24 STUNDEN AM MITTELMEER

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24.11.2013 Aufrufe

Mahmud findet ein Stück Freiheit am Strand von Gaza. Die Pudlers aus Franken lieben die Ordnung an der Adria. Von Marokko aus will Winzo im Schlauchboot nach Europa, fürchtet sich aber vor dem Ertrinken. Bei Saint-Tropez sonnt sich Hank auf seiner Luxusyacht. Ein Samstag im Juli. Zehn Orte. Zehn Geschichten dieses Sommers 24 STUNDEN AM MITTELMEER DIE STERN-REPORTAGE Gazastreifen Der Surfer Mahmud al-Riashi ist ein Star am Strand von Gaza- Stadt. Selbst die radikal-islamische Hamas hat nichts gegen seinen Sport FOTO: FELIX RETTBERG 15.8.2013 53

Mahmud findet ein Stück Freiheit am Strand von Gaza. Die<br />

Pudlers aus Franken lieben die Ordnung an der Adria.<br />

Von Marokko aus will Winzo im Schlauchboot nach Europa, fürchtet sich aber vor dem Ertrinken. Bei Saint-Tropez<br />

sonnt sich Hank auf seiner Luxusyacht. Ein Samstag im Juli. Zehn Orte. Zehn Geschichten dieses Sommers<br />

<strong>24</strong> <strong>STUNDEN</strong> <strong>AM</strong> <strong>MITTELMEER</strong><br />

