"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc

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tische Personen verstanden, sich vielmehr während der 12 Jahre zum politischen System in Distanz gehalten haben? Sind es denn nicht nur die ehemals politisch Aktiven, die in/politisieren? Ob die Zeitzeugen nun das Ziel verfolgen, ein ehemals politisches Engagement zu verschleiern, oder ihren vorherrschenden Wahrnehmungsstil eines eigenen vom politischen System losgelösten Lebens aufrechterhalten, sie praktizieren jeweils die Herauslösung der zwölf Jahre des „Dritten Reiches" aus dem politischen Rahmen des NS und können sich damit der Frage nach der Verstrickung in das politische System des NS entziehen. Außerdem spielen bei der Frage, weshalb die Bundesbürger sich heute bei bestimmten Argumentationen einig sind und diese Argumente damit zu kollektiv geteilten Deutungen geworden sind, die den Umgang mit der Vergangenheit in der Bundesrepublik bestimmen, die Intentionen der Subjekte, weshalb sie etwas als unpolitisch darstellen, keine Rolle mehr. Deshalb verwende ich den Begriff der Entpolitisierung auch in einem nicht an die Intentionen der Subjekte gebundenen Sinne. Drei Typen von Entpolitisierungsstrategien ließen sich anhand der vorliegenden Lebensgeschichten rekonstruieren: das implizite Ausblenden des NS aus der Lebensgeschichte, die Verdichtung des NS auf die entpolitisierten Kriegsjahre und die explizite Entpolitisierung des eigenen Sozialisationsmilieus. Etliche Hinweise sprechen dafür, daß die Verwendung dieser Typen mit der Generationszugehörigkeit korrespondiert. D.h. jedoch nicht, daß das Auftreten dieser Typen auf bestimmte Generationen beschränkt ist, sondern lediglich, daß sie fur bestimmte Generationen typischer sind als fur andere. Das Ausblenden des NS aus der Lebensgeschichte ist typisch fur die Wtlhelminer-Jugendgeneration, die Verdichtung des NS auf die Kriegsjahre für die Weimarer Jugendgeneration und die Entpolitisierung des eigenen Sozialisationsmilieus für die HJ-Generation. Gemeinsam ist den Angehörigen aller Generationen der Versuch, sich aus den Verstrickungen in eine gelebte Vergangenheit zu lösen, indem sie — bewußt oder unbewußt — versuchen, diese Verstrickungen zu leugnen. Für die Soziologin stellt sich hier die Frage: wie war es möglich, daß Angehörige unterschiedlicher Generationen mit sehr unterschiedlichen Vergangenheiten sich auf diese Art der Normalisierung einigten? Was waren die Bedingungen für die Institutionalisierung dieses Deutungsmusters einer unpolitischen Vergangenheit? Dazu möchte ich zum Abschluß einige Gedanken vorstellen. Etliche Angehörige aller Generationen werden schon während des „Dritten Reiches" zumindestens mit dem diffusen Gefühl, daß Unrecht geschehe, zu kämpfen gehabt haben und versucht haben, es „wegzuschieben", es nicht zu thematisieren bzw. bestimmte Ereignisse erst gar nicht wahrzunehmen. D.h., schon während der zwölf Jahre von 1933-45 etablierte sich ein Wahrnehmungs- und Verhaltensstil im Sinne der „Abwehr", des Sich-vom- Leibe-Haltens des Politischen. Karl Jaspers spricht in seinen Vorlesungen zur Schuldfrage im Wintersemester 1945/46 vom Zustand der Fremdheit der mei- 238

