Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...

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34 Johannes Volkelt, der seine Schrift Erfahrung und Denken aus gutem Grund in diese Richtung betitelt hat. Damit wären wir bei Steiners hintersinniger Einschränkung der Voraussetzungslosigkeit aus der Vorbemerkung (S. 25) zu Wahrheit und Wissenschaft: "soweit das bei der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens möglich ist". Bezeichnenderweise widmet Steiner einen erquicklichen Teil seiner Untersuchung dort, laut Einleitung massgeblich gestützt auf Johannes Volkelt, der Untersuchung der Erfahrung respektive des Gegebenen. Während Alois Riehl zwecks Begründung, warum keine empirischen Erfahrungsbegriffe in die Erkenntniskritik einbezogen werden dürfen, auf S. 381 f doch jede Menge Voraussetzungen darüber macht, was Begriffe dieser Art eigentlich sind. Woher nimmt er dieses Wissen, und was alles ist darin schon verborgen? Der Leser mag selbst dort nachlesen und beurteilen, was Alois Riehl alles vorbringt und wie stichhaltig das im einzelnen ist. Im Vorwort seines Philosophischen Kritizismus jedenfalls schreibt er: "Wohl ist es richtig, zu sagen, Kant habe durch seine Methode den Anteil des Subjektes an Erfahrung und Erkenntnis ermittelt und bestimmt; noch richtiger aber und gewiss wichtiger ist es zu sagen, er zuerst habe den Anteil der Objekte an der Möglichkeit wirklicher, d. i. allgemeingültiger und notwendiger Erkenntnis nachgewiesen. Der Nachweis davon heisst: transzendentale Deduktion." 46 Was den Anteil des Subjekts angeht, so lässt sich einigermassen zuverlässig sagen, hat Kant ihn wohl irgendwie im Prinzipiellen hinterfragt. Nur erklärtermassen dazu das Subjekt und seine Erfahrung selbst nicht, das ja nicht irgend ein abstraktes Ding ist, sondern eine konkrete Erfahrungsgegebenheit. Die bleibt bei Kant im wesentlichen ein rein logisch-virtueller Gegenstand. Man könnte auch sagen: Den entscheidenden Aspekt der Wirklichkeit hat er bei seiner transzendentalen Deduktion aus Sicherheitsgründen gleich ganz aussen vor gelassen. Oder positiv gewendet mit Alois Riehl (S. 385 f): man kann "keinen Augenblick zweifelhaft bleiben, dass die Kritik eine tief gefasste und durch die Theorie des sinnlichen Erkennens ergänzte Logik ist." Was Inhalt einer "Theorie des sinnlichen Erkenns" ist, und woher sie ihre Berechtigung und Gewissheiten nimmt, wollen wir hier nicht neuerlich zum Thema machen, denn damit drehen wir uns im Kreis. Soweit Kants Vernunftkritik nur eine Logik ist, sagt sie als rein formale, nicht-empirische Doktrin über die konkrete Wirklichkeit des tatsächlichen Erkennens jedenfalls nicht allzu viel aus. Da müssen die Tatsachen schon selber sprechen. Und als Theorie des sinnlichen Erkennens muss sie sich die Frage gefallen lassen: Woher hat sie ihr Wissen über die sinnliche Erkenntnis, wenn nicht aus der konkreten sinnlichen Erkenntniserfahrung? Ein echtes Dilemma. Der Punkt ist eben für Steiner: Kann man das Erkennen überhaupt als bloss formalen, oder muss man ihn nicht viel mehr als tatsächlichen Gegenstand behandeln, der er ja ist? Mit allen weiteren Folgen, die so eine Frage nach sich zieht. Denn wo hört das Fragen auf? Damit stand er ganz augenfällig nicht allein da. Volkelt jedenfalls, auf den er in einigen massgeblichen Aspekten zurückgreift, hat das zumindest über weite Strecken sehr ähnlich gesehen, und andere, die Riehl in seiner Schrift verhandelt, offensichtlich doch auch. 47 Riehls Charakteristik von Kants Vorgehensweise am Schluss seines Buches (S. 584): "Kant ist der Philosoph der Erfahrung. Seine Kritik nimmt einen Standpunkt über der Erfahrung ein und so allein vermochte sie, in das Wesen der Erfahrung einzudringen, ihren Begriff zu bestimmen." stellt für einen Empiristen geradezu zwangsläufig einen Widerspruch in sich selbst dar - den Unbegriff einer erfahrungsfreien Erfahrungstheorie. Was der eine regelrecht zum Qualitätsmerkmal erklärt, nämlich der weitestgehende Verzicht auf konkrete Erfahrung; das Wesen der Erfahrung unter Hintanstellung jeder wirklichen Erfahrung aus einem allgemeinen Erfahrungsbegriff logisch herauszufiltern, das muss einem en­ 46 Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus, Geschichte und System, Bd 1, Geschichte des philosophischen Kritizismus, 2. Aufl. Leipzig 1908 47 Eine umfangreiche Übersicht über die zeitgenössische zustimmende und ablehnende philosophische Literatur zu Kant finden Sie im Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft von Hans Vaihinger aus dem Jahre 1922. Siehe: Hans Vaihinger, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart/ Berlin/ Leipzig, 1922, S. 14 ff. Im Internet zu erreichen unter: http://archive.org/stream/kommentarzukants12vaihuoft#page/n35/mode/2up