DIE STERN-REPORTAGE<br />

Gazastreifen<br />

Der Surfer<br />

Mahmud al-Riashi<br />

ist ein Star am<br />

Strand von Gaza-<br />

Stadt. Selbst die<br />

radikal-islamische<br />

Hamas hat nichts<br />

gegen seinen Sport<br />

FOTO: FELIX RETTBERG<br />

15.8.2013 53


Korfu, Griechenland<br />

Der Kapitän<br />

Michael Block ist<br />

auf seinem Schiff<br />

verantwortlich für<br />

780 Besatzungsmitglieder<br />

und rund<br />

1900 Passagiere<br />

Venedig, Italien<br />

Die Urlauber<br />

Gerlinde und Hilmar<br />

Pudler spazieren<br />

durch ihren Campingplatz<br />

Union Lido.<br />

Die Tanzgruppe<br />

probt gerade für die<br />

Abendshow<br />

Beirut, Libanon<br />

Der Flüchtling<br />

Safwan verließ Syrien<br />

und den Bürgerkrieg.<br />

Er verbringt in<br />

Beirut nun viel Zeit<br />

am Wasser, er wartet<br />

darauf, dass er<br />

weiterreisen darf,<br />

in ein anderes Land<br />

Korčula, Kroatien<br />

Der Fischer<br />

Tonči Kovač (Mitte)<br />

lässt sich am Abend<br />

den Fang des<br />

Tages auf einem<br />

Fest zubereiten<br />

FOTOS: YANNIS KONTOS/POLARIS; VALERIO BISPURI; FILIP HORVAT; NATALIE NACCACHE<br />

15.8.2013 55


Frankreich, Saint-Tropez, 0.52<br />

Uhr Ortszeit, Club Les Caves<br />

du Roy<br />

Das Codewort lautet „Hank“.<br />

Gesprochen: Häänk. Und sofort<br />

ziehen die Türsteher vorm<br />

edelsten Club der Stadt die Kordeln<br />

zur Seite. Sie öffnen den Weg hinein<br />

in die Dunkelheit, in der die Bässe<br />

wummern. Hank, das ist Hank Freid,<br />

Besitzer von vier Hotels in New York.<br />

Jeder kennt Hank, weil dieses Saint-<br />

Tropez an der französischen Côte<br />

d’Azur immer noch ein Dorf ist. Seit<br />

14 Jahren läuft Hank auf seiner Yacht<br />

jeden Sommer ein, lässt seinen Kapitän<br />

mittig zwischen all den Superyachten<br />

anlegen. „In der Poleposition“,<br />

sagt er, 100 000 Dollar kostet<br />

allein die Liegegebühr pro Woche.<br />

Wenn die Nacht beginnt, wartet<br />

auf Hank ein Kübel mit einer<br />

großen Champagnerflasche auf Eis.<br />

Champagner treibt Saint-Tropez an,<br />

bei Tag und bei Nacht. Zwischen<br />

750 und 38 000 Euro kostet eine<br />

Flasche im Les Caves du Roy. Aber<br />

noch ist Hank nicht aufgetaucht.<br />

Griechenland, Insel Ithaka,<br />

0.58 Uhr, eine Fischtaverne<br />

Der Bürgermeister knackt einen<br />

Hummer. „Los, greift zu! Lasst es<br />

euch schmecken! Wir verprassen das<br />

Geld von Koralia!“, ruft er in die Runde.<br />

Alle lachen. Jannis Kassianos, 65,<br />

ist Bürgermeister von Ithaka. Auch<br />

seine Insel, erzählt er, habe unter<br />

der Krise gelitten. Die griechischen<br />

Gäste blieben weg. Die Arbeitslosigkeit<br />

liegt in Ithaka bei 20 Prozent.<br />

Die Jungen haben es besonders<br />

schwer, die Hälfte sucht Arbeit.<br />

Aber heute Nacht feiert Kassianos<br />

mit Freunden. Neben ihm: Koralia<br />

Grivas, eine reiche Frau, ihr gehören<br />

mehrere Inseln in der Nähe. Grivas<br />

wird sie verkaufen, bald schon. Der<br />

Käufer wolle ein paar Millionen<br />

Euro lockermachen, sagt Grivas.<br />

Ithaka liegt im Zentrum der Eurokrise,<br />

aber in dieser Nacht scheint<br />

die Rettung nah, die Insel wirkt wie<br />

eine Oase des Glücks.<br />

Wer der Käufer ist, will Grivas<br />

eigentlich nicht sagen. Sie flüstert,<br />

er sei einer der reichsten Männer der<br />

Welt. Wer? „Der Emir von Katar.“<br />

Türkei, Antalya, 1.20 Uhr,<br />

Nachtclub Ally<br />

Es ist diese Türkei, vor der sich<br />

Ministerpräsident Erdogan fürchtet.<br />

Hier ist alles etwas lauter, etwas<br />

schriller. Freier.<br />

Tanger<br />

MAROKKO<br />

500 km<br />

FRANKREICH<br />

KROATIEN<br />

Union Lido<br />

Saint-Tropez ITALIEN<br />

Lumbarda<br />

Mittelmeer<br />

In Antalyas Altstadt liegt das Ally,<br />

eine Open-Air-Disco. Durch enge<br />

Gassen stöckeln Frauen im Minirock.<br />

In den nächsten Stunden fließen<br />

im Ally Raki und Wodka, Frauen<br />

tanzen im Bikini, Laserstrahlen<br />

zucken durch die Nacht, eine Dragqueen<br />

geht umher, Pärchen sitzen<br />

knutschend auf Barhockern.<br />

Es gibt Menschen in der Türkei,<br />

die nennen Antalya die „verbotene<br />

Stadt“. Jahrelang war es vor allem ein<br />

türkischer Ballermann für deutsche<br />

Touristen. Heute feiern hier viele<br />

junge Türken. Sie sagen, es sei für sie<br />

die Stadt ihrer Träume.<br />

Özlem Acay, 27, steht bis halb fünf<br />

Uhr an der Bar. Was an Antalya besonders<br />

ist? Sie lacht und streicht<br />

sich eine Strähne aus dem Gesicht.<br />

Ganz so, als sei die Antwort doch offensichtlich.<br />

In anderen Gegenden<br />

könnte Özlem nie so freizügig auf<br />

die Straße gehen. Antalya ist nicht<br />

wie diese konservative Türkei, nicht<br />

wie Ankara, Özlems Heimat.<br />

Libyen, Misrata, 1.45 Uhr, ein Einfamilienhaus<br />

in der Innenstadt<br />

Er kann nicht schlafen, obwohl er<br />

müde ist. Morgen ist die Prüfung.<br />

Mohammed Derraija studiert Englisch.<br />

In dieser Nacht beschäftigt er<br />

sich mit Übersetzungstechniken.<br />

Und die Prüfung ist wichtig, denn er<br />

braucht gute Noten für sein Stipendium.<br />

Er will in England studieren.<br />

Weg aus Libyen. „Das Land macht mir<br />

Kopfschmerzen“, sagt Mohammed.<br />

Vor zwei Jahren sah er die Bilder aus<br />

Kairo, wie die Ägypter ihren Diktator<br />

Misrata<br />

Ithaka<br />

LIBYEN<br />

Die zehn<br />

Sta tionen dieser<br />

Geschichte:<br />

Das Mittelmeer<br />

verbindet<br />

Südeuropa,<br />

Nord afrika<br />

und den<br />

Nahen Osten<br />

GRIECHEN-<br />

LAND<br />

„Mein Schiff 2“<br />

TÜRKEI<br />

Antalya<br />

Beirut<br />

LIBANON<br />

Gaza<br />

stürzten. Zuvor schon die Revolution<br />

in Tunesien. Anfang 2011, eine Generation<br />

stand auf. Der arabische Frühling<br />

begann. In Misrata, Mohammeds<br />

Stadt, fand eine erste Demonstration<br />

statt. Mohammed ging hin. Später<br />

nahm er sich ein Gewehr und kämpfte<br />

