A u sg a b e B e rn 2 1 - Ensuite
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Nr. 121 Januar 2013<br />
Im Abonnement inkl. Kunstmagazin artensuite<br />
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Nr. 121 JANuAr 2013<br />
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Au<strong>sg</strong>abe Zürich<br />
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10artensuite<br />
Schweizer Kunstmagazin<br />
Nr. 121 JANuAr 2013<br />
Im Abonnement inkl. Kunstmagazin artensuite<br />
Schweiz sFr. 7.90,<br />
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Gepresst<br />
Geschnitzt<br />
Gedruckt<br />
ISSN 1663-652X<br />
Editorial<br />
10 Jahre Kulturdialog<br />
Vor über einem Jahr fragte ich einmal hier<br />
im Editorial, was eigentlich mit Ideen<br />
geschehe, die nicht umgesetzt werden. Gehen<br />
diese einfach verloren? Albert le Vice nahm<br />
den Ball auf und hielt für ensuite ganz viele<br />
dieser Ideen in seiner Serie «Ein Leben aus<br />
Ideen» fest. Er ist damit nicht alleine – alle, die<br />
im ensuite mitarbeiten, schreiben mit der gleichen<br />
Motivation. Ich erinnere mich an die ersten<br />
Au<strong>sg</strong>aben von unserem Magazin, als mich<br />
fremde Menschen auf der Strasse anfragten,<br />
was man tun müsse, um bei ensuite mitschreiben<br />
zu können. Oder aber da sind jene LeserInnen,<br />
welche mir Artikeltexte zitierten, die wir<br />
teils fünf Jahre zuvor veröffentlicht hatten. Das<br />
ensuite ist unterdessen für viele LeserInnen<br />
zur Selbstverständlichkeit geworden.<br />
«Kulturpolitik» macht auch vermehrt<br />
Schlagzeilen in der Medien. Ein Teil geht wohl<br />
auf meine Kappe. Es ist mein Anliegen, dass<br />
wir gemeinsam über kulturelle Konzepte nachdenken<br />
und die Begriffe neu definieren. Geta<strong>rn</strong>t<br />
als Provokateur, wie ein Hofnarr läste<strong>rn</strong>d,<br />
war mein Ziel, Emotionen für die Kulturpolitik<br />
zu gewinnen. In einigen Fällen hatte ich tolle<br />
Erfolge – vieles blieb irgendwo unbeachtet<br />
hängen.<br />
Trotzdem, ensuite hat in zehn Jahren gezeigt,<br />
dass «Kultur» und «Kunst» durchaus<br />
noch «mediale Werte» sind – auch ohne «Ewigi<br />
Liebi», Robbie Williams und die Massen-Kommerz-Kultur.<br />
Ich lasse mich nicht irritieren,<br />
wenn, wie neulich, die Postfinance bekannt<br />
gibt, nur noch «Kommerzkultur» sponse<strong>rn</strong> zu<br />
wollen, und sogar die eigene klassische Konzerte-Serie<br />
aufgibt. Es passt zur Zeit: «Kultur»<br />
wird in der Politik und Wirtschaft nur noch als<br />
Geldmaschine wahrgenommen – unsere Gesellschaft<br />
wird nur noch als Geldmaschine wahrgenommen.<br />
Und wer nicht über kulturellen Inhalt<br />
nachdenkt, der bleibt in der Tat bei den Zahlen<br />
hängen. Das erleben wir zur Zeit bei vielen Kultursekretariaten,<br />
Kulturförderstellen und Behörden.<br />
Für die Politik ist das super, denn über<br />
Zahlen kann man debattieren, über kulturellen<br />
Inhalt nicht: Die kulturelle Wah<strong>rn</strong>ehmung ist<br />
Von Lukas Vogelsang<br />
immer eine persönliche, emotionale und stimmungsabhängige<br />
Empfindung, immer individuell.<br />
Kultur ist nicht lösungsorientiert, ist nicht<br />
ökonomisch, wissenschaftlich, und direkt wirtschaftlich<br />
gewinnbringend. Aber auch. Und<br />
Kultur hat mit «gesellschaftlicher Verantwortung»<br />
ganz viel zu tun. Doch das sind schwierige<br />
Themen, und denkbar schlechte Diskussion<strong>sg</strong>rundlagen<br />
zu einem Bier.<br />
Die Kultur hat immer auf<br />
die Politik gewartet – die<br />
Politik nicht auf die Kultur.<br />
Erstaunlicherweise aber habe ich in den<br />
letzten Jahren festgestellt, dass kulturpolitische<br />
Veranstaltungen oftmals mehr Besucher–<br />
Innen anzogen, als Konzert-, Theater- oder<br />
Tanzvorstellungen. Diese Zeichen sind oft ignoriert<br />
worden – auch von der öffentlichen<br />
Hand. Erst jetzt wächst das Bewusstsein, dass<br />
sich die öffentlichen Kulturverantwortlichen<br />
und VerwalterInnen nicht hinter Dossiers verstecken<br />
dürfen. «Kultur» fordert immer Dialog<br />
und dieser muss mit der Öffentlichkeit geführt<br />
werden – vor allem, solange die Definitionen<br />
von «Kultur» so weit auseinanderklaffen.<br />
Deswegen hat ensuite - kulturmagazin zum<br />
10jährigen Jubiläum auf ein Fest oder eine Spezialau<strong>sg</strong>abe<br />
verzichtet. Dafür haben wir 490<br />
Kulturabos an Stadt-, Gemeinde-, Kantons-PolitikerInnen<br />
von Be<strong>rn</strong> und Zürich verschenkt.<br />
Die Kultur hat immer auf die Politik gewartet<br />
– die Politik nicht auf die Kultur. Ich glaube<br />
wir setzen mit unserer Aktion ein klares Signal.<br />
Sie als LeserInnen können dabei mithelfen:<br />
Übe<strong>rn</strong>ehmen Sie eine Patenschaft für ein solches<br />
«politisches Abo». Sie setzen damit selber<br />
ein Zeichen, helfen uns, diese Schnittstelle und<br />
den öffentlichen Kulturdialog auszubauen.<br />
Infos dazu finden Sie per Anfrage oder auf unserer<br />
Webseite: www.ensuite.ch<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 3
permanent<br />
9 Filosofenecke<br />
Von Ueli Zingg<br />
Januarloch?<br />
Selber schuld.<br />
16 Das andere Kino / Programm<br />
www.be<strong>rn</strong>erkino.ch<br />
18 Insomnia<br />
Von Eva Pfirter<br />
22 Literatur-Tipps<br />
Von Simone Wahli<br />
Mit einem Abonnement von<br />
ensuite - kulturmagazin beweist Du Dein<br />
Verständnis der Kausalität von Medien und<br />
Gesellschaft. Wir brauchen mehr<br />
AbonnentInnen, welche sich beim Wort<br />
Kultur nicht gleich langweilen.<br />
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Im Abo inklusive ist das Schweizer Kunstmagazin artensuite.<br />
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Preis pro Jahr: 77 Franken / AHV und Studierende 52 Franken (A. Kopie)<br />
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23 Kulturagenda<br />
Der Veranstaltungskalender<br />
54 Senioren im Web<br />
Von Willy Vogelsang, Senior<br />
55 Impressum<br />
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wird das Abo um ein Jahr verlängert. Eine Kündigung ist jeweils<br />
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ensuite - kulturmagazin | Sandrainstrasse 3 | 3007 Be<strong>rn</strong><br />
Titelbild:<br />
Der Künstler Yue Minjun vor «Sunrise»<br />
(1998), aus der M+ Sigg Collection (Seite 7)<br />
Foto: Lukas Vogelsang<br />
4
Inhalt<br />
▲<br />
15<br />
18<br />
49<br />
43<br />
7 Kulturessays<br />
7 «Wir wollen kein Lesemagazin!»<br />
Von Lukas Vogelsang - Die Jubiläumsrede, die nie<br />
gehalten wird<br />
11 Medienvielzahl statt Medienvielfalt<br />
Von Lukas Vogelsang Cartoon: Bruno Fauser<br />
13 Kino & Film<br />
13 Vergiss mein nicht<br />
Von Lukas Vogelsang<br />
14 End of watch<br />
Von Sonja Wenger<br />
15 Broken<br />
Von Sonja Wenger<br />
15 DFL-Dead Fucking Last<br />
Von Sonja Wenger<br />
18 Searching for Sugar Man<br />
Von Lukas Vogelsang<br />
19 Literatur & Essays<br />
19 Der Pfeifenraucher<br />
Von Michael Zwicker<br />
21 Das Kostbare erhält<br />
Von Peter J. Betts<br />
41 Tanz & Theater<br />
41 Alles hat ein Ende<br />
Von Fabienne Naegeli<br />
42 Music & Sounds<br />
42 «Als Label bieten wir Aufmerksamkeit»<br />
Interview: Luca D‘Alessandro<br />
43 «Globale Musik: Hedonistisches Copy<br />
Paste»!<br />
Von Walter Rohrbach<br />
47 Alltagskultur<br />
47 Der Sri Lanker, der Ski lenkte<br />
Von Luca Zacchei<br />
49 Den eigenen Stil prägen<br />
Von Thomas Kohler Foto: T. Kohler<br />
50 Ein Leben aus Ideen - und jetzt?<br />
Von Albert le Vice<br />
54 Was die Welt zusammenhält<br />
Von Barbara Roelli<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 5
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“ L O N G T I M E , N O S E E , R O D R I Q U E Z ! ”<br />
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1 CentrePasquArt, Biel-Bienne 9.12.12 – 20.1.13<br />
2 Kunsthaus Interlaken 9.12.12 – 27.1.13<br />
3 Musée jurassien des Arts, Moutier 9.12.12 – 27.1.13<br />
4 Kunstmuseum Thun 16.12.12 – 27.1.13<br />
5 La Nef, Le Noirmont 16.12.12 – 27.1.13<br />
6 Kunsthalle Be<strong>rn</strong> 21.12.12 – 20.1.13<br />
7 Stadtgalerie im PROGR, Be<strong>rn</strong> 21.12.12 – 26.1.13<br />
Weihnachtsausstellung / Exposition de Noël www.cantonale.ch<br />
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Vorverkauf: Migros City, Billett-Service, Tel. 044 221 16 71;<br />
Tonhalle, Billettkasse, Tel. 044 206 34 34,<br />
und übliche Vorverkaufsstellen.<br />
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ORCHESTRE DE LA SUISSE ROMANDE<br />
Dienstag, 15. Januar 2013, 19.30 Uhr,<br />
Tonhalle Zürich, Grosser Saal<br />
Charles Dutoit (Leitung)<br />
Emmanuel Pahud (Flöte)*<br />
*Schweizer Solist<br />
Hector Berlioz: Ouvertüre «Le Corsaire»<br />
Wolfgang Amadeus Mozart: Flötenkonzert Nr. 2 D-Dur KV 314<br />
Frank Martin: Ballade Nr. 2 für Flöte und Orchester<br />
Modest Mussorgski: «Bilder einer Ausstellung»
Kulturessays<br />
▲<br />
«Wir wollen kein Lesemagazin!»<br />
Von Lukas Vogelsang - Die Jubiläumsrede, die nie gehalten wird Foto: L. Vogelsang<br />
Als Jugendlicher bin ich über den<br />
Kalenderspruch von Sol LeWitt, einem<br />
amerikanischen Künstler gestossen,<br />
und dieser wurde zu meinem zentralen<br />
Lebensbegleiter: «Ideen kann<br />
man nicht besitzen, sie gehören<br />
dem, der sie versteht.» So ist das<br />
auch mit dem ensuite - kulturmagazin.<br />
Das war im Jahr 2002 eine<br />
Idee, und daraus wuchsen durch<br />
ganz viele Menschen die Magazine,<br />
wie wir sie heute produzieren.<br />
Ich muss immer grinsen, wenn man mir fehlende<br />
Kooperationsbereitschaft oder die<br />
«Unmöglichkeit, mit mir zusammenzuarbeiten»<br />
unterstellt. ensuite existiert nur durch die Zusammenarbeiten<br />
von vielen Menschen – das<br />
war von Anfang an Konzept. Ich habe vor 10<br />
Jahren nur eine Plattform ins Leben gerufen<br />
und versucht, diese durch Motivation und Finanzierbarkeit<br />
am Leben zu halten. Alleine<br />
kann man keine Zeitung produzieren. Natürlich<br />
ist es immer schmeichelnd, wenn man mir<br />
Superman-Fähigkeiten attestiert. Allerdings<br />
braucht es ziemlich viel Naivität, so über einen<br />
Menschen zu urteilen.<br />
Ich stand von den ersten Stunden an in der<br />
Kritik. Zwar schrieb ich Einladungen an alle<br />
VeranstalterInnen und an viele Jou<strong>rn</strong>laistInnen<br />
in Be<strong>rn</strong> – doch diese glaubten nicht an ensuite.<br />
Man kannte mich nicht und hielt mich deswegen<br />
für unfähig. Nun, diese «Unfähigkeit» hat<br />
immerhin drei KultursekretärInnen in Be<strong>rn</strong><br />
überlebt, und drei Amt für Kultur-LeiterInnen<br />
des Kantons Be<strong>rn</strong>. Auch in Zürich gab es inzwischen<br />
einen Wechsel. Von den Kollegen aus<br />
der Kulturjou<strong>rn</strong>alisten-Zunft bei den Tageszeitungen<br />
gibt es nur wenige, die noch dabei sind.<br />
In vielen Institutionen hat die Leitung und das<br />
Personal gewechselt. Es fällt mir auf, dass ich<br />
mich daue<strong>rn</strong>d vorstellen muss. Das «Kulturbusiness»<br />
ist für viele ein temporärer Lebensabschnitt,<br />
ein Projekt. Und dann sind sie weg.<br />
ensuite ist noch da. Zehn Jahre haben wir<br />
durchgehalten, unter widrigsten Umständen.<br />
Es grenzt an Dummheit, wenn eine Stadt eine<br />
Gruppe von Menschen daran hinde<strong>rn</strong> will,<br />
auf privater Basis ein Kulturmagazin zu bauen<br />
– aber selber dann mit viel Kultur- und Steuergeld<br />
aktiv wird, um die private Initiative zu<br />
konkurrieren. Das macht weder politisch, wirtschaftlich,<br />
noch gesellschaftlich Sinn. In Zürich<br />
wurde im Dezember 2012 zum zweiten Mal das<br />
stadteigene Online-Kulturportal in den Wind<br />
geworfen. Diesmal mit der korrekten Begründung:<br />
«Eine Kulturagenda ist keine städtische<br />
Aufgabe.» Dafür ist man in Be<strong>rn</strong> taub. Im kleinen<br />
Be<strong>rn</strong> hätte es eigentlich keinen Platz für<br />
mehrere Kulturmagazine oder Kulturagenden.<br />
Der städtische Poker ist klar: Man geht davon<br />
aus, dass ich irgendwann einmal aufgeben werde.<br />
Darauf wartet Be<strong>rn</strong>. Die Schadenfreude sitzt<br />
hier locker auf der Zunge. Und es ergeht nicht<br />
nur mir so. Den blöden Spruch: «Wer sich einsetzt,<br />
setzt sich aus», kann ich nicht mehr hören<br />
– aber er trifft zu. Kultur ist ein Schlachtfeld<br />
– das habe ich oft wiederholt. Sicher, es war naiv<br />
von mir anzunehmen, dass Kultur etwas mit<br />
der «Gesellschaft» zu tun hätte – zumindest aus<br />
der Sicht der Kulturabteilungen von Be<strong>rn</strong> und<br />
Zürich. Aber ich halte an dieser Definition fest.<br />
Und schlussendlich kritisieren ja alle Jou<strong>rn</strong>is<br />
genau dies an mir: Ich bin stur - weil ich nicht<br />
aufgebe, das aus meiner Sicht Richtige zu tun.<br />
«Wir wollen kein Lesemagazin!» An den ersten<br />
Sitzungen in den Anfängen, als die Stadt<br />
Be<strong>rn</strong>, einige Kulturveranstalter und Kulturpublizisten<br />
an einem Tisch «brainstormten», fiel<br />
dieser Satz vom damaligen Leiter des Be<strong>rn</strong>er<br />
Ko<strong>rn</strong>hausforums und prägte jede weitere Diskussion.<br />
Die VeranstalterInnen wollten ihre<br />
Veranstaltungen möglichst günstig bewerben,<br />
eine vollständige Kulturagenda sollte diese Aufgabe<br />
übe<strong>rn</strong>ehmen. Niemand wollte analysieren<br />
und Fakten sammeln, diese Sitzungen wurden<br />
von Wünschen geleitet, und je länger der Denkprozess<br />
dauerte, umso mehr «Profis» gaben auf.<br />
Da waren VertreterInnen der Tageszeitungen,<br />
Jou<strong>rn</strong>alistInnen, zwei Kulturmagazin-Produzenten<br />
anwesend – zum Schluss war ich alleine mit<br />
den VeranstalterInnen und dem Kultursekretär.<br />
Ich wurde ebenfalls verjagt. Schlussendlich<br />
beauftragte die Stadt eine PR-Agentur mit der<br />
Produktion – niemand sonst wollte unter diesen<br />
Umständen arbeiten. Und auch die PR-Agentur<br />
gab auf.<br />
Interessanterweise ist seit Jahren bekannt,<br />
dass ein Kulturagenda-Eintrag nur einen<br />
Bruchteil der Werbung ausmacht – der redaktionelle<br />
Artikel aber den Saal füllen kann. Das<br />
Dumme: Den jou<strong>rn</strong>alistischen, redaktionellen<br />
Artikel kann man nicht beeinflussen, den<br />
Eintrag in die Kulturagenda schon. Deswegen<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 7
▲<br />
11<br />
12<br />
13 14 15 16 17 18 19<br />
10<br />
69<br />
68<br />
20<br />
70<br />
67<br />
9<br />
71<br />
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61<br />
60<br />
21<br />
8<br />
75 74 73 72 65 64 63 62 59<br />
22 23 24 25<br />
7<br />
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6<br />
27<br />
4<br />
5<br />
44<br />
43<br />
42<br />
41<br />
58<br />
57 56<br />
55<br />
28<br />
29<br />
30<br />
3<br />
2 1<br />
40<br />
39 38 37 36 35 34<br />
33<br />
32<br />
31<br />
45<br />
49<br />
50<br />
54<br />
46<br />
47<br />
48<br />
51<br />
52<br />
53<br />
Leisten Sie sich eine eigene Meinung.<br />
8
formieren sich VeranstalterInnen fast weltweit<br />
und produzieren selber in ihren Städten Promotions-Kulturmagazine.<br />
Niemand scheint zu<br />
bedenken, dass dadurch die Berichterstattung<br />
der Tageszeitungen reduziert werden könnte<br />
und das Geld falsch zu fliessen beginnt. Nur<br />
ein veranstalterunabhängiger Medienbetrieb<br />
hat hier einen positiven Einfluss: Er konkurriert<br />
den Tagesjou<strong>rn</strong>alismus auf der gleichwertigen<br />
Bühne. Oder anders herum: Die Eigenleistung<br />
der Stadt Be<strong>rn</strong> mit der Finanzierung der eigenen<br />
Kulturagenda hat vor allem den Tagesmedien<br />
Geld gebracht (Verkauf von Leistungen,<br />
Druckaufträgen, etc.). Dadurch konnte man im<br />
Ressort Kultur Einsparungen machen – mit dem<br />
Verweis auf das Engagement der öffentlichen<br />
Hand. Mit ensuite - kulturmagazin konkurrieren<br />
wir aber die Tagesmedien. Bringen wir zum<br />
Beispiel ein kulturelles Thema, wie etwa kürzlich<br />
die Geschichte über einen dubiosen Kulturproduzenten,<br />
so werden die Tagesredaktionen<br />
selber ebenfalls aktiv (NZZ). Selbst ein offener<br />
Brief von einem Veranstalter – der zuvor in den<br />
Redaktionen nicht beachtet wurde – löst ein<br />
mediales Echo aus, wenn wir ihn auf unserer<br />
Webseite publizieren (Jou<strong>rn</strong>al-B, Der BUND).<br />
Es sind absurderweise gerade die «Lesemagazine»,<br />
welche selber zu kulturellen News-<br />
Quellen für die Branche werden. Und damit<br />
helfen die unabhängigen Kulturmedien eben<br />
der Kultur überproportional. Deswegen ist die<br />
Einmischung der öffentlichen Hand durch eigene<br />
Presseprodukte verwerflich – die finanzielle<br />
Unterstützung und der Erhalt privater Initiativen<br />
aber ganz wichtig.<br />
Kultur wird immer individuell wahrgenommen<br />
und definiert. Kultur, als Oberbegriff des<br />
Wortstamms, lässt zu viel Spielraum zu – wir<br />
brauchen Regeln und Definitionen. ensuite -<br />
kulturmagazin hat in seinen zehn Jahren sehr<br />
viele kulturelle Themen aufgebracht. Es ist unser<br />
Konzept, die Begriffe «Kultur» und «Kunst»<br />
in den alltäglichen Sprachgebrauch zurück zu<br />
bringen. Nur durch die provokative und aufmüpfige<br />
Haltung war dies möglich – eben oft<br />
über meine Editorials. Sport in den Medien ist<br />
ein dankbares Thema, weil es emotionalisiert.<br />
Politik ist als mediales Thema dankbar, weil es<br />
emotionalisiert. Kultur ist schrecklich, weil die<br />
Argumentationen der emotionellen Lager beim<br />
«Einsparen!» und «Kultur ist ganz wichtig!» stehen<br />
geblieben sind.<br />
Über kulturellen Inhalt wird nicht laut gedacht<br />
– über dessen Sinn und Unsinn auch nicht.<br />
Die Feuilletons in den Tageszeitungen sind eingespart<br />
worden, Kulturkolumnen müssen lustig<br />
und unterhaltend sein. Als unabhängiges, meinungsbildendes<br />
Blatt haben wir die Freiheit,<br />
Themen und Fragen in den öffentlichen Raum<br />
zu stellen. Das ist der Freiraum, den wir im Medienbetrieb<br />
nutzen müssen: Es ist allgemein<br />
die wichtigste Aufgabe der Medien in einer Demokratie.<br />
Und so hat beispielsweise ein kritischer<br />
Text im ensuite - kulturmagazin über die<br />
kulturEssays<br />
Abteilung Kulturelles (August 2011) den Chefredaktor<br />
der Tageszeitung «Der Bund» dazu bewogen,<br />
in der Stadtredaktion einem Mitarbeiter<br />
offiziell «Kulturpolitik» ins Pflichtenheft zu<br />
schreiben. Unter den Tageszeitungen hat dies<br />
zu einem neuen Wettbewerb in der kulturellen<br />
Berichterstattung geführt, und damit zu mehr<br />
kulturellen Schlagzeilen in der Tagespresse.<br />
Ein ganz spitzfindiger Jou<strong>rn</strong>alist von «Der<br />
Bund» meinte einmal, ensuite sei ein «eher<br />
dürftiges, kritischen Jou<strong>rn</strong>alismus kleinschreibendes<br />
Produkt». Der gleiche Jou<strong>rn</strong>i kopierte<br />
übrigens vom Mode- und Trendmagazin Vogue<br />
die People-Rubrik «15 Fragen an…» – also, auch<br />
die Fragen kopiert er! Ich glaube nicht, dass der<br />
je eine ensuite-Au<strong>sg</strong>abe gelesen hat, zumindest<br />
nicht weiter als ein Editorial zu überfliegen,<br />
oder versteht, was wir eigentlich tun. Diese<br />
Qualität von jou<strong>rn</strong>alistischer Kritik begleitet<br />
und irritiert mich seit Anbeginn. Vielen Leser-<br />
Innen ist es vielleicht nie aufgefallen, doch<br />
ensuite wurde inhaltlich nie kritisiert, unsere<br />
Kulturdatenbank ist in den Medien inexistent,<br />
und das Kunstmagazin artensuite wurde kaum<br />
je in einem Artikel erwähnt. Der oder das Einzige,<br />
was im Zusammenhang mit ensuite Erwähnung<br />
fand, war ich, «der Vogelsang». Das<br />
ist ziemlich lächerlich. In solchen Momenten<br />
