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Joachim Döbler, Bürgerschaftliches Engagement 10 Grenzen und Risiken bürgerschaftlichen Engagements Fragen zum sozial- oder gesellschaftspolitischen Potential des Neuen Ehrenamtes sind also keineswegs "unschuldig". Sie sind eng verwoben mit dem Diskurs um die Grenzen des Sozialstaates. Die öffentlichen Kassen seien leer, soziale Leistungen seien in dem bestehenden Umfang nicht länger bezahlbar, der Sozialstaat sei an seinen Grenzen angelangt - dies ist das ökonomische a priori, das insbes. durch die Tatsache, daß Familien immer weniger in der Lage sein werden, den mit der Alterslawine anfallenden Pflege- und Versorgungsbedarf zu decken, an Gewicht gewinnt. Wesentliches Argument zunächst für die Wiederentdeckung des Ehrenamts, der Selbsthilfe und der Eigenarbeit und später auch für die proklamatorische Aufwertung des informellen Sektors zur "Neuen Kultur des Helfens" ist zweifelsohne die Hoffnung auf eine Kostenentlastung der öffentlichen, vor allem der kommunalen Haushalte. In diesem Kontext bietet die kulturkritische Einlassung, ein Zuviel an Staat habe soziale Potentiale, die in Selbsthilfe und Engagement begründet sind, ausgetrocknet, einen willkommenen ideologischen Flankenschutz. Der Bürger verlasse sich, so die medienwirksame These, lieber auf den Staat als die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Dieser gedankliche Ansatz, der die Klage über Staatsgläubigkeit und Abgreifmentalität mit Forderung nach einer Wiederbelebung des Gemeinschaftssinns verbindet, hat sich in den letzten Jahren als besonders anschlußfähig erwiesen. Er ist geeignet, sehr unterschiedliche soziale und politische Interessen mehrheitsbildend unter einer Idee zusammenzubringen: daß nämlich die Alternativen zu einer aufgeblähten Sozialbürokratie, zur staatlichen Regulierung und die Auswege aus dem Kältestrom der Moderne in lokalen und selbstorganisierten, von Bürgersinn getragenen Gemeinschaftsbildungen zu suchen seien. Dies ist die Grundidee des aus dem amerikanischen Kulturkreis kommenden Kommunitarismus. "Die Kommunitarier", so referierte der Amerikanische Soziologe Amitai Etzioni 1996 vor dem deutschen Bundestag, schlagen vor " daß ein starker, aber reduzierter Kern des Sozialstaates erhalten bleiben sollte, während andere Aufgaben den Individuen, Familien und Gemeinschaften übertragen werden sollten." Der Staat, der soziale Netzwerke fördert und Selbsthilfepotentiale maximiert, ist also untrennbar verbunden jenem Staat, der „Kostendämpfungen“ durchsetzt, der Ausgabenvolumina begrenzt und der Leistungen auf Mindestsicherungen reduziert. Deutlichstes Beispiel hierfür ist die Pflegeversicherung, die eine Deckelung der Pflegesätze mit der Förderung von Selbsthilfe verbindet. Im Klartext von §4 Abs.2: "Bei häuslicher und teilstationärer Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung die familiale, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung." Nicht umgekehrt. Die generalisierte Risikoabsicherung setzt also ausdrücklich "Solidarität" immer schon voraus. Staatliche Politik der Freiwilligenarbeit, wie sie vor allem in Baden-Württemberg mit den landespolitischen Förderprogrammen und Kampagnen zum Aufbau "Bürgerschaftlichen Engagements" vorangetrieben wird, verfolgt dementsprechend eine Doppelstrategie: den Trägern sozialer Dienste Ehrenamtliche zuzuführen und sich zugleich abzusetzen von einer weiteren Ausweitung sozialstaatlicher Interventionen.

