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Sprachsystem und Sprachwandel, Vorlesungshandouts

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Das <strong>Sprachsystem</strong> I.<br />

1. Gibt es überhaupt <strong>Sprachsystem</strong>? Gibt es überhaupt Sprache?<br />

de Saussure: „langue“ (vs. parole)<br />

Chomsky: „Kompetenz“ (vs. Performanz)<br />

negative Antworten: Sprache = Gesamtheit von Idiolekten<br />

vgl. Sprachurteile z.B. Hadd én nézzem! Hadd gondolkodom.<br />

2. Universale Bedingtheit des <strong>Sprachsystem</strong>s<br />

Biologisch-physiologisch bedingte Universalien<br />

Sozial-kommunikativ bedingte Universalien<br />

<strong>und</strong> darüber hinaus?<br />

- angeborene ‚Universalgrammatik’?<br />

- kognitiv bedingte ‚Natürlichkeit’?<br />

2.a. Exkurs: Theorie der Universalgrammatik<br />

S = NP + VP ?<br />

Die Managerassistentin ordnet die Akten.<br />

S<br />

NP<br />

VP<br />

Det N V NP<br />

Det<br />

N<br />

Die Managerassistentin ordnet die Akten<br />

- neuere generative Grammatik: keine universale Satzstruktur, sondern<br />

universale, angeborene Prinzipien der Sprache<br />

- z.B. natürliche Lautklassen: b, d, g<br />

/b/ /d/ /g/<br />

Dieb Rad Verlag<br />

- z.B. formales Subjekt: Es regnet. Formales Objekt gibt es wohl nicht.


Wenn eine Wortgruppe vom Verb des Satzes grammatisch regiert wird,<br />

bekommt sie auch eine thematische Funktion:<br />

Klaus baut sein Haus. Die Fre<strong>und</strong>e helfen ihm.<br />

aber:<br />

Es regnet.<br />

„Es gibt nun aber Universalien, die nicht auf kommunikative oder biologischsoziale<br />

Funktionen zurückgeführt werden können. Und gerade solche sind es,<br />

welche dem Generativisten ein Argument liefern, ein Sprachvermögen zu<br />

postulieren. [...] Die Universalien, welche letztlich auf den Bau des<br />

Sprachvermögens selbst verweisen, sind so tiefliegend, daß wir sie ohne das<br />

entsprechende methodische Bewußtsein überhaupt nicht bemerken können. Es<br />

sind gerade die Prinzipien, die wir nicht lernen müssen.“ (Stechow/Sternefeld<br />

1988: Bausteine syntaktischen Wissens. Düsseldorf. S. 16f.)<br />

2.b. Exkurs: Natürlichkeitstheorie<br />

- unmarkierte (natürliche) vs. markierte Strukturen<br />

Prinzipien für die Natürlichkeit: „konstruktioneller Ikonismus“ + „one meaningone<br />

form“ (Wurzel 1987)<br />

- morphologische Natürlichkeit: unmarkiert sind das Präsens, der Indikativ, der<br />

Nominativ, das Maskulinum, der Singular, der Positiv usw. (Frage: Personen)<br />

- syntaktische Natürlichkeit: unmarkiert ist der Aussagesatz, der<br />

Bestätigungssatz. In einer natürlichen Struktur gehen die Operatoren den<br />

Operanden voran oder stehen sie hinter ihnen. (Bartsch/Vennemann 1982)<br />

2.c. Universal bedingte Variabilität: Die Sprachtypen<br />

- morphologische Variation I. / Ausdruck grammatischer Kategorien des<br />

Wortes: isolierend, flektierend, agglutinierend, inkorporierend<br />

- morphologische Variation II.: synthetisierend vs. analytisierend<br />

- syntaktische Variation I.: SVO, SOV, VSO, VOS, OSV, OVS<br />

- syntaktische Variation II.: rezeptiv vs. emissiv<br />

- phonetische Variation: Druckakzentsprachen vs. Tonakzentsprachen usw.<br />

3. Das einzelsprachliche <strong>Sprachsystem</strong><br />

- Coseriu: „historische Einzelsprache“<br />

- idiosynkratisch / System von Idiosynkrasien


Sprachnorm<br />

<strong>Sprachsystem</strong><br />

Sprachtypus<br />

Sprachtypus: Gesamtheit abstrakter Gr<strong>und</strong>prinzipien, die den Aufbau des<br />

