Bildende Kräfte und Steiners Philosophie der Freiheit - Studien zur ...
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32<br />
Auf jeden Fall liegt <strong>der</strong> junge Steiner mit seiner Einschätzung von 1887 doch gar nicht so<br />
falsch, wenn er Kant vorhält, er habe, statt nach <strong>der</strong> Möglichkeit von Erkenntnis zu fragen,<br />
doch besser erst einmal nachschauen sollen, was es eigentlich ist. 38 Auf welche zahlreichen<br />
psychologischen Problemstellungen so eine Auffor<strong>der</strong>ung letztlich dann stösst, das lässt sich<br />
exemplarisch an Brentanos Schrift Psychologie vom empirischen Standpunkt <strong>und</strong> auch an Volkelts<br />
Schrift Erfahrung <strong>und</strong> Denken ablesen. 39 Daran ist wenigstens nebenher auch zu denken<br />
wenn man sich <strong>Steiners</strong> einschränkende Bemerkung vor Augen führt, die er in <strong>der</strong> Schrift<br />
Wahrheit <strong>und</strong> Wissenschaft anlässlich <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Voraussetzungslosigkeit einer Erkenntnistheorie<br />
in den Vorbemerkungen auf S. 25 etwas beiläufig platziert: "Es ist aber klar,<br />
daß sie [die Erkenntnistheorie, MM] dieser ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden kann,<br />
wenn sie selbst, soweit das bei <strong>der</strong> Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens möglich ist,<br />
voraussetzungslos ist." Dieses "soweit das bei <strong>der</strong> Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens<br />
möglich ist" hat es wirklich in sich. 40 Zu einer eingehenden Untersuchung eines Was <strong>der</strong><br />
Erkenntnis hatte Kant offensichtlich nicht viel Neigung, da ihm <strong>der</strong> Hang <strong>zur</strong> inneren Beobachtung<br />
abging, <strong>und</strong> er sie überdies äusserst gering schätzte. Und so untersucht er dann in <strong>der</strong><br />
38 Siehe etwa GA-1, Dornach 1973, S. 143, Kaitel IX, Goethes Erkenntnistheorie: "Die Erkenntnistheorie aber,<br />
die in <strong>der</strong> Gegenwart geradezu <strong>zur</strong> wissenschaftlichen Zeitfrage geworden ist, soll nichts weiter sein als die ausführliche<br />
Antwort auf die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? Auf Goethe angewendet, würde dann die Frage<br />
heißen: Wie dachte sich Goethe die Möglichkeit einer Erkenntnis?<br />
Bei genauerem Zusehen stellt sich aber heraus, daß die Beantwortung <strong>der</strong> gestellten Frage durchaus<br />
nicht an die Spitze <strong>der</strong> Erkenntnistheorie gestellt werden darf. Wenn ich nach <strong>der</strong> Möglichkeit eines Dinges frage,<br />
dann muß ich vorher dasselbe erst untersucht haben. Wie aber, wenn sich <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Erkenntnis, den<br />
Kant <strong>und</strong> seine Anhänger haben, <strong>und</strong> von dem sie fragen, ob er möglich ist o<strong>der</strong> nicht, selbst als durchaus unhaltbar<br />
erwiese, wenn er vor einer eindringenden Kritik nicht standhalten könnte? Wenn unser Erkenntnisprozeß etwas<br />
ganz an<strong>der</strong>es wäre als das von Kant Definierte? [...] Man wird aber so lange über die Möglichkeit <strong>der</strong> Erkenntnis<br />
nichts ausmachen können, als man nicht die Frage nach dem Was des Erkennens selbst beantwortet hat.<br />
Damit wird die Frage: Was ist das Erkennen? <strong>zur</strong> ersten <strong>der</strong> Erkenntnistheorie gemacht."<br />
Auf Seite 157 resümiert er dann: "Damit haben wir <strong>der</strong> transzendenten Weltansicht Lockes, Kants, des späteren<br />
Schelling, Schopenhauers, Volkelts, <strong>der</strong> Neukantianer <strong>und</strong> <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturforscher eine wahrhaft immanente<br />
gegenübergestellt. Jene suchen den Weltgr<strong>und</strong> in einem dem Bewußtsein Fremden, Jenseitigen, die immanente<br />
<strong>Philosophie</strong> in dem, was für die Vernunft <strong>zur</strong> Erscheinung kommt. Die transzendente Weltansicht betrachtet<br />
die begriffliche Erkenntnis als Bild <strong>der</strong> Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform <strong>der</strong>selben.<br />
Jene kann daher nur eine formale Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet: Welches ist das Verhältnis<br />
von Denken <strong>und</strong> Sein? Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage: Was ist Erkennen?<br />
Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen Differenz von Denken <strong>und</strong> Sein aus, diese geht vorurteilslos auf<br />
das allein Gewisse, das Denken, los <strong>und</strong> weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann."<br />
In <strong>der</strong> Schrift Gr<strong>und</strong>linien einer Erkenntnistheorie <strong>der</strong> Goetheschen Weltanschauung (GA-2, S. 137) hat er<br />
diese seine Ansicht später in den Anmerkungen <strong>zur</strong> Neuauflage von 1924 noch einmal ausdrücklich hervorgehoben:<br />
"Man sieht aus <strong>der</strong> ganzen Haltung dieser Erkenntnistheorie, daß es bei ihren Auseinan<strong>der</strong>setzungen darauf<br />
ankommt, eine Antwort auf die Frage zu gewinnen: Was ist Erkenntnis? Um dieses Ziel zu erreichen, wird zunächst<br />
die Welt <strong>der</strong> sinnlichen Anschauung einerseits <strong>und</strong> die gedankliche Durchdringung andrerseits ins Auge<br />
gefaßt. Und es wird nachgewiesen, daß im Durchdringen <strong>der</strong> beiden die wahre Wirklichkeit des Sinnenseins sich<br />
offenbart. Damit ist die Frage: «Was ist Erkennen?» dem Prinzipe nach beantwortet." Hervorzuheben ist <strong>Steiners</strong><br />
Bemerkung, dass die Frage nach dem Was <strong>der</strong> Erkenntnis damit dem "Prinzipe nach beantwortet" ist. Das heisst<br />
natürlich auch: in den Detailaspekten nicht.<br />
Die ursprüngliche Originalausgabe des gesamten einleitenden Aufsatzes von 1887 finden Sie unter:<br />
http://archive.org/stream/werkegoe34goetuoft#page/n21/mode/2up<br />
39<br />
Auf dieses Problem <strong>der</strong> Nähe zwischen Erkenntnistheorie <strong>und</strong> Psychologie ist auch Johannes Volkelt in seiner<br />
Schrift Erfahrung <strong>und</strong> Denken gestossen, <strong>der</strong> dort einige Mühe darauf verwendet, die erkenntnistheoretische Untersuchung<br />
von einer einzelwissenschaftlich psychologischen abzugrenzen.<br />
40<br />
In <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> ist zwar vielfach von Voraussetzungen die Rede. Den expliziten Anspruch auf<br />
Voraussetzungslosigkeit seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen hat Steiner dort aber nicht mehr erhoben.<br />
Dies, obwohl er in <strong>der</strong> Schrift Von Seelenrätseln, S. 62 dieses Werk ausdrücklich als erkenntnistheoretische<br />
Gr<strong>und</strong>legung seiner anthroposophischen Geisteswissenschaft bezeichnet. Übrigens bezeichnen<strong>der</strong>weise dort unter<br />
Verweis auf seine Schrift Die Rätsel <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>.