"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc
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Auffallend ist, daß Frau Borke keine persönlichen Erfahrungen erzählt, obwohl sie Lettland als ihre Heimat begreift und dort die normalerweise ereignisreich verlaufende Jugendphase verlebte. Die Ausblendung ihrer persönlichen Erfahrungen vom ungefähr 8. bis zum 27. Lebensjahr hängt vermutlich mit ihrem damaligen politischen Engagement fur den „Erhalt des Deutschtums 44 zusammen. Unter Berücksichtigung der historischen Ereignisse ist davon auszugehen, daß Frau Borke sich mit dem auch in Lettland zu Beginn der 30er Jahre aufkeimenden Nationalsozialismus identifizierte. Bestätigt wird das im weiteren durch das Datum, daß sie bereits im Frühjahr 1939 „vorausging, um auch einmal ein Stück Deutschland zu erleben 44 . In diesem Zusammenhang erfahren wir auch, daß sie im Verein fur die Auslandsdeutschen organisiert war, der sich im weitesten Sinne für das „Deutschtum 44 einsetzte und Aufenthalts- und Ausbildungsmöglichkeiten im Deutschen Reich ermöglichte. Ihre Orientierung an der nationalsozialistischen Politik zeigt, daß sie sich — wie viele Baltendeutsche — eine Erstarkung der deutschen Kultur auch in ihrer Heimat Lettland versprach. Interessiert am Nationalsozialismus, setzte sie sich damit jedoch für eine Machtpolitik ein, die zunächst zur Umsiedlung ab Oktober 1939 und schließlich zu ihrem Heimatverlust führte. Vorerst betrachtete Frau Borke, wie ihre Familie, die sich selbstverständlich aufgrund ihrer deutschnationalen Interessen und antikommunistischen Haltung für eine Umsiedlung ins Deutsche Reich entschieden hatte, die Zeit in Breslau und Posen als vorübergehend. Sie mußte jedoch die enttäuschende Erfahrung machen, daß sie trotz ihrer deutschen Nationalität als Fremde galt und dementsprechend behandelt wurde. Auch wenn sie damals als „Eindringlinge 44 galten, verbanden Frau Borke und ihr Vater dennoch große Hoffnungen mit der nationalsozialistischen Politik, und sie engagierten sich für die Partei, indem sie parteipolitische Aufgaben übernahmen. Heute versucht Frau Borke jedoch, sich als politisch unbedarft hinzustellen und ihre damaligen Aktivitäten zu verharmlosen. So erzählt sie von ihrer Tätigkeit in Posen, wo sie als Anwärterin der Partei „Polen habe zählen müssen 44 , als ob es sich dabei nur um eine harmlose und ihr auferlegte Aufgabe gehandelt hätte. Sie versucht ferner, sich als der Partei gegenüber kritisch distanziert darzustellen, doch ihre geringfügigen Meinungsverschiedenheiten verweisen auf ihr bildungsbürgerliches Überlegenheitsgefuhl gegenüber Parteimitgliedern in niedriger Position und waren keineswegs politisch motiviert. Insgesamt wird aus ihren Erzählungen deutlich, daß sie sich — wie auch in Lettland — mit der Idee der Überlegenheit der Deutschen identifizierte, keine Einwände gegen den deutschen Nationalsozialismus hatte und am Prinzip des „Zusammenhalts der deutschen Volksgemeinschaft 44 festhielt. Indem Frau Borke ihre politischen Aktivitäten losgelöst von der sogenannten „Aufbauarbeit im Warthegau 44 beschreibt und die organisierten Menschenrechtsverletzungen gegen die polnische Bevölkerung ausklammert, muß sie sich nicht der Frage nach der eigenen Beteiligung und Verantwortung stellen. Damit 78
erreicht sie aber nicht nur eine Verharmlosung ihres politischen Engagements, sondern vermeidet gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Politik, für die sie sich eingesetzt hatte und die letztendlich zu ihrem Heimatverlust gefuhrt hatte. Bewußt wird ihr das teilweise nach der Flucht, als der Krieg verloren war und mit dem NS verbundene Zukunftsentwürfe sinnlos wurden. Neben der Trauer um ihre verlorenen Familienangehörigen erkannte sie offensichtlich, daß deren persönlicher Einsatz an der Front wie ihr eigenes Engagement letztlich vergeblich gewesen waren. Sämtliche Zukunftsvorstellungen und Ideale, die sie mit dem NS verbunden