<strong>Sprachsystem</strong>s beeinflussen<br />

z.B. Deutsch: zyklischer Sprachaufbau im Gegensatz zum linearen Aufbau der<br />

meisten anderen Sprachen (vgl. Weinrich 1993):<br />

Dt. Ein Käfig ging einen Vogel suchen. → Ein Käfig ging in tiefer Verzweiflung<br />

über seine Leere einen bunten Vogel suchen.<br />

Engl. the time → the very good old time; dt. die Zeit → die im Vergleich mit der<br />

Gegenwart immer noch recht gute alte Zeit.<br />

Im Zusammenhang damit: dt. Wortbildungen: Kinderarzt, Frauenarzt usw.<br />

(engl. paediatrician)<br />

<strong>Sprachsystem</strong>:<br />

- System von Oppositionen<br />

- Durch Systemverletzungen geht die Bedeutung verloren oder verändert sich.<br />

Tisch - Fisch<br />

der Tisch - ein Tisch<br />

steht - stand<br />

Das ist ja nicht der Fall. - Das ist doch nicht der Fall.<br />

Sprachnorm:<br />

- Einschränkung der vom System her erlaubten Möglichkeiten durch<br />

Konventionen.<br />

- Normverletzungen --- ‚Fehler’: „Ik sein türkisch Gastarbeiter.“<br />

Innere Gliederung, Variabilität der Einzelsprache (vgl. Coseriu 1988):<br />

diatopisch<br />

diastratisch<br />

diaphasisch<br />

Coseriu: „funktionelle Sprache“: eine diatopische, eine diastratische <strong>und</strong> eine<br />

diaphasische Varietät


4. Gibt es individuelle <strong>Sprachsystem</strong>e?<br />

- Idiolekt: das <strong>Sprachsystem</strong> eines einzelnen Sprechers<br />

- zweifach individuell:<br />

- der Sprecher als Individuum mit seinen individuellen Normen<br />

- die jeweilige Äußerungssituation als individuelle Situation mit<br />

situationsbezogenen Normen<br />

z.B. ‚Ausländerdeutsch’: Das Deutsch von Ausländern; das Deutsch von<br />

Deutschen Ausländern gegenüber


Der <strong>Sprachwandel</strong><br />

1. Sprache: statisch oder dynamisch?<br />

- Saussure: Die Langue sei statisch, die Parole sei dynamisch<br />

- Neuere Auffassungen: Dynamik, <strong>Sprachwandel</strong> ist ein wesentliches Merkmal der Sprache<br />

(der Wandel des Systems ist ein indirekter Beweis für seine Existenz)<br />

2. Warum verändert sich die Sprache?<br />

Strukturalistische Auffassungen:<br />

- außersprachliche Gründe (eher im Wortschatz); innersprachliche Gründe (eher in der<br />

Grammatik)<br />

- <strong>Sprachwandel</strong> sei eine Kettenreaktion, die eine Veränderung motiviert die andere. z.B.<br />

- Abschwächung der Nebensilbenvokale (mittelhochdeutsche Zeit) ---- Schw<strong>und</strong> der<br />

Kasusendungen ---- Entstehung des Artikelsystems<br />

- Einprogrammierter <strong>Sprachwandel</strong>, der von der Ursprache her motiviert ist? Beispiel:<br />

Analytisierung in allen indogermanischen Sprachen<br />

- Probleme der vorliegenden Auffassungen: Sprache wird als Naturphänomen betrachtet (vgl.<br />