sten Deutschen zum Politischen: „Die Staatsmacht wird nicht als die eigene Sache gefühlt. Man weiß sich nicht mitverantwortlich, sondern sieht politisch untätig zu, arbeitet und handelt in blindem Gehorsam" (1987: 20). Diese Fremdheit gegenüber dem Politischen diente dann auch nach 1945 dazu, der Frage nach der eigenen Verstrickung ausweichen zu können. Eine weitere Bedingung für die Institutionalisierung der Normalisierungsstrategie der Entpolitisierung waren die durch die Anforderungen des Lebensalltags nach 1945 notwendigen Reparaturen einer gebrochenen Identität. Viele der nicht verfolgten Zeitzeugen des NS gerieten spätestens 1945 in biographisch relevante Orientierungskrisen, in denen die Vergangenheit fragwürdig wurde und sie sich selbst fragen mußten, wie das alles möglich war und welche Rolle sie in den zwölf Jahren eingenommen hatten. All diejenigen, die auf den Sieg Deutschlands gehofft und Lebenspläne entwickelt hatten, die an den Fortbestand des Dritten Reiches gebunden waren, standen nicht nur vor den Trümmern ihrer Ideale, sondern auch vor einer bedrohten biographischen Gegenwart und Zukunft — und damit auch vor einer fragwürdigen Vergangenheit. Diese Krisen implizieren jedoch immer die Gefahr einer Handlungsblockierung, so daß viele Deutsche recht schnell zu einer Normalisierung der Vergangenheit neigten, die vor allem bedeutete, das Vergangene zuzudecken und nicht mehr darüber zu reden. Völlig konnte dies jedoch nicht gelingen, da eine De- Thematisierung der Vergangenheit bedeutet hätte, daß man sich selbst auch seiner biographischen Vergangenheit hätte berauben müssen. Genau dies war nach 1945 für viele das Dilemma: auf der einen Seite konnte man sich selbst nicht als vergangenheitsloses Wesen darstellen bzw. Identität ohne Geschichte bewahren, doch auf der anderen Seite war diese Vergangenheit belastend. Dieses Dilemma erforderte eine Deutung, die zumindest oberflächlich das Problem löste. Hier bot sich die Entpolitisierung als eine geeignete Strategie an: man löste seine Vergangenheit, seine Verstrickung in das politische System des Nationalsozialismus, z.B. auch in eine NS-Organisation, aus dem politischen Zusammenhang. In diesem Herauslösen der eigenen Vergangenheit aus der kollektiven, aus der politischen Vergangenheit waren sich die Zeitzeugen gleich welchen Geschlechts, welcher Generation und biographischen Vergangenheit einig — so daß jeder jeden mit seinen recht inkonsistenten Argumentationen und ebenso mit seiner „braunen" Vergangenheit leben ließ. Die Zeitzeugen spürten zwar sehr genau die Brüchigkeit ihrer Argumentationen, doch sie konfrontierten die anderen nicht damit, um nicht die Gefahr einzugehen, auf ihre eigenen Widersprüche hingewiesen zu werden. Und so stimmen sie in der Vorstellung überein, am besten nicht mehr über die NS-Vergangenheit, sondern lieber über die vom NS scheinbar „gereinigten" Ereignisse wie z.B. die Kriegsvergangenheit zu reden. Damit werden diese Normalisierungsstrategien auch für diejenigen zu einer zwingenden Realität, die dieser Deutungen nicht bedürfen, die nicht vor dem 239

sten Deutschen <strong>zu</strong>m Politischen: „Die Staatsmacht wird n<strong>ich</strong>t als die eigene Sache<br />

gefühlt. Man weiß s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong>verantwortl<strong>ich</strong>, son<strong>der</strong>n sieht politisch untätig<br />

<strong>zu</strong>, arbeitet und handelt in blindem Gehorsam" (1987: 20). Diese Fremdheit<br />

gegenüber dem Politischen diente dann auch nach 1945 da<strong>zu</strong>, <strong>der</strong> Frage<br />

nach <strong>der</strong> eigenen Verstrickung auswe<strong>ich</strong>en <strong>zu</strong> können.<br />

Eine weitere Bedingung für die Institutionalisierung <strong>der</strong> Normalisierungsstrategie<br />

