"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc

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weisen. Dazu verläßt er sein bisher vorherrschendes Schema, entlang der linearen Abfolge der Ereignisse zu erzählen, und versucht mit einer zeitlichen Rückblende zu belegen, wie unbegründet dieser Verdacht sei. Er erzählt eine Geschichte aus der Zeit vor seinem Einzug zum Volkssturm, die eine ihm drohende Denunziation belegen soll. Er hatte mit einem Bauern aus seinem Heimatdorf einen Disput über den Kriegsausgang geführt und dabei die deutsche Niederlage vorausgesagt. Den Bauern beschimpfte er als „Idioten 44 und prophezeite ihm, daß er noch werde „zugucken müssen, wie se das Vieh aus den Ställen holen 44 . Seine auf diese Erzählung folgenden Argumentationen verdeutlichen, welch erhebliche Probleme er mit der Frage nach der Schuld an der deutschen Niederlage hat. Ausführlich zitiert Herr Vogel seine damaligen Argumente gegenüber dem Bauern; insbesondere die Materialunterlegenheit der Deutschen Wehrmacht machte er für die zu erwartende Niederlage verantwortlich. Bei diesen Zitationen im Interview ereifert er sich sehr und argumentiert lange Strecken über die Schuld an Kriegsausbruch und -verlauf. Es handelt sich hierbei um die längste Sequenz im Interview, in der er in dieser Breite politisiert: „heutzutage wird groß geschrieen Deutschland ist schuld am Krieg, den Krieg haben wir angefangen, das stimmt aber vorbereitet haben ihn die anderen (2) „ (13 /18) Herr Vogel beginnt in seiner Erregtheit, nervös mit dem Mikrophon zu spielen. Ganze Textpassagen sind unverständlich; er echauffiert sich bei seinen Schilderungen über die besonders schwierige politische Situation in Schlesien und benennt aufgebracht den von ihm am meisten verachteten Schuldigen: „Polen drückt schon lange uff Krieg 44 . Weitere Schuldige zählt er auf: „und der Haupt- Kriegsgegner, Kriegstreiber, war ja Churchill und Roosevelt, das warn — Churchill kann ich nich verstehen, daß man den heute (2) Stadt Aachen zum Ehrenbürger ( ) und der hat, und Roosevelt dazu die haben denn gewartet gewartet gewartet und denn haben se sich mit den Russen verbunden (3) warn wir eingezäumt der Krieg, bloß wir waren zu schwach ... (( Fehler des Zweifronten-Krieg und geographische Bestimmung aller Fronten )) .. ja das war, verfehlte Politik von Hitler (3) er wollte zu viel (5) ich war ja nie in der Partei, deshalb wurde ich auch bei den ersten eingezogen ((spielt hektisch mit dem Mikro))" (W/ U) Für Herrn Vogel war das Ausland für den Kriegsausbruch verantwortlich und daher auch schuldig an der deutschen Kapitulation. Man könnte seine Argumentation folgendermaßen paraphrasieren: „Hätte das Ausland den Krieg nicht begonnen, hätte Deutschland ihn auch nicht verloren 44 . Damit kann er die Verantwortung für die deutsche Niederlage wenigstens zum Teil auf das Ausland abschieben und die Deutschen davon freisprechen. Für die verfehlte Politik Hitlers, für dessen Größenwahn, so die Argumentation Oskar Vogels, kann er als fórteiloser ohnehin nicht verantwortlich gemacht werden. Seine Parteilosigkeit führte seiner Meinung nach zu seinen Einberufungen zu Wehrmacht und Volkssturm. Damit wurde er zum Opfer dieses Deutschland aufgezwungenen Krieges. Sich selbst als Opfer dieser Zeit zu begreifen und gleichzeitig das Schicksal 158

der eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus nicht zu thematisieren ist ein Verarbeitungsmuster, das Herr Vogel mit vielen Zeitzeugen des „Dritten Reiches" teilt. Fallspezifisch und damit fur die weitere Auslegung relevant, ist der von ihm betriebene Argumentationsaufwand, seine Erregtheit bei diesem Thema und sein Wechsel im Darstellungsmodus vom chronologischen Erzählen zur Argumentation. Er hat im Interview zu keinem anderen historischen Ereigniss derart politisierend Stellung bezogen. Weder hat er die politischen Hintergründe des Ersten Weltkrieges thematisiert, noch hat er über andere historische Ereignisse viel berichtet, schon gar nicht ohne explizite Nachfrage der Interviewerinnen. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in erster Linie in den biographischen Konsequenzen der deutschen Niederlage von 1945 für Herrn Vogel. So überrascht auch nicht, daß er sich nach weiteren Argumenten, die den oben zitierten in ihrer Aussage ähneln, zum ersten Mal im Gespräch explizit als Vertriebener einführt. Daraufhin forderte ich ihn zur Erzählung über die Vertreibung auf, ließ mich damit auf seine Relevanzen ein und versäumte, ihn zu bitten, bei seinem Einzug zur Wehrmacht 1945 fortzufahren. 5.2.7 Die Gegenwartsschwelle: Vertreibung aus der Heimat Auf die Bitte der Interviewerin, die Geschichte seiner Vertreibung zu erzählen, gibt Herr Vogel kurz die Information, daß er, aus sowjetischer Gefangenschaft entlassen, im Dezember 1945 nach Schlesien zurückgekehrt sei. Darauf beginnt er mit der lakonischen Bemerkung: „die Ftolacken hatten sich schon festgesetzt", sehr detailliert über den Zustand seines Hauses und den Verbleib seines Mobiliars zu berichten. Seine besten Möbel seien von der sowjetischen Kommandantur, die sich im Nachbarhaus einquartiert hatte, konfisziert und mittlerweile von der polnischen Verwaltung, die jetzt in diesem Haus residierte, übernommen worden. Herr Vogel setzte alles daran, sein Haus wieder in Ordnung zu bringen und dachte zunächst nicht an Umsiedlung. Obwohl die Ausweisung der deutschen Bevölkerung schon im Juni 1945 begonnen hatte, hoffte er auf ein Bleiben und auf ein Schlesien unter deutscher Regierung. Er verdingte sich nach seiner Rückkehr bei der polnischen Verwaltung als Waldarbeiter; vielleicht stärkte ihn dies in seiner Hoffnung, da Facharbeiter bestimmter Industriezweige zunächst nicht ausgewiesen wurden. Seine Tochter erzählte mir, daß sie und ihre Mutter Tag für Tag die Ausweisung herbeigesehnt hätten, während ihr Vater immer habe bleiben wollen. Der "Väter habe in seiner „Dickköpfigkeit" daran geglaubt, daß sich die „Verhältnisse wieder beruhigen" würden. Doch das Gegenteil trat ein, sein Eigentum wurde konfisziert und sein Haus einer polnischen Familie übereignet: „kommt eine Baiin mit vier Kindern (2) und da sagt se, war=das einzige=was=se=deutsch==konnte (1) du Chef? μ, jetzt ich Chef, alles alles meine (2) clutscha, Schlüssel (1) wenn die Miliz nich dabei gewesen wäre ich hätte se zusammengeschlagen, geschlagen und rausjeschmissen ((sehr aggressiv und auffallend stark im schlesischen Tonfall)) (2) ja die Kriegsschäden waren ein paar Ein- 159

<strong>der</strong> eigentl<strong>ich</strong>en Opfer des Nationalsozialismus n<strong>ich</strong>t <strong>zu</strong> thematisieren ist ein<br />

Verarbeitungsmuster, das Herr Vogel <strong>mit</strong> vielen Zeitzeugen des „Dritten Re<strong>ich</strong>es"<br />

teilt. Fallspezifisch und da<strong>mit</strong> fur die weitere Auslegung relevant, ist <strong>der</strong><br />

von ihm betriebene Argumentationsaufwand, seine Erregtheit bei diesem<br />

Thema und sein Wechsel im Darstellungsmodus vom chronologischen Erzählen<br />

<strong>zu</strong>r Argumentation. Er hat im Interview <strong>zu</strong> keinem an<strong>der</strong>en historischen Ereigniss<br />

<strong>der</strong>art politisierend Stellung bezogen. We<strong>der</strong> hat er die politischen Hintergründe<br />

des Ersten Weltkrieges thematisiert, noch hat er über an<strong>der</strong>e historische<br />

Ereignisse viel ber<strong>ich</strong>tet, schon gar n<strong>ich</strong>t ohne explizite Nachfrage <strong>der</strong> Interviewerinnen.<br />