Wetter, Evolution usw.); die Gr<strong>und</strong>frage „Warum verändert sich die Sprache überhaupt?“<br />

wird damit nicht beantwortet.<br />

Neuere Auffassungen:<br />

- Sprache als „menschliches“ Produkt<br />

Vereinfacht: Am Beginn jedes <strong>Sprachwandel</strong>s steht ein Sprecher, der anfängt anders zu<br />

sprechen, als die anderen. (Sprache verändert sich nicht von sich selbst, sondern wird<br />

verändert.) Problem: Bewusste Sprachveränderungen, Regelungen, Erneuerungen<br />

- Die Sprachgeschichtstheorie von Peter von Polenz: Sprache als soziales Produkt:<br />

(Sprachgeschichte sei ein Teil der Sozial- <strong>und</strong> Kulturgeschichte)<br />

Peter von Polenz:<br />

„Sprachgeschichte hat — ähnlich wie Literatur-, Kunst- oder Musikgeschichte — ihre<br />

Aufgaben in einem weiteren, sozialhistorischen Rahmen. Sie ist sogar ein zentraler<br />

Bestandteil von Sozialgeschichte, vergleichbar der Rechtsgeschichte oder Mediengeschichte,


da Sprache für Aufbau, Erhaltung <strong>und</strong> Veränderung von Gesellschaftsstrukturen <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Tätigkeiten konstitutiv ist. Dies gilt besonders für Epochen, in denen diese<br />

immer weniger von religiösen Ritualen, Erbfolgen oder Kriegführung, dafür mehr von<br />

sprachlicher Kommunikation determiniert werden, z. B. durch marktorientierte Wirtschaft,<br />

Verwaltung, Wissenschaft, Volksbildung, Öffentlichkeit, also in höherem Maße für die<br />

Neuzeit als für Frühzeit <strong>und</strong> Mittelalter.”<br />

- Sprache als Gesamtheit von Varietäten (<strong>Sprachwandel</strong> sei im Gr<strong>und</strong>e der Wandel des<br />

Verhältnisses der einzelnen Varietäten)<br />

- Rudi Kellers <strong>Sprachwandel</strong>theorie<br />

- Drei Phänomene in unserer Welt: Naturphänomene --- ‚natürliche Kausalität’<br />

Artefakten ---- von der Absicht von Menschen abhängig<br />

Phänomen dritter Art: ‚unsichtbare Hand’<br />

„Keller identifiziert Sprache als ein sog. ‘Phänomen der unsichtbaren Hand’. Wie eine<br />

Inflation oder ein Verkehrsstau kann auch eine bestimmte Ausprägung von Sprache nicht<br />

vollständig auf die Intentionen der einzelnen Sprecher zurückgeführt werden. Ein<br />

Verkehrsstau entsteht, obgleich jeder einzelne Verkehrsteilnehmer gerade das Gegenteil<br />

intendiert. Und so sind auch sprachliche Veränderungen nicht auf intentionale<br />

Einzelhandlungen der Sprecher zurückzuführen, sondern es ist eine kausale Konsequenz einer<br />

Vielzahl von intentionalen Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Interessen dienen.”<br />

(Klaus Mattheier)<br />

3. Motivationen des <strong>Sprachwandel</strong>s<br />

a.) Ökonomieprinzip, Abschaffung von Red<strong>und</strong>anzen<br />

b.) Sterbung nach Eindeutigkeit, Disambiguierung<br />

c.) Verhältnis der Varianten zueinander<br />

d.) Sprachkontakte <strong>und</strong> Variantenkontakte<br />

e.) wandelndes Normbewusstsein<br />

f.) Rolle des Prestiges <strong>und</strong> des Stigmas<br />

4. Formen des <strong>Sprachwandel</strong>s<br />

4.a. Lautwandel<br />

Lautverschiebung : z.B. dat --- das<br />

Umlaut:<br />

z.B. gasti ---- Gäste<br />

Diphtongierung: z.B. prut ---- Braut<br />

Monophtongierung: z.B. guot --- gut<br />

Vokaldehnung: z.B. filu ---- viel<br />

Vokalschwächung: z.B. liuti ---- Leute<br />

Vokalschw<strong>und</strong> (Apokope am Wortende) fona --- von<br />

(Synkope im Wortinneren) sagetun --- sagten<br />

Ursachen: vielfältig (änderndes Normbewusstsein, Rolle <strong>und</strong> Verhältnis der Varianten,<br />