35 gagierten und absolut gegenstandsorientierten Naturforscher wie Goethe völlig verrückt erscheinen. Man stelle sich vor, Goethe hätte seine Idee der Urpflanze nicht anhand des Studiums zahlloser wirklicher Pflanzenexemplare, sondern ausschliesslich anhand eines allgemeinen Pflanzenbegriffs seiner Zeit entwickelt, den er dem Studium der zeitgenössischen Literatur verdankt. Mit wirklichen Pflanzen hätte er sich dazu nie beschäftigt. Womöglich, weil Mathematik darauf nicht anwendbar ist, um einen Gedanken Kants aufzunehmen. Ein unmöglicher Gedanke. Er würde auch das Wesen der Erfahrung natürlich innerhalb und anhand der vielfältigen konkreten Erfahrungsgegebenheiten selbst suchen, aber niemals einzig und allein aus einem blossen allgemeinen Begriff erschliessen wollen. Das setzt aber in beträchtlichem Umfang innere, seelische (siehe Volkelt!) Beobachtung 48 voraus - etwas, was Johannes Volkelt in seinem Buch Erfahrung und Denken exemplarisch durchexerziert, und den psychologischen Charakter dieser erkenntnistheoretischen Untersuchung auch ausdrücklich dabei betont. 49 Dass Steiner seine diesbezügliche Kritik an Kant - Vor der Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis ist die nach ihrem Was zu stellen! - vor allem im Zusammenhang mit der Darstellung von Goethes Weltanschauung vorbringt, ist vor diesem Hintergrund allzu verständlich. Entsprechend ist Steiner in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung von 1886 vor allem dem Wesen der Erfahrung ganz goetheanistisch auf empirischem Wege nachgegangen, insbesondere dem Denken als höhere Erfahrung innerhalb der Erfahrung. Übrigens dabei schon massgeblich gestützt auf Johannes Volkelt, der ihm dazu die entscheidende Kategorie der reinen Erfahrung an die Hand gegeben hat. Möglicherweise auch die ebenso entscheidende Kategorie der Beobachtung, die später in der Philosophie der Freiheit zum Tragen kommt. Und zwar weit über dieses Werk hinaus bis in methodische Einzelheiten der späteren anthroposophischen Geisteswissenschaft Steiners hinein. Denn bei Volkelt liegt wie bei Steiner die Betonung darauf, dass das Bewusstsein von etwas noch kein Wissen von etwas ist. Wie man darüberstehend in das Wesen der Erfahrung eindringen kann, ohne vorher erlebend und beobachtend in sie eingetaucht zu sein, das wird wohl für immer das Geheimnis des Kantschen Kritizismus bleiben. Oder um es etwas bildhafter in den Worten Wilhelm Diltheys zum Ausdruck zu bringen: "In den Adern des erkennenden Subjektes, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als 48 Volkelt trifft darin auch die sehr bezeichnende Unterscheidung zwischen dem einfachen Erleben oder Haben von inneren Vorkommnissen des Bewusstseins und ihrer Beobachtung, die manche Parallele aufzeigt zu derjenigen Kants, die wir weiter unten etwas erläutern werden. So sagt er S. 56 von Erfahrung und Denken: "Das einfache Haben von Bewufstseinsvorgängen ist noch nicht das Wissen von ihnen. Alle Vorgänge, die nur so nebenher, ohne Gegenstand der Aufmerksamkeit zu sein, durch mein Bewußtsein laufen, sind zwar selbstverständlich bewußst, wenn auch in dunkler Weise; darum aber sind sie nicht auch schon gewußt. [...] Aber auch das aufmerksame Betrachten des Bewußstseinsinhaltes ist noch nicht notwendig ein absolut gewisses Wissen. Wieviel Unbestimmtes, Unentwickeltes, Anklingendes, Flüchtiges taucht in meinem Bewußtsein auf, das, so sehr ich auch meine Aufmerksamkeit darauf lenke, doch nicht von mir in unbezweifelbarer Weise gewußt wird. Es muß zu dem aufmerksamen Haben von Bewußtseinsvorgängen noch dies dazu kommen, daß es mir gelingt, mittels meiner Aufmerksamkeit dieselben in ihren Unterschieden und Abgrenzungen zu fixieren. Man nennt dieses unterscheidende Aufmerken in der Regel Beobachten." Ob ich innere Vorgänge und Ereignisse nur habe, oder ob ich von ihnen deutlich weiss, macht für Volkelt einen erheblichen Unterschied aus. Ein Unterschied, den auch die meisten anthroposophischen Interpreten Steiners, wie etwa Renatus Ziegler oder Herbert Witzenmann respektive deren Anhänger, tragischerweise bis heute nicht verstanden haben, mit allen daraus resultierenden Folgen für das Verständnis von Steiners Geistesforschung. Nun ist dieses "unterscheidende Aufmerken" natürlich eine Leistung des Denkens, um mit Steiners Philosophie der Freiheit zu sprechen, die ohne Begriffsbildung nicht auskommt. Denn das Unterscheidende und Abgrenzende muss ja begrifflich fixiert werden, um sie nicht nur zu erleben, sondern davon auch zu zu wissen. 49 Siehe dazu und zu den Abgrenzungsfragen von der Psychologie Johannes Volkelt, Erfahrung und Denken, S. 42 ff. Im Internet unter: http://archive.org/stream/ErfahrungUndDenken/Johannes_Volkelt_Erfahrung_und_Denken#page/n63/mode/2up

