Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...

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6 kennen wir gar nicht und werden sie auch künftig nicht kennen. Und infolgedessen können wir auch die Lebensgesetze, die dem Lebendigen ursächlich zugrunde liegen, nicht aus der Perspektive des höchsten Wesens "von oben herab" erklären. Deswegen, so Kant, bleibt dem Menschen letzten Endes nur die mechanistische Erklärung der Natur, weil nur diese Art der Naturerkenntnis ihm angemessen ist. Auf einen Newton der mechanistischen Lebenserklärung ist freilich in seinen Augen ebenso wenig zu hoffen wie auf die übersinnliche, "sondern man muß diese Einsicht dem Menschen schlechthin absprechen." Der grosse Philosoph Kant hätte wohl nur irritiert oder verständnislos seufzend mit den Schultern gezuckt, falls ihm jemand mit dem Kompliment gekommen wäre, er habe eine lebendige Erkenntnistheorie verfasst. Warum nur sollte einer auf den Gedanken verfallen seinem erkenntnistheoretischen Grundwerk das Etikett lebendig anzuheften, wo er selbst doch die wissenschaftliche Erkenntnis des Lebendigen ganz rundheraus ausschliesst? Dass, und warum Goethe in genau dieser Frage - Erkenntnis des Lebendigen - anderer Meinung war als Kant, darum geht es Steiner nicht nur an dieser und der von Traub angegebenen Stelle in GA-18, sondern schon weit im Vorfeld auf den vorangehenden etwa zehn Seiten. Nicht aber setzt er sich damit auseinander, ob Kant eine lebendige Erkenntnistheorie verfasst habe oder nicht. Kapitel 2 Bildende Kräfte bei Kant und Steiner Diese Sachlage - Suche nach einer Erkenntnis des Lebendigen - lässt sich spannenderweise noch näher pointieren, und das scheint mir philosophiegeschichtlich von einigem Interesse. Denn Gegenstand Steiners ist im fraglichen Kontext von GA-18 im engeren Sinne dasjenige, was Kant in der Kritik der Urteilskraft (§ 65, S. 237) die bildenden Kräfte nennt, die allen Lebewesen organisierend zugrunde liegen. Dies ist insofern bemerkenswert, weil Steiner in geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen selbst von geistigen Bildekräften spricht, welche unter anderem die von Kant angedeutete Funktion haben. Sie liegen dem Leben als geistig organisierende Kräfte zugrunde, welche verhindern, dass der physische Organismus, sofern er nur den physikalischen und chemischen Naturkräften überlassen bleibt, zerfällt und zugrunde geht. Und sie sind für Steiner auch Träger der menschlichen Gedankenbildung - etwas, was Kant allerdings in der Kritik der Urteilskraft nicht andeutet. Anthroposophische Leser, vor allem wenn sie pädagogisch oder medizinisch orientiert sind, werden diese Eigenschaften der Bildekräfte als Basis des Lebens und Denkens vielleicht kennen. In der Pädagogik und Entwicklungslehre Steiners nämlich spielen sie eine grosse Rolle, dergestalt, dass die den menschlichen Organismus aufbauenden und gestaltenden Bilde-Kräfte zunächst ganz auf diesen organischen Aufbau hin orientiert sind. Und entsprechend die Denkkräfte in dem Masse frei werden, in dem die Reifevorgänge des Organismus im Laufe der Kindheit und Jugend ihrem Abschluss entgegen gehen. Diese Dinge hängen für Steiner eng und pädagogisch bedeutsam mit einander zusammen, wie er noch kurz vor seinem Tode in dem gemeinsam mit Ita Wegmann herausgegebenen Buch Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA-27, Dornach 1991, S. 12 f betont: "Es ist von der allergrößten Bedeutung zu wissen, daß die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte sind. Im Gestalten und Wachsen des menschlichen Organismus offenbart sich ein Geistiges. Denn dieses Geistige erscheint dann im Lebensverlaufe als die geistige Denkkraft. [] Und diese Denkkraft ist nur ein Teil der im Ätheri ­ schen webenden menschlichen Gestaltungs- und Wachstumskraft. Der andere Teil bleibt