Der Schlüssel <strong>zu</strong>m Verständnis liegt in erster Linie in den biographischen<br />

Konsequenzen <strong>der</strong> deutschen Nie<strong>der</strong>lage von 1945 für Herrn Vogel. So<br />

überrascht auch n<strong>ich</strong>t, daß er s<strong>ich</strong> nach weiteren Argumenten, die den oben zitierten<br />

in ihrer Aussage ähneln, <strong>zu</strong>m ersten Mal im Gespräch explizit als Vertriebener<br />

einführt. Daraufhin for<strong>der</strong>te <strong>ich</strong> ihn <strong>zu</strong>r Erzählung über die Vertreibung<br />

auf, ließ m<strong>ich</strong> da<strong>mit</strong> auf seine Relevanzen ein und versäumte, ihn <strong>zu</strong> bitten,<br />

bei seinem Ein<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Wehrmacht 1945 fort<strong>zu</strong>fahren.<br />

5.2.7 Die Gegenwartsschwelle: Vertreibung aus <strong>der</strong> Heimat<br />

Auf die Bitte <strong>der</strong> Interviewerin, die Gesch<strong>ich</strong>te seiner Vertreibung <strong>zu</strong> erzählen,<br />

gibt Herr Vogel kurz die Information, daß er, aus sowjetischer Gefangenschaft<br />

entlassen, im Dezember 1945 nach Schlesien <strong>zu</strong>rückgekehrt sei. Darauf beginnt<br />

er <strong>mit</strong> <strong>der</strong> lakonischen Bemerkung: „die Ftolacken <strong>hatte</strong>n s<strong>ich</strong> schon festgesetzt",<br />

sehr detailliert über den Zustand seines Hauses und den Verbleib seines<br />

Mobiliars <strong>zu</strong> ber<strong>ich</strong>ten. Seine besten Möbel seien von <strong>der</strong> sowjetischen Kommandantur,<br />

die s<strong>ich</strong> im Nachbarhaus einquartiert <strong>hatte</strong>, konfisziert und <strong>mit</strong>tlerweile<br />

von <strong>der</strong> polnischen Verwaltung, die jetzt in diesem Haus residierte, übernommen<br />

worden. Herr Vogel setzte alles daran, sein Haus wie<strong>der</strong> in Ordnung<br />

<strong>zu</strong> bringen und dachte <strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t an Umsiedlung. Obwohl die Ausweisung<br />

<strong>der</strong> deutschen Bevölkerung schon im Juni 1945 begonnen <strong>hatte</strong>, hoffte er auf ein<br />

Bleiben und auf ein Schlesien unter deutscher Regierung. Er verdingte s<strong>ich</strong><br />

nach seiner Rückkehr bei <strong>der</strong> polnischen Verwaltung als Waldarbeiter; vielle<strong>ich</strong>t<br />

stärkte ihn dies in seiner Hoffnung, da Facharbeiter bestimmter Industriezweige<br />

<strong>zu</strong>nächst n<strong>ich</strong>t ausgewiesen wurden. Seine Tochter erzählte mir, daß sie<br />

und ihre Mutter Tag für Tag die Ausweisung herbeigesehnt hätten, während ihr<br />

Vater immer habe bleiben wollen. Der "Väter habe in seiner „Dickköpfigkeit"<br />

daran geglaubt, daß s<strong>ich</strong> die „Verhältnisse wie<strong>der</strong> beruhigen" würden. Doch<br />

das Gegenteil trat ein, sein Eigentum wurde konfisziert und sein Haus einer polnischen<br />

Familie übereignet:<br />

„kommt eine Baiin <strong>mit</strong> vier Kin<strong>der</strong>n (2) und da sagt se, war=das einzige=was=se=deutsch==konnte<br />

(1) du Chef? μ, jetzt <strong>ich</strong> Chef, alles alles meine (2) clutscha, Schlüssel (1) wenn die Miliz<br />

n<strong>ich</strong> dabei gewesen wäre <strong>ich</strong> hätte se <strong>zu</strong>sammengeschlagen, geschlagen und rausjeschmissen ((sehr<br />

aggressiv und auffallend stark im schlesischen Tonfall)) (2) ja die <strong>Krieg</strong>sschäden waren ein paar Ein-<br />

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