"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc
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dauernde soziale, gesamtgesellschaftliche Krise dar, deren zeitliche und räumliche Ausdehnung ungewiß war. Die NS-Propaganda versuchte zwar, der deutschen Bevölkerung die Kalkulierbarkeit des Kriegsverlaufs und insbesondere die räumliche Festlegung auf Gebiete außerhalb des Reichsgebiets glaubhaft zu machen, doch erwiesen sich diese ideologischen Orientierungen spätestens seit den beginnenden Luftangriffen auf das Reichsgebiet, nach der Niederlage in Afrika und in Stalingrad, für die deutsche Bevölkerung zunehmend als unglaubwürdig. Der Krieg zog sich in die Länge, breitete sich auf das Reichsgebiet aus, und selbst ein individueller Rückzug im Sinne eines „Nicht-Mehr-Mitkämpfens 44 war nur noch unter Gefahr einer standrechtlichen Erschießung möglich. Über die Mittel, diesen Krieg zu beenden, verfügten nur die Weisungsbefugten der Wehrmacht und der NSDAP bzw. der „Führer 44 Adolf Hitler selbst. Die Angehörigen der „Gefolgschaft 44 — ob nun freiwillig oder erzwungenermaßen dabei — waren diesem Geschehen, dieser deutschen Kriegsführung eines „totalen Krieges 44 und ihren Folgen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert. In zunehmendem Maße verschlechterte sich die Versorgungslage, Verkehrssysteme brachen allmählich zusammen, Ausgebombte wurden obdachlos, viele Menschen waren tagtäglich mit dem Sterben anderer Menschen konfrontiert und der Gefahr des eigenen Todes ausgesetzt. Spätestens mit den Bombenangriffen oder dem Einzug zur Wehrmacht wirkten sich die politischen Verhältnisse, die sich so viele der „Mitläufer 44 und „inneren Emigranten 44 vom Leibe halten wollten, auch direkt spürbar auf das einzelne „private 4 * Leben aus. War es bis dahin möglich, so zu leben, als hätte man mit dem politischen Geschehen nichts zu tun, als könnte man in Ruhe sein Leben führen, so wurde diese Gewißheit mit den Auswirkungen des Krieges auf den unmittelbaren Lebensalltag erschüttert. Damit war auch verbunden, daß sich die Zeitzeugen zumindest in Ansätzen fragen mußten, welchen Sinn dieser spürbare Einbruch „äußerer 44 Verhältnisse in ihr Leben hatte. Sowohl auf der konkreten handlungspraktischen Ebene des Alltags wie auch auf der Ebene des politischen Bewußtseins löste die soziale Krise dieses Krieges auch bei den einzelnen Subjekten Krisen aus. Vergegenwärtigt man sich die Situation und insbesondere die Grenzerfahrung der Konfrontation mit dem möglichen eigenen Tod, in der sich die Antizipation der Zukunft, die Hoffnungen und Wünsche nur noch auf die Frage des nackten Überlebens oder des Sterbens reduzierten, muß man sich fragen: Wie war die Normalisierung dieses krisenhaften Alltags im Sinne eines reibungslosen Weiterfunktionierens überhaupt noch möglich? In einem Zeitalter und in einer Gesellschaft, in der der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod recht brüchig geworden ist, könnte man sich gedankenexperimentell ja vorstellen, daß mit dem Auftreten ständiger Todesgefahr die Menschen in Untätigkeit verharren, da alles Tätige auf eine ungewisse Zukunft verweist. 12
Es muß also beim Auftreten von subjektiven Krisen, bei denen es zu Stockungen der lebensweltlichen Idealisierungen des „Ich kann immer wieder" und „Es geht weiter wie bisher" (Hussen 1929, Pär.74: 167) kommt, Möglichkeiten für das Subjekt geben, diesen handelnd zu begegnen. Es muß Strategien geben, die der Aufrechterhaltung einer bedrohten Normalität — im Sinne eines nicht stockenden „Flusses der Gewohnheiten", wie es William I. Thomas (1909) formuliert — dienen und die das Krisenhafte aus dem Horizont des Thematischen verdrängen. Karl Jaspers (1971:250) beschreibt dieses „Dethematisieren" wie folgt: „Man weicht dem Leiden aus: bei sich, indem man Fakta nicht auffaßt, nicht verarbeitet, nicht durcherlebt; indem man seinen Horizont enghält; bei anderen, indem man sich fernhält, sich rechtzeitig zurückzieht, wo das Leiden unheilbar wird " Wie ist dieses Fernhalten des Leidens möglich? Hier wird zunächst zu fragen sein, welche unterschiedlichen Formen von Leiden, von Krisen es gibt. Im folgenden werden ideologische Krisen, die bei den späteren Analysen einzelner Biographien diskutiert werden, unberücksichtigt bleiben. Im Zusammenhang der konkreten Auswirkungen des Krieges auf den Lebensalltag der Menschen lassen sich Krisen danach unterscheiden, ob sie durch die Durchbrechung der Idealisierung der Wiederholbarkeit alltäglicher Routinen oder der Idealisierung der Kontinuität des Lebens (Fischer 1982; 1984) oder der Idealisierung der Realisierbarkeit biographischer Entwürfe auftreten. Die Durchbrechung der Idealisierung der Wiederholbarkeit alltäglicher Routinen bedeutet, daß man nicht mehr davon ausgehen kann, daß morgen die Routinehandlungen des Heute noch möglich sein werden. Bei feindlichen Angriffen war für jeden Miterlebenden die Aufrechterhaltung alltäglicher Routinen infrage gestellt. Bei Bombenangriffen wußte man z.B. nicht, ob danach der Strom noch funktionierte, ob es noch Wasser gab oder ob die Wohnung nach dem Angriff noch bewohnbar war. Darüber hinaus