bin ich froh, meinen eigenen Weg gegangen zu<br />
sein. Meine kritischen Meinungen in den Editorials<br />
waren jeweils kalkuliert. Deswegen bin ich<br />
sehr erstaunt, dass die Kollegen nie direkt bei<br />
mir nachgefragt haben. Ein grobes jou<strong>rn</strong>alistisches<br />
Vergehen – oder eben eine «eher dürftige,<br />
kritischen Jou<strong>rn</strong>alismus kleinschreibende Haltung».<br />
Soviel zum Thema Qualität.<br />
Mit Katzenvideos, Babyfotos, Sex und Peoplejou<strong>rn</strong>alismus<br />
hätte ich hundertmal die besseren<br />
Möglichkeiten gehabt, als Verleger berühmt<br />
und reich zu werden. Ich bin also auch<br />
kein «Kulturhasser», wie mir ein paar eigenwillige<br />
KommentatorInnen im Inte<strong>rn</strong>et unterstellen<br />
wollen. Ebenso wenig ist «kulturelles Engagement»<br />
eine Krankheit, und muss auch nicht<br />
bekämpft werden. Selbst der Stadtpräsident<br />
Alexander Tschäppät wirkte etwas überfordert<br />
mit seiner öffentlichen Kritik über den «selbste<strong>rn</strong>annten<br />
Heftlimacher» – vor allem, weil er<br />
mich nicht einmal kennt. Kritik hat mich nie<br />
zum Verstummen gebracht, und meine Arbeit<br />
einstellen werde ich auch nicht. Gehört habe<br />
ich alles und reflektiert auch. Aber die teils absurd<br />
heftigen Angriffe auf mich beweisen, dass<br />
dem ensuite - kulturmagazin mehr Respekt zukommt<br />
und Gefährlichkeit zugetraut wird, als<br />
ich das je selber wahrgenommen habe.<br />
Ich bin sehr stolz auf die vergangenen 10<br />
Jahre, die über 150 aktiven und ehemaligen<br />
MitarbeiterInnen, auf über 227 produzierte Magazine,<br />
zwei Bücher, mehrere Webseiten – aber<br />
vor allem danke ich den über 100’000 zu uns<br />
monatlich wiederkehrenden und uns bestätigenden<br />
LeserInnen!<br />
Filosofenecke<br />
Von Ueli Zingg<br />
Weisheit<br />
Wenig verbindet Menschen mehr als die<br />
Gewissheit, älter zu werden, hin zum<br />
finalen Au<strong>sg</strong>ang ins Ungewisse. Alte<strong>rn</strong> heisst<br />
Erfahrungen sammeln, die sich in vergleichbarer<br />
Form wiederholen, bis sich Strukturen, Gesetzmässigkeiten,<br />
Prinzipien abzeichnen. Da<br />
kommen die Einzelerfahrungen zu allgemeiner<br />
Bedeutung. Individuelles Sein begreift sich als<br />
Gegenüber zu einem allgemeinen Sein, je nach<br />
Weltbild auch als nicht abgetrenntes Element<br />
dieses Allgemeinen. So oder so ist diese Erkenntnis<br />
eine Voraussetzung auf dem Weg zur<br />
Weisheit, denn das Einzelne kommuniziert nur<br />
über das Allgemeine mit einem anderen Einzelnen.<br />
Wer sein Handeln allein aus der Sicht seines<br />
Einzelseins versteht und rechtfertigt, entbehrt<br />
nicht nur der Empathie, er ist auch nicht<br />
weise. Weisheit weiss: Jede Situation kann auch<br />
anders aufgefasst werden; Individualität, das Situative<br />
des Moments, soziale Relationen lassen<br />
stets unterschiedliche Interpretationen zu. Das<br />
Verständnis des Allgemeinen, zwar einziger Ort<br />
der Verständigung, ist unter Einzelnen nie deckung<strong>sg</strong>leich.<br />
Wer diese Existenzbedingung erkennt, läuft<br />
kaum Gefahr, das Relative seines Urteils absolut<br />
zu setzen und damit mögliche Weisheit arrogant<br />
zu verspielen. Im Zustand der Weisheit akzeptiert<br />
der Einzelne seine Relativierung durch<br />
das Allgemeine. So gelingt es, damit umzugehen,<br />
dass das Eigene eine Ausnahme zum Allgemeinen<br />
darstellt: Wir sind nicht das Allgemeine,<br />
nicht in der Leistung, die wir erbringen, nicht<br />
in der Gerechtigkeit, die uns selbst meist als<br />
Ungerechtigkeit wiederfährt, nicht in der Fortpflanzung<br />
als romantisiertes Prinzip Liebe. Und<br />
doch messen wir uns selbst und andere an unserer<br />
eigenen Vorstellung des Allgemeinen, im<br />
ungünstigeren Fall nur an uns selbst. Weisheit<br />
ist der schmale Grat, auf dem unsere Werturteile<br />
und Handlungsentscheide zwischen Eigeninteressen<br />
und dem Bewusstsein dieses Algemeinen,<br />
das wir nicht sind, aber mit ande<strong>rn</strong> teilen,<br />
gefällt werden.<br />
Wir sprechen von Altersweisheit, weil die<br />
Erfahrungsmenge mit dem Alter zunimmt, was<br />
allerdings nur dann wirksam ist, wenn aus den<br />
Einzelerfahrungen eine Gesetzmässigkeit entsteht,<br />
die sich in Vorsichtigkeit, Zurückhaltung<br />
und Toleranz unserer Urteile zeigt. Doch wäre<br />
es ein Zeichen mangelnder Weisheit, würden<br />
wir diese jungen Menschen nicht zubilligen.<br />
Sind Sie weise? ueli.zingg@ensuite.ch<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 9
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▲<br />
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Von Menschen und Medien<br />
Medienvielfalt statt Medienvielzahl<br />
Von Lukas Vogelsang Cartoon: Bruno Fauser<br />
Weniger ist nicht mehr, sonde<strong>rn</strong> weniger.<br />
Wenig kann gut sein, zum Beispiel im<br />
Design, im Strassenverkehr, im Stromverbrauch<br />
– im Jou<strong>rn</strong>alismus ist es das aber bestimmt<br />
nicht. Fehlende Recherchen sind schlecht, zu<br />
wenig jou<strong>rn</strong>alistische MitarbeiterInnen sind<br />
schlecht, zu wenig LeserInnen sind schlecht.<br />
Wer das Gegenteil behauptet, liest keine Zeitungen<br />
oder gehört in die Chefetagen der Medienunte<strong>rn</strong>ehmen:<br />
Diese Manager wollen mit weniger<br />
Aufwand viel verdienen. In der Sparwut<br />
haben sich die Tageszeitungen zu Tode gespart.<br />
Am Sonntag spüren wir das besonders. Die<br />
Sonntagspresse bringt oft Themen, welche die<br />
SDA (Schweizerischen Depeschenagentur) nicht<br />
schon vorgekaut hat. Das heisst, die «unter-der-<br />
Woche»-Tageszeitungen hatten keine Ahnung,<br />
und schreiben deswegen aufgrund der Sonntagsartikel<br />
ihre Artikel dazu erst am Montag<br />
in ihren Blätte<strong>rn</strong>. Netterweise oft mit dem Hinweis,<br />
wer das Thema gefunden hatte. Die Sonntagspresse<br />
publiziert daraufhin eine Woche später<br />
noch mehr spannende Themen, denn während<br />
die Tageszeitungen mit der Aufarbeitung<br />
und mit den verzweifelten Recherchen beginnen,<br />
sind die Sonntagsjou<strong>rn</strong>alistInnen bereits<br />
an neuen Geschichten. Das ist ganz einfach der<br />
Grund, warum die Sonntagszeitungen – oder<br />
generell die Wochenzeitungen – in den letzten<br />
Jahren mehr LeserInnenzuwachs vorweisen<br />
können. Das mit der Medienvielfalt haben die<br />
Ringiers, Tamedias, NZZs, AZ-Medien und der<br />
Rest nicht wirklich begriffen. Nur in den Sonntagsau<strong>sg</strong>aben:<br />
Nach den au<strong>sg</strong>iebigen Recherchen<br />
servieren die Jou<strong>rn</strong>is eine gute Geschichte<br />
nach der anderen, gut aufgearbeitet einen Knüller,<br />
halbe Spionagegeschichten ans sonntägliche<br />
Frühstücksbuffet, und wir bleiben bildlich an<br />
der Zeitung kleben. Intelligenterweise will jeder<br />
Verlag seine eigene Tageszeitung (die anderen<br />
haben das ja auch!) und eine Sonntagszeitung<br />
(die anderen haben das auch!). Anstatt zum Beispiel<br />
das Geld in besseren Tagesjou<strong>rn</strong>alismus<br />
zu investieren, sich auf etwas zu spezialisieren<br />
und der Sonntagspresse die Themen wegzufressen,<br />
rennen alle wie Lemminge hintereinander<br />
her und kopieren einander gegenseitig die<br />
Presseerzeugnisse. Saublöd. Es ist schlicht und<br />
ergreifend nicht spannend, wenn alle Tageszeitungen<br />
alle Themen gleich ablichten. Egal welche<br />
Zeitung ich zur Hand nehme – ich habe alle<br />
Themen bereits irgendwo mitbekommen. Wieso<br />
sollte ich also noch eine Tageszeitung abonnieren?<br />
Da sitzen also an der Pressekonferenz 20<br />
Jou<strong>rn</strong>is, und alle berichten am nächsten Tag,<br />
was die Presseverantwortlichen ihnen am Vortag<br />
zum Frass vorgelegt haben. Warum noch<br />
20 Personen hingehen ist mir ein Rätsel – die<br />
Textversionen unterscheiden sich schlussendlich<br />
nicht gross. Um Fragen stellen zu können<br />
muss man dazwischen noch denken können. Im<br />
redaktionellen Alltag ist das kaum mehr möglich.<br />
Die au<strong>sg</strong>edünnten Redaktionen sind bereits<br />
am hyperventilieren, um das tägliche Pensum<br />
einigermassen befriedigend über die Runde<br />
zu bringen. Die echten Geschichten bleiben<br />
liegen – die Sonntagspresse wird diese Themen<br />
übe<strong>rn</strong>ehmen. Und so verlieren die Tageszeitungen<br />
täglich an Erfolg, Selbstbewusstsein, Relevanz,<br />
und ersticken sich selber.<br />
Medienvielfalt ist nicht Medienvielzahl. Die<br />
Medienvielzahl ist nur da, um die Konkurrenz<br />
zu schwächen und um die Werbemärkte zu<br />
destabilisieren – ein anderer Vorteil ist darin<br />
nicht zu erkennen. Denn ob das Layout grün,<br />
blau oder rot ist, spielt keine grosse Rolle. Es<br />
ginge um den Inhalt.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 11
Peter Aerschmann<br />
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ewz und das Museum Haus Konstruktiv offerieren Ihnen am Sonntag,<br />
13. Januar 2013, von 11 bis 18 Uhr, freien Eintritt zur Kunstausstellung<br />
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Nutzen Sie die Gelegenheit, allein, mit Freundinnen und Freunden oder<br />
Familie, die Retrospektive des Schweizer Künstlers zu besuchen.<br />
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ewz-Unterwerk Selnau<br />
Museum Haus Konstruktiv<br />
Selnaustrasse 25<br />
8001 Zürich<br />
www.ewz.ch<br />
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Kino & Film<br />
▲<br />
Kurz vor Weihnachten ist meine<br />
Großmutter gestorben. Sie war<br />
89 Jahre alt und seit einigen Jahren<br />
etwas verwirrt – ich hatte sie lange<br />
nicht mehr gesehen. Die Erinnerungen<br />
an sie sind aber alle noch<br />
wach. Die Bilder, Gerüche, und<br />
viele Situationen, welche ich als<br />
Kind mit ihr erlebt hatte – sogar an<br />
ihre Stimme kann ich mich erinne<strong>rn</strong>.<br />
Meine Grossmutter hätte sich aber<br />
nicht an mich erinne<strong>rn</strong> können.<br />
Der deutsche Filmregisseur David Sieveking<br />
hat mit seinen Filmen inte<strong>rn</strong>ationalen<br />
Erfolg und könnte sich um grosse Projekte<br />
kümme<strong>rn</strong>. Doch sein Vater braucht ihn<br />
jetzt. Die Mutter, Gretel, einst eine wunderschöne<br />
Lebefrau mit revolutionärem Geist,<br />
ist dement und verwirrt. Für die Familie und<br />
für alle Beteiligten keine einfache Sache: Alzheimer.<br />
David Sieveking geht nach Hause und<br />
nimmt sich vor, sich um Gretel zu kümme<strong>rn</strong><br />
– jene Frau, die ihn einst erzogen hatte und<br />
Vergiss mein nicht<br />
Von Lukas Vogelsang Bild: Der Vater, Gretel und David / zVg.<br />
die er bewundert. Wir begleiten die Familie<br />
in verschiedenen Stadien, gehen mit zurück<br />
in die Vergangenheit, erleben Teile aus ihrer<br />
Geschichte, und begleiten die Mutter in ihrer<br />
Verwirrtheit ein letztes Stück. Es ist eine ganz<br />
private Familiengeschichte, die hier erzählt<br />
wird. Doch die Geschichte kann sich in jeder<br />
anderen Familie auch abspielen. Was David<br />
Sieveking mit seinem Dokumentarfilm erreicht<br />
hat, ist mehr als eine grossartige Würdigung<br />
seiner Mutter. Jede Familie, in welcher ein Mitglied<br />
an Alzheimer erkrankt, wird für die offene<br />
und ehrliche Darstellung, die Gedanken, die<br />
Bewältigung und Aufarbeitung der Geschichte,<br />
und das Abschiednehmen (von) der Mutter<br />
dankbar sein.<br />
Ein Glück, dass der Filmnarr die Kamera<br />
ebenfalls mitlaufen liess, und die Tage und Monate<br />
mit seiner Mutter filmte. Entstanden ist<br />
ein wundervolles Werk über Alzheimer und<br />
über einen Menschen, der langsam in eine andere<br />
Welt abtaucht. Die Erzählstimme fällt als<br />
erstes auf: David Sieveking spricht wie in einem<br />
«Fünf-Freunde»-Kinderfilm. Er wäre als<br />
Erzähler sonst denkbar ungeeignet. Diesem<br />
Film aber verleiht er die Lockerheit, die es<br />
braucht, um die Emotionen ertragen zu können.<br />
Je länger wir eintauchen, umso dankbarer<br />
werden wir David dafür. Er schafft es, dem Film<br />
die Tragik zu nehmen, und bringt so viel Leichtigkeit<br />
rein, dass die Krankheit Alzheimer fast<br />
schön und lieb wirkt – ohne aber beschönigen<br />
zu wollen. Alles ist real, ehrlich und unaufhaltsam.<br />
Und darin ist die Erzählweise des Films,<br />
die Dokumentation einfach hervorragend gelungen.<br />
Wir nehmen Anteil, versuchen zu verstehen,<br />
und sind als Zuschauer eigentlich immer<br />
mit den gleichen Fragen konfrontiert wie<br />
die betroffene Familie. Und obwohl das Thema<br />
an und für sich traurig wäre schwingt der Film<br />
darüber hinweg, ohne despektierlich zu sein,<br />
ohne den Blick verschleie<strong>rn</strong> zu wollen. Statt<br />
traurig, gehen wir befreit und gestärkt aus dem<br />
Kino. David Sieveking hat es ganz richtig formuliert:<br />
«Aus der Tragödie meiner Mutter ist<br />
kein Krankheits- sonde<strong>rn</strong> ein Liebesfilm entstanden,<br />
den ich mit melancholischer Heiterkeit<br />
erfüllt sehe.» – Besser kann man diesen<br />
Film nicht beschreiben.<br />
Der Film läuft zur Zeit in den Kinos.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 13
▲<br />
Kino & Film<br />
Kein Vorspann, kein langsamer Einstieg<br />
und kaum eine ruhige Minute ist dem<br />
Publikum von «End of Watch» gegönnt. Der<br />
Film beginnt mit einer hochdramatischen Verfolgungsszene<br />
über die Strassen von Los Angeles,<br />
die in einer Schiesserei endet, und die sogleich<br />
den Ton des Films angibt: schmerzhaft<br />
authentisch, mittendrin, kompromisslos.<br />
Das Kinojahr hat gerade erst begonnen,<br />
doch «End of Watch» dürfte mit zum Besten<br />
gehören, was im Genre des Polizeifilms für<br />
lange Zeit zu sehen sein wird. Protagonisten<br />
sind die Polizisten Brian Taylor (Jake Gyllenhaal)<br />
und Miguel Zavala (Michael Peña), enge<br />
Freunde und Partner auf Streife im berüchtigten<br />
Stadtteil von South Central Los Angeles,<br />
in dem Bandenkriege und Drogenexzesse zum<br />
Alltag gehören. Taylor, ein ehemaliger Soldat,<br />
hält ihren Alltag für ein Filmprojekt auf Videokamera<br />
fest, sehr zum Verdruss von Zavala und<br />
den Kollegen auf dem Revier.<br />
Wie ein Videotagebuch ist auch der Film<br />
aufgebaut. Episodenhaft begleitet man die<br />
beiden bei ihren Einsätzen, bei denen jede<br />
Routinekontrolle eskalieren und jede noch<br />
so banal wirkende Situation ausser Kontrolle<br />
geraten kann. Taylors Aufnahmen sind im<br />
Film integriert, und verstärken zusätzlich die<br />
semidokumentarische und teils experimentelle<br />
Bildsprache von Regisseur David Ayer und Kameramann<br />
Roman Vasyanov.<br />
«End of Watch» scheint zudem über keine<br />
feste Dramaturgie zu verfügen, ist mehr Chronologie<br />
denn Erzählung. Doch der Film braucht<br />
auch keine: Die Darstellung der Realität ist<br />
packend genug, das Leben passiert, und nur<br />
der alltägliche Irrsinn einer endlosen Gewaltspirale<br />
zieht sich wie ein roter Faden durch<br />
End of watch<br />
Von Sonja Wenger Bild: zVg.<br />
das Geschehen des Films, durch das Leben der<br />
beiden Polizisten und das ihrer Familien.<br />
Man könnte «End of Watch» als eine Hommage<br />
an die Polizei von South Central Los Angeles<br />
bezeichnen, die allerdings nichts verklärt<br />
oder beschönigt. Doch ganz genau genommen,<br />
ist es ein Film über Freundschaft, Liebe<br />
und Familie, gegenseitiges Vertrauen und den<br />
Sinn des Lebens – allerdings versteckt hinter<br />
einer grenzwertig realistischen Darstellung<br />
menschlicher Grausamkeit und seelischer Abgründe.<br />
Entsprechend muss gesagt sein, dass «End<br />
of Watch» streckenweise nichts für Zartbesaitete<br />
ist. Die Bilder des Films, respektive die<br />
Situationen, mit denen Taylor und Zavala konfrontiert<br />
sind, könnten direkt aus den aktuellen<br />
mexikanischen Mainstreammedien stammen,<br />
die gefangen in einem masochistischen Extremvoyeurismus<br />
über jedes abartige Verbrechen<br />
der Drogenkartelle berichten.<br />
Umso erstaunlicher ist, dass sich Taylor und<br />
Zavala ihre Menschlichkeit, ihre Betroffenheit<br />
und Empörung bewahrt haben, und sich deshalb<br />
auf Dauer nicht damit begnügen mögen,<br />
die kleinen Fische von der Strasse zu holen.<br />
Doch wenn man zu lange in einen Abgrund<br />
blickt, blickt dieser irgendwann zurück: Als<br />
die beiden bei einer Kontrolle Drogen sowie<br />
diamantenbesetzte Waffen finden, führen sie<br />
ihre weiteren Ermittlungen mitten in die Hölle<br />
des Drogenhandels und Menschenschmuggels<br />
– und somit ins Visier eines mexikanischen<br />
Kartells, das sich in Los Angeles niedergelassen<br />
hat.<br />
«End of Watch» ist ein packender Film, ja<br />
eine Offenbarung – wenn man sich ihm stellt.<br />
Tragisch, verstörend, berührend, aber auch<br />
witzig und warmherzig, getragen von sensationellen<br />
schauspielerischen Leistungen zeichnet<br />
er ein Bild der rauen Realität und der Polizei,<br />
wie man es lange nicht gesehen hat, und das<br />
so nichts mit den markigen Sprüchen und dem<br />
Hauruck-Humor der manchmal unsäglichen<br />
«Buddy-Filme» zu tun hat, die das Genre so oft<br />
prägen.<br />
Wenig wundert deshalb das Lob der Polizisten<br />
aus South Central Los Angeles, die sich<br />
und ihre Arbeit erstmals realistisch dargestellt<br />
sahen, wie einer der Produzenten von «End of<br />
Watch» am Zürich Filmfestival 2012 erzählte,<br />
bei dem das Darstellerensemble eine besondere<br />
Erwähnung erhielt. Und nicht nur dort: Für<br />
den Film wie für die beiden Hauptdarsteller –<br />
die vor dem Dreh ein monatelanges Training<br />
bei der Polizei von Los Angeles absolviert hatten<br />
und bei vielen Patrouillen mit dabei waren<br />
– regnet es inzwischen Nominationen für Filmpreise.<br />
Zu recht – nicht nur, was die Qualität des<br />
Films angeht. Denn «End of Watch» ist mehr<br />
als nur der Versuch, mit ungewohnten Bilde<strong>rn</strong><br />
und Erzählweisen die Sehgewohnheiten eines<br />
manchmal übersättigten Publikums zu durchbrechen.<br />
Der Film ist auch ein Plädoyer für<br />
mehr Menschlichkeit, Ve<strong>rn</strong>unft und Inspiration<br />
im Umgang mit Gewalt. Denn selbst wenn Taylor<br />
und Zavala prinzipiell mit gezogener Waffe<br />
in ein Haus gehen, würden sie eine andere<br />
Form der Konfliktlösung zweifellos vorziehen.<br />
«End of Watch», USA 2012. Regie: David Ayer. Länge:<br />
109 Minuten. Ab dem 3. Januar 2013 in den Kinos.<br />
14
Kino & Film<br />
▲<br />
Broken<br />
Von Sonja Wenger<br />
Der britische Independent-Film «Broken»<br />
ist ein feingliedriges Kammerspiel, ein<br />
filmisches Kleinod voller Überraschungen und<br />
berührender Momente um das Erwachsenwerden<br />
der elfjährigen Skunk (Eloise Laurence).<br />
Das Mädchen leidet an Diabetes und lebt in<br />
einem Vorort von London, in einer Sackgasse<br />
mit drei Wohnhäuse<strong>rn</strong> und drei Familien, wie<br />
sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Seit<br />
ihre Mutter die Familie verlassen hat, kümmert<br />
sich neben ihrem Vater Archie (Tim Roth), einem<br />
Anwalt, das Au-Pair Mädchen Kasia (Zana<br />
Marjanovic) um die zurückhaltende, schwierig<br />
wirkende Skunk und ihren älteren Bruder.<br />
Einer ihrer wenigen Freunde ist der scheue<br />
Nachbarssohn Rick (Robert Emms). Doch als<br />
dieser vom dritten Nachba<strong>rn</strong> Mr. Oswald (Rory<br />
Kinnear) krankenhausreif geschlagen wird,<br />
weil eine seiner drei missratenen Töchter Rick<br />
fälschlicherweise der Vergewaltigung beschuldigte,<br />
scheint auch in Skunks Leben plötzlich<br />
alles schief zu laufen. Kasia trennt sich von<br />
ihrem Freund Mike (Cillian Murphy), der gleichzeitig<br />