gegen al-Gadhafi.<br />

Gadhafi starb, sein Regime fiel.<br />

Und jetzt? Libyen zerfällt, die Regierung<br />

ist schwach, und das Geld aus<br />

dem Ölgeschäft versickert, als hätte<br />

es nie eine Revolution gegeben.<br />

Mohammed lernt in dieser Nacht<br />

bis vier Uhr, damit er sein Land verlassen<br />

kann.<br />

Frankreich, Saint-Tropez, 2 Uhr,<br />

Les Caves du Roy<br />

Der DJ dreht die Musik lauter, Nebel<br />

zieht über die tanzende Menge. Weil<br />

Hank nicht auftaucht, feiert seine<br />

Entourage eben ohne ihn. Sie haben<br />

Mädchen mitgebracht. Mädchen,<br />

die einem Mann in Saint-Tropez<br />

eben so zulaufen, wenn man einen<br />

Champagnerkübel zahlen kann. Sie<br />

besteigen das Podest hinter dem<br />

Tisch – und ab geht es zu „Welcome<br />

to Saint-Tropez“.<br />

Kuwaitische Söhne suchen auf<br />

der Tanzfläche Körperkontakt, streicheln<br />

und säuseln: „Nimm dir<br />

Champagner oder Wodka, ich habe<br />

für alle meine Freunde etwas gekauft.“<br />

Auf der Damentoilette ziehen<br />

sich Stewardessen aus Dubai und<br />

Töchter aus Paris die Lippen nach.<br />

Eine der vielen Geschichten hier<br />

handelt von zwei pakistanischen<br />

Brüdern und dem kuwaitischen<br />

FOTOS: AYMAN OGHANNA; ILLUSTRATION: STERN INFOGRAFIK<br />

Kronprinzen, die sich an einem<br />

Abend gegenseitig Magnumflaschen<br />

Dom Pérignon geschickt haben sollen,<br />

bis die Pakistaner 390 000 Euro<br />

auf der Rechnung hatten.<br />

An diesem frühen Morgen dämmert<br />

ein neuer Tag im Juli am Meer heran.<br />

Nachts, wenn die Menschen in Europa<br />

feiern, ist es leise auf der anderen Seite,<br />

in Afrika, im Nahen Osten. Wenn es hell<br />

wird, wird es sie alle ans Ufer ziehen,<br />

ob in Gaza oder in Saint-Tropez. Die<br />

Reichen und die Bettelarmen, sie verbringen<br />

den Tag an diesem Meer, nicht<br />

weit voneinander entfernt: Libyen liegt<br />

gleich südlich von Sizilien, von Tanger<br />

in Marokko sind es gerade mal 30 Kilometer<br />

nach Spanien, von Gaza-Stadt ist<br />

es nur eine Autostunde nach Tel Aviv.<br />

Und doch erlebt jeder ein anderes<br />

Mittelmeer.<br />

Die Pudlers, deutsche Camper. Win-<br />

Freid, der New Yorker Hotelmogul. Mohammed,<br />

ein Rebell aus dem arabischen<br />

Frühling. Koralia Grivas, der mehrere<br />

griechische Inseln gehören. Özlem Acay,<br />

die im freizügigsten Teil der Türkei<br />

arbeitet. Tonči Kovač, der Kroate, der<br />

noch wie sein Vater und sein Großvater<br />

fischt. Safwan, der aus Syrien fliehen<br />

musste. Michael Block, der deutsche<br />

Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes. Es ist<br />

ein Tag im Juli, an dem das Mittelmeer<br />

all ihre Geschichten schreibt.<br />

Kroatien, Insel Korčula, 4.46 Uhr,<br />

Hafen von Lumbarda<br />

Sie sind sechs Männer, ihr Anführer<br />

heißt Tonči Kovač. Später, wenn sie<br />

in den Hafen zurückkommen, werden<br />

die Leute ihnen zurufen: „Tonči,<br />

Junge, ihr seid wahre Fischer!“<br />

Tonči und die anderen Männer<br />

schweigen, als sie in der Dämmerung<br />

die Bucht von Lumbarda verlassen<br />

und die schroffe Küste entlangfahren.<br />

Tonči ist ein durchtrainierter<br />

Kerl. Geboren und aufgewachsen auf<br />

der Insel. Er hat lockiges Haar, Dreitagebart<br />

und zwei Ringe im linken<br />

Ohr. Das Boot ist eine halbe Stunde<br />

unterwegs, als er den Neoprenanzug<br />

überstreift. „Gib mir die Flossen!“,<br />

ruft er einem seiner Männer zu. Die<br />

Sonne steht noch tief, Tonči schmeißt<br />

die Zigarette ins Meer und brüllt:<br />

„Ich springe jetzt rein!“<br />

Die Tradition will, dass die Männer<br />

ihr Netz anders nutzen als die<br />

großen Fischkutter. Ein mächtiges<br />

Netz, eine automatische Seilwinde,<br />

so pflügen die durch die Fischbestände.<br />

Und bedrohen damit den<br />

Fischfang, wie sie ihn in Korčula von<br />

ihren Vätern gelernt haben. Tonči<br />

verachtet die Kutter. „Sie beuten das<br />

Meer aus. Es ist viel zu leicht!“<br />

Er greift zu Schnorchel und Taucherbrille.<br />

Holt Luft, taucht viele Meter<br />

hinab, treibt die Fische ins Netz.<br />

Seine Männer ziehen es zusammen.<br />

Türkei, Antalya, 4.50 Uhr,<br />

Nachtclub Ally<br />

Der Muezzin ruft zum Morgengebet.<br />

Im Ally ist die Party seit 20<br />

Minuten vorbei.<br />

Libanon, Beirut, 5.21 Uhr,<br />

Stadtteil Ain el-Mraisseh<br />

Safwan, der seinen Nachnamen aus<br />

Sicherheitsgründen nicht genannt<br />

haben möchte, kauert, selbst wenn<br />

er läuft. Die Schultern vorgezogen,<br />

den Kopf geduckt, so kommt er<br />

die Uferpromenade entlang. Das Gebirge<br />

hinter der Stadt steht vor der<br />

aufgehenden Sonne, das Mittelmeer<br />

schwappt friedlich gegen die Kaimauer.<br />

Seine Gedanken fliegen in<br />

das Land hinter den Bergen. Dort<br />

liegt Syrien. Das Land, aus dem er<br />

fliehen musste.<br />

Händler verkaufen Sesamgebäck<br />

mit duftendem Thymian. Junge<br />

Männer springen in die Fluten.<br />

Doch Safwan kann die Schönheit<br />

dieses Morgens nicht sehen.<br />

In einer anderen Zeit, in einer verloren<br />

gegangenen Welt, als Syrien<br />

noch ein Geheimtipp unter Orientreisenden<br />

war, arbeitete er in einem<br />

Hotel in Damaskus, nur drei Autostunden<br />

von Beirut entfernt. Dort,<br />

in der Moschee, hörte er zum ersten<br />

Mal die Rufe: „Hurrijah, Hurrijah –<br />

Freiheit, Freiheit“. Das war an einem<br />

Freitag im März vor zwei Jahren. Er<br />

fing an zu filmen. Kurze, verwackelte<br />

Clips der Proteste, mit dem Handy<br />

aufgenommen, damit die Welt<br />

auf Youtube und Facebook erfuhr:<br />

Der Funke des arabischen Frühlings<br />

hat auch Syrien angesteckt.<br />

Bis ihn jemand verriet.<br />

Misrata, Libyen<br />

Der Student<br />

Mohammed<br />

Derraija steht in<br />

einem Gebäude,<br />

das während des<br />

Aufstandes gegen<br />

Diktator Gadhafi<br />

zerstört wurde.<br />

Mohammed<br />

kämpfte damals<br />