konnte weder vorausgesagt werden, wann Angriffe stattfanden, noch konnten diese verhindert werden. Auch feindliche Attacken an der Front waren nicht immer vorhersehbar. Der Soldat wußte nicht, ob er seine gerade begonnene Mahlzeit würde beenden oder die Nacht würde schlafen können, ob seine Briefe den Empfanger erreichen würden und wann er die Gefechtsstellung wieder würde verlassen können. Die Durchbrechung der iterativen Struktur der Alltagszeit kann — entsprechend den empirischen Befunden der Analyse von Lebensgeschichten chronisch Kranker von Wolfram Fischer (1982; 1985) — mit der Einklammerung dieses unbestimmbaren Alltags und mit der Entwicklung von anderen regelmäßigen Routinehandlungen „repariert" werden. Das „so-tun-als-ob" nichts Unerwartetes eintreffen wird, äußert sich in der Grundhaltung, nicht an morgen zu denken und statt dessen von Tag zu Tag zu leben. Diese Strategie, die 13
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Es muß also beim Auftreten von subjektiven Krisen, bei denen es <strong>zu</strong><br />
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und „Es geht weiter wie bisher" (Hussen 1929, Pär.74: 167) kommt,<br />
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Strategien geben, die <strong>der</strong> Aufrechterhaltung einer bedrohten Normalität — im<br />
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Thomas (1909) formuliert — dienen und die das Krisenhafte aus dem Horizont<br />
des Thematischen verdrängen. Karl Jaspers (1971:250) beschreibt dieses<br />
„Dethematisieren" wie folgt:<br />
„Man we<strong>ich</strong>t dem Leiden aus: bei s<strong>ich</strong>, indem man Fakta n<strong>ich</strong>t auffaßt, n<strong>ich</strong>t verarbeitet, n<strong>ich</strong>t<br />
durcherlebt; indem man seinen Horizont enghält; bei an<strong>der</strong>en, indem man s<strong>ich</strong> fernhält, s<strong>ich</strong><br />
rechtzeitig <strong>zu</strong>rückzieht, wo das Leiden unheilbar wird "<br />
Wie ist dieses Fernhalten des Leidens mögl<strong>ich</strong>? Hier wird <strong>zu</strong>nächst <strong>zu</strong> fragen<br />
sein, welche unterschiedl<strong>ich</strong>en Formen von Leiden, von Krisen es gibt.<br />
Im folgenden werden ideologische Krisen, die bei den späteren Analysen einzelner<br />
Biographien diskutiert werden, unberücks<strong>ich</strong>tigt bleiben.<br />
Im Zusammenhang <strong>der</strong> konkreten Auswirkungen des <strong>Krieg</strong>es auf den Lebensalltag<br />
<strong>der</strong> Menschen lassen s<strong>ich</strong> Krisen danach unterscheiden, ob sie<br />
durch die Durchbrechung <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holbarkeit alltägl<strong>ich</strong>er<br />
Routinen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Kontinuität des Lebens (Fischer 1982;<br />
1984) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Realisierbarkeit biographischer Entwürfe<br />
auftreten.<br />
Die Durchbrechung <strong>der</strong> Idealisierung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holbarkeit alltägl<strong>ich</strong>er<br />
Routinen bedeutet, daß man n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> davon ausgehen kann, daß morgen die<br />
Routinehandlungen des Heute noch mögl<strong>ich</strong> sein werden. Bei feindl<strong>ich</strong>en Angriffen<br />
war für jeden Miterlebenden die Aufrechterhaltung alltägl<strong>ich</strong>er Routinen<br />
infrage gestellt. Bei Bombenangriffen wußte man z.B. n<strong>ich</strong>t, ob danach<br />
<strong>der</strong> Strom noch funktionierte, ob es noch Wasser gab o<strong>der</strong> ob die Wohnung<br />
nach dem Angriff noch bewohnbar war. Darüber hinaus konnte we<strong>der</strong> vorausgesagt<br />
werden, wann Angriffe stattfanden, noch konnten diese verhin<strong>der</strong>t werden.<br />
Auch feindl<strong>ich</strong>e Attacken an <strong>der</strong> Front waren n<strong>ich</strong>t immer vorhersehbar.<br />
Der Soldat wußte n<strong>ich</strong>t, ob er seine gerade begonnene Mahlzeit würde beenden<br />
o<strong>der</strong> die Nacht würde schlafen können, ob seine Briefe den Empfanger erre<strong>ich</strong>en<br />
würden und wann er die Gefechtsstellung wie<strong>der</strong> würde verlassen<br />
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Die Durchbrechung <strong>der</strong> iterativen Struktur <strong>der</strong> Alltagszeit kann — entsprechend<br />
den empirischen Befunden <strong>der</strong> Analyse von Lebensgesch<strong>ich</strong>ten chronisch<br />
Kranker von Wolfram Fischer (1982; 1985) — <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Einklammerung<br />
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Routinehandlungen „repariert" werden. Das „so-tun-als-ob" n<strong>ich</strong>ts<br />
Unerwartetes eintreffen wird, äußert s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Grundhaltung, n<strong>ich</strong>t an morgen<br />
<strong>zu</strong> denken und statt dessen von Tag <strong>zu</strong> Tag <strong>zu</strong> leben. Diese Strategie, die<br />
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