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Johannes Volkelt, <strong>der</strong> seine Schrift Erfahrung <strong>und</strong> Denken aus gutem Gr<strong>und</strong> in diese Richtung<br />

betitelt hat. Damit wären wir bei <strong>Steiners</strong> hintersinniger Einschränkung <strong>der</strong> Voraussetzungslosigkeit<br />

aus <strong>der</strong> Vorbemerkung (S. 25) zu Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft: "soweit das bei<br />

<strong>der</strong> Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens möglich ist". Bezeichnen<strong>der</strong>weise widmet<br />

Steiner einen erquicklichen Teil seiner Untersuchung dort, laut Einleitung massgeblich gestützt<br />

auf Johannes Volkelt, <strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Erfahrung respektive des Gegebenen.<br />

Während Alois Riehl zwecks Begründung, warum keine empirischen Erfahrungsbegriffe in<br />

die Erkenntniskritik einbezogen werden dürfen, auf S. 381 f doch jede Menge Voraussetzungen<br />

darüber macht, was Begriffe dieser Art eigentlich sind. Woher nimmt er dieses Wissen,<br />

<strong>und</strong> was alles ist darin schon verborgen?<br />

Der Leser mag selbst dort nachlesen <strong>und</strong> beurteilen, was Alois Riehl alles vorbringt <strong>und</strong> wie<br />

stichhaltig das im einzelnen ist. Im Vorwort seines Philosophischen Kritizismus jedenfalls<br />

schreibt er: "Wohl ist es richtig, zu sagen, Kant habe durch seine Methode den Anteil des Subjektes<br />

an Erfahrung <strong>und</strong> Erkenntnis ermittelt <strong>und</strong> bestimmt; noch richtiger aber <strong>und</strong> gewiss<br />

wichtiger ist es zu sagen, er zuerst habe den Anteil <strong>der</strong> Objekte an <strong>der</strong> Möglichkeit wirklicher,<br />

d. i. allgemeingültiger <strong>und</strong> notwendiger Erkenntnis nachgewiesen. Der Nachweis davon<br />

heisst: transzendentale Deduktion." 46 Was den Anteil des Subjekts angeht, so lässt sich einigermassen<br />

zuverlässig sagen, hat Kant ihn wohl irgendwie im Prinzipiellen hinterfragt. Nur<br />

erklärtermassen dazu das Subjekt <strong>und</strong> seine Erfahrung selbst nicht, das ja nicht irgend ein abstraktes<br />