Skunks Lieblingslehrer ist; ihr erster<br />
Freund muss von London wegziehen; und ihr<br />
Vater scheint immer weniger Zeit für sie zu<br />
haben. Als Rick, der inzwischen in der Psychiatrie<br />
lebt, für ein Wochenende nach Hause<br />
kommt, und Skunk ihn heimlich besuchen will,<br />
eskaliert die Situation.<br />
«Broken» ist erst der zweite Film des<br />
britischen Regisseurs Rufus Norris. Doch er<br />
hat das intelligente Drehbuch um eine ganze<br />
Reihe äusserst komplexer Charaktere mit einer<br />
verblüffenden Leichtigkeit umgesetzt. Mit<br />
enormer Einfühlsamkeit führt er die – teils<br />
sehr jungen – Schauspieler zu souveränen<br />
darstellerischen Leistungen, die ihre<strong>sg</strong>leichen<br />
suchen. Sein präziser Blick schafft zudem eine<br />
grosse Nähe, die aber immer respektvoll bleibt<br />
und zeigt, wie Teenager ticken, wie sie mit<br />
äusseren Zwängen, inneren Konflikten und<br />
ihren Träumen umgehen.<br />
Dabei gelingt es Norris stets, Klein und<br />
Gross, Schock und Erlösung, Verdorbenheit<br />
und Reinheit, Unschuld und Schuld in Balance<br />
zu halten, und dem Publikum keine leichten Lösungen<br />
oder Urteile zu präsentieren. Eine aussergewöhnliche<br />
Leistung bei einer Geschichte,<br />
in der auch der Tod eine wichtige Rolle spielt.<br />
«Broken», Grossbritannien 2012. Regie:<br />
Rufus Norris. Länge: 90 Minuten. Ab<br />
dem 17. Januar 2013 in den Kinos.<br />
DFL – Dead Fucking<br />
Last<br />
Von Sonja Wenger Bild: zVg.<br />
Die Letzten werden die Ersten sein – oder:<br />
Wer zuletzt radelt, steckt die Konkurrenz<br />
in den Sack. So oder ähnlich dürfte das<br />
Motto der Filmemacher von «Dead Fucking<br />
Last – DFL» gewesen sein, einer «Velokurier-<br />
Komödie» von Regisseur Walter Feistle, einer<br />
«verspielten Hommage an die Zürcher Velokurierdienste,<br />
die immer wieder gekonnt den<br />
Trend verpassen und sich dennoch eise<strong>rn</strong> seit<br />
über zwei Jahrzehnten über Wasser halten».<br />
Tatsächlich scheint die Geschichte um die<br />
Velokurier-Genossenschaft dreier Freunde authentisch,<br />
und ist in punkto Detailverliebtheit<br />
durchaus gelungen. Dass die Darsteller beim<br />
Dreh Spass und einen grossen Zusammenhalt<br />
hatten, ist dem Film stark anzumerken. Dass<br />
die Crew unter enormem Zeitmangel gedreht<br />
habe, und der Film mit einem Gesamtbudget<br />
von nur 1,6 Millionen Franken auskommen<br />
musste wiederum weniger. Da zieht man glatt<br />
den Velohelm.<br />
Auch die Au<strong>sg</strong>angslage ist bestens. Die drei<br />
Velokuriere und dicken Freunde Tom (Michael<br />
Neuenschwander), Andi (Mike Müller) und Ritzel<br />
(Markus Merz) sind zwar nicht mehr die<br />
Fittesten – bei einem Kurierrennen zu Beginn<br />
des Films erhalten sie den Pokal für die «Dead<br />
Fucking Last» –, aber dennoch seit über zwanzig<br />
Jahren die unangefochtenen Platzhirsche<br />
in Zürich und im Geschäft. Zumindest bis zu<br />
jenem Tag, als sie plötzlich Konkurrenz durch<br />
die Girls-Messengers erhalten. Die «Mädels»<br />
steigen mit mode<strong>rn</strong>er Ausrüstung und klassisch<br />
kurzen Röckchen ins Geschäft ein, und<br />
fuchsen den Alteingesessenen einen Kunden<br />
nach dem ande<strong>rn</strong> ab.<br />
Die Vorschläge der drei variieren von aussitzen<br />
über verhandeln bis abfackeln, und ihre<br />
Freundschaft gerät gewaltig unter Druck, als<br />
sich Tom auch noch in Nina (Orana Schrage),<br />
die Chefin der Girls-Messengers verguckt.<br />
Widerwillig einigen sich die drei auf eine mode<strong>rn</strong>ere<br />
Strategie, bei der Fat Frank (Roeland<br />
Wiesnekker), ein ehemaliger Genossenschafter<br />
und heute erfolgreicher Geschäftsmann, sprich<br />
Klassenfeind, eine unfreiwillige wenn auch<br />
schön fiese Rolle spielt.<br />
Doch trotz der vielen bekannten – und beliebten<br />
– Gesichter, die ihre Rollen mit Verve<br />
spielen, trotz der vielen Kreativität und dem<br />
Improvisation<strong>sg</strong>eschick, das die Macher in<br />
den Film gesteckt haben, und trotz einer mehr<br />
als berechtigten Portion Sozialkritik über verlorene<br />
solidarische Werte, vermag DFL nur<br />
selten zu begeiste<strong>rn</strong>, verleiten nur sehr wenige<br />
Szenen zu herzhaftem Lachen. Wohl zu verbissen<br />
und aufgesetzt polemisch wird im Film<br />
an den Idealen der achtziger Jahre und die<br />
Bewegung um «Züri brännt» festgehalten. Zu<br />
konstruiert wirken einige Wendungen der Geschichte,<br />
damit das obligate Happyend der Verliebten<br />
mit den gekitteten Freundschaften der<br />
Genossenschafter zusammengeht. Und zu sehr<br />
nervt auf Dauer das mit Leidenschaft zu Tode<br />
gerittene Klischee des ohne Unterlass rauchenden,<br />
biersaufenden und Reden schwingenden<br />
Genossenschaftsmenschen, der sich aber immer<br />
und prinzipiell um den Abwasch drückt –<br />
Mal abgesehen davon, dass dieser letzte Punkt<br />
den harten Fakten entspricht.<br />
Das ist schade, denn der Film verfügt über<br />
viel Herzblut und zeigt eine Szene, zu der<br />
man als Mensch des öffentlichen Verkehrs nur<br />
wenig Zugang hat, zeigt eine Seite von Zürich,<br />
wie man sie im Schweizer Kino selten sieht.<br />
Oder, um es wie die Protagonisten im Film «fadegrad»<br />
heraus zu sagen: Sozialsatire und Nostalgie<br />
können ihren Charme haben, manchmal<br />
gehen sie aber auch in die Hose.<br />
«DFL – Dead Fucking Last», Schweiz 2012. Regie:<br />
Walter Feistle. Länge: 95 Minuten. Seit<br />
dem 27. Dezember 2012 in den Kinos.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 15
▲<br />
Das andere Kino - Werbung<br />
www.cinematte.ch /<br />
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Musikfilme & Konzerte mit Gus McGregor<br />
Wir servieren stimmige Klänge in<br />
gemütlichem Ambiente und schaffen dem puren<br />
Musikgenuss seine Bühne. In angenehmer<br />
Wohnzimmer-Atmosphäre präsentieren wir<br />
Gus MacGregor in der Cinématte. Der gebürtige<br />
Engländer folgte vor Jahren seiner Liebe<br />
in unsere Hauptstadt, wo er als Strassenmusiker<br />
entdeckt wurde. Tiefgründige Texte treffen<br />
dabei auf wunderbare Melodien im Stile eines<br />
Paul Simon, James Taylor oder Jim Croce. Begleitet<br />
wird er dabei von einem stimmgewaltigen<br />
Special-Guest. Als Rahmenprogramm<br />
zeigen wir Shine a Light, den Doku von Martin<br />
Scorsese über die Rolling Stones, Walk the<br />
Line über Johnny Cash, Ray über Ray Charles,<br />
und den charmanten Film Once von John Ca<strong>rn</strong>ey,<br />
dessen Held der Geschichte ein Strassenmusiker<br />
ist. Konzerte vom 1. bis 4. Februar.<br />
Kino Polska<br />
Cinélibre und Cinématte präsentieren 5<br />
neue polnische Filme in Schweizer Kinopremiere.<br />
Am 14. Januar findet die Eröffnung mit<br />
dem vielgelobten Film Courage von Greg Zglinski<br />
statt. Der Regisseur wird anwesend sein.<br />
Song & Dance Men<br />
Vorpremiere am 7. Januar: Searching for Sugar<br />
Man von Malik Bendjelloul. Die Dokumentation<br />
über den Singer-Songwriter Sixto Rodriguez,<br />
der in Südafrika den Status eines Bob<br />
Dylan hat.<br />
Zum Runden Leder<br />
Wir präsentieren am 10. Januar den nächsten<br />
Fussball-Dokumentarfilm. Tom Meets Zizou<br />
– Kein Sommermärchen: Der Filmemacher<br />
Aljoscha Pause begleitete während 10 Jahren<br />
die ungewöhnliche Karriere des Fussballers<br />
Thomas Broich.<br />
Neujahrsfilme<br />
Wiederum zeigen wir zum Jahreswechsel<br />
eine kleine Auswahl an cineastischen Leckerbissen<br />
(Casablanca, Der Himmel über Berlin,<br />
Gainsbourg – Vie Héroïque und The Artist).<br />
Wir wünschen ein schönes neues Jahr mit vielen<br />
tollen Kinoerlebnissen.<br />
Weiterhin: Elena von Andrej Zvyagintsev.<br />
Elena ist weder Sozialdrama noch<br />
Thriller – obwohl Zvyagintsev alle Register<br />
zieht, die den Film in beiden Genres weit aus<br />
dem Mittelmass herausragen lassen –, sonde<strong>rn</strong><br />
faszinierende Innensicht einer Frau, die von der<br />
Spaltung, die die russische Gesellschaft durchzieht,<br />
förmlich zerrissen und zu einer extremen<br />
Tat getrieben wird. Dabei verweigert der Film<br />
jede moralische Wertung, denn darum geht es<br />
nicht, sonde<strong>rn</strong> um Leben und Tod, Liebe und<br />
Verrat, Schuld und Sühne – und das mit Bilde<strong>rn</strong><br />
eines Kameramanns, Mikhail Krichman,<br />
von dem Zvyagintsev sagt: «Er hat einzigartige<br />
Augen, welche das Unsichtbare sehen.» Bei fast<br />
jedem anderen Filmschaffenden würden solche<br />
Worte befremdlich pathetisch wirken. Doch zu<br />
Zvyagintsev, der alle seine Filme zusammen mit<br />
diesem Bildermagier geschaffen hat, passen sie,<br />
denn seine Werke verkörpe<strong>rn</strong> nicht weniger als<br />
das. (Geri Krebs, NZZ)<br />
Ab 3. Januar im Kino Kunstmuseum, ab 10.<br />
Januar im Kellerkino The Woman in the Septic<br />
Tank von Marlon N. Rivera – Komödien über<br />
das Filmbusiness sind stets ein riskantes Unterfangen.<br />
Der freche, brillant unterhaltsame und<br />
zugleich düstere soziale Kommentar, der den<br />
philippinischen Film The Woman in the Septic<br />
Tank prägt, machten diesen zu einer der provokativsten<br />
Überraschungen am Filmfestival Hong<br />
Kong. (Los Angeles Times)<br />
Ab 17. Januar: Shanghai, Shimen Road von<br />
Haolun Shu – Shanghai, Shimen Road ist ein berührender<br />
Film über China, das riesige Reich mit<br />
den kleinen Gassen, ein Film über das Erwachsenwerden<br />
und die Träume junger Menschen,<br />
die hier noch mehr als anderswo mit Widersprüchen<br />
umgehen müssen. In China erscheinen sie<br />
besonders intensiv. Der Dokumentarfilmer Haolun<br />
Shu steht mit seinem Spielfilmerstling in<br />
der Bewegung des jungen chinesischen Kinos,<br />
das den Alltag sucht, er ist aber auch ein Filmemacher,<br />
der der schrillen Mode<strong>rn</strong>e nicht erliegt<br />
und in seiner kleinen Strasse bleibt, die immer<br />
noch typisch ist in der Grossstadt. Mit Augenmerk<br />
auf sie bringt er uns den Wandel nahe und<br />
hält fest, was schwindet. (Walter Ruggle)<br />
P<br />
remieren: Mit einer Satire hat der philippinische<br />
Regisseur Marlon N. Rivera<br />
in seiner Heimat einen Kassenhit gelandet:<br />
The Woman in the Septic Tank (ab 5. Januar)<br />
erzählt von zwei Regisseuren, die mit einem<br />
Spielfilm über Slums und Prostitution die Festivals<br />
erobe<strong>rn</strong> wollen. Mal ungemein zart, dann<br />
wieder ruppig, immer aber poetisch: Rufus<br />
Norris fängt in Broken (ab 17.1.) überzeugend<br />
das überreizte Klima der Adoleszenz ein. Im<br />
Zentrum seines Films, der in Cannes für Aufsehen<br />
sorgte und am Zurich Film Festival als<br />
bester Spielfilm au<strong>sg</strong>ezeichnet wurde, steht die<br />
elfjährige Skunk, grossartig gespielt von Eloise<br />
Laurence, in der Rolle ihres Vaters überzeugt<br />
Tim Roth. In seinem Essayfilm Le sommeil d’or<br />
(ab 5. Januar) erinnert Davy Chou an die goldenen<br />
Jahre des kambodschanischen Kinos,<br />
bevor das Terrorregime der Roten Khmer die<br />
Filmkultur des Landes zerstörte.<br />
Surrealismus: Zur Ausstellung «Merets Funken»<br />
im Kunstmuseum Be<strong>rn</strong> verfolgt das Kino<br />
Kunstmuseum die Einflüsse des Surrealismus<br />
auf die Filmgeschichte. Die Reihe schlägt den<br />
Bogen von den Klassike<strong>rn</strong> in die Gegenwart:<br />
von Buñuels und Dalís Un chien andalou sowie<br />
Filmen von Man Ray, Hans Richter oder Maya<br />
Deren zu Werken von David Lynch (Mulholland<br />
Drive), David Cronenberg (Naked Lunch) oder<br />
Lars von Trier (Antichrist). Ebenfalls im Programm:<br />
Flaming Creatures von Jack Smith, El<br />
Topo von Alejandro Jodorowksy, Auch Zwerge<br />
haben klein angefangen von We<strong>rn</strong>er Herzog.<br />
Kunst und Film: Die Reihe kreist diesen<br />
Monat um Meret Oppenheim. Zum einen ist der<br />
Dokumentarfilm Imago – Meret Oppenheim zu<br />
sehen, zum ande<strong>rn</strong> ein TV-Dokument von 1983:<br />
Die Künstlerin im Gespräch mit Frank A. Meyer<br />
in der Sendung «Vis-à-vis» des Schweizer<br />
Fe<strong>rn</strong>sehens (Einführung: Franticek Klossner).<br />
Filmgeschichte: Diesen Monat: Der blaue<br />
Engel (1930) von Josef von Ste<strong>rn</strong>berg (8.1., Einführung:<br />
Stephan Schoenholtz) und Vampyr<br />
(1932) von Carl Theodor Dreyer (22.1., Einführung:<br />
Andreas Berger).<br />
16
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▲<br />
K I O<br />
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Norient organisiert vom Donnerstag, 10. Januar<br />
bis Sonntag, 13. Januar 2013 die 4. Au<strong>sg</strong>abe<br />
des Norient Musikfilm Festivals. Das Festival<br />
zeigt au<strong>sg</strong>ewählte Filme, Konzerte, DJ-Sets aus<br />
den USA, aus Bulgarien, Norwegen, Zimbabwe, Israel,<br />
Äthiopien und der imaginären Republik Kadebostan.<br />
Der geographische Fokus liegt auf New<br />
Orleans – mit drei Filmen, einer Tanzstunde und<br />
Auftritten der Queer-Rap Königin Big Freedia,<br />
Jazzmusike<strong>rn</strong>, Poeten und einer Spitzenköchin.<br />
New Orleans! Ein multi-sinnlicher New-Orleans-<br />
Abend im Kino und im «Rössli» der Reitschule<br />
Be<strong>rn</strong> macht am Donnerstag den Anfang: Nach der<br />
Buchve<strong>rn</strong>issage Out of the Absurdity of Life – Globale<br />
Musik startet das Festival mit der Langzeit-<br />
Dokumentation Bury the Hatchet.<br />
Religion, Metal und Satanismus! Im Film<br />
Children of the Bible am Freitag diskutiert der israelisch-äthiopische<br />
Rapper Jeremy Cool Habasch<br />
über Diskriminierungen in Israel und über äthiopisch-jüdische<br />
Identität. Until the Light Takes<br />
Us zeigt anschliessend in eindrücklichen Bilde<strong>rn</strong><br />
die Verstrickungen von Black Metal, brennenden<br />
Kirchen und einem Musikermord in Norwegen.<br />
Zum Abschluss des Abends präsentiert der Musiksoziologe<br />
und Kurator Peter Kraut Trouvaillen<br />
aus der Geschichte des Videoclips.<br />
Queer, «Geschmack», Trash und Kitsch! Der<br />
Film Little-Big inszeniert am Samstag eine skurrile<br />
Liebe<strong>sg</strong>eschichte zwischen der Chalga-Pop-<br />
Prinzessin Desi Slava und dem Thrash-Metal Gitarristen<br />
Boris Red – zwei Künstler von zwei Rände<strong>rn</strong><br />
der bulgarischen Gesellschaft. Der Film Almost Famous<br />
zeigt danach ein Porträt über die Rapperin<br />
Big Freedia, Königin der schwulen und transsexuellen<br />
Sissy-Bounce-Szene in New Orleans.<br />
Mehr zum Programm und weite<strong>rn</strong> Veranstaltungen<br />
in Rössli, Bonsoir und Tu<strong>rn</strong>halle unter:<br />
http://musikfilmfestival.norient.com/<br />
Und wie jeden Monat nicht zu verpassen:<br />
- Mellow Mélange: am 17.1. Robert Zimmermann<br />
wundert sich über die Liebe, 31.1. Léon<br />
- Kinderfilm am Flohmi-Sonntag, 6.1. De<br />
Hamschter Etienne!<br />
- Uncut: am 15.1. Alle Tijd – Alle Zeit der Welt,<br />
am 22.1. Skinny, am 29.1. Frauensee<br />
Kinder-Filmnachmittage In Zusammenarbeit<br />
mit dem Quartierverein Marzili gibt<br />
es im Januar jeden Sonntagnachmittag Kinderfilme<br />
zu entdecken (Filmbeginn jeweils 16 Uhr).<br />
Zuerst begleiten wir die kleine Heidi aus den<br />
Bergen zu Clara nach Frankfurt (6.1.). In Kiriku<br />
und die Zauberin stellt sich ein kleiner Junge<br />
und grosser Läufer der bösen Zauberin Kiriku<br />
entgegen, die alle Wasserquellen au<strong>sg</strong>etrocknet<br />
hat (13.1.). Um eine andere Freundschaft<br />
als zwischen dem Bergmädchen Heidi und dem<br />
Stadtkind Clara geht es in Luc Jacquets Der<br />
Fuchs und das Mädchen: Aus einer erst zaghaften,<br />
dann immer intensiveren Beziehung zwischen<br />
dem Kind und dem Tier entwickelt sich<br />
eine fabelhafte Geschichte zweier ungleicher<br />
Gefährten, die gemeinsam in ihrer Welt nach<br />
Abenteue<strong>rn</strong> jagen (20.1.). Schliesslich durchforsten<br />
wir unser Archiv nach lustigen Filmen,<br />
in denen Lausmädchen, Bengel und Ganoven<br />
die Hauptrolle spielen (27.1.).<br />
Sortie du Labo Sigfrit Steiner erzählt in Steibruch<br />
die Geschichte eines Mannes, der nach<br />
langjähriger Haft in Amerika in sein Heimatdorf<br />
Langnach zurückkehrt. Dort richtet er sich am<br />
Rand des Dorfes in einem Steinbruch ein. Erst<br />
die Entdeckung zweier unverhoffter Vaterschaften<br />
erweicht den bärbeissigen Aussenseiter<br />
allmählich. Ein Kauz bleibt er aber, und Steiner<br />
verzichtet auch darauf, die Gegensätze der<br />
Nachba<strong>rn</strong> restlos aufzulösen (9.1).<br />
Filmgeschichte Der blaue Engel war der<br />
letzte Film, in dem Marlene Dietrich vor ihrer<br />
Emigration nach den USA spielte; als wahrlich<br />
betörende Nachtclubsängerin Lola Lola hinterliess<br />
sie als filmisches Erbe unter anderem die<br />
Figur des Vamps (16.1.); mit echten Vampiren<br />
bekommt es ein Okkultist in Theodor Dreyers<br />
erstem Tonfilm Vampyr zu tun, einem Film, der<br />
einen wesentlichen Beitrag zu einem ganzen<br />
Genre leistete (30.1.)<br />
CinemAnalyse Im Rahmen des Zyklus zu<br />
Traum und Film zeigen wir Fritz Langs Der müde<br />
Tod; eine junge Frau ringt dem erschöpften<br />
Tod das Versprechen ab, ihren toten Geliebten<br />
wiedersehen zu dürfen – wenn sie dafür ein anderes<br />
Leben retten kann (31.1.).<br />
M<br />
arley (4.-7.1.) Dokumentation über den<br />
Reggae-Musiker Bob Marley (1945-<br />
1981). Aus teils bisher unveröffentlichtem Archivmaterial<br />
sowie Interviews entsteht ein facettenreiches<br />
Bild, das die Leben<strong>sg</strong>eschichte<br />
Marleys, seine Rolle als Identifikationsfigur<br />
politischer Befreiungsbewegungen und seine<br />
Musik beleuchtet. Auch musikgeschichtliche<br />
Kontexte und Hintergründe zu Marleys Heimat<br />
Jamaika werden nicht au<strong>sg</strong>espart. Ein differenziertes<br />
Porträt, das Marleys Bedeutung als ikonische<br />
Figur nicht demontiert, aber durchaus<br />
Brüche zwischen Person und Image zu Tage<br />
treten lässt.<br />
Halt auf freier Strecke (11.-12.1.) Ein Familienvater<br />
erkrankt unheilbar an einem Hi<strong>rn</strong>tumor<br />
und hat nur noch wenige Wochen zu leben.<br />
Eindringlicher Film über die körperlichen und<br />
emotionalen Auswirkungen eines Krankheitsverlaufs<br />
und Sterbeprozesses, dem mit mobiler<br />
Handkamera und einem aus Schauspiele<strong>rn</strong> und<br />
Laien bestehenden Ensemble eine realistische<br />
Annäherung an sein Thema gelingt. Ohne Beschönigung<br />
und Rührseligkeit werden die ZuschauerInnen<br />
mit den Tatsachen dieses Sterbens<br />
konfrontiert, wobei dessen Ungeheuerlichkeit<br />
Schritt für Schritt abgebaut wird.<br />
Was bleibt (13.-14.1.) Ein junger Berliner<br />
Schriftsteller reist mit seinem kleinen Sohn<br />
zu Elte<strong>rn</strong> und Bruder. Während des Sommerwochenendes<br />
gerät das Familiengefüge aus<br />
der Balance, als die seit Jahren seelisch labile<br />
Mutter ankündigt, keine Psychopharmaka<br />
mehr zu nehmen. Subtiles Kammerspiel, das<br />
ein schmerzhaftes Panorama des deutschen<br />
Bürgertums entwirft, hinter dessen Fassade<br />
Generationsbrüche und seelische Nöte schlumme<strong>rn</strong>.<br />
Ein schnörkelloses, eindringliches Drama<br />
als leises Gruppenbild mit implodierender<br />
Kettenreaktion, die das Unglück der Figuren<br />
trotz flacher Bilder ganz nah heranrücken lässt.<br />
Der Berg ruft! ist Thema des Filmzyklus<br />
vom 18.1.-18.2.2013.<br />
Für das Tagesprogramm die Tageszeitung oder das Inte<strong>rn</strong>et www.be<strong>rn</strong>erkino.ch<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 17
insomnia<br />
Kino & Film<br />
Willkommenes<br />
Januarloch<br />
Von Eva Pfirter<br />
Als Kind war die Zeit nach Weihnachten<br />
immer auch ein bisschen eine traurige<br />