7 seiner im menschlichen Lebensbeginne innegehabten Aufgabe getreu. Nur weil der Mensch, wenn seine Gestaltung und sein Wachstum vorgerückt, das ist, bis zu einem gewissen Grade abgeschlossen sind, sich noch weiter entwickelt, kann das Ätherisch- Geistige, das im Organismus webt und lebt, im weiteren Leben als Denkkraft auftreten. [] So offenbart sich der imaginativen geistigen Anschauung die bildsame (plastische) Kraft als ein Ätherisch-Geistiges von der einen Seite, das von der andern Seite als der Seelen-Inhalt des Denkens auftritt." 5 Die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen sind in Steiners Augen "die verfeinerten Gestaltungs- und Wachstumskräfte" geistiger Art. Anders gesagt: das gewöhnliche menschliche Denken hat ungeheuer viel mit dem Leben, dem Lebendigen zu tun, insofern es denselben Kräften entstammt, die auch den Organismus des Menschen geistig unterhalten. Noch ganz anders gewendet: Steiners Kernfrage nach dem Ursprung des Denkens aus dem ersten Kapitel der Philosophie der Freiheit - übrigens schon in der Erstausgabe von 1894, dort im zweiten Kapitel - führt auf die hier genannten Bildekräfte, denn dort liegt für ihn der Ursprung des Denkens. Die hier noch vorläufige werkgeschichtliche Frage ist: in wie weit ist das in der ersten oder der zweiten Auflage der Philosophie der Freiheit bereits erkennbar? Es wird in dem Zitat oben auch ein Hinweis darauf gegeben, wo und in welcher Weise die Bildekräfte dem Erkennen zugänglich werden. Steiner nennt die imaginativ geistige Anschauung, das ist seinem Verständnis nach die untere der drei höheren Erkenntnisstufen, die über das gewöhnliche Denken und Erkennen hinaus liegen. (Näheres dazu in GA-27) Auf jeden Fall eine übersinnliche Erkenntnisart, was sich grob betrachtet durchaus mit Kants Einschätzung der Sachlage deckt. Freilich mit dem Unterschied, dass Kant die Ausbildung eines menschlichen übersinnlichen Erkenntnisvermögens für ganz unmöglich hielt. Anders auch insofern, als Steiners Weg methodisch nicht "von oben herab", wie Kant das nennt, etwa durch philosophisch-logisches Erraten der Pläne eines göttlichen Wesens verläuft, sondern von unten hinauf, über eine systematische empirische Freilegung dessen, was im Denken (und Wollen) enthalten ist. Hier sei zunächst nur zusammengefasst: die von Kant in der Kritik der Urteilskraft philosophisch angedeuteten geistigen Bildekräfte als Grundlage des Lebens sind Steiners (und Goethes) Thema an der fraglichen Stelle in GA-18. Traubs Verkennung dieses Sachverhaltes in Steiners Schrift ist angesichts der Eindeutigkeit von Steiners dortiger Betrachtung etwas verblüffend, und seine sachwidrige Orientierung in Richtung einer lebendigen Erkenntnistheorie Kants liegt denn doch weit entfernt von dem, was Steiners konkretes Anliegen an der entsprechenden Stelle ist. Der ganze Sinnzusammenhang von mehr als zehn Seiten in Steiners Schrift ist ihm offensichtlich ganz unzugänglich geblieben. Abgesehen davon ist schwer zu sagen, was Hartmut Traub hier unter dem lebendigen Charakter einer Erkenntnistheorie, speziell derjenigen Kants, versteht. Sollte er damit eine realitätsbezogene oder realitätshaltige Erkenntnistheorie meinen? Dann müsste sich Kant in den Augen Steiners zumindest mit den konkreten Vorgängen des Denkens und Erkennens beschäftigt haben. Das hat er nun allerdings nicht, und Kant würde es weit von sich gewiesen haben, falls ihm jemand unterstellt hätte, er habe konkrete Denk- und Erkenntnisakte beobachtet und untersucht. Empirische Beobachtungen (seelische Beobachtungen) dieser Art hielt er nämlich ebenfalls für ganz ausgeschlossen, wie man seiner Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft entnehmen kann. 6 Davon an anderer Stelle mehr. Neben dem Hinweis auf eine Art mentaler Handlungstheorie Kants aber lässt sich Hart­ 5 Es ist keineswegs eine vereinzelte Stelle, an der Steiner auf diesen Zusammenhang hinweist. Aber eine besonders eindrückliche und plakative. Er verwendet hier in Anlehnung an ältere esoterische Traditionen den Ausdruck Ätherisches und Ätherleib, der bei ihm gebräuchlicher ist, aber dasselbe besagt wie Bildekräfte und Bildekräfteleib. Siehe zum diesbezüglichen Sprachgebrauch Steiners Erläuterung in der Schrift Von Seelenrätseln, GA-21, Dornach 1976, S. 160. Vortragsweise erwähnt Steiner auch, dass der Ausdruck Äther bzw Ätherleib älteren esoterischen Traditionen entstammt, und der Terminus Bildekäfte bzw Bildekräfteleib eigentlich moderner und angemessener sei. Siehe etwa GA-82, Dornach 1994, S. 128, Vortrag vom 10. April1922.