Ding ist, son<strong>der</strong>n eine konkrete Erfahrungsgegebenheit. Die bleibt bei Kant im wesentlichen<br />

ein rein logisch-virtueller Gegenstand. Man könnte auch sagen: Den entscheidenden<br />

Aspekt <strong>der</strong> Wirklichkeit hat er bei seiner transzendentalen Deduktion aus Sicherheitsgründen<br />

gleich ganz aussen vor gelassen. O<strong>der</strong> positiv gewendet mit Alois Riehl (S. 385 f): man<br />

kann "keinen Augenblick zweifelhaft bleiben, dass die Kritik eine tief gefasste <strong>und</strong> durch die<br />

Theorie des sinnlichen Erkennens ergänzte Logik ist."<br />

Was Inhalt einer "Theorie des sinnlichen Erkenns" ist, <strong>und</strong> woher sie ihre Berechtigung <strong>und</strong><br />

Gewissheiten nimmt, wollen wir hier nicht neuerlich zum Thema machen, denn damit drehen<br />

wir uns im Kreis. Soweit Kants Vernunftkritik nur eine Logik ist, sagt sie als rein formale,<br />

nicht-empirische Doktrin über die konkrete Wirklichkeit des tatsächlichen Erkennens jedenfalls<br />

nicht allzu viel aus. Da müssen die Tatsachen schon selber sprechen. Und als Theorie des<br />

sinnlichen Erkennens muss sie sich die Frage gefallen lassen: Woher hat sie ihr Wissen über<br />

die sinnliche Erkenntnis, wenn nicht aus <strong>der</strong> konkreten sinnlichen Erkenntniserfahrung? Ein<br />

echtes Dilemma. Der Punkt ist eben für Steiner: Kann man das Erkennen überhaupt als bloss<br />

formalen, o<strong>der</strong> muss man ihn nicht viel mehr als tatsächlichen Gegenstand behandeln, <strong>der</strong> er<br />

ja ist? Mit allen weiteren Folgen, die so eine Frage nach sich zieht. Denn wo hört das Fragen<br />

auf? Damit stand er ganz augenfällig nicht allein da. Volkelt jedenfalls, auf den er in einigen<br />

massgeblichen Aspekten <strong>zur</strong>ückgreift, hat das zumindest über weite Strecken sehr ähnlich gesehen,<br />

<strong>und</strong> an<strong>der</strong>e, die Riehl in seiner Schrift verhandelt, offensichtlich doch auch. 47 Riehls<br />

Charakteristik von Kants Vorgehensweise am Schluss seines Buches (S. 584): "Kant ist <strong>der</strong><br />

Philosoph <strong>der</strong> Erfahrung. Seine Kritik nimmt einen Standpunkt über <strong>der</strong> Erfahrung ein <strong>und</strong> so<br />

allein vermochte sie, in das Wesen <strong>der</strong> Erfahrung einzudringen, ihren Begriff zu bestimmen."<br />

stellt für einen Empiristen geradezu zwangsläufig einen Wi<strong>der</strong>spruch in sich selbst dar - den<br />

Unbegriff einer erfahrungsfreien Erfahrungstheorie.<br />

Was <strong>der</strong> eine regelrecht zum Qualitätsmerkmal erklärt, nämlich <strong>der</strong> weitestgehende Verzicht<br />

auf konkrete Erfahrung; das Wesen <strong>der</strong> Erfahrung unter Hintanstellung je<strong>der</strong> wirklichen Erfahrung<br />

aus einem allgemeinen Erfahrungsbegriff logisch herauszufiltern, das muss einem en­<br />

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Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus, Geschichte <strong>und</strong> System, Bd 1, Geschichte des philosophischen<br />

Kritizismus, 2. Aufl. Leipzig 1908<br />

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Eine umfangreiche Übersicht über die zeitgenössische zustimmende <strong>und</strong> ablehnende philosophische Literatur<br />

zu Kant finden Sie im Kommentar <strong>zur</strong> Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft von Hans Vaihinger aus dem Jahre 1922. Siehe:<br />

Hans Vaihinger, Kommentar zu Kants Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft, Stuttgart/ Berlin/ Leipzig, 1922, S. 14 ff. Im<br />

Internet zu erreichen unter: http://archive.org/stream/kommentarzukants12vaihuoft#page/n35/mode/2up

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