als Rebell. Er<br />

träumt von<br />

einem Studium<br />

in England<br />

Ionisches Meer, „Mein Schiff 2“,<br />

7.30 Uhr, 38° Nord, 17° Ost, Kurs<br />

233 Grad Südwest Richtung Malta<br />

Kapitän Michael Block tritt auf der<br />

Brücke den Dienst an. Er grüßt den<br />

Leitenden Offizier am Autopiloten<br />

und den Matrosen am Ausguck.<br />

Er öffnet die Schiebetür, tritt ins<br />

Freie und ist allein mit dem Meer.<br />

Mit der Seeluft, der Sonne. Er taucht<br />

ein in den Moment, fühlt den Wind<br />

und die Bewegung des Schiffes, kein<br />

Wellengang heute. Geschwindigkeit:<br />

10,5 Knoten, Wassertiefe: 2000<br />

Meter, westliche Winde der Stärke 3.<br />

Kapitän Block ist verantwortlich für<br />

780 Besatzungsmitglieder und rund<br />

1900 Passagiere. Nirgends gehen<br />

die Deutschen lieber auf Kreuzfahrt<br />

als im Mittelmeer. Block ist auf<br />

dem Weg von Korfu nach Valletta,<br />

es geht an Sizilien vorbei.<br />

„Das Mittelmeer ist eine große<br />

Wasserautobahn“, sagt er. So viele Häfen<br />

verbindet diese Wasserautobahn,<br />

so viele Schiffe und Fähren lassen die<br />

Warenströme von und zu den Häfen<br />

nicht versiegen. Sei es Sizilien, sei es<br />

Malta, sei es Barcelona, Dubrovnik,<br />

Split, Tanger, Triest. Ohne diese Wasserautobahn<br />

wäre das Mittelmeer<br />

nie zu solch einem Ballungsraum<br />

geworden, der so viele kulturell verschiedene<br />

Menschen anzieht.<br />

Gazastreifen, gegen 8 Uhr,<br />

am Strand<br />

Mahmud al-Riashi eilt zum Fenster.<br />

Nur eine Straße liegt zwischen dem<br />

Haus seiner Familie und dem Strand.<br />

Was er sieht, gefällt ihm nicht: Das<br />

Meer schwappt vor sich hin. Flach,<br />

friedlich. Und mal wieder ist das<br />

Wasser dreckig, die Abwasserpumpen<br />

stehen still, weil wegen der<br />

Staatskrise in Ägypten die Benzinlieferungen<br />

ausgeblieben sind. Wäre<br />

es ein guter Tag zum Surfen, würde<br />

Mahmud jetzt auf Facebook verkünden,<br />

dass er an den Strand geht,<br />

damit Mädchen kommen, ihm<br />

zusehen. Mahmud ist ein kleiner<br />

Star in Gaza. Selbst die radikalislamische<br />

Hamas, die in Gaza<br />

regiert, hat nichts gegen das Surfen,<br />

obwohl es ein westlicher Sport ist.<br />

Trotzdem, wenn er könnte, sagt<br />

Mahmud, wäre er längst nicht mehr<br />

hier. „Ich will mal raus aus diesem<br />

Gefängnis.“ Die Welt sehen. Es der<br />

Welt zeigen.<br />

„Verrückt nach dem Meer“ hat<br />

er auf Arabisch auf sein Surfbrett<br />

geschrieben. Vier Jahre musste er<br />

darauf warten, vier Jahre durfte<br />

4<br />

56 15.8.2013<br />

15.8.2013 57


FOTO: OLIVIER MONGE/M.Y.O.P.<br />

Saint-Tropez,<br />

Frankreich<br />

Der Hotelier<br />

Hank Freid am Pool<br />

des Clubs Nikki Beach,<br />

in der einen Hand ein<br />

Glas Champagner,<br />

an der anderen seine<br />

Verlobte Julianna.<br />

Die Party begann<br />

schon kurz nach dem<br />

Mittagessen<br />

58 15.8.2013


es nicht über die Grenze von Israel<br />

nach Gaza transportiert werden.<br />

Bis dahin war Mahmud mit Isolierplatten<br />

aus Kühlschränken hinaus<br />

aufs Meer gepaddelt.<br />

Kaum anderes als Medikamente<br />

und Lebensmittel ließen die Israelis<br />

passieren. Surfbretter standen nicht<br />

auf der Liste. „Was sollen wir aus<br />

Surfbrettern Bedrohliches basteln?“,<br />

sagt Mahmud.<br />

Kroatien, Korčula, 8.14 Uhr,<br />

ein Fischerboot vor der Küste<br />

Der Fischer Tonči Kovač keucht, als<br />

er sich auf das Boot hochzieht. Reißt<br />

die Taucherbrille vom Kopf, starrt<br />

auf das Netz, das seine Männer an<br />

Bord gezogen haben. „Wie viel haben<br />

wir?“, ruft er. „Scheiße“, brüllt einer<br />

der Männer. „Wie viel?“ – „Vielleicht<br />

60 Kilo!“ Es gibt bessere Tage.<br />

Tonči legt am Steg an, ein Junge<br />

ruft: „Es gibt Fisch, es gibt Fisch!“<br />

Eine Frau sagt: „Gib mir sechs<br />

Stück, Tonči!“ Auch für sein eigenes<br />

Restaurant legt er Fisch beiseite.<br />

Dann überreicht er den Männern<br />

ihren Lohn: jedem eine Tüte Fisch.<br />

„Geld kann ich ihnen nicht zahlen“,<br />

sagt Tonči. Die Freunde helfen ihm<br />

im Sommer jeden Tag, ehe sie auf<br />

Baustellen arbeiten.<br />

Später sitzt Tonči mit den Männern<br />

in einer der Hafenkneipen.<br />

Sie spotten über den EU-Beitritt<br />

ihres Landes, der nur einige Wochen<br />

zurückliegt. In ihrem Dorf Lumbarda<br />

haben 56 Prozent der Menschen<br />

gegen den Beitritt gestimmt.<br />

Nirgendwo sonst in Kroatien war<br />

die Ablehnung so groß. „Vielleicht<br />

verbieten sie mir, so zu fischen,<br />

wie ich es will“, sagt Tonči. Die<br />

Männer bestellen sich ein großes<br />

Bier.<br />

Italien, Adria, vor Venedig, 8.30<br />

Uhr, Campingplatz Union Lido<br />

Im Vorzelt auf Stellplatz 689 läuft<br />

der Kaffee heute etwas später durch.<br />

„Normalerweise halten wir uns an<br />

die Regeln“, sagt Gerlinde Pudler.<br />

Gestern war aber nicht normalerweise,<br />

gestern hatte ihr Mann Hilmar<br />

77. Geburtstag, sie saßen noch<br />

lange mit Campingfreunden im<br />

Vorzelt. Es wurde 23.45 Uhr, und<br />

damit ein Verstoß gegen Regel<br />

Nummer 5, Haus- und Platzordnung<br />

Union Lido: „Nachtruhe von<br />

23.00 bis 7.00 Uhr. Und das heißt<br />

wirklich RUHE ...“<br />

„Wenn man das hier gesehen hat,<br />

dann geht man nie woanders hin“,<br />

sagt Hilmar Pudler und blickt auf<br />

die Wand aus Wohnwagen, Vorzelten<br />

und akkurat geschnittenen Hecken.<br />

„Die Sauberkeit, die Ordnung, die<br />

Sonne. Nach Union Lido kommen<br />

Leute, die geordnete Verhältnisse<br />

vorfinden wollen.“<br />

Die geordneten Verhältnisse von<br />

Union Lido: 2500 Stellplätze (Zeltöffnung<br />

bitte immer zur Straße),<br />

15 000 Bäume und Sträucher, 35 Geschäfte,<br />

acht Restaurants, drei Autowaschplätze,<br />

zwei Buslinien, eine<br />

Kirche, eine Müllabfuhr, bis zu<br />

11 200 Menschen. Anteil der Deutschen:<br />

60 Prozent. Anteil der Mitarbeiter,<br />

