Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...
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68<br />
gilt die hier gegenüber Traub vorgebrachte Kritik zumindest teilweise auch für die anthroposophische<br />
Seite.<br />
Kehren wir erst einmal wie<strong>der</strong> <strong>zur</strong>ück zu Eduard von Hartmann <strong>und</strong> Rudolf Steiner, <strong>und</strong> halten<br />
wir uns dabei vor Augen, was Dilthey oben über die psychologische Natur <strong>der</strong> Erkenntnistheorie<br />
sagte: Erkenntnistheorie sei "Psychologie in Bewegung"; <strong>und</strong> "alle durchgeführte Psychologie<br />
ist doch nur die wissenschaftliche Vollendung dessen, was auch den Untergr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
Erkenntnisstheorie bildet." Wenn man sich erst einmal auf die psychologische Natur <strong>der</strong> Erkenntnistheorie<br />
verständigt hat, insofern sie eben die Klärung des seelischen Prozesses des Erkennens<br />
ist, dann wird jede Trennung von psychologischer <strong>und</strong> erkenntnistheoretischer Vorgehensweise<br />
mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> willkürlich. Und die ganze Erkenntniswissenschaft als psychologische<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger auch abhängig vom jeweiligen Forschungsstand <strong>der</strong> Psychologie.<br />
Auf entsprechende daraus resultierende Schwierigkeiten deutet Dilthey auch ausdrücklich hin.<br />
So sagt er: "So wird man immer auch in <strong>der</strong> Erkenntnisstheorie <strong>der</strong> willkürlichen <strong>und</strong> stückweisen<br />
Einführung psychologischer Ansichten nur dadurch entgehen, dass man ihr mit wissenschaftlichem<br />
Bewusstsein eine klare Auffassung des seelischen Zusammenhangs zu Gr<strong>und</strong>e<br />
legt. Man wird die zufälligen Einflüsse irriger Psychologien in <strong>der</strong> Erkenntnisstheorie nur<br />
los werden, wenn es gelingt, ihr gültige Sätze über den Zusammenhang des Seelenlebens <strong>zur</strong><br />
Verfügung zu stellen. Allerdings wäre unthunlich, <strong>der</strong> Erkenntnisstheorie eine durchgeführte<br />
beschreibende Psychologie als Gr<strong>und</strong>lage vorauszusenden. An<strong>der</strong>erseits ist aber die voraussetzungslose<br />
Erkenntnisstheorie eine Illusion." 93 Ganz überflüssig ist die For<strong>der</strong>ung nach Voraussetzungslosigkeit<br />
zwar nicht, aber ziemlich schwer zu handhaben.<br />
Das Problem ist offenk<strong>und</strong>ig: Einerseits kann man <strong>der</strong> Erkenntnistheorie nach Dilthey keine<br />
ausgearbeitete Psychologie voranschicken, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ist aber auch die Voraussetzungslosigkeit<br />
einer psychologisch ausgerichteten Erkenntnistheorie wegen ihrer empirischen<br />
Orientierung eine Illusion. Und wer garantiert, dass man die "irrigen Psychologien" tatsächlich<br />
losgeworden ist? Und auf welcher neutralen wissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lage sollte das geschehen,<br />
wenn nicht auf <strong>der</strong> empirischen? So gesehen ist es geradezu bezeichnend, dass Steiner<br />
die For<strong>der</strong>ung nach Voraussetzungslosigkeit <strong>der</strong> Erkenntnistheorie in Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft<br />
schon im Vorfeld, wenn auch nicht näher ausgeführt, einschränkt, <strong>und</strong> sie in <strong>der</strong><br />
<strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> aus ebenso verständlichen Gründen erst gar nicht mehr erhebt, son<strong>der</strong>n<br />
im Titel nur noch von "Beobachtungsresultaten nach naturwissenschaftlicher Methode"<br />
(1894) bzw von seelischen Beobachtungsresultaten ( 1918) spricht. Jedenfalls ist es auch für<br />
Dilthey ersichtlich schwierig hier systematisch Klarheit zu finden. Ich darf deswegen <strong>und</strong><br />
vielleicht überflüssigerweise noch einmal ausdrücklich ins Bewusstsein heben, dass Steiner<br />
zwar in Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft die For<strong>der</strong>ung nach Voraussetzungslosigkeit erhebt, aber<br />
eben auch mit <strong>der</strong> hintersinnigen Einschränkung ausgestattet, "soweit das bei <strong>der</strong> Natur des<br />
menschlichen Erkenntnisvermögens möglich ist". Und das hat, wie aus Diltheys Bemerkung<br />
hervorgeht, seinen guten Gr<strong>und</strong> bei einer empirischen Orientierung <strong>der</strong> Erkenntnistheorie.<br />
Irgendwie soll die Erkenntnistheorie keine Voraussetzungen machen, an<strong>der</strong>erseits aber stösst<br />
man damit ziemlich bald an sachliche Grenzen. Geschichtlich gesehen folgt daraus: Das Wissen<br />
einer empirisch psychologisch orientierten Erkenntniswissenschaft wird vollkommen abhängig<br />
vom jeweiligen Stand des allgemein fachlichen <strong>und</strong> speziell methodischen Wissens in<br />
<strong>der</strong> Wissenschaftsdisziplin Psychologie. Wenn Sie sich einmal den oben häufiger erwähnten<br />
Beitrag Külpes <strong>zur</strong> Denkpsychologie darauf hin ansehen, wird Ihnen das recht schnell auffallen.<br />
94 Die Erkenntnispsychologie <strong>der</strong> Steinerzeit, so beschreibt es Külpe, war inhaltlich <strong>und</strong><br />
methodisch in einigermassen turbulenter Bewegung mit entsprechenden, gravierenden Konse<br />
93<br />
Dilthey 1894 in den Sitzungsberichten <strong>der</strong> königl. preuss. Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften in den Ideen über<br />
eine beschreibende <strong>und</strong> zerglie<strong>der</strong>nde Psychologie auf S. 1320.<br />
94<br />
Oswald Külpe, Über die mo<strong>der</strong>ne Psychologie des Denkens. In, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft,<br />
Kunst <strong>und</strong> Technik, 6, 1912. Wie<strong>der</strong>abdruck in Paul Ziche, Herausgeber, Instrospektion, Texte <strong>zur</strong> Selbstwahrnehmung<br />
des Ichs, Springerverlag, Wien, New York, 1999.