24.11.2013 Aufrufe

Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...

Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...

Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

75<br />

"Die erklärende Psychologie, welche gegenwärtig ein so grosses Maass von Arbeit <strong>und</strong> Interesse<br />

in Anspruch nimmt, stellt einen Causalzusammenhang auf, welcher alle Erscheinungen<br />

des Seelenlebens begreiflich zu machen beansprucht. Sie will die Constitution <strong>der</strong> seelischen<br />

Welt nach ihren Bestandtheilen, <strong>Kräfte</strong>n <strong>und</strong> Gesetzen genau so erklären, wie die Physik <strong>und</strong><br />

Chemie die <strong>der</strong> Körperwelt erklärt. Beson<strong>der</strong>s klare Repraesentanten dieser erklärenden Psychologie<br />

sind die Associationspsychologen HERBART, SPENCER, TAINE, die verschiedenen<br />

Formen von Materialismus. Der Unterschied zwischen erklärenden <strong>und</strong> beschreibenden<br />

Wissenschaften, den wir hier zu Gr<strong>und</strong>e legen, entspricht dem Sprachgebrauch. Unter einer<br />

erklärenden Wissenschaft ist jede Unterordnung eines Erscheinungsgebietes unter einen Causalzusammenhang<br />

vermittelst einer begränzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen<br />

(d.h. Bestandtheilen des Zusammenhangs) zu verstehen. Dieser Begriff bezeichnet das Ideal<br />

einer solchen Wissenschaft, wie es insbeson<strong>der</strong>e durch die Entwickelung <strong>der</strong> atomistischen<br />

Physik sich gebildet hat. Die erklärende Psychologie will also die Erscheinungen des Seelenlebens<br />

einem Causalzusammenhang vermittelst einer begränzten Zahl von eindeutig bestimmten<br />

Elementen unterordnen. Ein Gedanke von ausserordentlicher Kühnheit, welcher in sich<br />

die Möglichkeit einer unermesslichen Entwickelung <strong>der</strong> Geisteswissenschaften zu einem den<br />

Naturwissenschaften entsprechenden strengen System <strong>der</strong> Causalerkenntniss tragen würde.<br />

Wenn jede Seelenlehre ursächliche Verhältnisse im Seelenleben zum Bewusstsein bringen<br />

will, so ist das unterscheidende Merkmal <strong>der</strong> erklärenden Psychologie darin gelegen, dass sie<br />

aus einer begränzten Zahl eindeutig bestimmter Elemente eine ganz vollständige <strong>und</strong> durchsichtige<br />

Erkenntniss <strong>der</strong> seelischen Erscheinungen herbeizuführen überzeugt ist. Sie würde<br />

mit dem Namen <strong>der</strong> constructiven Psychologie noch schärfer bezeichnet werden. Zugleich<br />

würde dieser Name den grossen historischen Zusammenhang, in welchem sie steht, herausheben."<br />

Mit diesen Worten charakterisiert Dilthey eine in seiner Zeit weit verbreitete <strong>und</strong> tonangebende<br />

Richtung <strong>der</strong> Psychologie, <strong>der</strong>en entscheidendes Merkmal er darin sieht, die Gesamtheit<br />

des menschlichen Seelenlebens nach dem Vorbild <strong>der</strong> Naturwissenschaften kausal auf eine<br />

sehr begrenzte Anzahl von Hypothesen respektive hypothetischer Gr<strong>und</strong>annahmen <strong>zur</strong>ückzuführen.<br />

Und nur über die Verbindungen eines unabsehbaren Netzes solcher Hypothesen, so<br />

Dilthey, könne sie ihr Ziel verfolgen. 105 Am Ende aber stehe dann lediglich ein dichtes Geflecht<br />

aus hypothetischen Annahmen, die je<strong>der</strong>zeit durch an<strong>der</strong>e ersetzt werden könnten, da<br />

sie gr<strong>und</strong>sätzlich aus sich selbst heraus nicht tragfähig seien. Daher sei die Anwendung kausalerklären<strong>der</strong><br />

naturwissenschaftlicher Hypothesen auf das menschliche Seelenleben we<strong>der</strong><br />

angemessen, noch bestehe jemals die Aussicht, aus <strong>der</strong> anwachsenden Flut solcher Hypothesenbildungen<br />

angemessene herauszuschälen <strong>und</strong> abzusichern, <strong>und</strong> <strong>der</strong> einen vor <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

einen höheren Grad an Erklärungskraft <strong>und</strong> Wahrscheinlichkeit beizulegen. Dilthey auf S.<br />

1312 ff weiter:<br />

"Indem nun aber die erklärende Psychologie das Verfahren <strong>der</strong> naturwissenschaftlichen<br />

Hypothesenbildung, durch welche zu dem Gegebenen ein Causalzusammenhang ergänzend<br />

hinzugefügt wird, auf das Seelenleben überträgt: entsteht die Frage, ob diese Übertragung berechtigt<br />

sei. Es ist zu zeigen, dass diese Übertragung wirklich in <strong>der</strong> erklärenden Psychologie<br />

stattfinde, <strong>und</strong> die Gesichtspunkte sind anzugeben, unter welchen gegen diese Übertragung<br />

Bedenken entstehen: Beides hier nur vorläufig, da in <strong>der</strong> ganzen weiteren Darstellung direct<br />

o<strong>der</strong> mittelbar weitere Ausführungen hierüber enthalten sind.<br />

Wir stellen zunächst die Thatsache fest, dass jede erklärende Psychologie eine Combination<br />

von Hypothesen zu Gr<strong>und</strong>e legt, welche durch das angegebene Merkmal sich zweifellos als<br />

solche kennzeichnen, indem sie an<strong>der</strong>e Möglichkeiten nicht auszuschliessen vermögen. Noch<br />

105<br />

Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende <strong>und</strong> zerglie<strong>der</strong>nde Psychologie, in Sitzungsberichte <strong>der</strong><br />

königl preuss. Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften, Jahrgang 1894, zweiter Halbband S. 1309 f.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!