die Deutsch sprechen:<br />

100 Prozent. So deutsch wie hier ist<br />

Italien nirgends.<br />

Union Lido in der Bucht von<br />

Venedig ist entweder der größte<br />

oder der zweitgrößte Campingplatz<br />

Europas, so ganz genau weiß man es<br />

nicht. Sicher ist: Hier, auf dieser<br />

Wiese unter den Pinien am blauen<br />

Meer, wurde 1955 das moderne<br />

Camping erfunden. Und die Sehnsucht<br />

der Deutschen nach Italien<br />

und dem Mittelmeer geboren.<br />

Die Pudlers aus Kronach in Franken<br />

kamen das erste Mal 1962 mit<br />

einem geliehenen Zelt im Opel<br />

Caravan hierher, es war ihre Hochzeitsreise,<br />

und die Eltern fragten:<br />

Wollt ihr etwa unter die Zigeuner<br />

gehen?<br />

Vor einer Woche bekamen die<br />

Pudlers eine Urkunde. Union Lido<br />

ehrt sie für ihren 50. Urlaub. 50 Jahre<br />

Deutsche Vita unter den immer<br />

gleichen Pinien. Nur einmal blieben<br />

sie krank in Deutschland. Ihre Enkelin<br />

Nadine ist auch gerade hier, sie ist<br />

23 Jahre, 23 Sommer auf Union Lido.<br />

Hilmar Pudler sagt: „Die Regeln<br />

hier sind lockerer geworden. Unter<br />

deutscher Leitung waren Kinder<br />

unter zwei Jahren noch verboten.<br />

Nur im Grufti-Viertel, da geht es<br />

strenger zu.“<br />

Tanger,<br />

Marokko<br />

Der<br />

Einwanderer<br />

Winzo Asulu<br />

hat sich aus<br />

Nigeria bis nach<br />

Tanger durchgeschlagen,<br />

nur<br />

noch 30 Kilometer<br />

trennen<br />

ihn vom Sehnsuchtsort<br />

Europa<br />

Libyen, Misrata, 8.55 Uhr, ein Einfamilienhaus<br />

in der Innenstadt<br />

Mohammed Derraija rast im Auto<br />

zur Uni. Er hat verschlafen. In fünf<br />

Minuten beginnt seine Prüfung.<br />

Marokko, Tanger, 9 Uhr,<br />

Hotel Maarifa<br />

Es ist so nah. Das Land, in dem man<br />

sich in den Zug setzen kann und<br />

nach Saint-Tropez fahren oder nach<br />

Venedig. Das Land, in dem auch<br />

die Kreuzfahrtschiffe von „Mein<br />

Schiff“ anlegen. „Promised land“<br />

nennen es die Afrikaner, gelobtes<br />

Land. Spanien.<br />

Winzo Asulu sitzt auf seinem Bett<br />

im Maarifa, einem heruntergekommenen<br />

Hotel, wo er sich das Zimmer<br />

mit drei anderen teilt. Winzo kommt<br />

aus Nigeria. Er hat Rap musik gemacht.<br />

Mal ein Auftrag, was zu essen.<br />

Mal kein Auftrag, nichts zu essen.<br />

Irgendwann hatte er genug.<br />

Er durchquerte Benin, Burkina<br />

Faso und Mali, in Bussen, in Sammeltaxis,<br />

was immer ihn nach<br />

Norden brachte. Bis nach Tanger,<br />

wo Afrika zu Ende ist und fast<br />

Eu ropa beginnt. Hier ist es am<br />

schlimmsten.<br />

Er könnte in eines der Schlauchboote<br />

steigen und versuchen, es auf<br />

die andere Seite zu schaffen. Jeden<br />

Morgen, wenn er an der Uferpromenade<br />

entlanggeht, sieht er im Dunst<br />

die Berge Andalusiens. „Ist mehr ein<br />

Fluss als ein Meer“, sagt Winzo.<br />

Es versuchen?<br />

Italien, Adria, 11.10 Uhr,<br />

Campingplatz Union Lido<br />

Hilmar und Gerlinde Pudler, die<br />

Camper, tragen ihre Stühle zum<br />

Strand. Ganz vorn, fast schon im<br />

Meer, stehen acht leere Liegen, daneben<br />

sitzt ein Mann mit Sonnenhut<br />

unter einem Schirm. „Das sind<br />

Dänen, von denen sitzt immer einer<br />

da und bewacht die Liegen. Die<br />

bauen die immer um kurz vor acht<br />

auf“, flüstert Frau Pudler.<br />

50 Meter vor den Pudlers, an der<br />

Wasserkante, zieht eine Karawane<br />

von Menschen vorbei. Sie schleppen<br />

Tücher, Kisten voller Sonnenbrillen,<br />

Strandspielzeug. Sie rufen:<br />

„Hello, good price! Ciao bella,<br />

Handtuch billig!“ Auch die afrikanischen<br />

Strandhändler brachte<br />

die Sehnsucht an diesen Strand,<br />

nur: Betreten dürfen sie ihn nicht,<br />

dafür hat Union Lido gesorgt, es<br />

sei denn, ein Campinggast winkt<br />

sie heran.<br />

FOTOS: NICK HANNES; YANNIS KONTOS/POLARIS<br />

Marokko, Tanger, 11.20 Uhr,<br />

Hotel Maarifa<br />

Nur noch Flüchtlinge wie Winzo<br />

Asulu steigen im Hotel Maarifa ab.<br />

Die Nacht kostet drei Euro. Die<br />

Besitzer verachten die Afrikaner, sie<br />

schreien sie an, wenn Besuch<br />

kommt. Verboten! Sie schreien sie<br />

eigentlich immer an, wenn sie im<br />

Zimmer sind. „Geht betteln“, sagen<br />

sie. „Wenn ihr morgen nicht zahlt,<br />

schmeißen wir euch raus.“<br />

Winzo geht also wieder los, zusammen<br />

mit einem Freund, sie legen sich<br />

in einem Park auf die Wiese, beobachten<br />

die Menschen. Er hat sich, da<br />

war er gerade in Mali, in ein Mädchen<br />

verliebt. Manchmal telefonieren sie,<br />

gesehen haben sie sich zuletzt vor<br />

Jahren. Winzo zog weiter, er ging<br />

nach Mauretanien und fand Arbeit<br />

als Friseur. Die Freundin blieb zurück.<br />

„Sind wir eigentlich noch zusammen?“,<br />

fragt er sich.<br />

In Tanger gibt es keine Arbeit,<br />

schon gar nicht für Schwarze. Morgens<br />

steht Winzo auf und überlegt,<br />

wie er an Geld kommt. Soll das denn<br />

das Leben sein: Betteln für die<br />

nächste Nacht im Hotel Maarifa?<br />

Oder es versuchen? Er kennt die<br />

Leute, die das Schlauchboot besorgen.<br />

Zu zehnt müssen sie sein, jeder<br />

zahlt 150 Euro, und dann fahren sie<br />

die Schleuser eines Nachts an eine<br />

Stelle an der Küste, wo sie nicht entdeckt<br />

werden. Hätte er keine Angst<br />

vor dem Ertrinken? Doch, natürlich.<br />

Aber, „mein Freund ...“ Jeden Tag<br />

sieht er das gelobte Land, steht jetzt<br />

gerade zum Beispiel auf einem<br />

Felsen mit Blick aufs Meer. 30 Kilometer<br />

vor ihm liegt Spanien.<br />

Griechenland, Insel Ithaka,<br />

12.23 Uhr, ein Wassertaxi<br />

Koralia Grivas, die Inselerbin, fährt<br />

zum letzten Mal zu ihrem Besitz.<br />

Ithaka,<br />

Griechenland<br />

Die Inselbesitzerin<br />

Koralia Grivas<br />

wird das 1,2<br />

Quadratkilometer<br />

große Prováti<br />

bald an den<br />

Emir von Katar<br />

verkaufen –<br />

ihr bleiben dann<br />

noch vier Inseln<br />

