"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc
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Gabriele<br />
Rosenthal<br />
4.3 Das Enthüllungsverbot fur erlebte NS-Verbrechen<br />
Mindestens zwei unserer männl<strong>ich</strong>en Befragten, Dieter Acka und Walter<br />
Langenbach, waren Zeugen von Massenerschießungen während des Zweiten<br />
Weltkrieges. Während des Gesprächs wurde ihre Zeugenschaft von den Interviewern<br />
bemerkenswerterweise n<strong>ich</strong>t direkt erkannt; erst die Textanalyse <strong>der</strong><br />
Interviews brachte dies <strong>zu</strong>tage. Bei beiden Männern bleibt die erzählte Realität<br />
<strong>mehr</strong>deutig. Inwieweit sie in die Verbrechen verstrickt waren, inwiefern<br />
Dieter Acka an Massenerschießungen in <strong>der</strong> Sowjetunion teilgenommen hat<br />
und inwiefern Walter Langenbach in die Geiselerschießungen in Jugoslawien<br />
verwickelt war, bleibt im Dunkeln. Offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> ist, daß diese Männer s<strong>ich</strong><br />
in ihren Aussagen wi<strong>der</strong>sprechen. Dem Schritt in <strong>der</strong> Enthüllung nach vorne<br />
folgen sogle<strong>ich</strong> zwei Schritte <strong>zu</strong>rück. Erinnern wir uns beispielsweise an Walter<br />
Langenbach. Er offenbart im zweiten Interview: „Ich habe Massenerschießungen<br />
gesehen, n<strong>ich</strong>t <strong>mit</strong>gemacht." Danach gefragt, was er „gesehen"<br />
habe, nimmt er seine Äußerung <strong>zu</strong>rück: Er habe sie n<strong>ich</strong>t selbst gesehen,<br />
son<strong>der</strong>n habe von den Erschießungen nur erzählt bekommen. Doch lassen wir<br />
die Frage nach dem Ausmaß <strong>der</strong> Beteiligung dieser beiden Männer dahingestellt.<br />
Viel interessanter ist das Phänomen, daß einerseits die Zeugen <strong>der</strong> NS-<br />
Verbrechen nur <strong>zu</strong> Teilenthüllungen in <strong>der</strong> Lage waren und daß an<strong>der</strong>erseits<br />
diese Teile von den Zuhörern n<strong>ich</strong>t einmal in ihrer Bedeutung erkannt wurden.<br />
Dieses Phänomen beschränkt s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t nur auf die beiden Gespräche,<br />
n<strong>ich</strong>t nur auf diese beiden Zeitzeugen und die vier jungen Interviewer und Interviewerinnen,<br />
die schon <strong>zu</strong>r Generation <strong>der</strong> Enkel gehören. Es ist ein Phänomen,<br />
das in <strong>der</strong> Interaktion zwischen Angehörigen aller Generationen und<br />
zwischen den unterschiedl<strong>ich</strong>sten Zeugen auftritt. Alle Menschen, die <strong>zu</strong> jener<br />
Zeit gelebt haben, waren Zeugen <strong>der</strong> Verfolgungspolitik des „Dritten Re<strong>ich</strong>es".<br />
Sie waren zwar n<strong>ich</strong>t alle in demselben Ausmaß wie Dieter Acka und<br />
Walter Langenbach da<strong>mit</strong> konfrontiert, doch sie erlebten alle den „alltägl<strong>ich</strong>en"<br />
Terror des Nationalsozialismus. Wenn die Zeitzeugen immer wie<strong>der</strong><br />
beteuern, sie hätten „von n<strong>ich</strong>ts gewußt", meinen sie da<strong>mit</strong> meist nur den fabrikationsmäßigen<br />
Massenmord in den Konzentrationslagern und blenden da<strong>mit</strong><br />
den un<strong>mit</strong>telbar erlebten Terror gegen die vom NS verfolgten Menschen<br />
und Bevölkerungsgruppen aus.<br />
Im folgenden will <strong>ich</strong> anhand <strong>der</strong> beiden von uns analysierten Gespräche<br />
versuchen, diesem Phänomen des gemeinsamen Vermeidens einer Konfrontation<br />
<strong>mit</strong> <strong>der</strong> ganzen Realität <strong>der</strong> Vergangenheit, diesem Phänomen <strong>der</strong> interaktiven<br />
Herstellung eines grauen Schleiers <strong>zu</strong>r Verhüllung <strong>der</strong> Vergangenheit auf<br />
die Spur <strong>zu</strong> kommen.<br />
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