<strong>der</strong> Entpolitisierung waren die durch die Anfor<strong>der</strong>ungen des Lebensalltags<br />

nach 1945 notwendigen Reparaturen einer gebrochenen Identität. Viele<br />

<strong>der</strong> n<strong>ich</strong>t verfolgten Zeitzeugen des NS gerieten spätestens 1945 in biographisch<br />

relevante Orientierungskrisen, in denen die Vergangenheit fragwürdig wurde<br />

und sie s<strong>ich</strong> selbst fragen mußten, wie das alles mögl<strong>ich</strong> war und welche Rolle<br />

sie in den zwölf Jahren eingenommen <strong>hatte</strong>n. All diejenigen, die auf den Sieg<br />

Deutschlands gehofft und Lebenspläne entwickelt <strong>hatte</strong>n, die an den Fortbestand<br />

des Dritten Re<strong>ich</strong>es gebunden waren, standen n<strong>ich</strong>t nur vor den Trümmern<br />

ihrer Ideale, son<strong>der</strong>n auch vor einer bedrohten biographischen Gegenwart<br />

und Zukunft — und da<strong>mit</strong> auch vor einer fragwürdigen Vergangenheit. Diese<br />

Krisen implizieren jedoch immer die Gefahr einer Handlungsblockierung, so<br />

daß viele Deutsche recht schnell <strong>zu</strong> einer Normalisierung <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

neigten, die vor allem bedeutete, das Vergangene <strong>zu</strong><strong>zu</strong>decken und n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong><br />

darüber <strong>zu</strong> reden. Völlig konnte dies jedoch n<strong>ich</strong>t gelingen, da eine De-<br />

Thematisierung <strong>der</strong> Vergangenheit bedeutet hätte, daß man s<strong>ich</strong> selbst auch seiner<br />

biographischen Vergangenheit hätte berauben müssen. Genau dies war nach<br />

1945 für viele das Dilemma: auf <strong>der</strong> einen Seite konnte man s<strong>ich</strong> selbst n<strong>ich</strong>t als<br />

vergangenheitsloses Wesen darstellen bzw. Identität ohne Gesch<strong>ich</strong>te bewahren,<br />

doch auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite war diese Vergangenheit belastend. Dieses Dilemma<br />

erfor<strong>der</strong>te eine Deutung, die <strong>zu</strong>mindest oberflächl<strong>ich</strong> das Problem löste.<br />

Hier bot s<strong>ich</strong> die Entpolitisierung als eine geeignete Strategie an: man löste<br />

seine Vergangenheit, seine Verstrickung in das politische System des Nationalsozialismus,<br />

z.B. auch in eine NS-Organisation, aus dem politischen Zusammenhang.<br />

In diesem Herauslösen <strong>der</strong> eigenen Vergangenheit aus <strong>der</strong> kollektiven, aus<br />

<strong>der</strong> politischen Vergangenheit waren s<strong>ich</strong> die Zeitzeugen gle<strong>ich</strong> welchen Geschlechts,<br />

welcher Generation und biographischen Vergangenheit einig — so<br />

daß je<strong>der</strong> jeden <strong>mit</strong> seinen recht inkonsistenten Argumentationen und ebenso<br />

<strong>mit</strong> seiner „braunen" Vergangenheit leben ließ. Die Zeitzeugen spürten zwar<br />

sehr genau die Brüchigkeit ihrer Argumentationen, doch sie konfrontierten<br />

die an<strong>der</strong>en n<strong>ich</strong>t da<strong>mit</strong>, um n<strong>ich</strong>t die Gefahr ein<strong>zu</strong>gehen, auf ihre eigenen Wi<strong>der</strong>sprüche<br />

hingewiesen <strong>zu</strong> werden. Und so stimmen sie in <strong>der</strong> Vorstellung<br />

überein, am besten n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> über die NS-Vergangenheit, son<strong>der</strong>n lieber<br />

über die vom NS scheinbar „gereinigten" Ereignisse wie z.B. die <strong>Krieg</strong>svergangenheit<br />

<strong>zu</strong> reden.<br />

Da<strong>mit</strong> werden diese Normalisierungsstrategien auch für diejenigen <strong>zu</strong> einer<br />

zwingenden Realität, die dieser Deutungen n<strong>ich</strong>t bedürfen, die n<strong>ich</strong>t vor dem<br />

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