Zunächst kam er sie immer nur besuchen, zwar häufig, aber ständig<br />

anwesend war er nicht. <strong>Silke</strong> übte sich in Geduld, bis ihm im Frühjahr Do-<br />

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minique und Fabian mal einiges verdeutlichten. „Mann, Florian, du empfindliches<br />

Seelchen, als Henker warst du doch auch ein Brutalo, <strong>kann</strong>st du denn<br />

nicht mal ein bisschen härter mit dir selber sein. Dass du Mami weh tust,<br />

scheint dich nicht zu stören. Wie soll das denn zu eurer großen Liebe passen?<br />

Gib endlich deine Hütte auf und bleib hier. Uns passt es auch nicht, dich immer<br />

als Besuch zu erleben.“ verdeutlichte ihm Dominique, der sich jetzt auch Florian<br />

nannte. Florian zog um. Nicht auf's Land, aber das neue Leben konnte er<br />

trotzdem mehr als nur wachsen hören. Er gehörte dazu, zum neuen Leben, das<br />

ihm wie eine neue Blume erschien, die nach endlos langer Herbst- und Winterzeit<br />

jetzt ihre Blütenpracht entfaltete. Ihre eigene Sonne ließ ihre lebhaften<br />

Farben erstrahlen, und dunkler, wolkenverhangener Himmel konnte ihr Leuchten<br />

nicht trüben.<br />

FIN<br />

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On revient toujours à ses premiers amours<br />

Etienne »Joconde«<br />

Aber davon konnte er nur sinnierend träumen. Er musste arbeiten und saß in<br />

seinem Behandlungszimmer. „Frau Fehrenbach zu Dr. Pohle, bitte.“ tönte es<br />

aus dem Lautsprecher im Wartezimmer. Florian Pohle war Arzt in einer Gemeinschaftspraxis<br />

und Frau Fehrenbach eine neue Patientin. Eine neue Patientin<br />

mit vierzig Jahren hatte er zwar nicht jeden Tag, aber unüblich war es nicht.<br />

Als die Tür aufging schaute Florian Pohle kurz, riss seine Augen auf, stürmte<br />

lachend hinter dem Schreibtisch hervor und umarmte die neue Patientin.<br />

„<strong>Silke</strong>, wo kommst du her?“ fragte er überrascht, weil ihm nichts Gescheiteres<br />

einfiel. „<strong>Silke</strong>, meine Liebste, wo steckst du?“ „Na hier, genau wie du.“<br />

antwortete sie lächelnd. „Eine Patientin hatte als Hausarzt Dr. Pohle<br />

angegeben, und da musste ich mich doch mal genauer informieren.“ Florian<br />

starrte sie nur an. Vor zwanzig Jahren hatten sie sich einfach so aus den Augen<br />

verloren. Ihr Studentenkabarett „Die fünf Scharfrichter“, das sie nach den<br />

historischen „Elf Scharfrichtern“ benannt hatten, löste sich auf. Sie hatten zwar<br />

Erfolge, aber verstanden sich untereinander nicht mehr. <strong>Silke</strong>, die wie ein<br />

Groupie an allem beteiligt war, aber nie auf die Bühne ging, stand immer zu<br />

Florian. Mit ihm hatte sie am meisten zu tun, und sie mochten sich wohl auch,<br />

aber mehr war da nicht. Jetzt waren bei Florian plötzlich die alten Zeiten<br />

wieder lebendig, wie sie gemeinsam die Texte zusammengeschustert und die<br />

Auftritte geplant hatten, und immer war <strong>Silke</strong> mit dabei. „Was machst du? Wo<br />

praktizierst du? Und wieso heißt du nicht mehr Bäumer?“ fragte Florian und<br />

grinste. Alles mussten sie klären, trafen sich öfter, natürlich nicht in der Praxis.<br />

Völlig verschiedene Leben waren es, damals und heute. <strong>Silke</strong> und Florian<br />

versuchten ein neues, einer Knospe im Frühling gleich.<br />

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