Prestige, Sprachkontakte)


Germanische Sprachen: germanischer Akzentwandel: durch verstärkten Atemdruck auf der<br />

ersten Silbe (mit morphologisch bedingten Ausnahmen) ---- Kürzungen in der zweiten<br />

Worthälfte<br />

4.b. Grammatischer Wandel:<br />

Übergang vom synthetischen zum analytischen Sprachbau<br />

Ursachen: Sprachkontakte? Lateinischer Einfluss? Vulgärlatein?<br />

Entwicklung der Klammerkonstruktionen<br />

Übergang von einer Aspekt- zu einer Artikelsprache<br />

4.c. Lexikalischer Wandel:<br />

Archaisierung: Wörter kommen außer Gebrauch<br />

barn (ahd.) (vgl. gebären) ---- Kind (nhd.) (verwandt mit engl. kind<br />

‚Gattung’; Partizip mit der Bed. gebären)<br />

luttil (ahd.), lütt (niederdeutsch) ---- klein (nhd.) (urspr. glänzend --- dann:<br />

‚rein, zierlich, zart, dünn’; verwandt mit engl. clean))<br />

Volksetymologie:<br />

Entlehnung:<br />

Neubildung:<br />

Neuschöpfung:<br />

Mailand<br />

Hängematte (westind. hamaca)<br />

Rosenmontag (Montag vor Aschermittwoch) (‚rasender’ Montag) aus<br />

kölnisch: rose = rasen)<br />

Hals- <strong>und</strong> Beinbruch (jiddisch: hazlóche un bróche etwa: ‚Glück <strong>und</strong><br />

Segen’)<br />

Lehnwörter (z.B. Portier), Lehnbildungen (z.B. lat. compassio --- dt.<br />

Mitleid)<br />

Fußnotenstaat<br />

Kuckuck<br />

Bedeutungswandel: Bedeutungsverengung: ahd. bur (Haus) --- nhd. Bauer (Vogelkäfig)<br />

Bedeutungsverschiebung: bur (ahd.) --- gebur (mhd. ‚Mitbewohner’) ---<br />

- Bauer (nhd.)<br />

Bedeutungserweiterung: schwed. bure ‚Mitbewohner’, auch ‚Bürger’<br />

Bedeutungsverschlechterung: engl. boor ‚Tölpel, ungeschickter<br />

Mensch’


Periodisierung der deutschen Sprache<br />

(Kurze, vereinfachte Zusammenfassung)<br />

Problem der Periodisierung:<br />

Kulturgeschichtlich?<br />

aufgr<strong>und</strong> markanter Änderungen?<br />

(phonetisch? grammatisch? lexikalisch?)<br />

Äußere vs. innere Sprachgeschichte<br />

Kompromisslösung: Sprachgeschichte soll in die allgemeine Kulturgeschichte eingebettet<br />

werden (potentielle Erklärungen für den <strong>Sprachwandel</strong>), markante Änderungen können als<br />

Maßstab für die Periodisierung benutzt werden.<br />

(Germanisch) etwa 2000 - 500 v. Chr. Ostseeraum (I. Lautverschiebung, Initialakzent,<br />

Vereinfachung des Endungssystems, SVO-Wortstellung, Ablaut)<br />

(Germanische Stammessprachen) bis etwa 4-5 Jh. n. Chr. (z.B. Gotisch)


Periodisierung von H. Eggers <strong>und</strong> W. Schmidt:


Quellen für die Entwicklung des Deutschen<br />

1. Das Indogermanische<br />

Gesamtheit mehrerer einander wohl nahe stehenden Stammessprachen, die vor 3000 v. Chr.<br />

vermutlich in der nördlichen Region des Schwarzen Meeres (Asien) gesprochen werden.<br />