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seiner im menschlichen Lebensbeginne innegehabten Aufgabe getreu. Nur weil <strong>der</strong><br />

Mensch, wenn seine Gestaltung <strong>und</strong> sein Wachstum vorgerückt, das ist, bis zu einem<br />

gewissen Grade abgeschlossen sind, sich noch weiter entwickelt, kann das Ätherisch-<br />

Geistige, das im Organismus webt <strong>und</strong> lebt, im weiteren Leben als Denkkraft auftreten. []<br />

So offenbart sich <strong>der</strong> imaginativen geistigen Anschauung die bildsame (plastische) Kraft als<br />

ein Ätherisch-Geistiges von <strong>der</strong> einen Seite, das von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite als <strong>der</strong> Seelen-Inhalt<br />

des Denkens auftritt." 5<br />

Die gewöhnlichen Denkkräfte des Menschen sind in <strong>Steiners</strong> Augen "die verfeinerten Gestaltungs-<br />

<strong>und</strong> Wachstumskräfte" geistiger Art. An<strong>der</strong>s gesagt: das gewöhnliche menschliche<br />

Denken hat ungeheuer viel mit dem Leben, dem Lebendigen zu tun, insofern es denselben<br />

<strong>Kräfte</strong>n entstammt, die auch den Organismus des Menschen geistig unterhalten. Noch ganz<br />

an<strong>der</strong>s gewendet: <strong>Steiners</strong> Kernfrage nach dem Ursprung des Denkens aus dem ersten Kapitel<br />

<strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> - übrigens schon in <strong>der</strong> Erstausgabe von 1894, dort im zweiten<br />

Kapitel - führt auf die hier genannten Bildekräfte, denn dort liegt für ihn <strong>der</strong> Ursprung des<br />

Denkens. Die hier noch vorläufige werkgeschichtliche Frage ist: in wie weit ist das in <strong>der</strong> ersten<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> zweiten Auflage <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> bereits erkennbar?<br />

Es wird in dem Zitat oben auch ein Hinweis darauf gegeben, wo <strong>und</strong> in welcher Weise die<br />

Bildekräfte dem Erkennen zugänglich werden. Steiner nennt die imaginativ geistige Anschauung,<br />

das ist seinem Verständnis nach die untere <strong>der</strong> drei höheren Erkenntnisstufen, die über<br />

das gewöhnliche Denken <strong>und</strong> Erkennen hinaus liegen. (Näheres dazu in GA-27) Auf jeden<br />

Fall eine übersinnliche Erkenntnisart, was sich grob betrachtet durchaus mit Kants Einschätzung<br />