Zeit: Die schönsten Tage im Jahr gehörten der<br />
Vergangenheit an, die Geschenke waren au<strong>sg</strong>epackt,<br />
die Lieder gesungen und der Weihnachtsbaum<br />
stand traurig in einer Ecke, die Äste voller<br />
kalter Kerzenwachstropfen. Alle weihnachtliche<br />
Magie war der typischen Januarleere gewichen<br />
und man hatte als Kind Lust, die Bettdecke über<br />
den Kopf zu ziehen und die Zeit wie ein Tonband<br />
zurückzuspulen.<br />
Mit fortschreitendem Alter und exponentiell<br />
zunehmenden Dezember-Verpflichtungen finde<br />
ich inzwischen jedes Jahr mehr Gefallen an<br />
der Januar-Leere. Nach viel zu vollen Festtagen<br />
strahlt das Januarloch am Horizont der Silveste<strong>rn</strong>acht<br />
eine geradezu wohlige Ruhe aus. Endlich<br />
ist es vorbei mit der grossen Weihnachtshektik<br />
in der Zürcher Innenstadt, als man befürchten<br />
musste, die Menschenmassen könnten das Tram<br />
zum Umkippen bringen, oder man werde von<br />
den zahlreichen herumgeschwungenen Edelboutique-Taschen<br />
auf dem Weg Richtung Bahnhof<br />
erschlagen. Manchmal tickt Zürich schon etwas<br />
anders – oder ist es die ganze (urbane) Schweiz?<br />
In Europa herrscht Krise und in der grössten<br />
Schweizer Stadt wird geshoppt, was das Zeug<br />
hält. Dunkel gekleidete Menschen hetzen einem<br />
entgegen, e<strong>rn</strong>ste Gesichter blicken einen<br />
an, herau<strong>sg</strong>eputzte Geschäftsmänner schieben<br />
ihre piekfeinen Mappen durch die Menschenmasse.<br />
Wären wir Zugvögel und könnten die Innenstadt<br />
von weit oben betrachten, würden wir<br />
sehen, dass die Menschen schwarzen Ameisen<br />
gleich umherrennen, unkoordiniert Häuser betreten<br />
und wieder verlassen, und immer mehr<br />
kleine und grosse bunte Tütchen mit sich herumtragen.<br />
Das hat auch etwas Lächerliches,<br />
nicht wahr? Als wäre die Schweiz wahrhaftig eine<br />
Insel, glauben wir weiterhin fest daran, dass<br />
uns kaum je etwas passieren kann, dass unsere<br />
Konti immer voll sein werden...<br />
Nach der grossen Weihnachtshektik kommt<br />
wohl kaum das langersehnte, wohlig-ruhige Januarloch,<br />
sonde<strong>rn</strong> der Ausverkauf, in dem es zu<br />
horten gilt, was man horten kann. Dabei würde<br />
gerade der Schweiz ein Januarloch unglaublich<br />
guttun.<br />
Searching for Sugar Man<br />
Von Lukas Vogelsang Bild: zVg.<br />
Jetzt wirds absurd: Sixto Rodriguez? Kennen<br />
wir wohl nicht, und es geht ganz vielen so.<br />
Zwar wurde 1970 ein Album produziert, und<br />
man setzte grosse Stücke auf den mexikanischstämmigen<br />
Singer-Songwriter. Er wurde zu dieser<br />
Zeit mit Bob Dylan verglichen – der Produzent<br />
war voller Hoffnungen. 1971 produzierte<br />
man ein zweites Album – Sixto Rodriguez<br />
machte eigentlich alles richtig. Detroit war ein<br />
gutes Pflaster, politische Songs, eine Kultfigur,<br />
charismatische Stimme… Aber es reichte nicht.<br />
Die Musikbranche verschluckte ihn. Das zweite<br />
Album erschien im November 1971 – zwei<br />
Wochen vor Weihnachten schmiss man ihn aus<br />
dem Label raus und stellte ihn auf die Strasse.<br />
Es war ein Fiasko. Zu Unrecht.<br />
Auf irgendeine dubiose Weise gelangte ein<br />
Album nach Südafrika. Es wurde kopiert und<br />
verteilte sich in Windeseile. Sixto wurde zu<br />
einem musikalischen Rebellen, seine Musik<br />
passte perfekt in das Timing und die politische<br />
Situation von Südafrika. In Südafrika gehörten<br />
die Platten von Sixto Rodriguez zum Besten,<br />
was damals erhältlich war. Jeder und jede hörte<br />
diese Musik. Seine Stimme wurde die Stimme<br />
der Revolution. Auf Radiostationen wurden<br />
seine Songs verboten – was dem Erfolg nichts<br />
anhaben konnte.<br />
Das eigentliche Absurde aber ist, dass<br />
der Rest der Welt und damit Detroit und<br />
schlussendlich eben Sixto Rodriguez nichts davon<br />
wussten. Ein südafrikanischer Musikjou<strong>rn</strong>alist<br />
und sein Freund machten sich auf die<br />
Suche nach diesem Sixto Rodriguez, der sich<br />
auf den Platten auch Jesus Rodriguez oder Sixto<br />
Prince nannte. Über den Sänger war nichts<br />
bekannt – man erzählte sich, dass er vor Publikum<br />
auf der Bühne Selbstmord verübte habe.<br />
Das stärkte den Kult natürlich nur noch mehr.<br />
Selbst die Rolling Stones hatten das Nachsehen<br />
zu der Zeit. Die Industrie schien zu funktionieren<br />
– selbst die Urheberrechtsabgeltungen<br />
wurden bezahlt. Über eine halbe Million Platten<br />
wurden verkauft. Legal. Allerdings kam das<br />
Geld nie zu Rodriguez. Eine wahre Odyssee<br />
führte schlussendlich die zwei Schnüffler 1997<br />
zum Künstler. Er lebt, jobbte die ganz Zeit als<br />
Working-Class-Hero in Dearbo<strong>rn</strong>, in der Nähe<br />
von Detroit – ohne zu wissen, dass er in Südafrika<br />
ein grösserer Musikstar als Elvis war. Bei<br />
seinem Auftritt in Südafrika rief er dem Publikum<br />
zu: «Thanks for keeping me alive!» Und<br />
da steht er im Film: Ein echter Working-Class-<br />
Hero. Es ist unglaublich.<br />
Im Hintergrund der Filmdokumentation<br />
läuft die Musik von Sixto Rodriguez. Man verlässt<br />
den Film selig, irritiert – und als ein weiterer<br />
Fan von «Sugar Man».<br />
Der Film läuft jetzt im Kino.<br />
18
Literatur & Essays<br />
▲<br />
Nein, das ist keine Pfeife, genauso wenig<br />
wie da ein Pfeifenraucher ist. Es ist ein<br />
Bild einer Pfeife; ein Bild, oder besser noch,<br />
mein Bild des Pfeifenrauchers. Mein Pfeifenraucher<br />
wird diese Pfeife niemals anzünden,<br />
und niemals wird Rauch durch ihren Körper<br />
strömen. Sollte es in der Brennkammer trotzdem<br />
glimmen, so pass mir lieber auf, denn<br />
dann wird in Kürze die Pfeife brennen, das<br />
Feuer wird auf den Pfeifenraucher übergreifen,<br />
und schlussendlich wird das Kulturmagazin in<br />
Flammen aufgehen.<br />
Vor wenigen Stunden folgte ich einer Strasse.<br />
Vor mir ging ein Pfeifenraucher. In kurzen<br />
Abständen entwichen seiner Mundhöhle<br />
Rauchwolken. Wie eine mit Dampf betriebene<br />
Lokomotive bewegte er sich mit beinahe unmerklichen<br />
Stossbewegungen gemächlich vorwärts.<br />
Er legte eine Spur. Ihr Duft entzückte<br />
meine Nase und verdrängte meine Gedanken.<br />
Ich schnüffelte wie ein Süchtiger und war nicht<br />
gewillt, die Fährte grundlos aufzugeben. Der<br />
Pfeifenraucher bog rechts ab. Ich folgte ihm,<br />
obwohl ich eigentlich nicht in diese Richtung<br />
gehen wollte. Plötzlich bremste er langsam ab<br />
Der Pfeifenraucher<br />
Von Michael Zwicker Bild: Maler René Magritte / zVg.<br />
und kam neben einem Bücherantiquariat zum<br />
Stillstand. Er dampfte weiter. Vor dem Antiquariat<br />
stand ein Herr, ein weiterer Pfeifenraucher.<br />
Der Herr, hielt einen Radiergummi in<br />
der Hand, mit dem er Bleistift-Gekritzel aus<br />
einem mit der anderen Hand umfassten und<br />
leicht vergilbten Buch radierte: Auf seiner Nasenspitze<br />
sass eine Lesebrille, und in seinem<br />
Mundwinkel hing eine Pfeife. Die Pfeife hatte<br />
sich, wie mir schien, über die Jahre hinweg in<br />
seine Zähne eingeschliffen. Die beiden Pfeifenraucher<br />
gaben sich die Hand und ich musste,<br />
um nicht aufzufallen, noch einen letzten Blick<br />
auf die beiden werfend, an ihnen vorbeiziehen.<br />
Ich hörte, wie sie hinter meinem Rücken<br />
Luft durch ihre Dampfdruckpfeifen jagten.<br />
Meine Nase schnüffelte weiter. Sie beruhigte<br />
sich erst als sie, aus ihr unbekannten Gründen,<br />
nichts Süssliches mehr wah<strong>rn</strong>ahm. Ich ging<br />
weiter. Nach einigen unbedeutenden Passagen<br />
erreichte ich die Bahnhofshalle. Chaos. Die<br />
Passanten strebten geradlinig, sofe<strong>rn</strong> ihnen<br />
niemand in die Quere kam, auf ihre Ziele zu.<br />
Chaos. Ich strebte geradlinig, ging aber auf einer<br />
kaum durch eine Funktion ausdrückbaren<br />
Funktionslinie. Ich zog den Fuss zurück als<br />
ein Rollkoffer ihn bedrohte. Ich legte die Arme<br />
an den Körper und drehte den Oberkörper ab,<br />
als ich in ein Sandwich zu geraten drohte. Ich<br />
duckte mich als ein Vogel knapp über meinen<br />
Kopf hinweg flog. Auf der anderen Seite angekommen,<br />
innerlich zerzaust, blickte ich auf<br />
das Landesmuseum. Pfeifenraucher sind beinahe<br />
so selten wie Dampflokomotiven, dachte<br />
ich. Sie kommen aus einer anderen Zeit. Sie<br />
sind Detektive, ich dachte an Sherlock Holmes,<br />
Schriftsteller, ich dachte an Max Frisch, Philosophen,<br />
ich dachte an Jaques Derrida, und<br />
Künstler, ich dachte an Paul Klee. Sie sind diejenigen,<br />
nach denen ich mich sehne. Ich drehte<br />
mich um, kämpfte mich nochmals durch die<br />
Bahnhofshalle, betrat das Tabakwarengeschäft<br />
an der Bahnhofsstrasse und kaufte mir Tabak<br />
und Pfeife. Als ich zu Hause ankam, stopfte ich<br />
die Pfeife und zündete sie an. Sie schmeckte<br />
mir nicht. Nach wenigen Zügen erlosch die<br />
Glut. Ich legte die Pfeife weg.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 19
Das Zürcher Kammerorchester<br />
gratuliert ensuite ganZ herZlich<br />
Zum runDen geburtstag!<br />
Unsere nächsten Konzerte:<br />
So, 13. Januar 2013, 11 Uhr, Kunsthaus Zürich<br />
ZKO im Kunsthaus:<br />
ausstellung giacOmetti<br />
Zürcher Kammerorchester | Willi Zimmermann Violine und Leitung<br />
Werke von A. Roussel, F. Martin und O. Schoeck<br />
Do, 17. Januar 2013, 20 Uhr, Kaufleuten<br />
«ZKO meets...»<br />
niK Bärtsch<br />
Zürcher Kammerorchester | Nik Bärtsch Klavier<br />
Sha Bassklarinette | Mats Eser Perkussion<br />
Mi, 23. Januar 2013, 19.30 Uhr | Tonhalle | Grosser Saal<br />
sir rOger nOrringtOn & James gilchrist<br />
Zürcher Kammerorchester | Sir Roger Norrington Dirigent | James Gilchrist Tenor<br />
Werke von W.A. Mozart, B. Britten, J. Dowland, J. Haydn<br />
Vorverkauf: 0848 84 88 44 / billettkasse@zko.ch / Besuchen Sie uns auf: www.zko.ch und<br />
Unsere Konzerte werden ermöglicht durch Subventionen der Stadt und des Kantons Zürich sowie durch Beiträge der ZKO-Freunde<br />
und unserer Haupt partner AMAG und Zürcher Kantonalbank.<br />
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2. Nachdenken über Medien:<br />
«Fehlende Werbung<br />
tut allen weh: Keine<br />
Werbung - keine Medien.»<br />
Der «Verband Schweizer Werbung» startete eine breit angelegte<br />
Kampagne gegen Werbeverbote. Wenn keine Werbung mehr gemacht<br />
wird, wer soll dann die Medienerzeugnisse bezahlen? Mit<br />
einem Abonnement von ensuite - kulturmagazin und dem Kunstmagazin<br />
artensuite - aber auch anderen Printmedien - nehmen Sie Ihre<br />
soziale Verantwortung wahr und leisten einen wichtigen Beitrag<br />
an unsere Schweizer Demokratie. Die Wirtschaft übe<strong>rn</strong>immt diese<br />
Funktion nicht mehr. Jetzt müssen WIR helfen.<br />
Politische Entscheidungen werden aufgrund unserer «Kultur» gefällt.<br />
Bildung hat mit dieser «Kultur» zu tun. Wir wollen keine Zustände,<br />
wie sie in Russland oder China herrschen. Unterstützen Sie<br />
deswegen kleinere Zeitungen und Magazine in Ihrer direkten Umgebung.<br />
Reden Sie darüber mit Freunden. Ihr Beitrag ist wesentlich<br />
für eine neutralere, au<strong>sg</strong>ewogenere, kritischere Berichterstattung in<br />
den Medien.<br />
ensuite engagiert sich. Helfen Sie mit!<br />
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www.ensuite.ch/impressum/foerde<strong>rn</strong>
essays<br />
▲<br />
Das Kostbare erhält in bestimmten Bereichen<br />
immer wieder neue Inhalte und verliert<br />
alte. Gewinnoptimierung? Danach sieht es<br />
aus, sonst würden die Werbestrategen – Frauen<br />
sind diesbezüglich, vermute ich, in der Minderzahl<br />
- diesen Sachverhalt nicht wie ein Mantra<br />
ihrer Kundschaft als lebensbestimmende Zauberformel<br />
erfolgreich suggerieren. Das Wunderbare<br />
daran ist für Sie, dass das Verlorene manchmal<br />
nur scheinbar verloren ist, weil oft beliebig<br />
reproduzierbar. Eine Frage drängt sich auf: war<br />
es je anders als nur scheinbar da? Sie haben eine<br />
Radiosendung verpasst? Kein Problem. Via<br />
Inte<strong>rn</strong>et ist sie jederzeit und überall abrufbar.<br />
Sie haben nicht genau hingehört? «Klick». Wozu<br />
denn überhaupt zuhören? Der gelebte Energieerhaltungssatz?<br />
Sie erinne<strong>rn</strong> sich: «In einem abgeschlossenen<br />
System bleibt die Gesamtenergie<br />
konstant.» Und das unabhängig von der Zeit. Ein<br />
abgeschlossenes System ist ein System ohne Informations-,<br />
Energie- oder Stoffaustausch – und<br />
ohne Wechselwirkung mit der Umgebung. Offenbar<br />
mehrt sich aber das Gespeicherte global<br />
ungebremst, und nichts, was man noch so ge<strong>rn</strong><br />
zum Verschwinden brächte, geht virtuell verloren.<br />
Der Energieerhaltungssatz ausser Kraft gesetzt?<br />
Oder gehört die virtuelle Welt nicht zu<br />
unserem abgeschlossenen System? Wie steht es<br />
hingegen beispielsweise mit einem Geruch, der<br />
in der Kindheit eine ganz besondere Bedeutung<br />
hatte, den Sie seit Jahrzehnten nicht gerochen<br />
haben, und nach dem es jetzt unerwarteterweise<br />
plötzlich so riecht - Sie sich ebenso plötzlich<br />
mitten im Keller Ihres Elte<strong>rn</strong>hauses als Vierjähriger<br />
befinden? Das hat mit der virtuellen<br />
Welt nichts zu tun. Oder denken Sie sich zum<br />
Beispiel in eine Zeit hinein, in der ein Klang<br />
erklang und dann unwiederbringlich verklang.<br />
Als Schubert seine Winterreise den Freunden<br />
vorstellte, geschah etwas mit ihnen, das sie Zeit<br />
ihres Lebens nie mehr vergassen; nicht zuletzt,<br />
weil der Vorgang nicht wiederholbar war: sie<br />
waren selber Teil des Vorganges. Jeder Patzer,<br />
jeder gelungene Lauf, jedes Zeichen von Gerührtsein<br />
des Sängers – oder der Zuhörenden<br />
–, jedes Räuspe<strong>rn</strong> und Rascheln, allenfalls ein<br />
Schluchzer prägte sich allen ein. Wer von ihnen<br />
das Ereignis verpasst hatte, hatte es verpasst.<br />
Definitiv. Die Freunde konnten das Gehörte weitererzählen,<br />
sie konnten darüber schreiben, und<br />
vielleicht gelang es einzelnen, es so darzustellen,<br />
dass auch bei ihren Zuhörenden ein, wenn<br />
auch auf ihre Persönlichkeit abgestimmtes, anderes<br />
Bild erwuchs und dann ebenfalls erhalten<br />
blieb. Der schöne, unwiederbringliche Klang:<br />
Kultur der Politik<br />
Das Kostbare erhält<br />
Von Peter J. Betts<br />
Kostbares, das weder neue Inhalte erhält, noch<br />
die ursprünglichen verliert, in der Erinnerung<br />
aber an Wert gewinnt? Ich hörte Reinhard Mey<br />
bei seinem ersten Auftritt im Zähringerrefugium,<br />
wohl Ende der Sechzigerjahre, «Ich wollte<br />
wie Orpheus singen» und «Ankomme Freitag,<br />
den 13.» singen. Der Zuschauerraum war verraucht,<br />
ob Mey auf der Bühne rauchte, ob er sich<br />
räusperte oder hustete weiss ich nicht mehr.<br />
Nach dem Konzert sass man zusammen und<br />
trank. Mey war einer von uns. Ich habe ihn dann<br />
ziemlich viel später im Be<strong>rn</strong>er Kultur-Casino –<br />
wie es heute heisst - gehört, natürlich auch die<br />
beiden Lieder als Mey-Markenzeichen; nach seinem<br />
Auftritt verzog sich Mey; alles andere wäre<br />
undenkbar gewesen; es hatte auch sehr anders<br />
geklungen. Anders? Lag das an mir? An ihm?<br />
Am Raum? Am Publikum? Natürlich kann ich<br />
mir die beiden Lieder auf Platte oder CD anhören,<br />
immer wieder, stundenlang. Mit Sicherheit<br />
kein Räuspe<strong>rn</strong>, kein Patzer, keine falsche Pause<br />
– nur, glücklicherweise, auf der Platte ein paar<br />
Kratzer. Ich kann mir auch eine ganze Nacht<br />
lang Mozarts Klarinettenquintett anhören, mit<br />
Benny Goodman, oder eben auch die Winterreise<br />
mit Dietrich Fischer-Dieskau. Tolle Interpretationen.<br />
Jeweils mit der dem Produktionsjahr<br />
entsprechenden bestmöglichen Aufnahmetechnik.<br />
Ich kann dazu trinken und, wenn ich will,<br />
paffen. Ich kann mich auf eine Traum-oder Zeitreise<br />
begeben: zurück ins Zähringer-Refugium;<br />
nach Lindfield, wo mich Paul mit Benny Goodmans<br />
Interpretation des Klarinettenquintetts<br />
bekanntmachte; nach Burgdorf, wo mir mein<br />
Deutschlehrer Fischer-Dieskaus Winterreise als<br />
Premierengeschenk zur «Draussen vor der Tür»-<br />
Inszenierung unter meiner Regie in die Hand<br />
drückte. All das hat aber mit meiner persönlichen<br />
Geschichte zu tun, nur in sehr zweiter Linie<br />
mit den Klängen. Bei Radio DRS2 (wenn dieser<br />
Artikel erscheint, ist die Institution mit viel<br />
Grösserem verschmolzen worden: Prost! Oder<br />
mit Mey: «Gute Nacht, Freunde...») herrschte eine<br />
durchaus glaubwürdig wirkende Authentizität<br />
und auch, dies natürlich nur scheinbar, eine<br />
Nähe zu den einzelnen Zuhörenden. Man fühlte<br />
sich von den Moderatoren und Moderatorinnen<br />
in ihre Moderation einbezogen; es gelang ihnen,<br />
den Eindruck zu erwecken, es handle sich um<br />
einen gemeinsamen gedanklichen Prozess, einen<br />
persönlichen Dialog. Vergleichbar mit einer<br />
Live-Show in einem guten Theater, wo man zwar<br />
weiss, dass «die auf der Bühne» in eine Rolle<br />
hineingeschlüpft sind und «die im Zuschauerraum»<br />
nicht oder wenigstens anders. Und bei<br />
der DRS2 Team-Übersicht fand man ihre E-Mail-<br />
Adresse für den virtuellen Direktkontakt. Nun,<br />
die Adressen sind schon vor der Umstrukturierung<br />
verschwunden. Zu viele haben das persönliche<br />
Angebot wohl genutzt: Zeitverlust (weil im<br />
Programm nicht eingeplant und sich die Effizienz<br />
nicht mit Quoten belegen lässt), was einer<br />
klaren Führungsstruktur neoliberaler Prägung<br />
widerspricht. Die strukturellen Hierarchien sind<br />
nun vertikal geordnet: die Spitze wird proportional<br />
zum wachsenden Machteinfluss schmaler;<br />
nur in den einzelnen Fachgebieten gibt es eine<br />
horizontale Führungs- oder vielleicht gar Kommunikationsstruktur.<br />
Die Arbeitseinsätze werden<br />
optimiert. Ob man dabei etwas verliert? So<br />
«neo» ist es natürlich auch wieder nicht: «divide<br />
et impera!» ist ein altes Modell und funktioniert<br />
– damals wie heute - jeweils auch eine Zeitlang<br />
mehr oder weniger gut, wenigstens, bis sich die<br />
geschaffenen Teilbereiche wieder zu autonomisieren<br />
beginnen und auseinander driften, oder<br />
gegeneinander im fröhlich-tödlichen Wettstreit<br />
mit entsprechenden Machtansprüchen antreten:<br />
Grundlage für wiederum ganz neue Strukturen.<br />
Alles im Rahmen des Energieerhaltungssatzes:<br />
das beim E<strong>rn</strong>euerungsprozess Verlorengegangene<br />
wird unmerklich zum integrierten Teil des<br />
Neuen, wie es sich für ein abgeschlossenes System<br />
gehört. Die Feststellungen hier sind übrigens<br />
weder als kulturpessimistische Schelte,<br />
noch als nostalgische Schwärmerei gedacht. Die<br />
Gegenwart kann weder ohne Blick in die Vergangenheit,<br />
noch ohne Tastversuche in die Zukunft<br />
verstanden oder bewusst gelebt werden.<br />
Die Zeit, in der ein Klang erklang und dann<br />
unwiederbringlich verklang... Der verschwundene<br />
Duft aus der Kindheit... Ein Verlust, oder<br />
Futter für die Erinnerung als Leben<strong>sg</strong>rundlage?<br />
Im Winter, wenn man sich einigermassen verantwortungsbewusst<br />
e<strong>rn</strong>ähren will, greift man<br />
vielleicht eher auf Eingefrorenes, Gedörrtes,<br />
auf Konserven zurück, und mit etwas Zurückhaltung<br />
auf das, was auf der Sommererdkugel<br />
im Überfluss (?) wächst. Die Platte mit Dietrich<br />
Fischer-Dieskaus Winterreise, oder die mit Benny<br />
Goodman macht in vielerlei Hinsicht Sinn,<br />
auch die CD mit Liede<strong>rn</strong> von Reinhard Mey. In<br />
einer Schlagzeile behauptet die BZ, die Zeitung<br />
sei kein Auslaufmodell. Vielleicht, falls der lächerlichen<br />