Trennung der Sprachen etwa um 3000 v. Chr. (z.B. gemeinsames Wort Rad --- in<br />

archeologischen F<strong>und</strong>en etwa um 3400 v. Chr.)<br />

Differenzierung etwa um 1500 v. Chr.<br />

Typologische Charakteristika:<br />

• Flektierende Sprache<br />

• Synthetisierende Sprache (jedoch schon mit einzelnen analytischen Konstruktionen)<br />

• Konsonanten vorwiegend Plosive <strong>und</strong> Nasale (alle Plosive konnten aspiriert werden)<br />

(Frikative: [s] <strong>und</strong> [h])<br />

• beweglicher Wortakzent<br />

• SOV (mit abweichenden Wortstellungstypen)<br />

• Akkusativsaprache (Aktiv-Passiv-Dichotomie)<br />

Erste Trennung: Kentum (Westen) ---- Satem (Osten)<br />

Entwicklung bestimmter velarer Konsonanten (in östlichen Sprachen zu<br />

palatalen Frikativen geworden) kentum (lat) - sto; hwa- was - (russ.))<br />

- Auseinanderentwicklung von Dialekten??? Aber: tocharisch<br />

Differenzierung um etwa 500 v. Chr.


2. Das Germanische<br />

• I. Lautverschiebung (Frikative)<br />

• Initialakzent<br />

• Vereinfachung des Endungssystems<br />

• SVO-Wortstellung<br />

• Ablaut<br />

3. Latein<br />

Das „klassische“ Latein: Literatursprache im Römischen Reich von etwa 50 v.Chr. bis 150-<br />

200 n. Chr.<br />

Wirkung auf die Entwicklung vieler europäischer Literatursprachen im Mittelalter<br />

Das „Vulgärlatein“:<br />

Gesprochene Sprachvarianten im Römischen Reich<br />

Ab 200 n. Chr. (Verfall der klassischen Kultur, Auflockerung des Normbewusstseins) auch in<br />

die Schriftsprache eingedrungen<br />

Bis zum Frühmittelalter in mehreren Varianten weit verbreitet in ganz Europa (bis hin zum<br />

Balkan)<br />

Spontane Kontakte mit verschiedenen europäischen Sprachen in der frühen Phase ihrer<br />

Entwicklung<br />

Klassisches Latein:<br />

Künstliche Normierung, Standardisierung (Cicero, Caesar, Quintilian: Rhetorica)<br />

Bewusste Auswahl aus den vielen vorhandenen Möglichkeiten<br />

Unterscheidung der Römischen Stadtsprache vs. der Sprache der Provinz(en) („rustische<br />

Sprache“)<br />

- Bewusste Synthetisierung<br />

- Vorherrschen der SOV-Wortstellung (mit pragmatisch bedingten Ausnahmen z.B. V1)<br />

- relative „Freiheit“ der Wortstellung aus rythmischen Gründen<br />

- Hyperbaton:<br />

paucis, si tibi di favent, diebus<br />

(nach) einigen, wenn dir Götter helfen, Tagen<br />

- bewusst ausgewählter „gewählter“ Wortschatz<br />

Durchbrechung: Petron: Satyricon; Wandinschriften in Pompei<br />

Vulgärlatein:<br />

Weit verbreitete gesprochene Sprache im römischen Reich in mehreren Varianten<br />

Ab etwa 200 auch in die Schriftsprache eingedrungen (Kulturverfall, Unsicherheit,<br />

abnehmendes Normbewusstsein)<br />

- kein Hyperbaton<br />

- zunehmende Analytisierung:


Petri domus ---- casa de Petro ----- illa casa de Petro<br />

Marmoreum templum ---- Templum de marmore<br />

mensarum (der Tische, Pl. Gen.) ---- de illas mensas<br />

dixi ---- habeo dictum<br />

- zunehmende Verfestigung der nachgestellten Attribute<br />

casa de Petro, casa in Roma<br />

- Wortstellung: zunehmende Postdetermination, SVO-Typ<br />

Cicero, Caesar: SOV: etwa 90%<br />

Petron<br />

Pompei<br />

SOV 30 SVO 14 SOV 54 SVO 32<br />

OV 57 VO 35<br />

Fortes fortuna adjuvat ‚den tapferen hilft das Glück’<br />

Haec lupatria providet omnia ‚dieser Luder kümmert sich um alles’<br />

Interpellavit tam dulces fabulas Trimalchio ‚Trimalchio unterbrach dann diese bezaubernden<br />

geschichten’<br />

- Herausbildung eines mehr rezeptiven (nach rechts erweiternden) statt eines mehr emissiven<br />