Bald, hofft sie, wird der Emir von<br />

Katar sie reich machen, noch reicher.<br />

Grivas steigt ins Wassertaxi und<br />

lehnt sich zurück, nimmt den Kopf<br />

nach hinten, der Wind streicht<br />

durch ihr Haar. „Ich habe schöne<br />

Inseln“, sagt sie. Jung war sie noch,<br />

als ihr Vater ihr die Inselgruppe<br />

vermachte. Nun müsse sie zum<br />

ersten Mal Steuern zahlen, sagt sie.<br />

Das gehe zu weit. „Mein Vater hat<br />

uns die Inseln gegeben, damit wir<br />

Freude daran haben, nicht der Staat.“<br />

Nach einer halben Stunde nähert<br />

sich das Boot ihrer Lieblingsinsel.<br />

Grivas’ Blick schweift über die Felsen.<br />

Wie sie sich jetzt fühle, wo ihr<br />

die Insel bald nicht mehr gehöre?<br />

„Ich bin berührt. Hier habe ich im<br />

Sommer meine Kindheit verbracht.“<br />

Kroatien, Korčula, 12.35 Uhr,<br />

Restaurant Weißer Sand<br />

Tonči Kovač, der Fischer, möchte<br />

endlich ins Bett. Seit frühmorgens<br />

ist er auf den Beinen. Jetzt steht er<br />

in seinem Restaurant am Grill. Es<br />

ist ein altes Gemäuer am Strand,<br />

mit einem Dach aus Schilf. 150 Euro<br />

hat Tonči heute verdient. „Ich lebe<br />

gut“, sagt er. „Ich brauche nicht viel.“<br />

Die Fische liegen auf den Tellern<br />

der Gäste. Tonči legt die Grillzange<br />

beiseite. „Gute Nacht, Leute!“<br />

Italien, Adria, 13 Uhr,<br />

Campingplatz Union Lido<br />

Lautsprecherdurchsage: „Achtung,<br />

liebe Gäste: Von 13 bis 15 Uhr ist<br />

Mittagsruhe, und wir bitten Sie,<br />

Lärm zu vermeiden. Außerdem<br />

bitten wir Sie zu beachten, dass die<br />

Benutzung von Autos und Tretrollern<br />

untersagt ist. Und dass die Tore<br />

zur Ein- und Ausfahrt geschlossen<br />

sind.“<br />

Türkei, Antalya, 14 Uhr,<br />

am Strand<br />

Hadin Ipek, ein Strandhändler, balanciert<br />

schon den halben Tag sein<br />

Tablett. Es ist Nachmittag, der<br />

Strand füllt sich. Ipek hat heute<br />

schon viele Sesamringe verkauft.<br />

Ipeks Familie stammt aus Diyarbakir,<br />

einer Stadt in Südostanatolien,<br />

wo die Tradition einen Menschen<br />

erdrücken kann. Dem Teil des Landes,<br />

der so rückständig wirkt, wenn<br />

man durch Antalya läuft.<br />

Jeden Tag stehen Ipek und sein<br />

Vater in seiner Bäckerei, rollen Teig,<br />

formen ihn zu einem Kringel,<br />

wälzen ihn in Sesam. Mit den fertigen<br />

Simit fährt er an den Strand.<br />

Er weiß noch immer, warum er<br />

nach Antalya gegangen ist. Weiß genau,<br />

was er an der Stadt liebt. „Schau<br />

dich um“, sagt er. „Das alles wäre in<br />

meiner Heimat nicht möglich.“ Er<br />

zeichnet mit seinem Zeigefinger<br />

einen Kreis um sein Gesicht, so als<br />

malte er ein Kopftuch. Hinter ihm<br />

flanieren junge Mädchen im Bikini,<br />

auf einem Basketballplatz werfen<br />

Jungen auf einen Korb, ihre Oberkörper<br />

sind nackt und verschwitzt.<br />

„Das hier ist wie Kalifornien.“<br />

Italien, Adria, 14.30 Uhr,<br />

Campingplatz Union Lido<br />

Die Pudlers schlendern über die<br />

Fußgängerzone des Campingplatzes.<br />

Vorbei am Juwelier und am Supermarkt,<br />

auch hier kauft man auf<br />

Deutsch und Knorr Fix Spaghetti<br />

Napoli. Herr Pudler sagt: „Wir haben<br />

es versucht, aber man kommt gar<br />

nicht dazu, Italienisch zu reden.“<br />

Nachmittags sind die Camper am<br />

Strand, nur auf Stellplatz 496 hört<br />

man Stimmen, die Freckmanns lösen<br />

Kreuzworträtsel. Sie sitzen hinter<br />

einem Arrangement aus Geranien,<br />

Petunien und Oleander.<br />

„Hier wird die Mittagsruhe eingehalten“,<br />

sagt sie. „Da hinten nicht<br />

immer. Die nennen uns drüben<br />

Grufti-Viertel.“ –„Hier ist auf den<br />

meisten Wegen Radfahren verboten“,<br />

sagt er. „Das schätzen wir“, sagt<br />

sie. „Tiere sind verboten“, sagt er.<br />

„Das schätzen wir auch“, sagt sie.<br />

Nur die Eulen in der Pinie neben<br />

dem Vorzelt machen Ärger. Aber<br />

Herr Freckmann hat eine Lösung. Er<br />

schlägt mit einem Hammer gegen<br />

den Baum, damit die Eulen nicht auf<br />

das Vorzelt kacken.<br />

Frankreich, Saint-Tropez, 15 Uhr,<br />

Beachclub Nikki Beach<br />

Hank, der Hotelier, ist gestern Nacht<br />

mit Julianna, seiner jungen Verlobten,<br />

in der Yacht eingeschlafen,<br />

deswegen hat er es nicht ins Les<br />

Caves geschafft. Sagt er.<br />

Die beiden kommen gerade im<br />

Beachclub Nikki Beach an. Julianna<br />

bewegt sich wiegend auf ein Lederbett<br />

am Pool zu. Viele hier tragen<br />

wie sie hohe Absätze zum Bikini.<br />

Viele haben Pobacken, geformt von<br />

Gotteshand. Oder der eines Chirurgen.<br />

Hank, barfuß und in blauen<br />

Shorts, sinkt neben Julianna aufs<br />

Bett. Er lächelt so, wie es nur eine<br />

Zahnaufhellung liefern kann. Über<br />

ihr Alter wollen beide nicht sprechen.<br />

Oh please, no ages.<br />

4<br />

60 15.8.2013<br />

15.8.2013 61


Eine Leopardin trägt den Champagner<br />

heran. Alle Kellner sind<br />

verkleidet, es ist Zirkusparty. Später<br />

werden männliche Gäste Champagner<br />

in die Luft spritzen. Jeder von<br />

ihnen wird schöne Mädchen antanzen.<br />

Ich gebe dir Champagner, du<br />

gibst mir Sex, so einfach ist das hier.<br />

Hank nimmt Julianna an die Hand,<br />

sie wollen sich auf der Yacht ausruhen,<br />

bevor die Clubnacht beginnt.<br />

Libyen, Misrata, 15.30 Uhr,<br />

Café Morganti<br />

Ein starker arabischer Kaffee, eine<br />

Zigarette. Mohammed Derraija<br />

trifft sich mit einem Cousin. Die<br />

Prüfung war schwierig, sagt er,<br />

anfangs war er nervös, dann lief es<br />

besser. Vielleicht 49 oder 50 Punkte<br />

von 60. Vielleicht ein erster Schritt<br />

zum Stipendium in England.<br />

Er erzählt vom Hass seiner Freunde.<br />

Sie sind radikal geworden. Sie<br />

verachten alle, die damals nicht<br />

kämpften. Alle, die im Verdacht stehen,<br />

dass sie nicht eindeutig gegen<br />

Gadhafi gewesen sein könnten.<br />

Eine Familie, erzählt Mohammed,<br />

hatte Verwandte in einer Stadt, die<br />