und unmöglichen Aktualität<strong>sg</strong>ier ein<br />
Schwergewicht mit reflektierten Grundsatz-Artikeln<br />
entgegengesetzt wird. Das Kostbare erhält<br />
immer wieder neue Inhalte – und verliert alte,<br />
die möglicherweise in neuer Form und Funktion<br />
ins scheinbar Verlorene einfliessen.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 21
▲<br />
Literatur<br />
Cerha, Ruth: Zehntelbrüder. Roman.<br />
Eichbo<strong>rn</strong>. Köln 2012. ISBN 978 3 8479<br />
0506 6. S. 346.<br />
Hier steckt Musik drin…<br />
Ruth Cerha: Zehntelbrüder. Roman.<br />
Mischa ist ein junger Wiener DJ, der seine<br />
Freundin Hannah an sich über alles liebt.<br />
Mit ihr zusammenzuziehen, Kinder zu haben, auf<br />
immer und ewig, kann er sich aber nicht wirklich<br />
vorstellen, beziehungsweise löst das Wort «Vater»<br />
und «Familie» in ihm Ängste aus. Ängste, die, wenn<br />
man seine Familiengeschichte kennt, durchaus<br />
nachvollziehbar sind.<br />
Seine Mutter Margit wurde mit siebzehn ungewollt<br />
mit ihm schwanger, seinen Vater, einen erfolglosen<br />
Musiker, hat er kaum je gesehen. Gross<br />
geworden ist er die ersten Jahre in der Wirtshausküche<br />
des Wirtepaares Zach, wo seine Mutter als<br />
Köchin arbeitete. Bis sie der erfolgreiche Geschäftsmann<br />
Janek, Vater von Zwillingssöhnen, vom Herd<br />
wegholt. Eine Art Aschenputtel-Geschichte also.<br />
Margit, die nun nichts mehr tun müsste als den<br />
neuen Reichtum geniessen, kann dies aber nicht,<br />
und brät und brutzelt weiter, ungeheure Mengen.<br />
Mit ihren Stiefsöhnen kommt sie nicht wirklich klar,<br />
und auch nicht mit ihrem neuen Leben. Zunächst<br />
verschwindet sie nur stundenweise, später ganze<br />
Tage, mehrere Nächte. Irgendwann kommt der<br />
gemeinsame Sohn Jul zur Welt, ein Schreibaby das<br />
nicht zu beruhigen ist. Bis sie auf einem gemeinsamen<br />
Urlaub mit der Exfrau Gisela und den Zwillingssöhnen<br />
sowie Giselas neuem Freund Norbert<br />
– mit dem sie später Zwillingstöchter haben wird<br />
– deren Jugendfreundin Jenny treffen, die mit homöopathischen<br />
Kügelchen das Wunder vollbringt,<br />
und dem eigentlich rationalen Janek die Tarotkarten<br />
legt.<br />
Margit findet in Jenny die erste und einzige<br />
Freundin ihres Lebens, und als sie diese an einem<br />
Silvester mit Janek in der Küche überrascht, verschwindet<br />
sie endgültig aus dem Leben ihrer Söhne<br />
und überlässt diese Janek und Jenny. Bis Janek<br />
eines Tages aus der gemeinsamen Wohnung auszieht<br />
– zu seiner neuen Freundin Tina, mit der er<br />
einen weiteren Sohn namens Max hat. Janek hält<br />
Mischa für einen Weichling, ein Muttersöhnchen,<br />
dennoch teilen die beiden eine grosse gemeinsame<br />
Liebe – nicht etwa diejenige zu Margit, sonde<strong>rn</strong> zu<br />
Janeks umfangreicher Plattensammlung – die Weichen<br />
für Mischas spätere DJ-Karriere scheinen gestellt.<br />
Inzwischen herrscht Funkstille zwischen Mischa<br />
und Hannah, und er bändelt mit der schönen<br />
und geheimnisvollen Nella an, ohne recht zu wissen<br />
weshalb. Als Jul aber immer wieder in Schwierigkeiten<br />
gerät und alle Halb-, Viertel-, Zehntel- etc.<br />
Geschwister gemeinsam mit Exfrauen und Freundin<br />
zu Janeks neuem Wohnort nach Mallorca aufbrechen,<br />
wird Mischa einiges klarer.<br />
Dohrmann, Ralph: Kronhardt. Roman.<br />
Ullstein. Berlin 2012. ISBN 978<br />
3 550 08878 0. S. 920.<br />
Ein etwas anderer Bildungsroman<br />
Ralph Dohrmann: Kronhardt. Roman.<br />
Der Bremer Ralph Dohrmann legt mit<br />
«Kronhardt» ein ambitioniertes Debüt<br />
von epischen Ausmassen vor, welches ebenfalls<br />
in Bremen angesiedelt ist.<br />
Der Fabrikantensohn Willhelm Kronhardt<br />
kehrt gemeinsam mit seiner Mutter und seinem<br />
Stiefvater ins kriegsversehrte Bremen zurück.<br />
Sein Elte<strong>rn</strong>haus ist durch die für das Wirtschaftswunder<br />
typische Amerikabegeisterung geprägt.<br />
Willhelm wird von Mutter und Stiefvater streng<br />
gehalten, ja geradezu überwacht. Kontakte mit<br />
der einfachen Bevölkerung werden wenn immer<br />
möglich unterbunden, hingegen diejenigen zu linientreuen,<br />
womöglich ebenso amerikabegeisterten,<br />
coca-cola-trinkenden Kinde<strong>rn</strong> aus ebensolchen<br />
Familien gefördert. Willhelm ist bereits während<br />
seiner Kindheit kein Revolutionär, sonde<strong>rn</strong> entzieht<br />
sich der elterlichen Kontrolle eher subversiv.<br />
Später studiert er Betriebswirtschaft, um alsdann<br />
in den Familienbetrieb einzutreten, welcher seit<br />
dem Kaiserreich, über die Nazizeit bis zum Wirtschaftswunder<br />
ungebrochen Erfolg<strong>sg</strong>eschichte<br />
schreibt. Mit der Tuchhändlerin Barbara an seiner<br />
Seite scheint er der perfekte Sohn.<br />
Eines bleibt dem «Power Couple» jedoch versagt:<br />
aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit bleibt<br />
das Ehepaar kinderlos. Dies wertet es jedoch nicht<br />
etwa als negativ, sonde<strong>rn</strong> sie erleben es eher als<br />
Befreiung, insofe<strong>rn</strong> sie dadurch nicht zu Sklaven<br />
des Systems werden, keines Systems wie es<br />
scheint. Vielmehr verlieren sie sich in an die Romantik<br />
angelehnte Naturbetrachtungen.<br />
Der deutsche Bildungsroman, insbesondere<br />
aber Manns «Buddenbrocks», liest sich implizit als<br />
Kontrastfolie, zuweilen auch als Inspiration. Anders<br />
als bei Thomas Buddenbrock sind Willhelms<br />
Unte<strong>rn</strong>ehmen sowie wie dieser selbst aber nicht<br />
von Verfall geprägt, obwohl ihm ein wirklicher<br />
Unte<strong>rn</strong>ehmergeist abgeht. Als die übermächtige<br />
Mutter stirbt, erhält der Roman eine neue Wendung:<br />
Willhelm macht sich auf, mit der Hilfe von<br />
zwei schattenhaften Detektiven die mysteriösen<br />
Todesumstände seines Vaters aufzuklären. Und<br />
begibt sich auf eine Reise durch die neuere deutsche<br />
Geschichte. – Trotz des unzeitgemässen Umfangs<br />
und gewissen Längen handelt es sich hier<br />
um ein herausragendes Erstlingswerk, unter anderem<br />
deshalb, weil der Autor es versteht, die Klaviatur<br />
der literarischen Bezüge überaus originell<br />
zu spielen.<br />
Yan, Geling: Die Mädchen von Nanking.<br />
Roman. Aus dem englischen von Greta<br />
Löns. Knaus. München 2012. ISBN 978 3<br />
8135 0469 9. S. 224.<br />
Filmhafte Beschreibungen<br />
Geling Yan: Die Mädchen von Nanking. Roman.<br />
Aus dem Englischen von Greta Löns.<br />
Nanking 1937. In der amerikanischen Missionskirche,<br />
welcher Pater Engelmann und der<br />
Diakon Fabio Ado<strong>rn</strong>ato vorstehen, werden vierzehn<br />
chinesische Mädchen aus vo<strong>rn</strong>ehmen Familien erzogen.<br />
Die japanische Invasion hat grosse Teile der<br />
Stadt zerstört, die Nahrungsvorräte sind bereits<br />
knapp, als eines Tages eine Gruppe Prostituierter<br />
über die Mauer klettert. Die Kirchenmänner können<br />
die «gefallenen» Frauen nicht zurück in den<br />
sicheren Tod schicken, und lassen sie in den Kellerräumen<br />
der Kirche ihr Lager aufschlagen, sehr zum<br />
Unmut der Schulmädchen, welche dazu erzogen<br />
worden sind, solche Frauen mit Verachtung zu strafen.<br />
Nun sehen sie sich sogar gezwungen, ihre mageren<br />
Vorräte mit ihnen zu teilen. Die Frauen üben<br />
in ihren bunten Gewände<strong>rn</strong> und geschminkten<br />
Gesichte<strong>rn</strong>, teilweise kaum älter als die Mädchen<br />
selbst, eine seltsame Faszination aus. Die schöne<br />
und elegante Yumo könnte eine Frau aus besseren<br />
Kreisen sein. Insbesondere auf die Schülerin Shujan,<br />
die des Nachts immer wieder die Schlafräume<br />
im Dachboden verlässt, um die Prostituierten beobachten<br />
zu können.<br />
Wenige Tage später bitten verletzte chinesische<br />
Soldaten um Einlass; Engelmann und Ado<strong>rn</strong>ato<br />
zöge<strong>rn</strong> lange, ob sie diesen gewähren sollen<br />
und damit die Sicherheit der Mädchen gefährden.<br />
Doch ein weiterer Soldat zwingt sie mit vorgehaltener<br />
Waffe, die Verletzten aufzunehmen. Erst nach<br />
dem ihre Wunden versorgt worden sind, und ihre<br />
Zunge mit Wein gelöst wurde, erzählen sie vom<br />
schrecklichen Massaker der japanischen Armee,<br />
das sie wahrscheinlich als einzige überlebt haben.<br />
Gemeinsam teilen sie nun das Lager mit den Prostituierten,<br />
die Kellerräumlichkeiten lediglich notdürftig<br />
durch einen Vorhang getrennt. Inzwischen<br />
nehmen die Übergriffe auf chinesische Zivilisten<br />
in den Stras-sen der Stadt zu, niemand scheint sicher.<br />
So ist es nicht verwunderlich, dass eines Tages<br />
japanische Soldaten Einlass verlangen, und ihr<br />
Aufenthalt innerhalb der heiligen Maue<strong>rn</strong> nach einigen<br />
Ablenkungsmanöve<strong>rn</strong> mit dem Tod der drei<br />
Soldaten endet. Nur das grosse Opfer, welches die<br />
Prostituierten alsdann erbringen, nämlich anstelle<br />
der Schulmädchen mit den Soldaten mitzugehen, sichert<br />
das Überleben der Zöglinge.<br />
Gelings Roman diente dem Film «Flowers of<br />
War», welcher 2011 in die Kinos kam, mit Christian<br />
Bale in der Hauprolle, als Vorlage. Nicht verwunderlich,<br />
denn bereits die Beschreibungen des Romans<br />
sowie dessen etwas klischierte Figuren scheinen<br />
nach einer Verfilmung geradezu zu verlangen.<br />
22
Tanz & Theater<br />
▲<br />
Alles hat ein Ende<br />
Von Fabienne Naegeli – Der Tod als Rockstar in EberhardGalati’s «I see a darkness»<br />
Eines haben wir alle gemeinsam. Irgendwann<br />
ist Schluss. Das letzte Stündchen<br />
schlägt und das Licht geht für immer aus.<br />
Manche entschlafen sanft und friedlich, andere<br />
treten eine abenteuerliche, letzte Reise an.<br />
So auch ein Musiker, der aufgrund eines Autounfalls<br />
eine Nahtoderfahrung durchlebt. Seine<br />
Vergangenheit zieht in einer blitzlichtartigen<br />
Bilderschau an ihm vorüber, währendem er die<br />
fünf Sterbephasen, wie sie die Schweizer Ärztin<br />
und Forscherin Elisabeth Kübler-Ross definierte,<br />
durchlebt. In dieser Zwischenwelt trifft<br />
der Musiker auf den Tod in Persona, der nicht<br />
etwa in düsterer Sensenmann-Manier auftritt,<br />
sonde<strong>rn</strong> in einem roten Anzug mit Gitarre.<br />
Denn wenn Gott ein DJ ist, muss der Tod, damit<br />
es eine himmlisch schöne Party gibt, natürlich<br />
ein Rockstar sein. Der verunfallte Musiker<br />
kann nicht nachvollziehen, warum au<strong>sg</strong>erechnet<br />
er sterben soll. Er hat Angst davor, will es<br />
nicht wahrhaben, verweigert sich zo<strong>rn</strong>ig dem<br />
Tod und versucht mit ihm zu verhandeln. Doch<br />
am Ende bleibt nur das Einlenken und Zustimmen.<br />
«Is a hope that somehow you, can save<br />
me from this darkness.» Auf der emotionalen<br />
Achterbahnfahrt trifft er neben dem Tod, der<br />
Bild: Maria Ursrung<br />
ihn mit Songs von Joy Division, Queen, At the<br />
Drive In, Townes van Zandt und Radiohead begleitet,<br />
immer wieder auf «The Voice» Frank<br />
S(inatra). Vom einstigen Star der Zwanziger<br />
Jahre ist allerdings nur noch eine ziemlich lädierte<br />
Pappfigur übrig geblieben, ein Abbild,<br />
das Fragmente aus seinen berühmtesten Songs<br />
wiedergibt.<br />
«I see a darkness – If God is a DJ, Death<br />
would be a Rockstar. Eine szenische Nahtoderfahrung»<br />
ist das erste Stück der 2011 gegründeten<br />
Zürcher Theaterformation EberhardGalati.<br />
Der titelgebende Song des amerikanischen<br />
Sängers Bonnie ‚Prince’ Billy, der u. a. von<br />
Johnny Cash gecovert wurde, diente als Inspirationsquelle<br />
für das Stück, das sich mit dem<br />
Grenzbereich unserer Vorstellungskraft, der<br />
Kunst des Sterbens beschäftigt. Was passiert<br />
bei diesem Prozess mit dem Körper, und wie<br />
gehen wir mit der Tatsache um, dass wir alle<br />
sterblich sind? EberhardGalati versuchen mit<br />
fragmentarisch verwendeten Texten, bestehend<br />
aus Erlebnisberichten von Nahtoderfahrungen,<br />
biblischen, mythologischen, philosophischen<br />
und literarischen Betrachtungen, sowie<br />
mit wissenschaftlichem Material wie den<br />
LSD-Sterbebegleitungsexperimenten, und Musiker-Biografien<br />
dem Tod auf die Spur zu kommen.<br />
Der physischen Endlichkeit lässt sich mit<br />
Erinnerungen entgegenwirken. Kunstschaffende<br />
können mit ihren Werken etwas Zeitloses<br />
schaffen, und so zu unsterblichen Idolen werden,<br />
wie beispielsweise Michael Jackson oder<br />
Amy Winehouse. Die musikalischen Passagen<br />
in «I see a darkness», die sich in den Bereichen<br />
Punkrock, Dark Country, New Wave und<br />
Noise bewegen, verbinden die Vergänglichkeit<br />
mit der Ewigkeit. Dem heutzutage vielfach tabuisierten,<br />
e<strong>rn</strong>sten Thema des Sterbens begegnen<br />
EberhardGalati in ihrer Inszenierung mit<br />
einem Spiel voll Unerwartetem und feinfühliger<br />
Komik.<br />
24. - 26. Januar 2013, 20:30 Uhr<br />
im Tojo Theater (Be<strong>rn</strong>)<br />
Spiel, Musik: Stephan Filati, Mauro Galati.<br />
Regie: Eveline Eberhard. Text: EberhardGalati,<br />
Marcel Müller. Dramaturgische Beratung:<br />
Lukas Bangerter. Sound: Rolf Näpfer. Kostüm:<br />
Ursina Schmid. Bühne: Tomas Fetty. Licht,<br />
Technik: Josef Busta.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 41
▲<br />
Music & Sounds<br />
«Als Label bieten wir Aufmerksamkeit»<br />
Interview: Luca D‘Alessandro Bild: zVg. / Sirion Records: v.l. Fedja Haueter alias Feodor, Franco Rüegger alias Frango und Boris Minnig alias Kurz&Knaggisch<br />
Hinter Sirion Records steckt ein<br />
Be<strong>rn</strong>er Elektronik-Kollektiv, das<br />
– obwohl es ganz klein ist – gelegentlich<br />
gross von sich reden macht:<br />
gegenwärtig mit der «Bae<strong>rn</strong> Kompileischn<br />
part 1», einer Momentaufnahme<br />
der lokalen Elektronikszene.<br />
ensuite-kulturmagazin hat<br />
sich mit Label Mitgründer Franco<br />
Rüegger alias Frango getroffen.<br />
Franco Rüegger, als kleines Be<strong>rn</strong>er Label<br />
ist es schon fast eine Sensation, auf dem<br />
inte<strong>rn</strong>ationalen Elektronikparkett mitzumischen.<br />
Euch scheint sie zu gelingen.<br />
Vom elektronischen Bereich bekommt man<br />
als Musikhörer in der Regel nicht viel mit. In<br />
der Branche sind wir aber gut verankert. Wir<br />
werden von DJs inte<strong>rn</strong>ational wahrgenommen.<br />
Wie kommt es, dass ich als Be<strong>rn</strong>er von der<br />
hiesigen Elektronikszene nicht viel mitbekomme?<br />
Unsere Szene ist in ziemlich gross. Allerdings<br />
arbeiten die meisten Musiker für sich<br />
alleine. Sie tüfteln, probieren aus, speiche<strong>rn</strong><br />
ihre Kreationen auf ihren Heimcompute<strong>rn</strong> ab.<br />
Sie machen Musik für sich und gehen damit<br />
nicht an die Öffentlichkeit. Als Label bieten<br />
wir hier eine Schnittstelle: Wir sind offen für<br />
neue Sounds, und wenn aus unserer Sicht die<br />
Qualität stimmt, lassen wir sie in unsere Releases<br />
einfliessen.<br />
So zum Beispiel in die soeben erschienene<br />
Bae<strong>rn</strong> Kompileischn Part 1 …<br />
… genau. Sie beinhaltet ausschliesslich Musik<br />
von Be<strong>rn</strong>er Artists.<br />
Es sind also Produzenten oder Musiker, die<br />
ohne euch nicht wahrgenommen würden.<br />
Das stimmt so nicht. Es gibt ja unzählige<br />
digitale Plattformen, auf denen man ohne Label<br />
eine eigene Produktion publizieren kann.<br />
Technisch gesehen, braucht es uns also nicht.<br />
Als Label bieten wir aber den Vorteil der Aufmerksamkeit<br />
und der Qualität. Letztere garantieren<br />
wir, indem wir die Sounds triagieren<br />
und nur jene Dinge aufnehmen, die unserem<br />
Qualitätsanspruch genügen.<br />
Ein Elektronikliebhaber wird sich eher bei<br />
einem Label nach News umsehen, als irgendwo<br />
im Netz.<br />
Auf jeden Fall. Wir haben eine gewisse Publizität<br />
und auch ein Image. Es freut uns, wenn<br />
die Leute sagen: «Diese Produktion kann nur<br />
gut sein, schliesslich kommt sie von Sirion.»<br />
Ein solches Image ist uns wichtig.<br />
Du hast die Qualität angesprochen: Wie definierst<br />
du diese?<br />
Qualität hat immer mit unserem Bauchgefühl<br />
zu tun. Wir geben den Musike<strong>rn</strong> keine<br />
Vorgaben. Schliesslich sollen sie kreativ und<br />
möglichst ohne unnötige Regeln und Hinde<strong>rn</strong>isse<br />
arbeiten können. Wir von Sirion haben in<br />
den vergangenen Jahren viel Erfahrung gesammelt.<br />
Inzwischen wissen wir haargenau, was<br />
State of the Art ist und was beim Publikum ankommt.<br />
Diesem Instinkt vertrauen wir.<br />
Hat so auch die Triage für die aktuelle Compilation<br />
stattgefunden?<br />
Ja, sicher. Obwohl auch zu sagen ist: Mit den<br />
Jahren haben wir einen Produzenten-Stamm<br />
aufgebaut. Wir wissen, wer uns in etwa was<br />
und in welcher Qualität zukommen lässt. Das<br />
ist sicher ein Vorteil und erleichtert uns die<br />
Arbeit. Was aber nicht heisst, dass wir nicht<br />
auch an Neuem interessiert sind. Im Gegenteil!<br />
Als Neuling habe ich also auch Chancen, gehört<br />
zu werden?<br />
Auf jeden Fall. Ich gebe immer ein Feedback:<br />
Zum Beispiel, ob das Musikalische<br />
stimmt, oder das Arrangement. Ich finde das<br />
wichtig. Schliesslich haben die Leute unter<br />
Umständen viel Zeit und Arbeit in ihre Produktion<br />
gesteckt. Ich finde, sie sollen wissen,<br />
woran sie sind, damit sie ihre Arbeit weiter optimieren<br />
können.<br />
Da spielt aber dein, respektive der Geschmack<br />
eures Kollektivs eine gewichtige Rolle.<br />
Ist das objektiv?<br />
Es gibt natürlich Dinge, die uns weniger<br />
42
▲<br />
gefallen, oder die nicht zu uns passen. Die<br />
nehmen wir nicht auf. Das gehört auch dazu,<br />
schliesslich ist Musik Geschmacksache. Wenn<br />
eine Produktion nicht zu uns passt, heisst das<br />
nicht, dass sie schlecht ist.<br />
Wie kam es eigentlich zur «Bae<strong>rn</strong> Kompileischn»?<br />
In der Elektronikszene kennen wir inzwischen<br />
viele hervorragende Produzenten, mit<br />
denen wir ge<strong>rn</strong>e EP oder Album-Releases machen<br />
würden. Doch ein Release ist immer mit<br />
einem gewissen finanziellen und personellen<br />
Aufwand verbunden – und dieser ist nicht zu<br />
unterschätzen, schliesslich leisten wir alle drei<br />
die Arbeit für das Label ehrenamtlich …<br />
… wie ich ve<strong>rn</strong>ommen habe, befindet sich<br />
das Sirion Studio bei dir zuhause …<br />
Genau, du siehst, wir sind ganz klein. Item:<br />
Um vielen Produzenten die Möglichkeit zu bieten,<br />
auf einem Release mit dabei zu sein, haben<br />
wir uns für das Compilation-Konzept entschieden.<br />
Darauf finden ganz viele Künstler auf einmal<br />
Platz. Die Bae<strong>rn</strong> Kompileischn ist also eine<br />
Momentaufnahme der aktuellen Be<strong>rn</strong>er Elektronikszene.<br />
Sie bietet einen guten Überblick,<br />
obwohl wir den noch erweite<strong>rn</strong> werden. Der<br />
zweite Teil der Compilation wird voraussichtlich<br />
im kommenden Frühjahr erscheinen. Darin<br />
werden all jene vertreten sein, die wir von Sirion<br />
gut finden, allerdings für den ersten Teil<br />
nicht berücksichtigen konnten.<br />
Die Bae<strong>rn</strong> Kompileischn ist nur digital erhältlich.<br />
Im Augenblick schon, obwohl wir den Gedanken<br />
haben, eine Vinyl-Auskoppelung zu<br />
machen. Aber dafür brauchen wir wieder ein<br />
bisschen mehr Zeit. Ich selber arbeite hauptberuflich<br />
etwas ganz Anderes, daher muss ich die<br />
Zeit dafür auch irgendwo he<strong>rn</strong>ehmen.<br />
Lohnt sich dieser Aufwand überhaupt? Irgendwie<br />
scheint er sich nicht auszuzahlen …<br />
Doch, ich finde, er zahlt sich aus. Vielleicht<br />
nicht finanziell, aber kulturell. Wenn ich zum<br />
hiesigen Kulturleben einen Beitrag leisten<br />
kann, ist das für mich sehr viel Wert. Natürlich<br />
