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"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc

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Von seiner Tochter wissen wir, daß Herrn Vogel ein berufl<strong>ich</strong>es Fußfassen in<br />

<strong>der</strong> Bundesrepublik nie <strong>mehr</strong> gelungen ist. Er hat bis <strong>zu</strong>r Verrentung als einfacher<br />

Arbeiter bei <strong>der</strong> Stadtverwaltung gearbeitet.<br />

Herr Vogel fahrt in seiner Lebensgesch<strong>ich</strong>te <strong>mit</strong> dem Tod seiner Ehefrau fort.<br />

Zu diesem Zeitpunkt war er schon seit 12 Jahren Rentner. Ausfuhrl<strong>ich</strong> erzählt<br />

er, wie seine Frau 1975 eines Abends ganz unerwartet und plötzl<strong>ich</strong> neben ihm<br />

im Bett an einem Herzschlag starb. Er erzählt auch ausfuhrl<strong>ich</strong> über die Zeit<br />

nach ihrem Tod bis <strong>zu</strong> seiner Einlieferung ins Krankenhaus. In den letzten Jahren<br />

lebte er <strong>mit</strong> einer „Bekannten" <strong>zu</strong>sammen, die auch aus Schlesien stammt.<br />

Die Krankenhauseinlieferung repräsentiert für ihn einen neuerl<strong>ich</strong>en Wendepunkt,<br />

den er wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong> einer Gesch<strong>ich</strong>te darstellt. Er erzählt, wie er seine Bekannte,<br />

die s<strong>ich</strong> seiner Meinung nach n<strong>ich</strong>t gut allein versorgen konnte, <strong>zu</strong>r<br />

Rückkehr <strong>zu</strong> ihrer Familie überredet habe. Er wird vermutl<strong>ich</strong> geahnt haben,<br />

daß er <strong>zu</strong> seinem vor <strong>der</strong> Einlieferung geführten Leben n<strong>ich</strong>t <strong>mehr</strong> würde <strong>zu</strong>rückkehren<br />

können.<br />

Herrn Vogel gelingt es, <strong>mit</strong> dem Überspringen <strong>der</strong> Lebensphase zwischen<br />

1946 und 1975 das eigentl<strong>ich</strong> Problematische seines Lebens, seine Entwurzelung<br />

und seinen sozialen Abstieg, aus<strong>zu</strong>blenden. We<strong>der</strong> erzählt er von den Wendepunkten<br />

— selbst die Verrentung bleibt unerwähnt —, noch argumentiert er<br />

im Zusammenhang <strong>mit</strong> seinem ausgebliebenen berufl<strong>ich</strong>en Erfolg. Hier wird<br />

nun deutl<strong>ich</strong>, weshalb die Frage nach <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sschuld für ihn so virulent blieb,<br />

weshalb er s<strong>ich</strong> heute noch so darüber aufregt. Er hat s<strong>ich</strong> in <strong>der</strong> Beschäftigung<br />

<strong>mit</strong> seinem Lebensproblem, dem sozialen Abstieg vom erfolgre<strong>ich</strong>en Unternehmer<br />

<strong>zu</strong>m unbedeutenden Arbeiter, völlig auf den <strong>Krieg</strong>sverlauf und da<strong>mit</strong><br />

den Verlust <strong>der</strong> deutschen Ostgebiete beschränkt. Indem er beim Thema<br />

<strong>Krieg</strong>sschuld stehenbleibt und hier nach Ursachen des historischen Werdegangs<br />

sucht, vermeidet er, über seinen eigenen biographischen Werdegang nachdenken<br />

<strong>zu</strong> müssen. Da<strong>mit</strong> gelingt es ihm jedoch gerade n<strong>ich</strong>t, seinen Werdegang <strong>zu</strong><br />

akzeptieren und s<strong>ich</strong> <strong>zu</strong><strong>zu</strong>gestehen, daß man <strong>mit</strong> 47 Jahren berufl<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t noch<br />

einmal da anfangen kann, wo man 1919 nach <strong>der</strong> Rückkehr aus dem Ersten<br />

Weltkrieg angefangen <strong>hatte</strong>.<br />

Zusammenfassend können wir festhalten, daß die entscheidende biographische<br />

Verän<strong>der</strong>ung für Herrn Vogel seine Vertreibung 1946 war. Dieser Wendepunkt<br />

repräsentiert für ihn die Gegenwartsschwelle, von <strong>der</strong> aus er auf die Vergangenheit<br />

vor dieser Schwelle <strong>zu</strong>rückschaut, von <strong>der</strong> aus er aber auch die <strong>zu</strong>künftige<br />

Gegenwart betrachtet. Die nach <strong>der</strong> Vertreibung n<strong>ich</strong>t geglückte berufl<strong>ich</strong>e<br />

Karriere mißt er an dem berufl<strong>ich</strong>en Leben vor <strong>der</strong> Vertreibung. Da es ihm<br />

n<strong>ich</strong>t gelang, wie<strong>der</strong> ein neues Leben auf<strong>zu</strong>bauen, ob nun materiell o<strong>der</strong> ideell,<br />

liegt seine zentrale Lebensperspektive in seiner erfolgre<strong>ich</strong>en Zeit in Schlesien.<br />

Während Sterbende häufig ihre zentrale Lebensperspektive in die Vergangenheit<br />

verschieben, da sie keine Zukunft <strong>mehr</strong> antizipieren können, beschrankt s<strong>ich</strong><br />

diese Vergangenheit bei Herrn Vogel auf die Zeit vor 1946. Vermutl<strong>ich</strong> lebte Herr<br />

Vogel schon lange, bevor er ans Sterben dachte, in dieser Vergangenheit 1 .<br />

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