Joachim Döbler, Bürgerschaftliches Engagement 11 Nun mag man - vielleicht zurecht - argumentieren, daß die zukünftigen Belastungen des Sozialstaates uns kaum eine andere Wahl lassen werden. Dennoch muß es erlaubt sein, auf die Schwachstellen und Risiken dieses Ansatzes hinzuweisen. Sie sind zunächst, um von dem Beispiel der Pflegeversicherung auszugehen, in der Tatsache begründet, daß diese Doppelstrategie ungleichzeitig gefahren wird: Während die Rationierung sozialer Leistungen im Prinzip innerhalb einer Legislaturperiode durchgezogen werden kann und wird, läßt sich der Aufbau einer neuen Kultur des Sozialen nur in langen Zeitwellen verwirklichen. Ganz zu schweigen von sozialstrukturellen Verwerfungen. Sie könnten die Bürgertugenden der "Solidarität" und "Zivilität" gerade dort zu einer knappen Ressource werden lassen, wo die Not am größten wird oder soziale Abbrüche drohen. Angesichts millionenfacher Bedürftigkeit ist staatlich organisierte Pflegeabsicherung angesagt, angesichts millionenfacher Arbeitslosigkeit Arbeitsmarktpolitik. Diese Probleme sind durch "Gemeinsinn" nicht zu lösen. Auch nicht durch das Konzept der Bürgerarbeit. Bürgerarbeit ist eine der Strategieempfehlungen, die Sie im 3. Band "Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage" der Bayrisch/Sächsischen Zukunftskommission nachlesen können. Das Konzept der Bürgerarbeit verfolgt die Idee, unsere bisherige auf Erwerbsarbeit zentrierte Gesellschaft durch eine weitere Säule zu ergänzen. Neben die Erwerbsarbeit soll die Bürgerarbeit treten, neben die Arbeits- und Freizeit die Sozialzeit. Mit diesem Schritt – so die Vision – könnte nicht nur Bedeutungsschwund von Erwerbsarbeit und damit die Krise des Sozialstaates gemildert, sondern insgesamt und langfristig ein neues Modell der gesellschaftlichen Integration geschaffen werden. Inhaltlich werde Bürgerarbeit dadurch bestimmt, daß sie dem Gemeinwohl diene, wobei das diskutierte Spektrum von der Selbsthilfe über symbolische und "Marginaltätigkeiten" (Gökkenjan, 90) bis zum Engagement in Vereinen, Initiativen oder Bürgerwehren reicht. Bürgerarbeit wird nicht entlohnt, sondern belohnt – durch Qualifikationsangebote, Ehrungen und vor allem sog. "Favor Credits", d.h. Möglichkeiten zur kostenfreien bzw. ermäßigten Nutzung öffentlicher Einrichtungen. Auf den ersten Blick ist an diesem Modell wenig auszusetzen, und es ist durchaus positiv zu bewerten, daß die Fixierung auf Erwerbsarbeit – wie auch schon durch die "Entdeckung" der Reproduktionsarbeit – relativiert wird. Allerdings wird die Geschichte zeigen, welche Integrationskraft dieses Modell wirklich entfalten wird. Zumal es ja nicht an die Stelle der Erwerbsgesellschaft tritt, sondern neben diesem "traditionellen" einen weiteren Integrations- und Legitimationszusammenhang konstituiert. Was die verteilungs- und gerechtigkeitsrelevante Frage aufwirft, welcher sozialen Gruppe über welchen Sektor gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird. Denken wir hierbei zunächst an Senioren, so entspräche dies einem alterssegregierten Umsetzungsmodell, das den zweiten von Erwerbsarbeit geprägten Lebensabschnitt als abgeschlossen voraussetzt. Konzentrieren wir uns auf Personengruppen, die keine Chance auf Teilhabe an der Erwerbsgesellschaft haben, so liefe dieses – sozial segregierende – Modell Gefahr, soziale Ungleichheit auf höherem Niveau zu zementieren: die 50/50- Gesellschaft. Eher mittelfristig argumentieren Ute Klammer und Gerhard Bäcker in einem WSI- Positionspapier: Bürgerarbeit sei im Kontext der gesamten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Empfehlungen zu betrachten. Hier zeige die Praxis, daß sich im Ehren-

Joachim Döbler, <strong>Bürgerschaftliches</strong> Engagement 11<br />

Nun mag man - vielleicht zurecht - argumentieren, daß die zukünftigen Belastungen<br />

<strong>de</strong>s Sozialstaates uns kaum eine an<strong>de</strong>re Wahl lassen wer<strong>de</strong>n. Dennoch muß es erlaubt<br />

sein, auf die Schwachstellen und Risiken dieses Ansatzes hinzuweisen.<br />

Sie sind zunächst, um von <strong>de</strong>m Beispiel <strong>de</strong>r Pflegeversicherung auszugehen, in <strong>de</strong>r<br />

Tatsache begrün<strong>de</strong>t, daß diese Doppelstrategie ungleichzeitig gefahren wird: Während<br />

die Rationierung sozialer Leistungen im Prinzip innerhalb einer Legislaturperio<strong>de</strong><br />

durchgezogen wer<strong>de</strong>n kann und wird, läßt sich <strong>de</strong>r Aufbau einer neuen Kultur<br />

<strong>de</strong>s Sozialen nur in langen Zeitwellen verwirklichen. Ganz zu schweigen von sozialstrukturellen<br />