wäre es schön, wenn unser Label mit den Jahren<br />
finanziell besser dastünde. Es würden sich<br />
weitere Möglichkeiten eröffnen. Aber das ist<br />
im Augenblick nicht Thema. Solange wir qualitativ<br />
gute Musik produzieren und die Be<strong>rn</strong>er<br />
Elektronikszene inte<strong>rn</strong>ational repräsentieren<br />
können, sind wir mehr als glücklich.<br />
Info: www.sirion-records.ch<br />
norient das 4. Musikfilm Festival<br />
Be<strong>rn</strong>, 10. – bis 13. Januar 2013<br />
«Globale Musik:<br />
Hedonistisches Copy<br />
& Paste»!<br />
Von Walter Rohrbach Bild: zVg. / «Children of the Bible»<br />
Um die Welt des Musikschaffens<br />
mit dem 4. Musikfilm Festival norient.<br />
Die Haltestellen sind unter<br />
anderem: New Orleans, Israel, Bulgarien,<br />
Norwegen und Zimbabwe.<br />
Musik und Geräusche sind etwas Faszinierendes.<br />
Wie klingst du? Wie klingt<br />
das? Wie klingt die Welt? Tickst du noch richtig?<br />
Musik und Rhythmik geben Hinweise auf<br />
unterschiedliche Kulturen, Charakteristiken,<br />
und verweisen auf Bräuche, Lebensstile und<br />
Eigenheiten. Doch was sind eigentlich die Lebens-<br />
und Arbeitsbedingungen der Musikerinnen<br />
und Musiker, und wie unterscheiden sich<br />
diese voneinander in den verschiedenen Regionen<br />
dieser Welt? Wie interagiert und wie<br />
beeinflusst diese riesige Vielfalt an Musikkulturen-,<br />
-stilen und -formen einander in einer<br />
Welt der zunehmenden digitalen Ve<strong>rn</strong>etzung?<br />
Einer Welt der globalen digitalen Nähe mittels<br />
Youtube, Soundcloud und Facebook. Hier ergeben<br />
sich doch neue Einflüsse und Handlungsweisen.<br />
Musikalische und kulturelle Grenzen<br />
werden aufgebrochen, und eine Vermischung<br />
müsste sichtbar werden. Trotzdem: so einfach<br />
ist es nicht. Wenngleich die Bild- und Tondateien<br />
mit Leichtigkeit Grenzen überwinden<br />
können. Einige Musikerinnen und Musiker<br />
können dies nicht. Neben der fiktiven Cyberfreiheit<br />
existieren reale Grenzen und determinieren<br />
und beschränken die reale Teilhabe an<br />
der ve<strong>rn</strong>etzten globalen Musikszene. Dies die<br />
Beobachtung des promovierten Musikethnologen<br />
und Musikjou<strong>rn</strong>alisten Thomas Burkhalter,<br />
Mitorganisator des im Januar stattfindenden<br />
Musikfilm Festivals «norient». Zusammen mit<br />
Michael Spahr, seines Zeichens Historiker, Filmemacher<br />
und Jou<strong>rn</strong>alist, hat er ein Filmprogramm<br />
rund um die Musik in verschiedenen<br />
Regionen dieser Erde au<strong>sg</strong>ewählt. Präsentiert<br />
wird das musikfilmische Schaffen in den Hallen<br />
der Reitschule, wo es ehemals nach Pferdeballen<br />
roch, im als «alte<strong>rn</strong>atives» gepriesenen<br />
Kino. Das Programm setzt nicht auf Quantität,<br />
sonde<strong>rn</strong> es werden klar Schwerpunkte gesetzt.<br />
Filmisch wie auch musikalisch. Neben Filmen<br />
gibt es ebenso Konzerte, DJ Sets und Tanzstunden<br />
in den Räumen des Progr, des Club Bonsoir<br />
und der Reitschule zu rezipieren.<br />
Beispielsweise können wir einen ungewohnten<br />
Blick nach Israel werfen. Den Staat,<br />
der, wie es scheint, die negativen Schlagzeilen<br />
in den Hauptnachrichten seit Jahrzeiten reserviert<br />
hat, und mit Begriffen wie Terror, Konflikten<br />
und Krieg verbunden wird. Nun dürfen<br />
wir dank dem Film «Children of the Bible» von<br />
Nitza Gonen einen neuen Begriff kennenle<strong>rn</strong>en:<br />
Beta Juden. Dies die Benennung der äthiopischen<br />
Juden, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
getrennt von Israelis als Minderheit in der Diaspora<br />
lebten. Gonens Film porträtiert die Leben<strong>sg</strong>eschichte<br />
eines engagierten Rappers und<br />
Beta Juden. So finden wir uns in einem Wohnzimmer<br />
in Israel ein. Ein Zimmer, gefüllt mit<br />
interessierten, weitgeöffneten, dunklen Kinderaugen,<br />
die gebannt zu ihm schauen: Jeremy<br />
Cool Habasch. Der erzählt seine Geschichte.<br />
Nein, nicht nur seine. Die Geschichte steht für<br />
den Weg vieler Beta Juden, die sich Mitte der<br />
80er auf den Weg ins gelobte Land machten.<br />
Mit geschwungenen hebräischen Sätzen skizziert<br />
der Rapper den Exodus. Seinen Exodus. Es<br />
ist mehr als eine Geschichte, wird dem Zuschauer<br />
dieser Szenerie klar. Die Darbietung ähnelt<br />
eher einem Ritual. Mit gekonnten Handbewegungen<br />
und gebets-artigen Formulierungen<br />
wird das Erzählte untermauert, und gewinnt<br />
so an Dramatik. Jeremy erzählt die Geschichte<br />
einer wohlhabenden Familie, die Musik<br />
mochte. Deren Mutter war eine Sängerin, die<br />
ihren Kinde<strong>rn</strong> das Singen beibrachte. Der Vater<br />
dieser Familie indes erzählte die Geschichte<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 43
Verein Be<strong>rn</strong>er Galerien<br />
www.vereinbe<strong>rn</strong>ergalerien.ch – mail@vereinbe<strong>rn</strong>ergalerien.ch<br />
Galerien-Wochenende 12./13. Januar 2013, Samstag und Sonntag, 11–17 Uhr<br />
annex14<br />
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7.12.2012 bis 26.1.2013<br />
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Holzschnitte<br />
12.1. bis 2.2.2013<br />
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T +41 (0)31 311 31 91<br />
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„That’s simply not done“<br />
10.1. bis 16.2.2013<br />
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21.2. bis 23.3.2013<br />
Progr_Zentrum, Waisenhausplatz 30<br />
T +41 (0)31 312 06 66<br />
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Dominique Uldry<br />
12.1. und 13.1 2013<br />
Marcin Kuligowski<br />
„Dark Matter“<br />
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Christine Brügger<br />
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5.1. bis 26.1.2013<br />
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Kramgasse 31<br />
T +41 (0)31 311 90 21<br />
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Béatrice Brunner<br />
Peter Aerschmann<br />
Leyla Goormaghtigh<br />
12.1. bis 8.2.2013<br />
Esther van der Bie<br />
23.2. bis 23.3.2013<br />
Nydeggstalden 26<br />
T +41 (0)31 312 40 12<br />
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Christina Niederberger<br />
Livia Marin, Johannes Maier<br />
12.1. bis 2.3.2013<br />
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Sophia Gou, China<br />
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Musik & Sounds<br />
▲<br />
von Tempeln, vom Glauben, und vom Land der<br />
Vorfahren: von Jerusalem. Einem Ort, der voll<br />
Frieden und frei von Hass sein soll. Gebannt<br />
verfolgen die Kinder Jeremys Erzählungen, vom<br />
Aufbruch und der Beschwerlichkeit der zwei<br />
Jahre daue<strong>rn</strong>den Reise von Äthiopien in den<br />
Sudan, um schliesslich und endlich das gelobte<br />
Land zu erreichen. Tatsächlich machten sich<br />
damals ca. 11’000 Beta Juden auf den Weg in<br />
die sudanesischen Flüchtlingslager. Um die<br />
4’000 allerdings sollten das Ziel nie erreichen.<br />
Heute leben schätzungsweise 135’000 Menschen<br />
von äthiopisch-israelischer Herkunft in<br />
Israel und prägen das Leben der israelischen<br />
Gesellschaft mit. Hier knüpft der 52-minütige<br />
Film an, begleitet Jeremy Cool Habasch auf der<br />
Suche nach seinen Wurzeln nach Äthiopien,<br />
und dokumentiert seinen engagierten Kampf<br />
um mehr Rechte für seine Landsleute. Hier<br />
spielt der Rap als Ausdrucksform und Instrument<br />
ebenso eine identifikationsstiftende wie<br />
bindende Komponente für viele junge Mitglieder<br />
der äthiopisch-jüdischen Gemeinschaft.<br />
Schliesslich fühlen sich viele immer noch au<strong>sg</strong>egrenzt<br />
und marginalisiert von der jüdischen<br />
Mehrheit.<br />
Weitere interessante Einblicke in das<br />
Musikschaffen können durch dieses Festival<br />
gewonnen werden. Vor allem aber auch durch<br />
das Buch: «Out of the Absurdity of Live – Globale<br />
Musik», welches am Festival vorgestellt<br />
und im Traversion Verlag im Dezember erschienen<br />
ist. In spannenden Artikeln werden<br />
Zeitfragen und Trends des globalisierten<br />
Musikschaffens diskutiert und durchleuchtet.<br />
Eine durchaus spannende Thematik, und wer<br />
sich für die in der Einleitung gestellten Fragen<br />
bezüglich Wirkungsweisen der Globalisierung<br />
auf das Musikschaffen interessiert, kann auf<br />
das 327 Seiten umfassende Buch mit gutem<br />
Gewissen verwiesen werden. In welchem nicht<br />
nur die Seiten farbenfroh gestaltet sind. Denn:<br />
«Globales Musikschaffen ist hedonistisches<br />
«Copy and Paste». Sounds, Stile, Ideen und<br />
ihre Bedeutungen werden frisch durcheinandergewirbelt<br />
und frei in neue Kontexte übersetzt».<br />
Eine spannende Sache!<br />
Der inte<strong>rn</strong>ational tätige Verein norient – Network<br />
for Local and Global Sounds and Media<br />
Culture – versteht sich als Schnittstelle von<br />
Musik, Gesellschaft, Wissenschaft, Jou<strong>rn</strong>alismus<br />
und Blogkultur. norient produziert, neben<br />
dem norient-magazin, zudem eine monatliche<br />
Radiosendung auf Radio Be<strong>rn</strong> RaBe.<br />
www.norient.com<br />
Festival: 10. bis 13. Januar. Die Veranstaltungsorte<br />
sind die Reitschule, der Club Bonsoir und<br />
der Progr. Weitere Infos finden sich unter:<br />
musikfilmfestival.norient.com<br />
Buch: Out of the Absurdity of Life – Globale<br />
Musik. Herau<strong>sg</strong>egeben von Theresa Beyer und<br />
Thomas Burkhalter. Traversion Verlag.<br />
buch2012.norient.com<br />
norient – das 4. Musikfilm Festival Be<strong>rn</strong><br />
10. – bis 13. Januar 2013<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 45
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24. bis 26. Januar 2013<br />
INNOVANTIQUA WINTERTHUR - das andere Alte Musik Festival<br />
Schweiz SFr. 4.00,<br />
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Frankreich, Italien € 6.00<br />
Januar 2013<br />
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ISSN 1663-652X<br />
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im Kunsthaus Langenthal<br />
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von Jean-Frédéric Schnyder<br />
im Museum im Bellpark Kriens<br />
Gedruckt<br />
Andrea Heller und Druckgrafik<br />
in der BINZ39<br />
Grupo Anima (Brasilien)<br />
Ensemble Turicum mit Luiz Alves da Silva (Schweiz)<br />
Cecilia Arellano & Band (Brasilien)<br />
Ensemble La Chimera (Argentinien, Europa)<br />
Roland Fink Singers (Schweiz)<br />
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das Beste aus der Schweiz<br />
46
Alltagskultur<br />
▲<br />
Secondo un Secondo<br />
Der Sri Lanker, der Ski lenkte<br />
Diese Erzählung beginnt wie ein Witz:<br />
«Ein Türke, ein Italiener und ein Tamile<br />
gehen zum ersten Mal zusammen Skifahren...»<br />
Die Geschichte ereignete sich vor zirka zwanzig<br />
Jahren in der Lenk-Region. Der Italiener<br />
war ich. Es war mein erstes Skilager überhaupt.<br />
Bis zur 7. Klasse hatte ich italienische Schulen<br />
in Be<strong>rn</strong> und in Italien besucht, und Skier<br />
waren mir fremd. Ich kannte sie nur aus dem<br />
Fe<strong>rn</strong>sehen, als sich Tomba la bomba mit Paul<br />
Accola duellierte. Unser Klassenlehrer hatte<br />
die Gruppen nach Geschicklichkeit unterteilt.<br />
Mesut, Kanaan und meine Wenigkeit waren die<br />
blutigen Anfänger. Ich erinnere mich noch gut<br />
daran, wie der mutige Schüler aus Sri Lanka<br />
die erste Talfahrt antrat, noch bevor der Lehrer<br />
uns den Stemmbogen zum Bremsen erklärt<br />
hatte. Lustig, wie wir Kanaan aus dem Tiefschnee<br />
gefischt haben. Schön gepudert war er.<br />
Er liess sich aber nicht einschüchte<strong>rn</strong>, und am<br />
Ende der Woche konnte er die schwarze Piste<br />
wie ein Weltmeister herunterbrette<strong>rn</strong>: Der Sri<br />
Lanker in der Lenk wurde somit zum Sri Lenker.<br />
Das Schullager war bis ins kleinste Detail<br />
organisiert. Alles klappte perfekt. Festgelegte<br />
Termine wurden minutengenau eingehalten,<br />
und am Schluss schrubbten die Putzequipen<br />
der Schüler das Chalet picco bello. Nur das Essen<br />
liess jeweils zu wünschen übrig. Aber ich<br />
war kulinarisch von zuhause aus verwöhnt, und<br />
Pizza mit Blätterteig kannte ich bis zu diesem<br />
Zeitpunkt noch nicht.<br />
Zwischen den schweizerischen und italienischen<br />
Schulen gab es durchaus noch weitere<br />
Unterschiede. In der Schweiz waren Computer<br />
vorhanden. Und die ganze Zeit strömte die<br />
Elektrizität, damit diese auch funktionierten.<br />
Von Luca Zacchei Bild: zVg.<br />
Und es gab Drucker. Mit Papier im entsprechenden<br />
Fach dazu. Und eine mode<strong>rn</strong>e Tu<strong>rn</strong>halle,<br />
welche mit Sportgeräten und Bällen bestückt<br />
war. Und die Kreiden (sogar farbige) fehlten im<br />
Schulzimmer ebenfalls nicht. Die Lehrer waren<br />
auf ihren Schlachtfelde<strong>rn</strong>, noch bevor die Glocke<br />
gebimmelt hatte. Diese Ordnung war für<br />
einen Schweizer Schüler eine Selbstverständlichkeit,<br />
für mich hingegen nicht.<br />
Die 5. und 6. Klasse besuchte ich in Italien.<br />
Es war abenteuerlich und hat meinen Horizont<br />
nachhaltig erweitert. In der Grundschule holte<br />
uns jeweils ein verbeulter Bus ab. Er war selten<br />
pünktlich. Unser Haus war nämlich am Ende<br />
der Strecke, und unterwegs gab es immer einen<br />
schläfrigen Schüler, welcher sich morgens<br />
verspätet hatte. Oder es war der grimmige Busfahrer,<br />
der es am Morgen mit den Abfahrtszeiten<br />
nicht so genau nahm. Oder der alte Bus<br />
streikte beim Anlassen. So genau weiss ich es<br />
nicht mehr. Rechtzeitig kamen wir auf alle Fälle<br />
selten an. Das wussten wiederum die Lehrer<br />
bereits im Voraus. Deshalb rechneten sie zur<br />
Sicherheit ein Zeitpolster ein und erschienen<br />
mindestens eine Viertelstunde später in der<br />
Klasse…<br />
Wir hatten damals keine Schulmappen,<br />
sonde<strong>rn</strong> Rucksäcke. In der Schweiz wurde ich<br />
wegen meines überdimensionierten Invicta gehänselt.<br />
Aber wir mussten Rucksäcke tragen:<br />
In Italien wurden nämlich die Bücher von zuhause<br />
aus mitgeschleppt und nicht in der Schule<br />
deponiert. Das Durchschnitt<strong>sg</strong>ewicht eines<br />
Rucksackes betrug 10 Kilos, je nach Schüler im<br />
schlimmsten Fall somit bis ein Drittel des eigenen<br />
Körpergewichtes. Ich fand übrigens meinen<br />
Invicta schöner als diese schweizerischen<br />
Schulmappen, welche mit Kuhfell bezogen waren.<br />
Eine tote Kuh so sichtbar zur Schau zu tragen<br />
scheint mir noch heute makaber.<br />
Für die Znüni-Pause, welche in Italien die<br />
Zehni-Pause war, nahmen wir Panini von zuhause<br />
mit. Unter den Schüle<strong>rn</strong> gab es einen<br />
Wettbewerb, wer die leckersten Brötchen<br />
hatte: Panino mit Spanferkel, mit ungarischer<br />
Salami oder mit frittierten Auberginen waren<br />
hoch im Kurs. Wer mit Pizzaresten vom Vortag<br />
kam, war ausser Konkurrenz. Das schwere<br />
Essen blieb einem im Magen stecken. Aber wir<br />
mussten uns stärken, weil die Mittagspause<br />
erst um 13.30 Uhr begann. Damit wir die Kost<br />
besser verdauen konnten, spielten wir während<br />
des Sportunterrichts meistens Fussball. Die<br />
Spielstätte war aber mehr Acker als Fussballfeld:<br />
das Unkraut wuchs in die Höhe und wir<br />
mussten die Pflanzen ausdribbeln. So kombinierten<br />
wir Sport- mit Pflanzenkunde.<br />
Obwohl die Italiener in der Regel viel und<br />
ge<strong>rn</strong>e reden, heisst das noch lange nicht, dass<br />
sie gut kommunizieren. Als unser Rektor beispielsweise<br />
im Winter die Fenster der Schule<br />
ersetzen wollte, wurden die alten zwar wie<br />
geplant entfe<strong>rn</strong>t, aber aufgrund eines Missverständnisses<br />
verspätete sich die Lieferung der<br />
neuen um eine Woche. Während den Lektionen<br />
haben wir wegen der Kälte unsere Mäntel und<br />
Winterkappen getragen. Da es mit Handschuhen<br />
schwierig war, einigermassen leserlich zu<br />
schreiben, erhielten wir schliesslich ein paar<br />
Tage frei. Wie heisst es doch so schön: Jedes<br />
Unglück hat auch sein Gutes! Nur mit dieser<br />
Einstellung kann man in Italien gut leben. Und<br />
dies ist kein Witz, sonde<strong>rn</strong> die ungeschminkte<br />
Realität.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 47
▲<br />
Alltagskultur<br />
NinetyNineYears<br />
- Leica<br />
Ein Jubiläumsbuch über eine Kamera –<br />
klingt abgedroschen. Die Gefahr, allzu<br />
technisch zu werden, ist gegeben. Doch die<br />
Leica ist eine Legende. Entsprechend ist das<br />
Buch über 99 Jahre Leica bereits eine Legende,<br />
bevor es gedruckt wurde.<br />
Wer einen langweiligen Bildband mit ein<br />
paar schönen Bildli erwartet hat sich im Regal<br />
geirrt. NINETYNINEYEARS ist unkonventionell,<br />
radikal, und überraschend anders. Wenn<br />
Sie noch nie eine Leica in den Händen hatten,<br />
schauen sie sich das Buch an – sie werden im<br />
Anschluss eine Leica-Kamera kaufen wollen.<br />
Die Autoren Reiner Schillings, Till Schaffarczyk<br />
und An<strong>sg</strong>ar Pudenz nehmen uns auf eine<br />
fantastische, grafische, nicht chronologische<br />
Geschichtesreise mit, und lassen uns die Leica<br />
der letzten 99 Jahre erleben. Viele AutorInnen<br />
haben bereits über die Leica berichtet. Dieses<br />
Team hat sich dem Thema neu angenommen<br />
und versucht, alles umzukrempeln was wir kennen,<br />
und eine neue Erzählform zu finden. Viele<br />
unkonventionelle Bilder, und, vor allem, eine<br />
wahnwitzige Gestaltung des Layouts machen<br />
jede Seite zu einem Feuerwerk. Alles, was über<br />
die Leica erzählt wurde, wird in den Schatten<br />
gestellt, die Perspektive gewechselt, und<br />
irgendwie werden wir zu AkteurInnen oder<br />
zu Beobachteten. Zwar ist man auch etwas irritiert<br />
über diese experimentelle Form, jedoch<br />
hebt dies nur den Wert des Buches und macht<br />
das eigene Forschen umso spannender. Es gibt<br />
sogar «verschlossene» Seiten, die mit der Bitte<br />
«Do not open» eine fiese Neugierde wecken.<br />
Dieses Buch ist mit all seinen Kilos ebenso für<br />
GrafikerInnen und LayouterInnen wärmstens<br />
zu empfehlen. LeicaianerInnen werden wohlig<br />
seufzen. (vl)<br />
99pages Verlag GmbH, Hamburg<br />
ISBN 978-3-942518-32-1<br />
www.99pages.de<br />
Parkführer Be<strong>rn</strong><br />
Ein Wegweiser<br />
Be<strong>rn</strong> ist eine grüne Stadt. Die Lebensqualität<br />
hat viel mit dieser Verbindung von Natur<br />
und Stadtleben zu tun. Aus unerfindlichem Grund<br />
werden zur Zeit viele neue Be<strong>rn</strong>-Führer geschrieben<br />
– so auch dieser «Parkführer». Praktisch zum<br />
Mitnehmen, ohne grossen Schnickschnack. Von<br />
den rund 130 Parks in Be<strong>rn</strong> werden 38 Ruhepole<br />
beschrieben, welche an schönen Tagen aufzusuchen<br />
sind. Bei der Durchsicht kommen aber<br />
bald einmal Fragen auf, nach welchen Kriterien<br />
selektiert wurde. Der Florapark als Ruhepol zwischen<br />
all den Botschaften und den Hauptstrassen<br />
ist etwas fragwürdig – zudem – wenn man<br />
weiss, dass an diesem Tatort vor einigen Jahren<br />
auf Menschen geschossen wurde... Auch ist der<br />
Glasbrunnen nicht erwähnt, und den kleinen See<br />
im Neufeld kennt der Führer ebensowenig. Die<br />
Elfenau aber ist fast überdimensional aufgeführt,<br />
und der Rosengarten natürlich auch – wie in allen<br />
Reiseführe<strong>rn</strong>. Die Stadtgrenzen hätte man ruhig<br />
etwas flexibler auslegen können.<br />
In dieser Form zusammengestellt ist der Führer<br />
aber einzigartig, und man fragt sich, warum<br />
nicht schon früher jemand auf die Idee kam.<br />
Die «Grünräume» sind nach Quartier geordnet,<br />
