Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...
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sches Fachbuch - eine genaue "textkritische Analyse" gar (Traub S. 21 ) - eigentlich auszeichnen<br />
sollte. Massive Entgleisungen wie diese degradieren nicht nur sein Buch auf das<br />
Niveau einer philosophischen Bildzeitung herab, son<strong>der</strong>n seinen renommierten Wissenschaftsverlag<br />
Kohlhammer gleich mit. Aber dies hier nur nebenbei.<br />
Kommen wir wie<strong>der</strong> mehr zum eigentlichen Thema dieses Kapitels. Es soll in <strong>der</strong> anthroposophischen<br />
Bewegung womöglich heute noch die Meinung anzutreffen sein, die Unterscheidung<br />
von Denkakt <strong>und</strong> Denkinhalt gehe auf Herbert Witzenmann <strong>zur</strong>ück. Vor kurzer<br />
Zeit hat mir erst wie<strong>der</strong> ein Leser darüber berichtet. Mir persönlich ist diese Auffassung ge <br />
legentlich in den 1990er Jahren begegnet. Ich weiss allerdings nicht, wer von Witzenmanns<br />
Anhängern o<strong>der</strong> Lesern diesen ausgemachten Humbug in die Welt gesetzt hat. Ebenso wenig<br />
wüsste ich zu sagen, was mehr dafür verantwortlich ist: die Unbelesenheit mancher Anhänger<br />
<strong>Steiners</strong>, o<strong>der</strong> Witzenmanns Art, über die Erkenntnistheorie <strong>Steiners</strong> zu publizieren.<br />
Eine entsprechende explizite Behauptung Witzenmanns ist mir jedenfalls nie in die Hände<br />
gekommen, aus <strong>der</strong> man hätte entnehmen können, die Unterscheidung von Denkakt <strong>und</strong><br />
Denkinhalt gehe auf ihn persönlich <strong>zur</strong>ück. Wahrscheinlich muss man zumindest in dieser<br />
Frage auch Witzenmann ebenso vor seinen eigenen Anhängern <strong>und</strong> Lesern schützen wie<br />
Steiner vor den seinigen.<br />
Um es kurz zu machen: Die Unterscheidung zwischen dem (begrifflichen) Inhalt des Denkens<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> individuellen Aktivität, durch die er hevorgebracht respektive <strong>zur</strong> Erscheinung<br />
gebracht wird, ist eine so gr<strong>und</strong>legende philosophische Position <strong>Steiners</strong>, dass man<br />
sie mit grosser Betonung in all seinen philosophischen Frühschriften antrifft. Angefangen<br />
von den Gr<strong>und</strong>linien einer Erkenntnistheorie <strong>der</strong> Goetheschen Weltanschauung (GA-2),<br />
über Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft (GA-3) bis hin <strong>zur</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> (GA-4), um<br />
nur die wichtigsten Stationen zu nennen. Und wie Sie <strong>der</strong> oben erläuterten Passage aus<br />
Goethes Weltanschauung (GA-6) entnehmen konnten, ist sie von sehr weitreichen<strong>der</strong> Bedeutung<br />
für das kausale Naturverständnis im allgemeinen.<br />
In dieser letzteren Frage, das sei hier nur vorab erwähnt, gibt es auch einen bezeichnenden,<br />
aber gr<strong>und</strong>sätzlichen Dissens zwischen Rudolf Steiner <strong>und</strong> Johannes Volkelt. Bei aller An <br />
regung, die <strong>Steiners</strong> seitens Volkelt genossen hat, darf man einige schwerwiegende Differenzen<br />
nicht übersehen. Zum Beispiel die, dass Volkelt den von Steiner hervorgehobenen<br />
ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Wirkenden <strong>und</strong> Bewirkten, wie es Steiner sah,<br />
im Seelenleben nicht erkennen zu können glaubte. Volkelt teilte in dieser Frage eher die<br />
Auffassung Eduard von Hartmanns, wonach das Wirkende im unerreichbaren Unbewussten<br />
liegt. Wir werden das weiter unten noch näher betrachten. Hier soll nur auf den bemerkenswerten<br />
Umstand hingewiesen sein, dass in gr<strong>und</strong>legenden erkenntnistheoretischen Ansichten<br />
offenbar auch <strong>der</strong> zeitgenössische Stand <strong>der</strong> psychologischen Wissenschaft eine grosse<br />
Rolle spielte. Mittelbar deutet Steiner dies in <strong>der</strong> vorhin zitierten Passage aus den Gr<strong>und</strong>linien<br />
... von 1886 an. Denn dass man Denkakte (das Wirkende) tatsächlich auch empirisch<br />
beobachten könne, war keineswegs herrschende Meinung unter den psychologisch orientierten<br />
Philosophen damals. Das Gegenteil trifft eher zu: Erst Oswald Külpe näherte sich,<br />
weil er einen Forschungsschwerpunkt in dieser Frage hatte, einer Auffassung an, die <strong>der</strong><br />
Einschätzung <strong>Steiners</strong> nahe kam. Und Külpe macht bezeichnen<strong>der</strong>weise das Unvermögen<br />
seiner Zeit, faktische Denkakte zu beoachten, sowohl an methodischen Fragen, als auch am<br />
Entwicklungsstand <strong>der</strong> Psychologie im allgemeinen fest. In dem oben schon erwähnten<br />
Überblicksartikel Külpes können Sie das nachlesen. 89 Zu jenen Psychologen, die sich mit<br />
<strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Beobachtung von seelischen Akten ebenfalls (auch unter philosophiegeschichtlichen<br />
Aspekten) auseinan<strong>der</strong>gesetzt haben, zählt auch Franz Brentano. In seiner Psychologie<br />
89<br />
Oswald Külpe, Über die mo<strong>der</strong>ne Psychologie des Denkens. In, Internationale Monatsschrift für Wissenschaft,<br />
Kunst <strong>und</strong> Technik, 6, 1912. Wie<strong>der</strong>abdruck in Paul Ziche, Herausgeber, Instrospektion, Texte <strong>zur</strong> Selbstwahrnehmung<br />
des Ichs, Springerverlag, Wien New York, 1999, S.45, insbes. S. 53 ff.