(nach links erweiternden) Sprachtyps (Ausnahme: adjektivähnliche Attribute)<br />

- Analytisierung des Dativs: statt episcopo aiebat ---- ad episcopum aiebat ’er sagte<br />

dem Bischof’<br />

- Fragesatz: Fragepartikel bleibt aus: Venitne pater? ‚Kommt der Vater?’ --- Venit<br />

pater?<br />

- Antwort: Entstehung des Wortes ‚ja’:<br />

klassisches Latein: Bejahende Antwort durch Wiederholung:<br />

Fecisti? ‚Hast du es getan?’ ---- Feci. ‚Ich habe es getan’.<br />

Häufig durch ein Pronomen oder Adverb verstärkt: Sic feci. oder Hoc feci.<br />

Vulgärlatein: Nur das verstärkende Adverb bleibt: Sic / Hoc. vgl. it. si, fr. oui<br />

(aus vglat. hoc ille)


Gibt es Europäismen?<br />

1. Sprachb<strong>und</strong>theorie, Areallinguistik<br />

- Theorie der Prager Linguistische Schule<br />

- Sprachliche Areale (z.B.: „der Donausprachb<strong>und</strong>“; das Baltikum, der Balkan)<br />

Donausprachen: - Sprachen in Ostmitteleuropa, die miteinander <strong>und</strong> mit dem Deutschen<br />

engen Kontakt haben (Ungarisch, Tschechisch, Slowakisch, ev. auch Serbisch <strong>und</strong> Kroatisch,<br />

am Rande Rumänisch)<br />

„Präfixsprachen“, Partikelreichtum, Wortbildungsreichtum<br />

Analoge Frage: Kann das gesamte europäische Areal als ein Sprachb<strong>und</strong> im weiteren Sinne<br />

verstanden werden?<br />

Gründe dafür:<br />

• die überwiegende Mehrheit dieser Sprachen ist indogermanisch ---- gemeinsame<br />

typologische Merkmale<br />

• Rolle des Lateins (bes. des Vulgärlateins) in der Herausbildung dieser Sprachen<br />

• Kulturelles Eigendach, europäisches „Bewusstsein“ (Christentum)<br />

• Schon seit dem Frühmittelalter ständige Kulturkontakte (auch wenn manchmal nur<br />

sporadisch)<br />

2. Europäismen im Wortschatz<br />

(Theorie von Oskar Reichmann (1991): Gemeinsamkeiten im Bedeutungsspektrum von<br />

Wörtern europäischer Sprachen. In: Bartha, Magdolna / Brdar-Szabó, Rita (Hgg.): Von der<br />

Schulgramatik zur allgeimenen Sprachwissenschaft. Beiträge zur Gedenktagung für Professor<br />

János Juhász. Budapest: ELTE S. 75-94)<br />

z.B. ‚Haus’<br />

1. ein eigenes Haus haben<br />

2. das erste Haus am Platze / Haus der Kultur<br />

3. nach Hause gehen<br />

4. das Haus war sich einig<br />

5. verehrtes Haus!<br />

6. Grüße von Haus zu Haus<br />

7. jm. das Haus besorgen<br />

8. das Haus Habsburg<br />

9. Haus der Schnecke<br />

10. gelehrtes Haus, altes Haus<br />

11. die Sterne im Haus<br />

12. Jupiter stand im zweiten Haus, als.... (einer der zwölf Abschnitte im Tierkreis)


3. Europäismen in der Grammatik<br />

- Übergang vom synthetischen zum analytischen Sprachbau<br />

einige (zufällige) Beispiele aus „WALS“ (World Atlas of Language Structures)<br />

