Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...
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33<br />
Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft einen seelischen Gegenstand (das Erkennen), von dem er gar nicht<br />
recht weiss was es ist, weil er nicht näher nachgesehen hat. An <strong>der</strong> Stelle eines leibhaftigen<br />
seelischen Gebildes verhandelt er dort nur noch ein abstraktes, nämlich seinen höchst unvollständigen<br />
<strong>und</strong> fragwürdigen Begriff. - Aber das mit aller Schärfe, Entschiedenheit <strong>und</strong> Konsequenz.<br />
Vor <strong>der</strong> faktischen Beobachtung des seelischen Objektes scheut er erkennbar <strong>zur</strong>ück.<br />
Wie gesagt: Er hält nicht viel davon. Ob Kant wohl mit Franz Brentano die Überzeugung hätte<br />
teilen können, "dass die wichtige Kunst <strong>der</strong> Logik, von <strong>der</strong> ein Fortschritt tausend Fortschritte<br />
in <strong>der</strong> Wissenschaft <strong>zur</strong> Folge hat, in ganz ähnlicher Weise [wie die Ästhetik, MM]<br />
aus <strong>der</strong> Psychologie ihre Nahrung zieht."? 41<br />
"Die kritische <strong>Philosophie</strong> Kants kennt keine Psychologie". Mit diesem Schlagwort kennzeichnete<br />
Alois Riehl in <strong>der</strong> ersten Auflage seines Philosophischen Kritizismus von 1876 auf<br />
S. 8 Kants Haltung über das Verhältnis <strong>der</strong> Erkenntnistheorie <strong>zur</strong> Psychologie. 42 In <strong>der</strong> zweiten<br />
Auflage von 1908 klingt das auf S. 10 dann etwas abgemil<strong>der</strong>ter <strong>und</strong> differenzierter, dahingehend:<br />
"Kants kritische <strong>Philosophie</strong> kennt, was ihre Hauptfrage: die objektive Gültigkeit<br />
<strong>der</strong> reinen Erkenntnis betrifft, keine Psychologie. Auch war diese Frage psychologisch nicht<br />
zu lösen: denn sie liegt nicht auf dem Wege <strong>der</strong> Psychologie." Das Urteil ist etwas abgewogener,<br />
weil so frei von Psychologie Kants Vernunftkritik wohl doch nicht war. Die Hauptstossrichtung<br />
bleibt aber nach wie vor die selbe. Mit Psychologie hatte Kants Vernunftkritik im<br />
wesentlichen nichts im Sinn. 43 In <strong>der</strong> zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts hat man<br />
dann im Zuge <strong>der</strong> Neuentdeckung Kants den Versuch unternommen, den Verzicht auf Psychologie<br />
beson<strong>der</strong>s scharfsinnig zu untermauern. 44 Alois Riehl hat dieser Überzeugung vom Psychologieverzicht<br />
Kants ganz beson<strong>der</strong>en Nachdruck verliehen, indem er von einem psychologischen<br />
Vorurteil spricht. Kein Vorurteil Kants, so sagt er, son<strong>der</strong>n eines seiner Interpreten<br />
<strong>und</strong> Kritiker, die versuchten, ihn irgendwie auf Psychologie festzulegen: "Ich verstehe zunächst<br />
unter psychologischem Vorurteil kein Vorurteil Kants, son<strong>der</strong>n ein Vorurteil seiner<br />
Ausleger <strong>und</strong> Kritiker: die Behauptung, die kritische <strong>Philosophie</strong> sei auf Psychologie gegründet,<br />
o<strong>der</strong> die For<strong>der</strong>ung, sie solle es sein, obschon sich Kant selbst des anthropologischen<br />
Charakters seiner kritischen Untersuchungen nicht deutlich bewusst gewesen sei." 45 Weiter<br />
fährt Riehl (S. 380) fort: "Wäre die Kritik auf Psychologie o<strong>der</strong> Anthropologie gegründet, so<br />
würde sie sich auf einen Teil <strong>der</strong> Erfahrung stützen. Sie würde nicht die Prüfung <strong>der</strong> Bedeutung<br />
<strong>und</strong> Tragweite <strong>der</strong> allgemeinen Erfahrungsbegriffe sein können. Sie würde vielmehr<br />
die Gültigkeit dieser Begriffe für den Umkreis <strong>der</strong> persönlichen <strong>und</strong> überhaupt <strong>der</strong> psychologischen<br />
Empirie voraussetzen." Womit eben ausgeschlossen wird, dass sich Kants Vernunftkritik<br />
überhaupt auf konkrete Erfahrung stützt. Worauf aber dann? um <strong>Steiners</strong> obige<br />
Frage nach dem Was <strong>der</strong> Erkenntnis aufzunehmen. Wie weit die Erfahrung in die von Riehl<br />
erwähnten allgemeinen Erfahrungsbegriffe Kants möglicherweise schon hinein sedimentiert<br />
ist, <strong>und</strong> was sie, die Erfahrung, selber ihrer erlebten Tatsächlichkeit nach ist, spielte bei<br />
Kant offensichtlich keine grosse Rolle. Ob man allerdings allgemeine Erfahrungsbegriffe<br />
prüfen kann, ohne die konkrete Erfahrung zu befragen, - die Gültigkeit <strong>und</strong> Tragweite <strong>der</strong><br />
Erfahrungsbegriffe sozusagen vor o<strong>der</strong> jenseits je<strong>der</strong> konkreten Erfahrung -, dürfte ein Problem<br />
für sich darstellen. Einzelheiten dazu, wie man damit philosophisch umgehen kann bei<br />
41<br />
Siehe Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Band 1, Leipzig 1874, S. 26.<br />
Faktisch demonstriert Brentano dies auf den Seiten 266 ff.<br />
Im Internet erreichbar unter:<br />
http://archive.org/details/psychologievome00brengoog<br />
42<br />
Alois Riehl, Der philosophische Kriticismus <strong>und</strong> seine Bedeutung für die positive Wissenschaft. Erster Band,<br />
Leipzig 1876. Die zweite Auflage erschien 1908.<br />
43<br />
Eine Anzahl unterschiedlicher Ausgaben von Kants Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft finden Sie im Internet unter:<br />
http://archive.org/search.php?query=Kant%20Kritik%20<strong>der</strong>%20reinen%20Vernunft<br />
44<br />
Siehe dazu ausführlicher Carl Stumpf, Psychologie <strong>und</strong> Erkenntnistheorie, München 1892.<br />
45<br />
Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus, Geschichte <strong>und</strong> System, Bd 1, Geschichte des philosophischen<br />
Kritizismus, 2. Aufl. Leipzig 1908, S. 380