Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...
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gagierten <strong>und</strong> absolut gegenstandsorientierten Naturforscher wie Goethe völlig verrückt erscheinen.<br />
Man stelle sich vor, Goethe hätte seine Idee <strong>der</strong> Urpflanze nicht anhand des Studiums<br />
zahlloser wirklicher Pflanzenexemplare, son<strong>der</strong>n ausschliesslich anhand eines allgemeinen<br />
Pflanzenbegriffs seiner Zeit entwickelt, den er dem Studium <strong>der</strong> zeitgenössischen Literatur<br />
verdankt. Mit wirklichen Pflanzen hätte er sich dazu nie beschäftigt. Womöglich, weil Mathematik<br />
darauf nicht anwendbar ist, um einen Gedanken Kants aufzunehmen. Ein unmöglicher<br />
Gedanke. Er würde auch das Wesen <strong>der</strong> Erfahrung natürlich innerhalb <strong>und</strong> anhand <strong>der</strong><br />
vielfältigen konkreten Erfahrungsgegebenheiten selbst suchen, aber niemals einzig <strong>und</strong> allein<br />
aus einem blossen allgemeinen Begriff erschliessen wollen. Das setzt aber in beträchtlichem<br />
Umfang innere, seelische (siehe Volkelt!) Beobachtung 48 voraus - etwas, was Johannes Volkelt<br />
in seinem Buch Erfahrung <strong>und</strong> Denken exemplarisch durchexerziert, <strong>und</strong> den psychologischen<br />
Charakter dieser erkenntnistheoretischen Untersuchung auch ausdrücklich dabei betont.<br />
49<br />
Dass Steiner seine diesbezügliche Kritik an Kant - Vor <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Möglichkeit von<br />
Erkenntnis ist die nach ihrem Was zu stellen! - vor allem im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Darstellung<br />
von Goethes Weltanschauung vorbringt, ist vor diesem Hintergr<strong>und</strong> allzu verständlich.<br />
Entsprechend ist Steiner in den Gr<strong>und</strong>linien einer Erkenntnistheorie <strong>der</strong> Goetheschen<br />
Weltanschauung von 1886 vor allem dem Wesen <strong>der</strong> Erfahrung ganz goetheanistisch auf empirischem<br />
Wege nachgegangen, insbeson<strong>der</strong>e dem Denken als höhere Erfahrung innerhalb <strong>der</strong><br />
Erfahrung. Übrigens dabei schon massgeblich gestützt auf Johannes Volkelt, <strong>der</strong> ihm dazu die<br />
entscheidende Kategorie <strong>der</strong> reinen Erfahrung an die Hand gegeben hat. Möglicherweise auch<br />
die ebenso entscheidende Kategorie <strong>der</strong> Beobachtung, die später in <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong><br />
zum Tragen kommt. Und zwar weit über dieses Werk hinaus bis in methodische Einzelheiten<br />
<strong>der</strong> späteren anthroposophischen Geisteswissenschaft <strong>Steiners</strong> hinein. Denn bei Volkelt<br />
liegt wie bei Steiner die Betonung darauf, dass das Bewusstsein von etwas noch kein Wissen<br />
von etwas ist.<br />
Wie man darüberstehend in das Wesen <strong>der</strong> Erfahrung eindringen kann, ohne vorher erlebend<br />
<strong>und</strong> beobachtend in sie eingetaucht zu sein, das wird wohl für immer das Geheimnis des<br />
Kantschen Kritizismus bleiben. O<strong>der</strong> um es etwas bildhafter in den Worten Wilhelm Diltheys<br />
zum Ausdruck zu bringen: "In den A<strong>der</strong>n des erkennenden Subjektes, das Locke, Hume <strong>und</strong><br />
Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> verdünnte Saft von Vernunft als<br />
48<br />
Volkelt trifft darin auch die sehr bezeichnende Unterscheidung zwischen dem einfachen Erleben o<strong>der</strong> Haben<br />
von inneren Vorkommnissen des Bewusstseins <strong>und</strong> ihrer Beobachtung, die manche Parallele aufzeigt zu <strong>der</strong>jenigen<br />
Kants, die wir weiter unten etwas erläutern werden. So sagt er S. 56 von Erfahrung <strong>und</strong> Denken: "Das einfache<br />
Haben von Bewufstseinsvorgängen ist noch nicht das Wissen von ihnen. Alle Vorgänge, die nur so nebenher,<br />
ohne Gegenstand <strong>der</strong> Aufmerksamkeit zu sein, durch mein Bewußtsein laufen, sind zwar selbstverständlich bewußst,<br />
wenn auch in dunkler Weise; darum aber sind sie nicht auch schon gewußt. [...] Aber auch das aufmerksame<br />
Betrachten des Bewußstseinsinhaltes ist noch nicht notwendig ein absolut gewisses Wissen. Wieviel Unbestimmtes,<br />
Unentwickeltes, Anklingendes, Flüchtiges taucht in meinem Bewußtsein auf, das, so sehr ich auch<br />
meine Aufmerksamkeit darauf lenke, doch nicht von mir in unbezweifelbarer Weise gewußt wird. Es muß zu<br />
dem aufmerksamen Haben von Bewußtseinsvorgängen noch dies dazu kommen, daß es mir gelingt, mittels meiner<br />
Aufmerksamkeit dieselben in ihren Unterschieden <strong>und</strong> Abgrenzungen zu fixieren. Man nennt dieses unterscheidende<br />
Aufmerken in <strong>der</strong> Regel Beobachten." Ob ich innere Vorgänge <strong>und</strong> Ereignisse nur habe, o<strong>der</strong> ob ich<br />
von ihnen deutlich weiss, macht für Volkelt einen erheblichen Unterschied aus. Ein Unterschied, den auch die<br />
meisten anthroposophischen Interpreten <strong>Steiners</strong>, wie etwa Renatus Ziegler o<strong>der</strong> Herbert Witzenmann respektive<br />
<strong>der</strong>en Anhänger, tragischerweise bis heute nicht verstanden haben, mit allen daraus resultierenden Folgen für das<br />
Verständnis von <strong>Steiners</strong> Geistesforschung. Nun ist dieses "unterscheidende Aufmerken" natürlich eine Leistung<br />
des Denkens, um mit <strong>Steiners</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> zu sprechen, die ohne Begriffsbildung nicht auskommt.<br />
Denn das Unterscheidende <strong>und</strong> Abgrenzende muss ja begrifflich fixiert werden, um sie nicht nur zu erleben, son<strong>der</strong>n<br />
davon auch zu zu wissen.<br />
49<br />
Siehe dazu <strong>und</strong> zu den Abgrenzungsfragen von <strong>der</strong> Psychologie Johannes Volkelt, Erfahrung <strong>und</strong> Denken, S.<br />
42 ff. Im Internet unter:<br />
http://archive.org/stream/ErfahrungUndDenken/Johannes_Volkelt_Erfahrung_<strong>und</strong>_Denken#page/n63/mode/2up