<strong>der</strong> Sachlage deckt. Freilich mit dem Unterschied, dass Kant die Ausbildung eines<br />

menschlichen übersinnlichen Erkenntnisvermögens für ganz unmöglich hielt. An<strong>der</strong>s auch insofern,<br />

als <strong>Steiners</strong> Weg methodisch nicht "von oben herab", wie Kant das nennt, etwa durch<br />

philosophisch-logisches Erraten <strong>der</strong> Pläne eines göttlichen Wesens verläuft, son<strong>der</strong>n von unten<br />

hinauf, über eine systematische empirische Freilegung dessen, was im Denken (<strong>und</strong> Wollen)<br />

enthalten ist. Hier sei zunächst nur zusammengefasst: die von Kant in <strong>der</strong> Kritik <strong>der</strong> Urteilskraft<br />

philosophisch angedeuteten geistigen Bildekräfte als Gr<strong>und</strong>lage des Lebens sind<br />

<strong>Steiners</strong> (<strong>und</strong> Goethes) Thema an <strong>der</strong> fraglichen Stelle in GA-18. Traubs Verkennung dieses<br />

Sachverhaltes in <strong>Steiners</strong> Schrift ist angesichts <strong>der</strong> Eindeutigkeit von <strong>Steiners</strong> dortiger Betrachtung<br />

etwas verblüffend, <strong>und</strong> seine sachwidrige Orientierung in Richtung einer lebendigen<br />

Erkenntnistheorie Kants liegt denn doch weit entfernt von dem, was <strong>Steiners</strong> konkretes Anliegen<br />

an <strong>der</strong> entsprechenden Stelle ist. Der ganze Sinnzusammenhang von mehr als zehn Seiten<br />

in <strong>Steiners</strong> Schrift ist ihm offensichtlich ganz unzugänglich geblieben.<br />

Abgesehen davon ist schwer zu sagen, was Hartmut Traub hier unter dem lebendigen<br />

Charakter einer Erkenntnistheorie, speziell <strong>der</strong>jenigen Kants, versteht. Sollte er damit eine<br />

realitätsbezogene o<strong>der</strong> realitätshaltige Erkenntnistheorie meinen? Dann müsste sich Kant in<br />

den Augen <strong>Steiners</strong> zumindest mit den konkreten Vorgängen des Denkens <strong>und</strong> Erkennens beschäftigt<br />

haben. Das hat er nun allerdings nicht, <strong>und</strong> Kant würde es weit von sich gewiesen<br />

haben, falls ihm jemand unterstellt hätte, er habe konkrete Denk- <strong>und</strong> Erkenntnisakte<br />

beobachtet <strong>und</strong> untersucht. Empirische Beobachtungen (seelische Beobachtungen) dieser Art<br />

hielt er nämlich ebenfalls für ganz ausgeschlossen, wie man seiner Vorrede zu den Metaphysischen<br />

Anfangsgründen <strong>der</strong> Naturwissenschaft entnehmen kann. 6 Davon an an<strong>der</strong>er Stelle<br />

mehr. Neben dem Hinweis auf eine Art mentaler Handlungstheorie Kants aber lässt sich Hart­<br />

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Es ist keineswegs eine vereinzelte Stelle, an <strong>der</strong> Steiner auf diesen Zusammenhang hinweist. Aber eine beson<strong>der</strong>s<br />

eindrückliche <strong>und</strong> plakative. Er verwendet hier in Anlehnung an ältere esoterische Traditionen den Ausdruck<br />

Ätherisches <strong>und</strong> Ätherleib, <strong>der</strong> bei ihm gebräuchlicher ist, aber dasselbe besagt wie Bildekräfte <strong>und</strong> Bildekräfteleib.<br />

Siehe zum diesbezüglichen Sprachgebrauch <strong>Steiners</strong> Erläuterung in <strong>der</strong> Schrift Von Seelenrätseln, GA-21,<br />

Dornach 1976, S. 160. Vortragsweise erwähnt Steiner auch, dass <strong>der</strong> Ausdruck Äther bzw Ätherleib älteren esoterischen<br />

Traditionen entstammt, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Terminus Bildekäfte bzw Bildekräfteleib eigentlich mo<strong>der</strong>ner <strong>und</strong> angemessener<br />

sei. Siehe etwa GA-82, Dornach 1994, S. 128, Vortrag vom 10. April1922.

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