"Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun" - goedoc

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ihrer eigenen historischen Verankerung entfliehen zu können, indem sie sich in Parteien und Arbeitskreisen mit theoretischen Faschismusanalysen beschäftigten und sich zugleich auf die Erforschung des Widerstands im „Dritten Reich' 4 konzentrierten. Man durchforstete die eigene Familie nach Angehörigen, die zum Widerstand gehört hatten, und ansonsten verhalf man der Familie zum Schweigen. Indem man sie pauschal anklagte und Erzählungen über das durchlebte Leid blockierte, konnte man über die Generation der Eltern und über sich selbst kaum etwas erfahren. Für die Zeitzeugen selbst wie für deren Kinder kann jedoch der Weg einer Vergangenheitsbewältigung nicht über eine vom eigenen Schicksal losgelöste Reflexion historischer Prozesse bzw. über die Beschäftigung mit dem Schicksal anderer Menschen führen, sondern muß bei der Thematisierung der eigenen bzw. familialen Vergangenheit ansetzen. Zu dieser Vergangenheit, zu den für die einzelnen biographisch relevanten Erlebnissen und Erfahrungen, gehört auch das subjektive Leiden unter Krieg, Gefangenschaft und Vertreibung. Dialektisch gewendet, liegt also in der Diskussion über den Nationalsozialismus, die in der Öffentlichkeit geführt wird, nicht nur die Gefahr einer Rechtfertigung und Verharmlosung der NS-Verbrechen, sondern auch die Chance, über die Thematisierung des eigenen Leids einen Trauerprozeß auszulösen, durch den die Zeitzeugen erst zur Empathie mit den Verfolgten des NS fähig werden könnten. Erzählen Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges ihre gesamte Lebensgeschichte, so nehmen Einzelgeschichten über diese historische Zeitspanne meist einen breiten Raum ein (vgl. Lehmann 1982: 71 f; Tröger 1987: 287). Analysen der Biographien von Angehörigen der Hitlerjugend-Generation (vgl. Rosenthal 1986; 1987b) zeigen sehr deutlich, daß dieser quantitativen Beobachtung an erzählten Biographien eine qualitative Bedeutung entspricht: Die biographische Bedeutung der Kriegsjahre hat auch noch aus der Gegenwartsperspektive der Erzähler eine hohe Relevanz bei der Gesamtevaluation ihres bisherigen und auch bei der Antizipation ihres zukünftigen Lebens. Die Kriegsjahre und deren Folgen haben sich entscheidend auf den Lebensweg der Zeitzeugen ausgewirkt, und die mit ihnen verbundenen, quälenden Erinnerungen belasten sie bis in die Gegenwart hinein. In den Interviews ist es gerade diese Lebensphase, über die mit der stärksten emotionalen Beteiligung, mit dem höchsten Grad an Intimität erzählt wird und bei der nicht selten geweint wird. Nicht nur in sozial wissenschaftlichen Interviews wird über den Krieg erzählt. Vielmehr treten in den unterschiedlichsten Alltagssituationen biographische Thematisierungen der Kriegserinnerungen auf, insbesondere in kritischen Situationen. So können Zugverspätungen aufgrund von Witterungsverhältnissen Kriegserinnerungen hervorbringen. Darüber hinaus werden gesundheitliche Leiden ebenso wie noch heute bestehende Ernährungsschwierigkeiten auf die Entbehrungen während der Kriegsjahre zurückgeführt. Stellt man als Zuhörerin auch nur eine Frage, erhält man meist eine ausfuhrliche 8

