Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...
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39<br />
schauungen <strong>der</strong> neueren Zeit wählen. - Solange man die Seelenerlebnisse nimmt, wie sie sich<br />
dem gewöhnlichen Bewußtsein darbieten, solange kommt man nicht in die Tiefen <strong>der</strong> Seele.<br />
Man bleibt bei dem stehen, was diese Tiefen hervortreiben." 60 Die <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong><br />
aber nimmt die Seelenerlebnisse noch so, "wie sie sich dem gewöhnlichen Bewußtsein darbieten".<br />
Was soll sie als empirisches Einstiegswerk auch an<strong>der</strong>es tun, ohne gleich in bodenlose<br />
Spekulation zu verfallen? Sie kann ja zunächst nur beim gewöhnlichen Bewusstsein ihren sicheren<br />
Ausgang nehmen. Ohne spezifische methodische Vorkehrungen <strong>und</strong> Mittel aber -<br />
sprich den angedeuteten Übungsweg aus dem Sizzenhaften Ausblick - ist dieser anschliessende<br />
<strong>und</strong> abschliessende Schritt, sprich: das ausgedehnte Hauptuntersuchungsverfahren, dann nicht<br />
mehr zu leisten.<br />
Und das ist es ja, was Steiner nachfolgend im spezifisch geisteswissenschaftlichen Rahmen in<br />
Angriff nimmt <strong>und</strong> seinem Leser vorstellt. Nicht vorgeht wie Kant, indem er sich feinsinnig<br />
irgend etwas schlüssig erscheinendes ausdenkt über apriorische Erkenntnisbedingungen <strong>und</strong><br />
<strong>der</strong>gleichen, <strong>und</strong> es dann dabei bewenden lässt. Der nur logisch getragen wird <strong>und</strong> in keiner<br />
Weise von den psychologischen Fakten, denen er möglichst aus dem Wege geht. Son<strong>der</strong>n forschend<br />
in das faktische Geschehen des Seelenlebens selbst eintaucht <strong>und</strong> dort den Dingen auf<br />
den Gr<strong>und</strong> geht. Somit ziemlich genau das tut, wovor Kant einen regelrechten Horror zu haben<br />
schien (siehe oben).<br />
Zu überlegen ist also, ob die formulierten Forschungsfragen in <strong>der</strong> Erstausgabe <strong>der</strong> Schrift<br />
von 1894 überhaupt eingelöst werden konnten. Bei nüchterner Betrachtung eindeutig nicht.<br />
Steiner hätte grosse Teile seiner späteren Anthroposophie, die sich auf das Wesen <strong>und</strong> den Ursprung<br />
des Denkens beziehen, dann nämlich samt methodischer Einzelheiten schon in <strong>der</strong><br />
<strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> unterbringen müssen. An<strong>der</strong>s herum: Wirklich eingelöst wird <strong>Steiners</strong><br />
Fragestellung nach dem Ursprung des Denkens erst mit dem methodischen Instrumentarium<br />
seiner Anthroposophie. Einige <strong>der</strong> Defizite, die Hartmut Traub auf S. 233 ff <strong>und</strong> an<strong>der</strong>norts<br />
in seiner Schrift thematisiert, sind aus dieser Sicht heraus vielleicht verständlich zu machen.<br />
Das erklärte Forschungsziel in allen wesentlichen Aspekten erfolgreich umzusetzen war<br />
von vornherein wegen des enormen wissenschaftlichen Aufwandes <strong>und</strong> aus mancherlei an<strong>der</strong>en<br />
Gründen unmöglich.<br />
Die späteren Zusätze <strong>zur</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> von 1918 mit ihren wie<strong>der</strong>holten Verweisen<br />
auf <strong>Steiners</strong> Geistesforschung zeigen auch unverkennbar an, dass <strong>Steiners</strong> Programm in <strong>der</strong><br />
Schrift für ihn selbst nicht vollständig <strong>und</strong> realistisch zu verwirklichen war. Nur ein realitätsferner<br />
Schwärmer <strong>und</strong> Utopist hätte dies glauben können - Steiner war beides nicht, sonst<br />
wäre er mit seiner wissenschaftlichen Goethe-Herausgabe wohl schnell gescheitert. Deswegen<br />
seine wie<strong>der</strong>holten Bemühungen später (1918) diese Verbindung <strong>zur</strong> Anthroposophie im Text<br />
deutlicher kenntlich zu machen, die in <strong>der</strong> Erstausgabe nicht so unmittelbar sichtbar war. Nur<br />
Sachkenner von <strong>Steiners</strong> Intentionen hätten dies anhand <strong>der</strong> Erstausgabe bereits erkennen<br />
können. Einer von ihnen war Walther Johannes Stein, <strong>der</strong> sich in seiner Dissertation an einigen<br />
Stellen auch entsprechend äussert. Den methodischen Zusammenhang zwischen dem<br />
Skizzenhaften Ausblick am Ende <strong>der</strong> <strong>Steiners</strong>chen Schrift Die Rätsel <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> hat Stein klar erkannt <strong>und</strong> in seiner Dissertation auch entsprechend<br />
aufgenommen. 61 Vollständig <strong>und</strong> realistisch heisst in diesem Zusammenhang auch: Unter Be<br />
60 Rudolf Steiner, Die Rätsel <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>, GA-18, Dornach 1985, S. 603 f<br />
In <strong>der</strong> Ausgabe von 1914 hier zu finden:<br />
http://archive.org/stream/diertsel<strong>der</strong>phi00steiuoft#page/234/mode/2up<br />
61<br />
Siehe dazu: Thomas Meyer (Hgr), Walter Johannes Stein - Rudolf Steiner. Dokumentation eines wegweisenden<br />
Zusammenwirkens. Dornach 1985. So schreibt Stein in seiner Dissertation (Meyer, S. 190 f): "Die Selbstbeobachtung,<br />
<strong>der</strong>en das gewöhnliche Bewußtsein fähig ist, lehrt darüber nur, daß wir - wenn wir denken -, ehe <strong>der</strong><br />
Gedanke klar vor uns steht, uns anstrengen müssen, daß wir tätig sein müssen. Erst nachdem diese Tätigkeit von<br />
uns ausgeübt worden ist, steht <strong>der</strong> Gedanke klar <strong>und</strong> deutlich vor uns. Der Beobachtung <strong>der</strong> meisten Menschen<br />
entgeht aber diese vorbereitende Tätigkeit fast ganz. Ihre Aufmerksamkeit ist, während sie denken, ganz auf das<br />
gerichtet, was als Gedanke aufleuchtet, sobald die vorbereitende Tätigkeit abgelaufen ist. Sie wissen nur dumpf,