Verwerfungen. Sie könnten die Bürgertugen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r "Solidarität" und<br />

"Zivilität" gera<strong>de</strong> dort zu einer knappen Ressource wer<strong>de</strong>n lassen, wo die Not am<br />

größten wird o<strong>de</strong>r soziale Abbrüche drohen. Angesichts millionenfacher Bedürftigkeit<br />

ist staatlich organisierte Pflegeabsicherung angesagt, angesichts millionenfacher<br />

Arbeitslosigkeit Arbeitsmarktpolitik. Diese Probleme sind durch "Gemeinsinn" nicht zu<br />

lösen.<br />

Auch nicht durch das Konzept <strong>de</strong>r Bürgerarbeit. Bürgerarbeit ist eine <strong>de</strong>r Strategieempfehlungen,<br />

die Sie im 3. Band "Maßnahmen zur Verbesserung <strong>de</strong>r Beschäftigungslage"<br />

<strong>de</strong>r Bayrisch/Sächsischen Zukunftskommission nachlesen können. Das<br />

Konzept <strong>de</strong>r Bürgerarbeit verfolgt die I<strong>de</strong>e, unsere bisherige auf Erwerbsarbeit zentrierte<br />

Gesellschaft durch eine weitere Säule zu ergänzen. Neben die Erwerbsarbeit<br />

soll die Bürgerarbeit treten, neben die Arbeits- und Freizeit die Sozialzeit. Mit diesem<br />

Schritt – so die Vision – könnte nicht nur Be<strong>de</strong>utungsschwund von Erwerbsarbeit und<br />

damit die Krise <strong>de</strong>s Sozialstaates gemil<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn insgesamt und langfristig ein<br />

neues Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Integration geschaffen wer<strong>de</strong>n. Inhaltlich wer<strong>de</strong><br />

Bürgerarbeit dadurch bestimmt, daß sie <strong>de</strong>m Gemeinwohl diene, wobei das diskutierte<br />

Spektrum von <strong>de</strong>r Selbsthilfe über symbolische und "Marginaltätigkeiten" (Gökkenjan,<br />

90) bis zum Engagement in Vereinen, Initiativen o<strong>de</strong>r Bürgerwehren reicht.<br />

Bürgerarbeit wird nicht entlohnt, son<strong>de</strong>rn belohnt – durch Qualifikationsangebote,<br />

Ehrungen und vor allem sog. "Favor Credits", d.h. Möglichkeiten zur kostenfreien<br />

bzw. ermäßigten Nutzung öffentlicher Einrichtungen.<br />

Auf <strong>de</strong>n ersten Blick ist an diesem Mo<strong>de</strong>ll wenig auszusetzen, und es ist durchaus<br />

positiv zu bewerten, daß die Fixierung auf Erwerbsarbeit – wie auch schon durch die<br />

"Ent<strong>de</strong>ckung" <strong>de</strong>r Reproduktionsarbeit – relativiert wird. Allerdings wird die Geschichte<br />

zeigen, welche Integrationskraft dieses Mo<strong>de</strong>ll wirklich entfalten wird. Zumal es ja<br />

nicht an die Stelle <strong>de</strong>r Erwerbsgesellschaft tritt, son<strong>de</strong>rn neben diesem "traditionellen"<br />

einen weiteren Integrations- und Legitimationszusammenhang konstituiert. Was<br />

die verteilungs- und gerechtigkeitsrelevante Frage aufwirft, welcher sozialen Gruppe<br />

über welchen Sektor gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird. Denken wir hierbei<br />

zunächst an Senioren, so entspräche dies einem alterssegregierten Umsetzungsmo<strong>de</strong>ll,<br />

das <strong>de</strong>n zweiten von Erwerbsarbeit geprägten Lebensabschnitt als abgeschlossen<br />

voraussetzt. Konzentrieren wir uns auf Personengruppen, die keine Chance auf<br />

Teilhabe an <strong>de</strong>r Erwerbsgesellschaft haben, so liefe dieses – sozial segregieren<strong>de</strong> –<br />

Mo<strong>de</strong>ll Gefahr, soziale Ungleichheit auf höherem Niveau zu zementieren: die 50/50-<br />

Gesellschaft.<br />

Eher mittelfristig argumentieren Ute Klammer und Gerhard Bäcker in einem WSI-<br />

Positionspapier: Bürgerarbeit sei im Kontext <strong>de</strong>r gesamten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen<br />

Empfehlungen zu betrachten. Hier zeige die Praxis, daß sich im Ehren-

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