iographische Erzählung. Einige „mhms" — und ein Abend in einem Weinlokal oder eine mehrere Stunden dauernde Zugfahrt füllt sich mit einer biographischen Erzählung über Krieg, Gefangenschaft oder Vertreibung. Aus diesem Erzähl- und Mitteilungsbedürfnis kann allerdings keineswegs geschlossen werden, daß die Zeitzeugen diese Vergangenheit aufgrund eines beim Erzählen immer wieder stattfindenden „Durcharbeitens" — psychoanalytisch formuliert — verarbeitet hätten. Im Gegenteil: Es handelt sich um Erzählungen, bei denen das eigentlich Belastende meist völlig ausgeblendet wird. Da kann ein ehemaliger Soldat der Ostfront über drei Jahre Krieg erzählen, ohne in dieser Erzählung auch nur einen einzigen Sterbenden oder Toten zu erwähnen. Eine Zivilistin kann über die letzten Kriegsmonate in Berlin erzählen, über unzählige Bombenangriffe, über die Kämpfe von Stadtteil zu Stadtteil im April 1945, ohne die eigene Todesangst zu thematisieren oder von den zwischen den Trümmern Gestorbenen oder den an den Laternenpfahlen aufgehängten standrechtlich Verurteilten zu berichten. Zwar schwingt das ehemalige Leid mit und wird auch häufig in weniger belastende Erinnerungen wie materielle Entbehrungen, Hunger und Kälte kanalisiert, oder eine gewisse Trauer ist in den Gesprächen spürbar, doch werden die heute noch belastenden Erinnerungen der eigentlich existentiell bedrohlichen Erlebnisse, die der Konfrontation mit dem Tod, in der Regel nicht erzählt. Sie werden vielmehr meist aus den Erzählungen ausgeblendet bzw. nur in allgemeinen Formulierungen wie: „das kann man ja gar nicht erzählen, so schrecklich war das" angedeutet. Die Biographen berichten zwar, daß sie noch heute von Kriegserinnerungen und -träumen verfolgt werden, doch kommen in ihren Erzählungen Szenen des Schreckens und des Todes kaum vor. Die Erzählungen über Krieg und Nachkriegszeit sind vielmehr von einem Thematisierungstabu für bestimmte Erlebnisse geprägt, und häufig dienen Kriegsanekdoten den Erzählern zur Ablenkung von eigenen schmerzhaften Erinnerungen. Diese Differenz zwischen belastenden Erinnerungen und mangelnder Thematisierung ist nur einer der Hinweise dafür, wie unverarbeitet und damit noch gegenwärtig das erfahrene Leiden ist. Nicht nur haben die Zeitzeugen um ihre 1945 verlorenen Identifikationsobjekte (vgl. Alexander und Margarethe Mitscherlich 1967) nicht trauern können, sie konnten auch nicht ihre schmerzvollen Kriegserlebnisse betrauern. Man kann zwar von der Unüberwindbarkeit existentiell bedrohlicher Erlebnisse ausgehen sowie von einem bei jedem Krieg bestehenden Erzähltabu für das erlittene Leid, doch die Vergangenheitsbewältigung des Zweiten Weltkriegs wird zudem durch etwas Besonderes erschwert, nämlich seine unlösbare Verflechtung mit dem Nationalsozialismus. Dieser Verflechtung versuchen die Zeitzeugen mit unterschiedlichen Argumentationen und Strategien zu entrinnen. Eine der wesentlichsten Strategien ist die der Entpolitisierung des Zweiten Weltkrieges: Dieser sei ein Krieg wie jeder andere gewesen. Die nationalso- 9

ihrer eigenen historischen Verankerung entfliehen <strong>zu</strong> können, indem sie s<strong>ich</strong><br />

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über das durchlebte Leid blockierte, konnte man über die Generation <strong>der</strong> Eltern<br />

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über eine vom eigenen Schicksal losgelöste Reflexion historischer Prozesse<br />

bzw. über die Beschäftigung <strong>mit</strong> dem Schicksal an<strong>der</strong>er Menschen führen,<br />

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ansetzen. Zu dieser Vergangenheit, <strong>zu</strong> den für die einzelnen biographisch<br />

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unter <strong>Krieg</strong>, Gefangenschaft und Vertreibung.<br />

Dialektisch gewendet, liegt also in <strong>der</strong> Diskussion über den Nationalsozialismus,<br />

die in <strong>der</strong> Öffentl<strong>ich</strong>keit geführt wird, n<strong>ich</strong>t nur die Gefahr einer<br />

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Chance, über die Thematisierung des eigenen Leids einen Trauerprozeß aus<strong>zu</strong>lösen,<br />

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Erzählen Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges ihre gesamte Lebensgesch<strong>ich</strong>te,<br />

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meist einen breiten Raum ein (vgl. Lehmann 1982: 71 f; Tröger 1987: 287).<br />

Analysen <strong>der</strong> Biographien von Angehörigen <strong>der</strong> <strong>Hitler</strong>jugend-Generation<br />

(vgl. Rosenthal 1986; 1987b) zeigen sehr deutl<strong>ich</strong>, daß dieser quantitativen<br />

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Die biographische Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Krieg</strong>sjahre hat auch noch aus <strong>der</strong> Gegenwartsperspektive<br />

<strong>der</strong> Erzähler eine hohe Relevanz bei <strong>der</strong> Gesamtevaluation<br />

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<strong>Krieg</strong>sjahre und <strong>der</strong>en Folgen haben s<strong>ich</strong> entscheidend auf den Lebensweg <strong>der</strong><br />

Zeitzeugen ausgewirkt, und die <strong>mit</strong> ihnen verbundenen, quälenden Erinnerungen<br />

belasten sie bis in die Gegenwart hinein. In den Interviews ist es gerade<br />

diese Lebensphase, über die <strong>mit</strong> <strong>der</strong> stärksten emotionalen Beteiligung, <strong>mit</strong><br />

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Leiden ebenso wie noch heute bestehende Ernährungsschwierigkeiten<br />

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