z.B. Kasusmarkierung <strong>und</strong> Kasussynkretismus


z.B. Genussystem: Anzahl der Genera


Genussystem: Sexusbasiert oder nicht sexusbasiert


Zum Beispiel: Vergangenheitstempora


zum Beispiel: Wortstellung: Subjekt - Verb - Objekt


Exkurs: Wortstellung<br />

SOV / SVO ----- 3 Aspekte<br />

a. Stellung von S <strong>und</strong> O relativ zueinander:<br />

lat. Filius amat patrem. Patrem amat filius. (auch: Filius patrem amat. Patrrem<br />

filius amat. Amat filius patrem. Amat patrem filius.)<br />

engl. The son loves the father.<br />

I love you. vs. Love is beautiful.<br />

dt. Der Sohn liebt den Vater. --- Den Vater liebt der Sohn.<br />

aber: Die Tochter liebt die Mutter.<br />

Ich liebe dich. vs. Liebe ist schön.<br />

b. Stellung der Erweiterungen<br />

- emissiv: nach links erweiternd<br />

- rezeptiv: nach rechts erweiternd<br />

Attribut / attribuiertes Nomen ///// Verb <strong>und</strong> Objekt


Goethes Werke : emissiv Bücher lesen : emissiv<br />

die Werke Goethes : rezeptiv Ich lese Bücher : rezeptiv<br />

die Werke von Goethe : rezeptiv<br />

Gesamteuropäische Tendenzen : beide Typen vorhanden, jedoch Entwicklung<br />

in Richtung des rezeptiven Typs<br />

Genitivattribut / Präpositionalattribut<br />

SVO<br />

Ausnahme: Adjektivattribut <strong>und</strong> Possessivpronomen: entweder emissiv oder<br />

beide Stellungen<br />

c. Informationsstrukturelle Aspekte:<br />

SOV: Satzgrenzen grammatisch markiert<br />

SVO: Topik-Kommentar-Struktur grammatisch markiert (Verb als Grenze für die<br />

nominalen Konstituenten, als Grenze zwischen Topikteil <strong>und</strong> Kommentarteil)<br />

Verbstellungstypen<br />

Verb-erst-Aussagesatz: (unterschiedliche Häufigkeit <strong>und</strong> Geltung)<br />

Kam da ein Mann in die Kneipe <strong>und</strong> sagte.... (vgl. Es war einmal....)<br />

Interpellavit tam dulces fabulas Trimalchio.... (Petron)<br />

Kitört a háború. Beköszöntött az ősz. Sárgulnak a levelek. ABER : *Ír levelet<br />

Péter.<br />

Nastupila vesna. (russisch)<br />

Verb-erst-Fragesatz : (Unterschiedlich stark grammatisch geregelt)<br />

Hast du eine Idee ?<br />

Do you have a idea?<br />

Van egy ötleted ?<br />

Jest’ li u t’ebja id’eja? (russisch)<br />

Interrogativsatz mit Topik - ein wesentlicher Nebentyp mit unterschiedlichen<br />

Realisierungen:<br />

Péter egy almát adott tegnap Marinak?<br />

Péter mit adott tegnap Marinak?<br />

Der Peter, hat er Maria gestern einen Apfel gegeben?<br />

Peter, has he given Mary an apple?<br />

Russisch<br />

Aljoša pojd’ot li s nami?<br />

D’engi kogda možno polučit’?<br />

ABER: Aljoša pojd’ot s nami? (ohne Topik)<br />

Finnisch:<br />

Onks tänään millanen viikonpäivä?<br />

Ist-INT heute welcher Wochentag (‚Welcher Wochentag ist heute?’)


Italienisch:<br />

Il treni, Gianni potrá prenderlo domani?<br />

Fazit :<br />

Deklarativsatz :<br />

Interrogativsatz :<br />

Haupttyp : Topik - Kommentar<br />

Nebentyp : vollkommentarisch<br />

Haupttyp : „vollinterrogativ“<br />

Nebentyp: mit Topik<br />

„Theorie der konstruktionellen Normalstellung“ (Anton Näf)

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