"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc
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Kehren wir zu Frau Schild zurück, die das Kriegsende zwar als demütigend empfand, doch in keine ideologische Orientierungskrise geriet. Da ihr Ehemann weder eingezogen war noch in Gefangenschan kam, waren auch darüber hinaus mit dem Jahr 1945 keine biographischen Brüche für sie verbunden. Ganz anders verhalt es sich bei Frau Borke, die 1945 in eine Lebenskrise geriet, die sie bis zum heutigen läge nicht überwinden konnte. Sie lebte in labilem Gleichgewicht, ohne den Gewinn einer neuen Zukunft, weiter. Frau Borke hatte sich mit dem Nationalsozialismus identifiziert, und der Krieg war für sie mit dem Ziel der Zurückgewinnung Lettlands, ihrer Heimat, verbunden. Vermutlich hatte sie schon vor 1939 auf den Anschluß Lettlands an das Deutsche Reich gehofft; mit Kriegsbeginn war es für sie sicherlich erklärtes Kriegsziel. Μ .a.W., sie identifizierte sich mit der auch von den Nationalsozialisten propagierten Sicht des Krieges als Gewinnung neuen Lebensraums. Für sie hatte der Kriegsverlauf also durchaus eine politische Bedeutung. Entsprechend entpolitisiert sie den Krieg auch nicht explizit, sondern versucht nur, ihr eigenes politisches Engagement zu verschleiern bzw. es auf eine deutsch-nationale Gesinnung zu reduzieren. Sie vermeidet auch, was für eine Vertriebene besonders auffällig ist, eine Reflexion der NS-Kriegspolitik. Für diese Frau, die so viel Energie darauf verwenden muß, sich „zusammenzuhalten", ist ein Nachdenken über den Kriegsverlauf und ihr eigenes Engagement für die nationalsozialistische Politik zu bedrohlich. Um ihr labües psychisches Gleichgewicht nicht zu gefährden, muß sie Gedanken darüber von sich weisen, inwiefern die von ihr befürwortete NS-Politik anstelle des erwünschten Anschlusses Lettlands an das deutsche Reich schon 1939 zum Verlust ihrer Heimat führte. Da sie sich aufgrund ihres politischen Engagements in den historischen Verlauf der Vertreibung viel verstrickter fühlt als Herr Vogel, leidet sie auch viel stärker darunter. Zwar gewannen weder Frau Borke noch der Vertriebene unseres Samples, Herr Vogel, nach dem Verlust der Heimat keine neue Zukunft, doch blieb Herrn Vogel immerhin die Erinnerung an eine ungetrübte Vergangenheit. Während er weiterhin in Erinnerung an die „gute alte Zeit" leben konnte, wurde für Frau Borke ja gerade ihre Vergangenheit fragwürdig und ein Rückblick zu bedrohlich 8 . Die Reparatur der fragwürdig gewordenen Vergangenheit. Anhand unserer Fallanalysen konnten wir aufzeigen, daß die Frauen wie die Männer dieser Studie in unterschiedlicher Art und Weise versuchen, ihr Leben während des „Dritten Reiches" so weit wie möglich aus dem politischen Rahmen des NS- Systems zu lösen. Mit unterschiedlichen Strategien gelingt es ihnen auch, den Zweiten Weltkrieg nicht im Zusammenhang mit dem NS zu sehen. Jürgen Habermas spricht vom Wunsch nach uneingerahmter Erinnerung aus der Veteranenperspektive, dem „Wunsch, das subjektive Erleben der Kriegszeit aus jenem Rahmen herauszulösen, der retrospektiv alles mit einer anderen Bedeutung versehen mußte" (1987: 246). Betrachten wir im folgenden noch einmal detailliert, mit welchen biographischen Strategien und Argumenten es den Zeitzeugen gelingt, die fragwür- 230