mit Misrata verfeindet ist. Als die<br />

Familie von einem Besuch dort<br />

zurückkam, fand sie ihr Haus von<br />

Rebellen besetzt. Allein der Besuch<br />

galt schon als Verrat. „Die Familie<br />

kann nichts tun“, sagt Mohammed,<br />

„sie steht auf der Straße.“<br />

Mohammed ist ein Kind des arabischen<br />

Frühlings, er weinte vor<br />

Freude, als Gadhafi starb, er glaubte<br />

an die Demokratie. Jetzt möchte<br />

er nichts mehr von Politik wissen.<br />

Er möchte gute Noten. Das Stipendium<br />

in England. Er möchte bloß<br />

noch weg aus Libyen.<br />

Griechenland, Insel Ithaka,<br />

15.48 Uhr, vor der Bucht Skinos<br />

Jannis Kassianos, der Bürgermeister,<br />

der letzte Nacht den Hummer teilte,<br />

steht auf seinem Boot. Seit ein paar<br />

Stunden liegt es in der Bucht Skinos<br />

vor Anker. Türkisblaues Wasser,<br />

feiner Sandstrand. Kassianos sagt:<br />

„Kommt, lasst uns schwimmen!“<br />

Er springt ins Wasser.<br />

Erfrischt erzählt Kassianos die<br />

Geschichte, die gerade alle hören<br />

wollen, weil sie mal nicht von der<br />

Krise handelt, sondern von einer Verheißung.<br />

Die Geschichte von Scheich<br />

Hamad bin Chalifa al-Thani, gerade<br />

abgedankter Emir von Katar, der die<br />

Inseln von Koralia Grivas kaufen<br />

will, wie auch schon zuvor eine in der<br />

Nachbarschaft. Was in ihm vorgegangen<br />

sei, als er die Nachricht<br />

hörte? „Das ist ein Lottogewinn“, sagt<br />

er. Der Emir werde sagenhafte 500<br />

Millionen Euro in der Region investieren.<br />

Kassianos’ Augen funkeln,<br />

als er das sagt. „Wo wird der Emir<br />

fündig werden, wenn er Handwerker<br />

oder Personal sucht? In Ithaka.“ Dann<br />

sagt er: „Weißt du was? Ich bin der<br />

Bürgermeister von Griechenland.“<br />

Gazastreifen, 16.40 Uhr,<br />

am Strand<br />

Bis vor einem Jahr hatte Mahmud,<br />

der Surfer, einen dieser begehrten<br />

Jobs. Strand und blauer Himmel,<br />

bezahlt: Er war Rettungsschwimmer.<br />

Jetzt ist er arbeitslos, wie 60<br />

Prozent der Männer in seinem Alter.<br />

Ihm bleibt der Strand. Das Surfen.<br />

Familien bauen ihre Zelte auf.<br />

Männer rollen kleine Teppiche aus,<br />

sinken auf die Knie und beten. Mütter<br />

in ihren langen Gewändern plaudern,<br />

bis ihre Kinder sie an die Hand<br />

nehmen, sie ins Wasser ziehen und<br />

die ganze Kleidung voll Wasser<br />

gesogen ist. Über den Köpfen schweben<br />

Drachen, rote, gelbe, pinke.<br />

Mahmud schmirgelt sein Surfbrett.<br />

Er nimmt es unter den Arm<br />

und läuft los, über den Strand, durch<br />

das Wasser, wirft sich auf sein Brett,<br />

das Wasser spritzt. Seine Freunde<br />

hinterher. Sie paddeln los, immer<br />

weiter. Auf einmal bläst er die Trillerpfeife.<br />

„Nach rechts, los!“, ruft er.<br />

Den Wellen entgegen. Endlich ist<br />

eine groß genug. Die Welle trägt.<br />

„Wenn ich hier draußen bin, auf<br />

dem Meer“, sagt er, „vergesse ich alles,<br />

alle Probleme, das ganze verfahrene<br />

Leben hier. Auf dem Surfbrett<br />

bin ich frei. Das ist wie fliegen.“<br />

Antalya, Türkei<br />

Der Strandhändler<br />

Hüsseyin, der<br />

Sohn von Hadin<br />

Ipek, balanciert<br />

das Tablett mit<br />

den Sesamringen<br />

durch den Sand.<br />

Sein Vater hat<br />

am frühen Morgen<br />

den Teig<br />

selbst geknetet<br />

Libanon, Beirut, 17.48 Uhr,<br />

Stadtteil Manara<br />

„Wo seid ihr her?“, fragt Safwan, der<br />

junge Syrer, die Kinder, die im seichten<br />

Wasser am Leuchtturm planschen.<br />

„Aus Aleppo“, rufen die einen.<br />

„Aus Hama“, „aus Qamishli“, die anderen.<br />

Ganz Syrien, so scheint es, ist<br />

an diesem Nachmittag an den Kieselstränden<br />

von Beirut versammelt.<br />

Nicht in den Beachclubs, wo reiche<br />

Libanesen eisgekühlten Rosé aus<br />

Plastikbechern trinken.<br />

„Und woher bist du?“, fragt der<br />

Junge. „Aus Damaskus“, sagt Safwan.<br />

„Geht ihr bald zurück?“ – „Itha Allah<br />

rad – bald, wenn Gott es so will.“<br />

Safwan zieht weiter am Ufer entlang.<br />

Die Tage in Beirut können unendlich<br />

lang sein. Es gibt nichts zu<br />

tun – außer zu warten. Und dieser<br />

einen Frage auszuweichen, die ihn<br />

ständig verfolgt. Was soll nur aus<br />

mir werden? „Manchmal glaube ich,<br />

ich werde verrückt“, sagt Safwan.<br />

„Aber hier, am Meer, kann ich ein<br />

bisschen Ruhe finden.“ Bis ihn die<br />

Frage wieder einholt.<br />

Marokko, Tanger, 18.05 Uhr,<br />

Internetcafé TangerNet<br />

Winzo, der Flüchtling, hat Facebook<br />

geöffnet. Fotos seiner Geschwister,<br />

die es geschafft haben. Die Schwester<br />

in Schwaben. Der Bruder in<br />

Zürich. Beide haben europäische<br />

Partner gefunden. Es ist, als wolle<br />

Winzo sich beweisen, dass der Traum<br />

von Europa keine Spinnerei ist.<br />

Er hat Angst vor der Überfahrt<br />

nach Europa. Zu viele sterben. Er<br />

versucht sich zu beruhigen, ist ja nur<br />

ein Fluss. Er hat aber vor allem davor<br />

Angst, es nicht zu versuchen.<br />

Angst, einer der Menschen zu bleiben,<br />

die eben Pech hatten. Falsches<br />

Land, falscher Kontinent. „Ich finde<br />

hier keinen Frieden“, sagt Winzo.<br />

Die Flüchtlinge hoffen, dass<br />

sie es in die internationalen Gewässer<br />

schaffen. Dass die spanische<br />

Küstenwache sie entdeckt. Dass<br />

sie nicht in die Bugwellen der Containerschiffe<br />

geraten. Dass es sie<br />

nicht von Bord reißt. Winzo hat einmal<br />

bemerkt, dass einige Jungs<br />

nachts aus dem Hotel verschwanden,<br />

und er sagt: „Am Abend kam<br />

ein Anruf. Sie haben es nicht geschafft.“<br />

Letzte Nacht hat Winzo mit seiner<br />

Mutter telefoniert, zum ersten<br />

Mal seit Jahren. Er hatte etwas Geld<br />

und plötzlich das Gefühl, dass er<br />

gern ihre Stimme hören würde.<br />

„Hier ist dein Sohn Winzo“, sagte er.<br />

Die Mutter wollte es zuerst nicht<br />

glauben, dann weinte sie. Sie sprachen<br />

eine Minute. Länger konnte<br />