mit Fotos und Lageplänen ergänzt. Die meisten<br />
Anlagen kennt man, oder sie sind gar etwas<br />
klein für einen Spaziergang. Zum Teil sind es<br />
einfach Pflanzeninseln in Mitten von Strassen,<br />
wie zum Beispiel auf dem Breitenrainplatz. Vielleicht<br />
hätte man sich bei der Gestaltung und<br />
bei den Fotos etwas kreativer zeigen können, das<br />
Büchlein wirkt etwas trocken und und irgendwie<br />
nüchte<strong>rn</strong>. Es fehlt an der Mystik, welche oftmals<br />
in Parks mitschwingt. So wird nicht ganz klar,<br />
für wen das Büchlein erstellt wurde, wie es verwendet<br />
werden soll, oder welchen Zweck es hat.<br />
Dafür inspiriert es, weitere Orte zu entdecken –<br />
und wer weiss, vielleicht kommt schon bald das<br />
nächste Büchlein... (vl)<br />
Haupt Verlag<br />
ISBN 978-3-258-07762-8<br />
www.haupt.ch<br />
Einfach Be<strong>rn</strong><br />
Die Perlen der Stadt<br />
Sicher, Be<strong>rn</strong> ist klein und man meint, die<br />
Stadt innerhalb knapp dreier Stunden zu<br />
kennen. So ein überschaubares Hauptstädtchen.<br />
Auch das «Shopping» kann nicht wirklich<br />
mit den Weltmetropolen konkurrieren. Wer jedoch<br />
in Be<strong>rn</strong> auf die Suche geht und in diese<br />
kleinen Ecken rein sieht, findet Erstaunliches.<br />
So hat sich Stefan Buck auf den Weg gemacht,<br />
und das Gefundene unter dem Titel «Einfach<br />
Be<strong>rn</strong> – die Perlen der Stadt Be<strong>rn</strong>» in einem<br />
Buch zusammengestellt. Das Be<strong>rn</strong>, welches<br />
wir hier vorfinden, überrascht – und ist erfrischend<br />
anders, als wir es kennen. Buck hat die<br />
Gastronomie, Läden, Kultur- und Kunst-Orte<br />
aufgesucht und sie in ein neues Licht gerückt.<br />
Sicher, die Vorgestellten haben mitgeholfen,<br />
auch bei der Finanzierung. Aber Buck und sein<br />
Team waren frei und konnten selber die Texte<br />
und Bilder erstellen. Auf diesem Weg ist eines<br />
der spannendsten Stadt-Be<strong>rn</strong>-Bücher entstanden,<br />
welches stundenlang fesselt und immer<br />
wieder von neuem inspiriert. Die Fotos sind<br />
allesamt überragend. Es ist der Blick auf die<br />
Details und die Inszenierung, welche hier auffallen.<br />
Wir entdecken Be<strong>rn</strong> ganz neu, wir sehen<br />
Dinge, die wir früher nie wahrgenommen<br />
haben. Und ganz unverhofft stellt sich beim<br />
Lesen und Durchblätte<strong>rn</strong> ein Gefühl des Stolzes<br />
ein: Das ist unsere Hauptstadt! Lebendig,<br />
experimentierfreudig, designed mit Stil, farbig<br />
und trotzdem nicht hippig oder «langweilig<br />
öko», frisch und so gar nicht sandsteinlastig,<br />
wie man immer meint. «Be<strong>rn</strong> einfach» zeigt ein<br />
Be<strong>rn</strong> in dem wir leben wollen und dürfen. Das<br />
Buch gibt es in vier verschiedenen Umschlägen,<br />
es ist mehrsprachig (D, f, e) und empfiehlt<br />
sich nicht nur für Be<strong>rn</strong>erInnen, sonde<strong>rn</strong> auch<br />
für alle Be<strong>rn</strong>-Gäste. (vl)<br />
bucksedition<br />
ISBN 978-3-9522959-8-4<br />
www.bucks-edition.ch<br />
48
Alltagskultur<br />
▲<br />
Den eigenen Stil prägen<br />
Von Thomas Kohler Foto: T. Kohler<br />
Message tippen. @-Adresse eingeben.<br />
Enter drücken – und ab die Post. So<br />
flink geht das mit schriftlichen Mitteilungen<br />
in der virtuellen Welt. Aber<br />
Stil hat es nicht. Wer persönlichere<br />
Botschaften versenden will, sollte zur<br />
Feder greifen – und auf elegante Verschönerung<br />
des Briefes Wert legen.<br />
Wer Festtag<strong>sg</strong>rüsse und Neujahrswünsche<br />
per E-Mail verschickt, kann sich<br />
mit Kosten- und Zeiterspa<strong>rn</strong>is gerade noch so<br />
heraus reden. Aber Schreibtischtäter, die Liebesbriefe<br />
elektronisch in den Orbit schicken, haben<br />
keinerlei Schliff. Diesen Mangel sollten die<br />
Angeschriebenen niemals mit einer Antwort auf<br />
solch schnöde Botschaften adeln.<br />
Schande auch über alle, die einer Freundin oder<br />
einem Freund per SMS zur bestandenen Prüfung<br />
gratulieren. Nieder mit den Schreib-Plebeje<strong>rn</strong>,<br />
die statt Bleistift, Füllfeder oder Kugelschreiber<br />
nur die Tastatur als tauglich erachten, um<br />
ihre Gedanken zu formulieren. Den Briefträger<br />
mit Briefen in gleich dreifach versiegelten Kuverts<br />
zu verblüffen, mag übertrieben sein. Aber<br />
eine persönliche Note sollten die Verfasserin oder<br />
der Verfasser wichtigen Briefen schon mit auf<br />
den Weg geben. Diese Note ist weitaus einfacher<br />
zu bewerkstelligen, als unbedarfte SMSlerinnen<br />
und E-Mail-Katapultierer ahnen mögen.<br />
Früher, als Briefpapier noch vorzugsweise<br />
von Hand geschöpft zu sein hatte, legten Menschen<br />
mit Stil Wert auf eingegossene Wasserzeichen.<br />
Solche Papiere gibt es auch heute<br />
noch zu kaufen. Aber zunehmend versiegen die<br />
entsprechenden Quellen. Eine Adresse für die<br />
seltene Bild: (von Ware links) ist Catalin, das Sonu, Papiermuseum Iasmina / zVg. in Basel.<br />
Das Museum, in dem Papier nicht au<strong>sg</strong>estellt,<br />
sonde<strong>rn</strong> unter kundiger Anleitung von Fachleuten<br />
von Besuchergruppen selbst hergestellt wird,<br />
verkauft in seinem Shop eine grosse Auswahl an<br />
Papieren, die mit diversen Wasserzeichen geschmückt<br />
sind.<br />
Aber es geht noch einfacher. Wer seine Briefe<br />
mit einem unverkennbaren Zeichen versehen<br />
möchte, wird im Geschäft der Firma Schlüssel<br />
Be<strong>rn</strong> in der Neuengasse 5 fündig. Das Geschäft<br />
ist eine der in der Schweiz sehr raren Anlaufstellen<br />
für Prägestempel, auch Prägezangen<br />
genannt. Es handelt sich dabei um ein nachgerade<br />
geniales Gerät. Prägestempel unterscheiden<br />
sich zwar je nach Ausführung technisch<br />
ein wenig von einander. Aber das Prinzip ist allen<br />
gemein: In zwei runde Metallplatten werden<br />
die Initialen der Kundin oder des Kunden eingearbeitet.<br />
Zwischen diese Platten lassen sich<br />
Papiere aller Art einfügen. Wenn der Stempel<br />
niedergedrückt wird, entsteht ein ins Papier geprägtes<br />
Monogramm, das unauffällig genug ist,<br />
um elegant zu sein, das aber dennoch für das<br />
Auge der Empfängerin oder des Empfängers des<br />
Schreibens unübersehbar bleibt.<br />
Dass die Firma in der Neuengasse die Prägestempel<br />
noch immer anbietet mag erstaunen.<br />
Ahmet Mersin, Inhaber des Unte<strong>rn</strong>ehmens,<br />
bestätigt denn auch: «Geld verdienen kann man<br />
damit nicht.» Mersin, ursprünglich gele<strong>rn</strong>ter<br />
Buchdrucker und Kunstdrucker, stellte früher<br />
Stahlstichdrucke her. Deshalb hängt er an den<br />
alten Stempeln. Er ist nicht der Einzige: «Es gibt<br />
immer noch Leute, die diese Geräte schätzen.»<br />
Abwegig ist das nicht. Mit einem Prägestempel<br />
lassen sich Briefe auf sehr edle Weise<br />
verschöne<strong>rn</strong>. Er taugt aber auch, um dünnere<br />
Kartons zu bearbeiten. So lassen sich damit<br />
etwa Visitenkarten sehr eindrücklich verzieren.<br />
Auf der ersten Seite eines Buches weisen<br />
die eingeprägten Initialen ebenso imposant<br />
auf die Besitzerin oder den Besitzer hin. Hinzu<br />
kommt, dass die Prägestempel nicht nur von hohem<br />
Nutzwert sind. Sie sind auch beeindruckend<br />
schöne Werkzeuge. Es gibt sie in Handversionen,<br />
die einer Zange ähneln, oder als Tischvarianten,<br />
die entfe<strong>rn</strong>t an das Mobiliar eines<br />
Kontors aus dem 18. Jahrhundert erinne<strong>rn</strong>. Die<br />
Prägestempel in Tischausführung verstärken<br />
diesen Eindruck noch, wenn sie in Goldlackierung<br />
und mit glänzendem Holzknauf geordert<br />
werden. Zu bedienen sind die Tischgeräte ähnlich<br />
wie ein Bostitch.<br />
Grosse Mengen der Stempel setzt Ahmet Mersin<br />
freilich nicht ab. «Pro Monat verkaufen wir<br />
eines, höchstens zwei solche Geräte», sagt er.<br />
Preislich liegen die Prägestempel zwischen 100<br />
bis 200 Franken.<br />
Prägestempel sind auch in der mode<strong>rn</strong>en Zeit<br />
nicht wirklich neu. In den 70er Jahren des vergangenen<br />
Jahrhunderts bot der Fotopapier-Hersteller<br />
Ilford solche Geräte an. Auf deren Platten<br />
standen zwar keine Initialen. Dafür konnten<br />
die Kundinnen und Kunden Ihre Namen und das<br />
Wort «copyright» einarbeiten lassen. Wer seine<br />
Fotos beim Vergrösse<strong>rn</strong> mit einem breiten, unbelichteten<br />
Rand versah, konnte darauf mit dem<br />
Stempel seine Rechte am Bild unmissverständlich<br />
als Prägung anbringen. Das Foto an sich<br />
blieb unversehrt, der Hinweis dezent. Aber Leute<br />
wie Bildredaktoren oder Werber wussten ohne<br />
zeitraubende Nachforschungen stets, an wen die<br />
entsprechenden Bildhonorare zu entrichten waren.<br />
Zu Beginn der 80er Jahre verschwanden die<br />
Prägestempel aber leider wieder aus dem Angebot<br />
des Filmherstellers.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 49
▲<br />
Alltagskultur<br />
Ein Leben aus Ideen<br />
Ein Leben aus Ideen - und jetzt?<br />
Von Albert le Vice Bilder: Albert le Vice<br />
Seit September 2011 habe ich an dieser Stelle<br />
zu erzählen versucht, was es eigentlich<br />
heisst, hierzulande – und heute – ein ganzes Leben<br />
von Ideen abhängig zu machen. Ideen. Darunter<br />
versteht man ja landläufig irgendwelche<br />
Einfälle, die irgendwem per Zufall durch den<br />
Kopf geiste<strong>rn</strong>. Und wer von Ideen leben will gilt<br />
als Spinner, allenfalls als bunter Vogel, der sich<br />
zwar recht hübsch ausnimmt im Grau unseres<br />
Alltags, welcher mittlerweile zu einem Büroalltag<br />
geworden ist. Dass aber Ideen, auf die<br />
dieser bunte Papagei zu bauen vorgibt, sogar<br />
selbst für einen grauen Alltag von Bedeutung<br />
sein könnten, wollen wir schon gar nicht gelten<br />
lassen. Darauf sagt dann jeder und jede ziemlich<br />
schnell und überzeugt, solches sei zwar<br />
schön und gut, aber... Und bald kommt dann<br />
auch die Begründung des «Aber»: Man sei halt<br />
Realist und stünde mit beiden Beinen auf dem<br />
Boden der Wirklichkeit. Und schon klebt dem<br />
Ideenmensch die berühmte «Zwei» am Rücken,<br />
er muss sich rechtfertigen und hat zu beweisen,<br />
dass seine Vorstellungen durchaus Hand und<br />
Fuss haben. Gelingen wird ihm das nie, denn<br />
was der sagt – egal was es ist – betrachtet man<br />
skeptisch, um nicht zu sagen ablehnend.<br />
Natürlich, es gibt auch Leute, die etwas differenzierter<br />
in die Welt schauen; und diese differenzierte<br />
Sicht will ich jetzt, in meiner letzten<br />
ensuite-Geschichte, zum Thema machen.<br />
In einer Art kritischer Bilanz will ich das, was<br />
ich Ihnen, liebe Leserin, erzählt habe, zu werten<br />
versuchen: Ideen in der Schweiz, unter welchen<br />
Umständen werden sie Realität, unter welchen<br />
verschwinden sie sang- und klanglos in<br />
irgendwelchen Schubladen? Generell gesehen<br />
ist die Antwort relativ einfach: Ideen, privat<br />
entwickelt, privat umgesetzt und wirtschaftlich<br />
erfolgreich, sind in der Schweiz akzeptiert,<br />
manchmal sogar geschätzt. Überschreiten sie<br />
aber den Rahmen des Privaten, also: kosten sie<br />
beispielsweise mehr, als die Einzelne aufzubringen<br />
vermag, wird es schwierig – eigentlich<br />
fehlt dafür schlagartig das öffentliche Interesse,<br />
zumindest im Normalfall.<br />
Dazu mein erstes konkretes Beispiel: Das<br />
schiefe Theater. Das schiefe Theater war ein<br />
Erfolg: Über 1’100 Vorstellungen europaweit,<br />
mehr als hunderttausend Zuschauer auf einer<br />
Tou<strong>rn</strong>ee von sieben Jahren in über sechzig<br />
Städten. Dieses schiefe Theater wäre nie entstanden,<br />
wenn es da nicht zwei Typen (später<br />
kamen noch zwei Typinnen dazu) gegeben hätte,<br />
die davon überzeugt waren, dass das, was<br />
sie zu bieten hatten, auch öffentlich gut, also<br />
berechtigt war. Wären sie also nicht bereit gewesen,<br />
Kopf und Kragen aufs Spiel zu setzen,<br />
wäre dieses kleine, fahrende Theaterhaus nie<br />
gebaut worden, und nie auf eine so lange Tou<strong>rn</strong>ee<br />
gegangen. Es wäre aber auch nie entstanden,<br />
wenn da nicht im Hintergrund ein Vater<br />
und eine Mutter Bürgschaft geleistet, also der<br />
Idee dieser jungen Typen vertraut und ein beträchtliches<br />
Risiko mitgetragen hätten. Und es<br />
wäre ebenfalls nicht entstanden, wenn nicht eine<br />
Bank (mit eben der erwähnten Bürgschaft<br />
im Hintergrund) das nötige Geld, das eine solche<br />
Idee zwangsläufig nötig hat, vorgeschossen<br />
hätte. Trotzdem und in einem Wort: Eine Idee,<br />
die mit privaten Mitteln realisiert werden kann,<br />
hat in der Schweiz eine Chance.<br />
Doch damit ist noch nicht alles gesagt, was<br />
in dieser Frage auch gesagt werden muss. Trotz<br />
des privaten Engagements hat auch diese Geschichte<br />
ihre öffentliche Seite, die weder in den<br />
zuständigen öffentlichen Instanzen noch in den<br />
Medien zur Kenntnis genommen und e<strong>rn</strong>sthaft<br />
diskutiert wird, die Frage nämlich nach dem<br />
öffentlichen Interesse an einem solchen Unterfangen.<br />
Wie ist das nun genau mit diesem Interesse<br />
einer Stadt, die sowas braucht, damit<br />
sie lebendig wird, respektive lebendig bleibt?<br />
Liegt es dann nicht in ihrem ureigenen Interesse,<br />
dass so etwas wie ein schiefes Theater überhaupt<br />
entstehen kann? Unsere konkrete Erfahrung:<br />
Jede öffentliche Instanz findet bei einer<br />
handfesten Nachfrage nach Unterstützung für<br />
ein solches Vorhaben vielfältige, schöne Worte,<br />
mutmachende Floskeln und unendlich viele<br />
Gründe fürs Abwimmeln solcher Anliegen. Vor<br />
allem natürlich, wenn die Gesuchstellerin noch<br />
keinen Namen hat.<br />
Nein, ein schiefes Theater, das auf Hilfe von<br />
aussen gesetzt hätte, wäre nie entstanden – aus<br />
Angst der Angesprochenen vor dem möglichen<br />
Misserfolg – und natürlich aus grundsätzlich<br />
finanzpolitischem Geiz, der bei uns ja System<br />
hat. Geld geht vor in der öffentlichen Schweiz,<br />
selbst wenn es offensichtlich ist, dass eine gute<br />
Idee dem Leben in der Öffentlichkeit gut täte.<br />
Diese Erkenntnis haben wir also mit dem<br />
schiefen Theater gelebt; und wir haben unseren<br />
Weg gefunden. Ihren Weg suchen die Eidgenossen<br />
noch immer, und verpassen beim ewigen<br />
Suchen die grossen Chancen. Also, wie gesagt,<br />
Ideen haben in der Schweiz eine Chance,<br />
wenn sie privat getragen und erfolgreich sind.<br />
Doch wie ergeht es Ideen, die explizit für<br />
die Öffentlichkeit gedacht sind, und deshalb<br />
unverzichtbar auf eine engagierte und kompetente<br />
Öffentlichkeit angewiesen sind? Nach<br />
meiner Erfahrung geht es solchen Ideen ziemlich<br />
eigenartig, nämlich so, wie ich es in meiner<br />
Geschichte über den Be<strong>rn</strong>er Geburtstag erzählt<br />
habe. Diese Geschichte allerdings muss<br />
man, um ihre Brisanz zu verstehen, mit jener<br />
um «Hans Sachs in allen Gassen» vergleichen.<br />
Der Vergleich zeigt nämlich, dass sich in dieser<br />
Geschichte ein Problem manifestiert, welches<br />
mit unserer Auffassung von Demokratie<br />
zusammenhängen muss: «Hans Sachs in allen<br />
Gassen», in Nü<strong>rn</strong>berg, also in Deutschland realisiert,<br />
ist geglückt, «Der Be<strong>rn</strong>er Geburtstag»<br />
in der Schweiz, und vermutlich in den Köpfen<br />
einer Behörde, gescheitert.<br />
Wo liegt der Unterschied? In Nü<strong>rn</strong>berg kam<br />
der Anstoss zum Fest vom Oberbürgermeister,<br />
respektive vom Amt des Oberbürgermeisters.<br />
Er hatte festgelegt, dass die Ehrung von Hans<br />
Sachs die Stadt Nü<strong>rn</strong> berg was anginge, und er<br />
beauftragte den Kulturreferenten, diese Angelegenheit<br />
an die Hand zu nehmen. Mit anderen<br />
Worten: der Auftrag, Hans Sachs zu ehren, war<br />
nicht der Spleen irgendeines Beamten oder Politikers,<br />
sonde<strong>rn</strong> eine Angelegenheit, die die<br />
Stadt etwas anging, und der die Stadt entsprechend<br />
Gewicht geben wollte. Im Gegensatz<br />
dazu spielte sich das Drum und Dran um den<br />
«Be<strong>rn</strong>er Geburtstag» wie eine Geheimoperation<br />
ab: Da meldete sich bei mir der Polizeidirektor,<br />
offenbar für dieses Vorhaben zuständig,<br />
50
Alltagskultur<br />
▲<br />
und erteilte mir den Auftrag, ein Grundkonzept<br />
auszuarbeiten. Keine öffentliche, offizielle Ankündigung<br />
des Vorhabens, keine Medienmitteilung,<br />
keine öffentliche Diskussion. Und am<br />
Ende, als das Konzept vorlag, kein Wort an den<br />
Autor, kein positives, kein negatives, nur Stillschweigen<br />
– und natürlich auch keine offizielle<br />
Äusserung für die Öffentlichkeit.<br />
Was manifestiert sich da?<br />
Zwei Städte. Beide auf der Suche nach einer<br />
guten Idee für einen wichtigen öffentlichen<br />
Anlass. Die eine Stadt führt einen eingehenden<br />
Diskurs mit allen denkbaren Gremien und in allen<br />
verfügbaren Medien, die andere druckst in<br />
Geheimniskrämerei umher, als handle es sich<br />
bei diesem Unterfangen um einen geheimen<br />
Deal mit der Mafia.<br />
Diese beiden Beispiele machen deutlich, wie<br />
die Einen einen ganz natürlichen Umgang mit<br />
Ideen pflegen, während die Anderen geradezu<br />
unter paranoiden Berührungsängsten zu leiden<br />
scheinen, wenn es um Kultur, wenn es um Ideen<br />
geht, mittels derer man einen besonderen<br />
Anlass der Stadt adäquat und vielleicht sogar<br />
unkonventionell feie<strong>rn</strong> könnte. Dies das Eine.<br />
Dazu kommt jetzt aber noch ein weiterer Aspekt<br />
des öffentlichen Umgangs mit Ideen: Bekanntlich<br />
sind Ideen, gerade wenn sie noch<br />
sehr jung sind, ziemlich fragile «Gebilde», und<br />
so kommt es dann halt schon darauf an, wie<br />
wer damit umgeht, wie eine Behörde bei der<br />
Beurteilung vorgeht und die Idee anschliessend<br />
durch die öffentliche Debatte hindurchträgt. In<br />
Nü<strong>rn</strong>berg hatte ich das Glück, auf einen Referenten<br />
zu treffen, der kulturell sehr erfahren<br />
war, und fürs Überraschende, Unkonventionelle<br />
einen au<strong>sg</strong>esprochenen Riecher hatte. Im Gegensatz<br />
dazu mein Gesprächspartner in Be<strong>rn</strong>:<br />
Ein typisch schweizerischer Politiker, ein sogenannter<br />
Generalist, wahrscheinlich Jurist<br />
von Haus aus, theoretisch überall einsetzbar<br />
und kaum geübt im Umgang mit Ideen. Dass so<br />
jemand Mühe hat beim Beurteilen von Gedankengängen,<br />
die das Ungewohnte suchen, liegt<br />
eigentlich auf der Hand. Das heisst aber mit anderen<br />
Worten, dass es ein Zufall ist, wenn so<br />
jemand beim Beurteilen von Ideen innerlich sicher<br />
ist und instinktiv spürt, was mit einer Idee<br />
los ist, und was sie einer Stadt bringen könnte.<br />
Damit will ich sagen, dass unsere politischen<br />
Strukturen, die den Laiengedanken über alles<br />
stellen, denkbar schlecht sind in Auseinandersetzungen<br />
mit Gedanken, die etwas anderes<br />
suchen als die Bestätigung des gemeinhin<br />
Üblichen und Gängigen. Zwangsläufig werden<br />
unter solchen Voraussetzungen Ideen, die weiterführen,<br />
sehr schnell als utopisch (sprich: undurchführbar),<br />
als fremd, als irgendwie störend<br />
empfunden, und deshalb rascher als nötig als<br />
unerwünscht abgetan. So etwas hat aber Auswirkungen<br />
auf unser Zusammenleben in der<br />
Öffentlichkeit, und genau so werden mögliche<br />
Entwicklungen verpasst, die unter Umständen<br />
aus einer verschlafenen eine lebendige Stadt<br />
machen könnten.<br />
In diesem zweiten Abschnitt habe ich jetzt<br />
eine Antwort auf die Frage gesucht, wie es<br />
hierzulande Ideen ergeht, die ausschliesslich<br />
für die Öffentlichkeit gedacht sind. Nach meiner<br />
Erfahrung haben sie es deshalb auffällig<br />