dig gewordene Vergangenheit wieder zu „reparieren". Zunächst eine kurze Anmerkung zur Unterscheidung zwischen biographischen Strategien und Entlastungsargumentationen: Biographische Strategien konstituieren im Unterschied zu Entlastungsargumentationen — wie z.B. Argumente zur Schuldabweisung und Schuldminderung — die Erzählung der Lebensgeschichte. Es handelt sich bei ihnen nicht, wie bei den Entlastungsargumentationen, nur um Einstellungen, die den Alltagshandelnden in der öffentlichen Diskussion angeboten werden und von ihnen übernommen werden können, sondern um Strategien, die die Selektion der zu erinnernden und zu erzählenden Erlebnisse steuern und meist „hinter dem Rücken" der Biographen ihre Rekonstruktion des bisherigen, gegenwärtigen und zukünftigen Lebens determinieren. Herr Vogel erzählt im Unterschied zu den anderen Männern kaum über seine Kriegserlebnisse. Diese Strategie der Ausblendung der Kriegserlebnisse in Verbindung mit der Ausblendung der NS-Verbrechen wie überhaupt des Themas NS bestimmt seine Vergangenheitsrekonstruktion. Ebensowenig, wie er um sein durch den Zweiten Weltkrieg erlittenes Leid trauern kann, zeigt er Mitgefühl mit den Verfolgten. Er läßt die nationalsozialistische Verfolgungspolitik vielmehr als Thema überhaupt nicht zu. Herr Vogel entpolitisiert also implizit die zwölf Jahre des „Dritten Reiches", indem er den Nationalsozialismus als politisches System kaum thematisiert. Mit diesem impliziten Ausblenden des NS aus der Lebensgeschichte wird es möglich, sich der Frage nach der politischen Haftung der Deutschen zu entziehen. Auch in anderen von mir geführten Gesprächen mit Männern der Wilhelminer-Jugendgeneration zeigt sich, daß diese Strategie kennzeichnend für diese Generation ist: Es gab Interviews, in denen das Thema Nationalsozialismus von den Autobiographen kaum gestreift wurde. Diese Art und Weise, sich der Diskussion über den NS zu entziehen, steht auch im Zusammenhang mit der biographischen Vergangenheit der Wilhelminer-Jugendgeneration. Sie erlebte ihre Kindheit und Jugend in einer Zeit, in der es aus der Perspektive der Zeitzeugen, die das autoritäre System der Monarchie nicht in Frage stellten, einen Kaiser gab, der die Politik machte, an der man in Bewunderung für ihn teilnehmen konnte. Diese Perspektive desjenigen, der über die Identifikation mit dem „Führer" am Politischen partizipierte, konnte auch in der NS-Diktatur aufrechterhalten werden. Sie entsprach der Realität einer Diktatur, in der von den Herrschenden die Beschränkung auf eine derartige Form der Partizipation gefordert wurde. Abgesehen von einer aktiven Opposition gegen den NS gab es während der zwölf Jahre des „Dritten Reiches" also wiederum die Möglichkeit, am Politischen zu partizipieren, indem man sich mit Hitler auf ähnliche Weise wie mit dem Kaiser identifizierte oder sich -— wie auch schon im Kaiserreich möglich — vom Politischen ganz fernhielt. Ebenso wie wir davon ausgehen können, daß die Jugend des „Dritten Reiches" gerne an die ihnen suggerierte politische Macht glaubte, können wir an- 231
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Kehren wir <strong>zu</strong> Frau Schild <strong>zu</strong>rück, die das <strong>Krieg</strong>sende zwar als demütigend<br />
empfand, doch in keine ideologische Orientierungskrise geriet. Da ihr Ehemann<br />
we<strong>der</strong> eingezogen war noch in Gefangenschan <strong>kam</strong>, waren auch darüber<br />
hinaus <strong>mit</strong> dem Jahr 1945 keine biographischen Brüche für sie verbunden.<br />
Ganz an<strong>der</strong>s verhalt es s<strong>ich</strong> bei Frau Borke, die 1945 in eine Lebenskrise geriet,<br />
die sie bis <strong>zu</strong>m heutigen läge n<strong>ich</strong>t überwinden konnte. Sie lebte in labilem<br />
Gle<strong>ich</strong>gew<strong>ich</strong>t, ohne den Gewinn einer neuen Zukunft, weiter. Frau Borke <strong>hatte</strong><br />
s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus identifiziert, und <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong> war für sie <strong>mit</strong><br />
dem Ziel <strong>der</strong> Zurückgewinnung Lettlands, ihrer Heimat, verbunden. Vermutl<strong>ich</strong><br />