FOTOS: IVOR PRICKETT/PANOS PICTURES; YANNIS KONTOS<br />

Winzo es sich nicht leisten. „Pass auf<br />

dich auf“, sagte seine Mutter.<br />

Italien, Adria, 20 Uhr,<br />

Campingplatz Union Lido<br />

Die Pudlers, die ihren 50. Urlaub auf<br />

Union Lido feiern, haben Besuch.<br />

Ein befreundetes Paar aus dem<br />

Grufti-Viertel ist gekommen, man<br />

trinkt Rotwein der Marke Union<br />

Lido, Frau Pudler sagt: „Im Grufti-<br />

Viertel, da schneiden die mit der<br />

Schere den Rasen.“ Alle lachen. Warum<br />

sie alle immer wiederkommen?<br />

Der Gast sagt: „Die Sonne, die mir<br />

hier auf den Bauch scheint, ist die<br />

gleiche, die mir auf den Malediven<br />

auf den Bauch scheint.“<br />

Frankreich, Saint-Tropez, 21 Uhr,<br />

auf der Privatyacht<br />

Die Sonne ist untergegangen, die<br />

Yachten sind hell erleuchtet. Auf der<br />

Promenade spazieren Touristen vorbei,<br />

starren auf die Schiffe. Deren Besitzer<br />

starren zurück.<br />

„Wir sind eine Show für sie, und<br />

sie sind eine Show für uns“, sagt<br />

Hank. Er sitzt auf seiner Ledercouch<br />

am obersten Deck. Es macht ihn<br />

stolz, dass die „Impulsive“ so oft<br />

fotografiert wird, seine Yacht, die<br />

so heißt wie seine Firmengruppe,<br />

und die heißt so, sagt er, „weil ich<br />

so impulsiv bin“. Die „Impulsive“<br />

hat: drei Stockwerke, vier Gästeschlafzimmer,<br />

sieben Mann Besatzung.<br />

Sie ist 18 Millionen Dollar<br />

wert. „Das finanziell Klügste ist,<br />

keine Yacht zu besitzen, sondern<br />

eine zu chartern“, sagt Hank. „Aber<br />

ich will mich nicht an Hotelzimmer<br />

gewöhnen.“<br />

Gerade gehen Freunde aus New<br />

York an Bord, sie wollen mitfeiern.<br />

Morgen früh werden Hank und<br />

Julianna in einen Helikopter steigen,<br />

nach Nizza fliegen und von dort<br />

zurück nach New York.<br />

Ionisches Meer, 21.45 Uhr,<br />

Kurs Malta, 36° Nord, 15° Ost<br />

Kapitän Block steht auf der Theaterbühne<br />

des Schiffes und verlost eine<br />

Seekarte. Das Schiff steuern seine<br />

Stellvertreter. Sein Job ist es heute,<br />

für die Gäste da zu sein, das Schiff zu<br />

erklären und auf Fotos in weißer<br />

Uniform zu posieren. Er hat auch<br />

gut 100 Mails bearbeitet und einen<br />

Teil des Schiffes inspiziert.<br />

Jetzt tritt er auf die Bühne und<br />

sagt: „Ich hoffe, es war wunderschön,<br />

damit sich’s reimt, auf Wiedersehen.“<br />

Danach geht er in seine<br />

Kabine und legt sich hin. Um 3.30<br />

Uhr wird ein Lotse an Bord kommen,<br />

dann werden sie anlegen im Hafen<br />

von Valletta, der Hauptstadt von<br />

Malta. Block wird von Bord gehen.<br />

Drei Monate wird es dauern, bis er<br />

das Mittelmeer wiedersieht.<br />

Ithaka,<br />

Griechenland<br />

Der Bürgermeister<br />

Jannis Kassianos<br />

macht einen<br />

Freudensprung<br />

ins Mittelmeer.<br />

Er erhofft sich<br />

vom Verkauf der<br />

Insel an Katar<br />

viele neue<br />

Arbeitsplätze<br />

Libanon, Beirut, 23 Uhr, ein<br />

billiges Hotel hinter dem Hafen<br />

Safwan kocht Rührei mit Tomaten<br />

und Zwiebeln. Nur die billigsten Zutaten.<br />

Das Zimmer teilt er sich mit<br />

einem Iraker und einem Libanesen<br />

vom Land. Es kostet 150 Dollar im<br />

Monat. Wenn das Geld nicht reicht,<br />

übernachtet er auf einer Bank.<br />

Er kam damals über die Berge in<br />

den Libanon. Am Anfang arbeitete er<br />

in einem Schnellimbiss. Doch dann<br />

kontrollierte ihn die Polizei, verhaftete<br />

ihn, er hatte ja keinen Einreisestempel<br />

im Pass. Zwei Monate saß er<br />

im Gefängnis. Danach hatte er einen<br />

Stempel: „Arbeitsverbot. Ausreise<br />

binnen einer Woche.“ Doch wie<br />

sollte er ausreisen? Der Pass war<br />

abgelaufen. Er dürfte nicht im Libanon<br />

sein, in ein anderes Land kann<br />

er auch nicht, ohne Pass, und ginge<br />

er zurück nach Syrien, müsste er um<br />

sein Leben fürchten. Seine Hoffnung<br />

hängt an einem Zettel in der Hosentasche.<br />

Darauf hat eine Beamtin der<br />

Vereinten Nationen sein Passbild<br />

gedruckt und die Registriernummer<br />

<strong>24</strong>5-13C00436. „Vielleicht holen<br />

sie mich bald raus“, sagt Safwan.<br />

Nächste Woche wird er bei der<br />

Beamtin im UN-Büro nachfragen,<br />

ob endlich ein Land gefunden ist,<br />

das ihn aufnimmt. Wahrscheinlich<br />

wird sie wie immer antworten: „Hab<br />

Geduld. Es gibt so viele wie dich.“<br />

Der Satz klingt wie eine Untertreibung.<br />

Sie könnte auch sagen: „Es gibt<br />

546 000 wie dich. Allein im Libanon.“<br />

Italien, Adria, 23 Uhr,<br />

Campingplatz Union Lido<br />

Haus- und Platzordnung, Bestimmung<br />

5, Ruhezeiten: „Nachtruhe von<br />

23:00 bis 7:00 Uhr. Und das heißt<br />

wirklich RUHE und gegenseitige,<br />

größtmögliche Rücksichtnahme, sowohl<br />

innerhalb des Platzes, als auch<br />

auf der Strandpromenade und am<br />

Strand. Wegen der unvermeidlichen<br />

Geräuschbelästigung ist, im Interesse<br />

der Nachbarn, der Betrieb von<br />

Klimaanlagen während der Ruhezeiten<br />

nicht gestattet.“<br />

Türkei, Antalya, gegen<br />

Mitternacht, Nachtclub Ally<br />

Özlem Acay sitzt wieder im Club<br />

Ally, hinter einer Kasse. Noch ist wenig<br />

los. Die Luft ist feucht, Schweiß<br />

steht auf Özlems Stirn. Draußen<br />

fahren die Türsteher mit dem Zeigefinger<br />

über die Gästeliste. Dann<br />

beginnt die Party, aus den Boxen<br />

dröhnt „Sex Bomb“ von Tom Jones,<br />

und die junge Türkei erwacht. 2<br />

Steffen Gassel (r.),<br />

Beirut, kam durch<br />

den Film „Ein Sonntag<br />

im August“ auf<br />

die Idee für diese Geschichte. Raphael<br />

Geiger (l.) und Nicolas Büchse waren in<br />

Marokko und Italien unterwegs und fügten<br />

zudem die Eindrücke der Reporter Ferry<br />

Batzoglou, Felix Dachsel, Karin Prummer,<br />

Felix Rettberg und Dominik Stawski zu<br />

diesem <strong>24</strong>-Stunden-Report zusammen.<br />

62 15.8.2013<br />

15.8.2013 63

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