hatte, sah sie mit dem verlorenen Krieg als gescheitert an. Aus dieser Perspektive gab es für sie nach 1945 in ihrem Leben keine Zukunft mehr, für die es sich einzusetzen lohnte. Diese persönliche Krise führte jedoch nicht zu einer weitergehenden Auslegung der nationalsozialistischen Politik, so daß ihr eine Neuorientierung und Ablösung von den alten, überkommenden Wertvorstellungen nicht gelang. Frau Borke bekennt sich noch heute implizit zu diesem Kapitel deutscher Vergangenheit und hält an ihren deutschnationalen Interessen fest; ihre eigene Beteiligung durch die Übernahme politischer Aufgaben im Deutschen Reich versucht sie dabei auszublenden und zu verharmlosen. Indem Frau Borke ihre Vergangenheit in politischer Hinsicht nicht hinterfragte, konnte sie vermutlich trotz ihrer persönlichen Krise nach Kriegsende und insbesondere nach dem Tod ihres Vaters weiterhin handlungsfähig bleiben. Eine aussichtsreiche und befriedigende Zukunft sah sie für sich jedoch nicht mehr, da sie in ihre Heimat Lettland nicht zurückkehren konnte und es keine Ideale gab, für die es sich einzusetzen lohnte. Frau Borke war zwar weiterhin in ihrem Beruf als Chemielaborantin tätig, jedoch im beruflichen wie privaten Leben nicht sozial integriert. Sie bewegte sich einzig in dem Kreis ihrer deutsch-baltischen Landsleute, mit denen sie ihre Erinnnerungen an Lettland teilen konnte. Damit lebt Frau Borke vor allem in der Vergangenheit, d.h. in der Zeit bis zur Umsiedlung 1939, die ihrem Leben eine entscheidende Wende gab. Frau Borkes Leben ist, wie abschließend festzuhalten ist, stets ein Leben in Fremdheit gewesen, denn in Lettland als Angehörige einer kleinen deutschen Minderheit galt sie ebenso wie nach der Umsiedlung ins Deutsche Reich wie auch nach Kriegsende in der Bundesrepublik, wo die Baltendeutschen eine unbedeutende ethnische Minderheit darstellen, als Außenstehende. Sie selbst fühlte sich zeitlebens fremd und konnte sich wohl auch deswegen, weil sie an ihrer deutschnationalen Einstellung und politisch am „Erhalt des Deutschtums" festhielt, keine neue Zukunft in der bundesrepublikanischen Gesellschaft entwerfen. Anmerkung 1 Der hier angegebene Quellennachweis Κ (=Kassette) bezieht sich auf einen nicht transkribierten Text, der jedoch auf Tonband zur Verfugung steht. 79
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- Seite 44 und 45: (26/31). Sie hatte die Anspannung u
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Politik, und sie engagierten s<strong>ich</strong> für die Partei, indem sie parteipolitische<br />
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Heute versucht Frau Borke jedoch, s<strong>ich</strong> als politisch unbedarft hin<strong>zu</strong>stellen<br />
und ihre damaligen Aktivitäten <strong>zu</strong> verharmlosen. So erzählt sie von ihrer Tätigkeit<br />
in Posen, wo sie als Anwärterin <strong>der</strong> Partei „Polen habe zählen müssen 44 , als<br />
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hätte. Sie versucht ferner, s<strong>ich</strong> als <strong>der</strong> Partei gegenüber kritisch distanziert dar<strong>zu</strong>stellen,<br />
doch ihre geringfügigen Meinungsverschiedenheiten verweisen auf<br />
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aus ihren Erzählungen deutl<strong>ich</strong>, daß sie s<strong>ich</strong> — wie auch in Lettland — <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />
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deutschen Nationalsozialismus <strong>hatte</strong> und am Prinzip des „Zusammenhalts <strong>der</strong><br />
deutschen Volksgemeinschaft 44<br />
festhielt.<br />
Indem Frau Borke ihre politischen Aktivitäten losgelöst von <strong>der</strong> sogenannten<br />
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beschreibt und die organisierten Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen<br />
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