<strong>hatte</strong> sie schon vor 1939 auf den Anschluß Lettlands an das Deutsche Re<strong>ich</strong><br />
gehofft; <strong>mit</strong> <strong>Krieg</strong>sbeginn war es für sie s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> erklärtes <strong>Krieg</strong>sziel. Μ .a.W.,<br />
sie identifizierte s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> auch von den Nationalsozialisten propagierten<br />
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also durchaus eine politische Bedeutung. Entsprechend entpolitisiert sie<br />
den <strong>Krieg</strong> auch n<strong>ich</strong>t explizit, son<strong>der</strong>n versucht nur, ihr eigenes politisches Engagement<br />
<strong>zu</strong> verschleiern bzw. es auf eine deutsch-nationale Gesinnung <strong>zu</strong> reduzieren.<br />
Sie vermeidet auch, was für eine Vertriebene beson<strong>der</strong>s auffällig ist,<br />
eine Reflexion <strong>der</strong> NS-<strong>Krieg</strong>spolitik. Für diese Frau, die so viel Energie darauf<br />
verwenden muß, s<strong>ich</strong> „<strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>halten", ist ein Nachdenken über den<br />
<strong>Krieg</strong>sverlauf und ihr eigenes Engagement für die nationalsozialistische Politik<br />
<strong>zu</strong> bedrohl<strong>ich</strong>. Um ihr labües psychisches Gle<strong>ich</strong>gew<strong>ich</strong>t n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> gefährden,<br />
muß sie Gedanken darüber von s<strong>ich</strong> weisen, inwiefern die von ihr befürwortete<br />
NS-Politik anstelle des erwünschten Anschlusses Lettlands an das deutsche<br />
Re<strong>ich</strong> schon 1939 <strong>zu</strong>m Verlust ihrer Heimat führte. Da sie s<strong>ich</strong> aufgrund ihres<br />
politischen Engagements in den historischen Verlauf <strong>der</strong> Vertreibung viel verstrickter<br />
fühlt als Herr Vogel, leidet sie auch viel stärker darunter. Zwar gewannen<br />
we<strong>der</strong> Frau Borke noch <strong>der</strong> Vertriebene unseres Samples, Herr Vogel, nach<br />
dem Verlust <strong>der</strong> Heimat keine neue Zukunft, doch blieb Herrn Vogel immerhin<br />
die Erinnerung an eine ungetrübte Vergangenheit. Während er weiterhin in Erinnerung<br />
an die „gute alte Zeit" leben konnte, wurde für Frau Borke ja gerade<br />
ihre Vergangenheit fragwürdig und ein Rückblick <strong>zu</strong> bedrohl<strong>ich</strong> 8 .<br />
Die Reparatur <strong>der</strong> fragwürdig gewordenen Vergangenheit. Anhand unserer<br />
Fallanalysen konnten wir aufzeigen, daß die Frauen wie die Männer dieser<br />
Studie in unterschiedl<strong>ich</strong>er Art und Weise versuchen, ihr Leben während des<br />
„Dritten Re<strong>ich</strong>es" so weit wie mögl<strong>ich</strong> aus dem politischen Rahmen des NS-<br />
Systems <strong>zu</strong> lösen. Mit unterschiedl<strong>ich</strong>en Strategien gelingt es ihnen auch, den<br />
Zweiten Weltkrieg n<strong>ich</strong>t im Zusammenhang <strong>mit</strong> dem NS <strong>zu</strong> sehen. Jürgen Habermas<br />
spr<strong>ich</strong>t vom Wunsch nach uneingerahmter Erinnerung aus <strong>der</strong> Veteranenperspektive,<br />
dem „Wunsch, das subjektive Erleben <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>szeit aus jenem<br />
Rahmen heraus<strong>zu</strong>lösen, <strong>der</strong> retrospektiv alles <strong>mit</strong> einer an<strong>der</strong>en Bedeutung<br />
versehen mußte" (1987: 246).<br />
Betrachten wir im folgenden noch einmal detailliert, <strong>mit</strong> welchen biographischen<br />
Strategien und Argumenten es den Zeitzeugen gelingt, die fragwür-<br />
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