schwer, von den zuständigen Behörden in ihrer<br />
Bedeutung wahrgenommen zu werden, weil<br />
deren Wah<strong>rn</strong>ehmungsfähigkeit für Ungewöhnliches<br />
in der Regel unterentwickelt ist. Generell<br />
haben unsere Behörden Mühe im Umgang mit<br />
Ideen und begegnen ihnen deshalb mit Skepsis,<br />
also meist ablehnend. Dazu kommt, dass in<br />
unseren politischen Strukturen wahrscheinlich<br />
der Chef fehlt, der für die Stadt wichtiges im<br />
Voraus festlegen kann.<br />
Ideen in der Schweiz: Drei Spielarten, drei<br />
Projekte: Das schiefe Theater, der Be<strong>rn</strong>er Geburtstag,<br />
resp. Hans Sachs in allen Gassen, das<br />
kleine Freudenhaus. Jetzt also die dritte Spielart:<br />
Das kleine Freudenhaus. Auch diese Geschichte<br />
habe ich Ihnen, liebe Leser, ausführlich<br />
erzählt. Jetzt geht es mir um jene Realität,<br />
mit der eine ziemlich komplexe Idee fertig<br />
werden muss. Zu Ihrer Erinnerung: Das kleine<br />
Freudenhaus geht ja davon aus, dass Kultur,<br />
wenn sie demokratisch, also von der Mehrheit<br />
einer Stadtbevölkerung, wahrge nommen werden<br />
will, dass also eine solche Kultur nicht eindimensional<br />
in einzelnen Sparten, sonde<strong>rn</strong> in<br />
drei konzentrischen Kreisen agieren soll: In einem<br />
inneren Kreis, einem Kunstwerk, dann in<br />
einem zweiten, in der direkten Umgebung des<br />
Kunstwerks, und von Zeit zu Zeit, das Ganze<br />
erfassend, in der ganzen Stadt. Wie kommt so<br />
etwas in Gang? Wie kann das funktionieren?<br />
Eigentlich ganz einfach: Ein Einzelner, oder<br />
natürlich auch eine Einzelne, der, oder die sich<br />
ein solches Werk vorstellen und es konkret<br />
auch umsetzen kann, lässt zuerst den innersten<br />
Kreis entstehen, also das Kunstwerk. In ihm<br />
soll, für ein aufmerksames Publikum fühl- und<br />
nachvollziehbar werden, was das Gesamtwerk<br />
eigentlich will; wie es von seinem Geist her<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 51
▲<br />
alltagskultur<br />
gemeint ist und was es, konsequent angewendet<br />
und umgesetzt, dem Ganzen, also der Stadt,<br />
bringen kann.<br />
Gleichzeitig überlegt sich der Autor des<br />
Gesamtwerks, wie die direkte Umgebung des<br />
Werks, von dessen Geist geprägt, konkret aussehen<br />
könnte. In der Idee des kleinen Freudenhauses<br />
ist damit so etwas wie ein kultureller<br />
Stadtpark gemeint, also ein Ort, der durch Ideen<br />
von Bürge<strong>rn</strong>, die Hand (und Kopf) anlegen<br />
wollen, geprägt ist – ein poetischer Ort quasi.<br />
Dann, und das betrifft jetzt den dritten<br />
Kreis, wird die Grundidee noch einmal au<strong>sg</strong>edehnt<br />
auf die ganze Stadt, indem von Fall zu<br />
Fall und von Anlass zu Anlass Ideen für aussergewöhnliche<br />
Feste entwickelt werden, die mehr<br />
sind als die üblichen, ideenlosen, sogenannten<br />
Volksbelustigungen. Realisiert wird dies wiederum<br />
durch engagierte Bürger, denen das Zusammenleben<br />
in der Stadt ein Anliegen ist.<br />
Es geht also bei der Idee «kleines Freudenhaus»<br />
ums aktive Heranbilden einer auf eine<br />
bestimmte Stadt bezogenen Kultur, die natürlich<br />
mit der Zeit zum inneren und äusseren<br />
Wahrzeichen dieser einen Stadt wird. Die Idee<br />
«kleines Freudenhaus» ist daher – und dies zu<br />
betonen ist mir sehr wichtig – nicht ein Modell,<br />
überall eins zu eins anwendbar, sonde<strong>rn</strong> eine<br />
Vorgehensweise, die sich nach den verschiedenen<br />
Gegebenheiten vor Ort richtet. Soweit der<br />
gedankliche Hintergrund dieser ziemlich komplexen<br />
Idee.<br />
Und wie sieht nun die konkrete Seite eines<br />
solchen Unterfangens in der Schweiz, und am<br />
Ende in einer wirklichen Schweizer Stadt aus?<br />
Der innerste Kreis, das Kunstwerk (in diesem<br />
Fall ein Theater der Sinne), wurde zu genau<br />
dem, was es nach der Idee werden sollte, und es<br />
wurde zu einem grossen Erfolg.<br />
Im zweiten Kreis (also in der Umgebung des<br />
Sinnentheaters) realisierten sich zwei Werke.<br />
Auch sie waren öffentlich erfolgreich. Allerdings:<br />
als es dann handfest ums Schaffen jenes<br />
oben erwähnten kulturellen Stadtparks, der sogenannten<br />
«Be<strong>rn</strong>torgasse / Kulturgasse» ging,<br />
kam der bis anhin erfreuliche Prozess ins Stocken.<br />
Umliegende Gewerbebetriebe begannen<br />
konkret zu opponieren mit dem Ziel, die Kulturgasse<br />
zu verhinde<strong>rn</strong>. Und genau hier fehlte jetzt<br />
die politische Instanz (im Nü<strong>rn</strong>berger Beispiel<br />
von vorhin waren das der Oberbürgermeister<br />
und der Kulturreferent), es fehlte also die Instanz,<br />
die sich hinter das ganze Projekt stellte<br />
und mit ihrer Autorität für dessen weitere Verwirklichung<br />
einsetzte. Das war das Ende meines<br />
Wirkens in Thun, weil ich eben alleingelassen<br />
war. Und selbstredend kam es auch nie<br />
zu einem für sich sprechenden, grossen Fest in<br />
Thun.<br />
Was geschieht eigentlich mit Ideen in der<br />
Schweiz? Das ist ja die Frage hier. Ist die Idee<br />
«kleines Freudenhaus» in<strong>sg</strong>esamt gelungen?<br />
Zum Teil, würde ich sagen. Gelungen ist, was<br />
ich selbst – und unabhängig – realisieren konnte.<br />
Es ist tatsächlich ein Theater der Sinne entstanden,<br />
das es vorher noch nicht gab. Und es<br />
ist beim Publikum gut angekommen. Es war ein<br />
grosser Erfolg sowohl in Basel, in Thun, und im<br />
Gwatt-Zentrum. Acht Jahre hat dieser Teil der<br />
Idee öffentlich seine Wirkung entfalten können<br />
– und wirtschaftlich ist die Institution «kleines<br />
Freudenhaus» in jener Zeit auch über die Runden<br />
gekommen.<br />
Dieses private Gelingen hatte aber auch seinen<br />
Preis: Dreizehn Jahre vollberuflicher Arbeit<br />
ohne Entgelt waren nötig, um das Theater, also<br />
den innersten Kreis, zu realisieren. Und es kamen<br />
recht hohe Investitionen für die Vorstellung<br />
selber dazu. Möglich war das nur durch<br />
das Engagement meiner Frau, die mir durch ihre<br />
– in diesem Fall bezahlte – Berufsarbeit den<br />
Rücken für meine von niemandem bezahlte Berufsarbeit<br />
freihielt. Das klingt romantisch – ich<br />
würde dem entgegenhalten, das sei schweizerische<br />
Realität.<br />
Ja, und wo war im Entstehungsprozess dieses<br />
letztendlich öffentlichen Werks die öffentliche<br />
Hand, wo war das Engagement einer sich<br />
für so etwas engagierenden Wirtschaft? Es war<br />
vorhanden – aber eigentlich immer erst dann,<br />
52
alltagskultur<br />
▲<br />
wenn im Entstehungsprozess gesichertes Terrain<br />
erreicht war. Im Klartext heisst das: Das<br />
kleine Freudenhaus wäre weder als Konzept<br />
noch als Werk je entstanden, hätte ich auf die<br />
tragende Mithilfe einer Öffentlichkeit oder jene<br />
der Wirtschaft gesetzt. In einem Wort: Die Idee<br />
«kleines Freudenhaus» war zu gross, um in der<br />
reichen Schweiz gefördert zu werden. Sie war<br />
so gross, dass sie nur durch das Engagement<br />
von zwei lächerlich kleinen Leutchen realisiert<br />
werden konnte! Auch das ist helvetische Realität.<br />
Ich sage das nicht bitter oder verbittert.<br />
Aber ich benenne die Realität. Und ich fordere<br />
all jene Menschen, die von sich behaupten, Realisten<br />
zu sein auf, diese Realität auch einmal<br />
zu bedenken – und dann vielleicht auch einmal<br />
entsprechend zu handeln. Wir brauchen ein<br />
neues Denken.<br />
Trotzdem – und das setze ich explizit an<br />
den Schluss –: die Öffentlichkeit engagierte<br />
sich durchaus in dieser Geschichte. Und das<br />
geschah wie durch ein Wunder, nämlich durch<br />
ein öffentliches Bedürfnis nach Kultur. Die eidgenössische<br />
700-Jahrfeier stand bevor. Auf einen<br />
Schlag brauchte es jetzt brauchbare Ideen<br />
– und jetzt war Geld vorhanden (für ein Jahr!).<br />
Und als nach dem Jubiläumsjahr 1991 das Gastspiel<br />
des kleinen Freudenhaus in Basel beendet<br />
(also der Erfolg gesichert) war, engagierte<br />
sich die Stadt Thun, dann gab es auch Gelder<br />
aus der Wirtschaft, um die Infrastruktur für ein<br />
Haus, in dem das kleine Freudenhaus untergebracht<br />
werden konnte, bereitzustellen. (Obwohl<br />
eigentlich, dies nur nebenbei, von der 700-Jahrfeier<br />
ein geeignetes Haus verfüg-, transportier-,<br />
nutzbar und gratis zur Verfügung stand). Also,<br />
hier begann die Öffentlichkeit eine Rolle zu<br />
spielen. Und das funktionierte dann auch, immer<br />
mehr oder weniger, je nach Umständen, bis<br />
zu jenem oben erwähnten Moment, wo die Idee<br />
als Gesamtheit plötzlich, und eigentlich unerwarteterweise,<br />
zurechtgestutzt werden sollte –<br />
einer gewissen Wirtschaftlichkeit wegen. Was<br />
heisst dies nun alles? In knappen Worten dies:<br />
• Ideen sind Privatsache, und wenn sie umgesetzt<br />
werden sollen, ist auch dies eine private<br />
Angelegenheit; sonst bleibt das Ganze<br />
unrealisiert liegen.<br />
• Medien können Ideen zwar aufgreifen, aber<br />
kulturpolitisch e<strong>rn</strong>st genommen werden sie<br />
trotzdem nicht.<br />
• Unterstützung, von wem auch immer, erhalten<br />
Ideen allenfalls als kleine Projekte, die<br />
in ihrer Wirkung klar abgegrenzt und im<br />
Voraus kalkulierbar sind.<br />
• Öffentlich gefragt sind Ideen nur, wenn ein<br />
entsprechender öffentlicher Anlass besteht,<br />
für den im Voraus die nötigen Mittel auch<br />
gleich bereitgestellt sind.<br />
• Nach solchen Anlässen fehlt das öffentliche<br />
Interesse, und natürlich auch das Geld für<br />
Aussergewöhnliches wieder. Die Gewöhnlichkeit<br />
nimmt dann wieder ihren gewöhnlichen<br />
Gang.<br />
• Eine öffentliche Diskussion über Ideen, die<br />
für unsere Kultur auch praktische Konsequenzen<br />
haben könnten, existiert in der<br />
Schweiz offiziell nicht.<br />
• Dass eine gute Kultur mit guten Ideen an<br />
ihrer Basis den Boden für ein gutes Zusammenleben<br />
der Bevölkerung bilden könnte,<br />
und das auch zum Ziel haben, ist der<br />
Schweiz als Gemeinschaft nicht bewusst.<br />
Und als Letztes: In unseren Köpfen ist Kultur<br />
als Hobby eingestuft – nett vielleicht, aber<br />
nicht eigentlich nötig. Ein Leben aus Ideen?<br />
Für viele Menschen in der Schweiz ist das – als<br />
private Meinung – vielleicht eine faszinierende<br />
Option. Sie zu leben wagen sie aber kaum. Und<br />
öffentlich gibt es ein Leben aus Ideen einfach<br />
nicht: Zu unsicher, zu wenig greifbar (im Voraus),<br />
zu abenteuerlich, zu riskant. Der Krämer<br />
in unserer Volksseele sucht das im Voraus Sichere,<br />
nicht das Hi<strong>rn</strong>gespinst.<br />
ensuite - kulturmagazin Nr. 121 | Januar 2013 53
Senioren im Web<br />
Von Willy Vogelsang, Senior<br />
Alltagskultur<br />
Was verstehen Sie unter «Paradigmenwechsel»?<br />
Ich musste zuerst auf Wikipedia<br />
ausführliche Erklärungen studieren.<br />
Am besten hat mir schlussendlich der Begriff<br />
«Unte<strong>rn</strong>ehmerisches Leitbild» gefallen. Er entspricht<br />
dem Wandel, der sich mit dem neuen<br />
Delegierten des Verwaltungsrates und interimistischen<br />
Vorsitzenden der Geschäftsleitung<br />
von seniorweb.ch, Jürg Bachmann, abzeichnet.<br />
Der erfahrene Medien-Manager weiss was er<br />
will, und an der Mitarbeitertagung Ende November<br />
verkündet hat. «Aufbruch und Umbruch<br />
wird nötig sein, wenn die seit 14 Jahren von<br />
vielen Freiwilligen geführte, grösste Plattform<br />
für die Generation 50+ in der Schweiz weiter<br />
bestehen will.» Er stützte sich dabei auf die Ergebnisse<br />
einer Umfrage, die in den letzten Wochen<br />
auf Seniorweb durchgeführt und von über<br />
630 Personen beantwortet wurde. Diese zeigt<br />
klar auf, dass vorab die Angebote Magazin, Foren<br />
und Infos aus Regionalgruppen, sowie Kurse<br />
und Le<strong>rn</strong>angebote stark beachtet werden. In<br />
den über tausend Kommentaren wurde aber immer<br />
wieder der Wunsch laut, die Struktur von<br />
Seniorweb müsse vereinfacht und verbessert<br />
werden.<br />
Die Ergebnisse der Umfrage und der Besuch<br />
von seniorweb.nl bestärken die Verantwortlichen<br />
von seniorweb.ch, den vorgesehenen Paradigmenwechsel<br />
(siehe oben!) zur Stärkung der<br />
Medienkompetenz von Senioren voranzutreiben.<br />
Im Visier ist ein nachhaltiges Geschäftsmodell,<br />
das eine professionelle Organisation, die Finanzierung<br />
des laufenden Betriebs sowie eine Teilfinanzierung<br />
von geleisteter Arbeit zulässt. Mit<br />
einem vielfältigen Angebot (Kurse, Einkaufsberatung,<br />
Kompetenzzentrum, Weiterbildung,<br />
E-Lea<strong>rn</strong>ing, Support) sollen die digitalen Medien<br />
zum Ke<strong>rn</strong>geschäft von Seniorweb gemacht<br />
werden mit dem Ziel, dass die Besucher von Seniorweb<br />
in Bezug auf elektronische Kommunikation<br />
à jour gehalten werden. Daneben bietet<br />
Seniorweb weiterhin bestehende Angebote wie<br />
Magazin, Foren, Blogs an, die mithelfen sollen,<br />
die mit dem Ke<strong>rn</strong>geschäft angestrebte Medienkompetenz<br />
zu stärken.» (Zitiert aus dem Bericht<br />
zur Mitarbeitertagung).<br />
Unüberhörbar wurden an der Tagung aber<br />
auch die gewachsenen Strukturen der Regional-<br />
und Interessen gruppen mit ihren realen Begegnungsmöglichkeiten<br />
betont, und ihre Bedeutung<br />
für eine lebendige Beteiligungskultur als<br />
hoch gewichtet.<br />
Es wird spannend werden, das neue Jahr. Beobachten<br />
Sie selbst, wie sich der «Paradigmenwechsel»<br />
vollzieht. Er kann sich eigentlich nur<br />
zu Ihren Gunsten entwickeln.<br />
www.seniorweb.ch<br />
unterhält · informiert · verbindet<br />
Was die Welt<br />
zusammenhält<br />
Wir schreiben den 20. Dezember 2012,<br />
einen Tag vor dem Weltuntergang,<br />
vier Tage vor Heilig Abend. Wobei gerade Heilig<br />
Abend keine Rolle mehr spielt, denn die<br />
Welt gibt es dann ja nicht mehr. Und somit ist<br />
auch dieser Artikel überflüssig, denn es wird<br />
ihn keiner mehr lesen, wenn wir uns alle schon<br />
Wochen zuvor, in einem lauten Knall, in Schutt<br />
und Asche aufgelöst haben. Oder wir sind in eine<br />
andere Galaxie katapultiert worden und unser<br />
Hi<strong>rn</strong> kann dort die Fähigkeiten nicht mehr<br />
abrufen, die wir uns einst mit Mühe angeeignet<br />
haben, wie eben das Lesen dieses Artikels.<br />
Auffallend ist trotzdem, mit welcher Sorgfalt<br />
doch die bevorstehenden Festtage vorbereitet<br />
werden; insbesondere das Essen. Das Essen,<br />
das gerade kurz vor dem Untergang eine neue<br />
Bedeutung bekommt – quasi das Gegenteil vom<br />
Untergang ist. Ich stelle mir vor, beim Untergang<br />
zerlegt sich alles in seine Einzelteile; in<br />
Glieder, Fase<strong>rn</strong>, Zellen. Die Einheit bricht auseinander,<br />
als ob man den Urknall zurückspulen<br />
würde. Beim Essen aber nehmen wir Materie<br />
auf, verleiben sie uns ein, damit wir eins werden<br />
mit ihr, sie uns zusammenhält. Und das gemeinsame<br />
Essen an Weihnachten und Silvester<br />
hält uns als Gemeinschaft zusammen. All diese<br />
Familienzusammenkünfte und Firmenanlässe,<br />
Jahresabschlüsse von Clubs und Vereinen<br />
– sie alle zielen darauf ab, die Einheit zu stärken,<br />
die vielen Individuen zusammenzukitten.<br />
Trinken und Essen hilft dabei. Lasst uns anstossen<br />
auf ein neues Jahr! Und der Champagner<br />
perlt die Kehlen hinunter. Frohe Weihnachten!<br />
Von Barbara Roelli Bild: Barbara Roelli<br />
Und jeder steckt seine fleischbestückte Gabel<br />
in den dampfenden Fondue Chinoise-Topf.<br />
Es werden Pläne geschmiedet zum Festtagsschmaus,<br />
Metzger geben Instruktionen, wie die<br />
Kunden ihre Rollbraten füllen sollen, und bei<br />
welcher Temperatur der Truthahn im Ofen gebraten<br />
wird, damit er nicht austrocknet. Lasst<br />
uns geniessen und gesellig sein! Nach diesem<br />
unau<strong>sg</strong>esprochenen Glaubensbekenntnis handeln<br />
wir dieser Tage und verdrängen konsequent<br />
den bevorstehenden Untergang. Zwei<br />
Frauen im Zug: Die eine hat für den Jahresabschluss<br />
des Vereins eine Platte mit drei Kilo<br />
Raclettekäse bestellt. Bei der besten Käserei<br />
von Olten, wie sie sagt. Und dann gebe es noch<br />
eine Fleischplatte, dekoriert mit Co<strong>rn</strong>ichons<br />
und Silberzwiebelchen. Und den Wein lasse sie<br />
aus dem Wallis liefe<strong>rn</strong>. Von Visperterminen,<br />
das sei der höchstgelegene Rebberg der Welt.<br />
«Comme il faut», so die Frau.<br />
Und wie es sich gehört, oder wie wir es ritualisiert<br />
haben, werden auch dieses Jahr kiloweise<br />
Weihnacht<strong>sg</strong>uetzli gebacken, verziert,<br />
in Säckli abgefüllt und verschenkt. Und diese<br />
gebackenen Teigstücke verbinden uns untereinander<br />
und miteinander, und schliesslich sind<br />
wir ja aus ein und demselben Teig. Eine Urmasse<br />
aus Fleisch und Blut, die viel Raum einnimmt<br />
und in einer Zeit lebt, die in ein paar<br />
wenigen Stunden ablaufen wird. Aber bis zum<br />
Weltuntergang stehen wir draussen im Schnee<br />
dicht beieinander, mit roten Wangen vom<br />
Glühwein, und prosten uns zu.<br />
54
Impressum<br />
▲<br />
Herau<strong>sg</strong>eber: interwerk gmbh, Be<strong>rn</strong><br />
Redaktion: Verein WE ARE, Be<strong>rn</strong>: Lukas Vogelsang<br />
(vl); Anna Vogelsang // Peter J. Betts, Luca<br />
D’Alessandro (ld), Frank E. P. Dieve<strong>rn</strong>ich, Morgane<br />
A. Ghilardi, Bettina Hübscher, Thomas<br />
Kohler (tk), Hannes Liechti, Andreas Meier,<br />
Fabienne Nägeli, Eva Pfirter, Salvatore Pinto,<br />
Barbara Roelli, Walter Rohrbach, Karl Schüpbach,<br />
Willy Vogelsang, Simone Wahli (sw), Sonja<br />
Wenger (sjw), Sandro Wiedmer, Ueli Zingg<br />
(uz), Luca Zacchei, Michael Zwicker<br />
Cartoon: Bruno Fauser, Be<strong>rn</strong>; Bundesrat Brändli:<br />
Matthias «Willi» Blaser<br />
Kulturagenda: kulturagenda.ch; ensuite - kulturmagazin;<br />
allevents, Biel; Werbe & Verlags AG,<br />
Zürich.<br />
Korrektorat: Sandro Wiedmer (saw)<br />
Abonnemente: 77 Franken für ein Jahr / 11 Au<strong>sg</strong>aben,<br />
inkl. artensuite (Kunstmagazin)<br />
Aboservice: 031 318 60 50 / abo@ensuite.ch<br />
ensuite – kulturmagazin erscheint monatlich.<br />
Auflage: 10 000 Be<strong>rn</strong>, 10 000 Zürich<br />
Anzeigenverkauf: inserate@ensuite.ch Layout:<br />
Lukas Vogelsang Produktion & Druckvorstufe:<br />
interwerk, Be<strong>rn</strong> Druck: AST & Fischer AG, Wabe<strong>rn</strong><br />
Vertrieb: Telefon 031 318 60 50 / Abonnemente,<br />
Gratisauflage in Be<strong>rn</strong> und Zürich; Web:<br />
interwerk gmbh<br />
Hinweise für redaktionelle Themen erwünscht<br />
bis zum 11. des Vormonates. Über die Publikation<br />
entscheidet die Redaktion. Bildmaterial digital<br />
oder im Original senden. Wir senden kein Material<br />
zurück. Es besteht keine Publikationspflicht.<br />
Agendahinweise bis spätestens am 18. des Vormonates<br />
über unsere Webseiten eingeben. Redaktionsschluss<br />
der Au<strong>sg</strong>abe ist jeweils am 18.<br />
des Vormonates (www.kulturagenda.ch).<br />
Die Redaktion ensuite - kulturmagazin ist politisch,<br />
wirtschaftlich und ethisch unabhängig<br />
und selbständig. Die Texte repräsentieren die<br />
Meinungen der AutorInnen, nicht jene der Redaktion.<br />
Copyrights für alle Informationen und<br />
Bilder liegen beim Verein WE ARE in Be<strong>rn</strong> und<br />
der interwerk gmbh / edition ensuite. «ensuite»<br />
ist ein eingetragener Markenname.<br />
Redaktionsadresse:<br />
ensuite – kulturmagazin<br />
Sandrainstrasse 3; CH-3007 Be<strong>rn</strong><br />
Telefon 031 318 60 50<br />
Fax 031 318 60 51<br />
E-Mail: redaktion@ensuite.ch<br />
www.ensuite.ch<br />
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DeJan Terzic meLanoia<br />
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Le rex<br />
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