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Die masurische Eisenbahnreise Von Arno Surminski Als der Herr noch auf Erden wandelte, kam er am späten Nachmittag, als er schon etwas müde war, ins Masurische und erschuf, bevor er einschlief, mit sanfter Hand und ohne viel nachzudenken, die masurische Wildnis. Seitdem ist Masuren ein Land ohne Eile, das gern die Zeit verschläft und seinen Menschen die Langeweile lehrt. Brachen neue Zeiten an, erreichten sie Masuren mit gehöriger Verspätung, so um die Vesperzeit, nachdem sie sich unterwegs ausgetobt hatten. Das elektrische Licht wurde ein Menschenleben später erfunden, das Telefon blieb lange stumm, die Ozeandampfer erreichten die Masurischen Seen nicht, und von den ersten Automobilen wird berichtet, dass sie ihren Dienst verweigerten, als sie der masurischen Wildnis ansichtig wurden. Die Luftschifffahrt, die überall mit Lärm und Getöse daherkam, zeigte sich in Masuren mit bunten Ballons und dicken Zeppelinen, die lautlos, ohne Mensch und Tier zu erschrecken, ihre Schattenbilder über die Seen zogen. Auch die Eisenbahn näherte sich mit Bedacht. Ihr größter Fehler war es, dass bei ihrem Anblick die Pferde durchgingen. Darum stahlen sich die Züge unauffällig durchs Land, nahmen gern die lieblichere Form der Kleinbahn an und vermieden unterwegs jedes Läuten und Pfeifen. Auch bewahrte sich die masurische Eisenbahn eine gewisse Beschaulichkeit dadurch, dass sie an Steigungen erschöpft stehen blieb und den Fahrgästen Gelegenheit gab, mit Wassereimerchen zum nahen See zu laufen, um Flüssigkeit für den Dampfkessel zu holen. Wintertags war sie oft bockig, wollte bei Stiemwetter nicht fahren oder gab den Reisenden Zeit, sie aus Schneeschanzen freizuschaufeln. Die masurischen Menschen erfanden die Langsamkeit und das Fluchen. Ihnen sagt man nach, dass sie mehr trinken als andere und sich im Winter gern mit ein paar Flaschen Bärenfang einschneien lassen. Auch liegt es ihnen mehr, Fische zu fangen und Rehböcke zu jagen, als die Felder zu bestellen. Doch ihre Eisenbahnen lassen sie pünktlich fahren. Hat der Schaffner die Zeit verschlafen, fährt der Lokomotivführer schon mal los, um die Pünktlichkeit zu beachten. Nach einem Kilometerchen hält er auf freier Strecke vor der Siedlung, in der der Schaffner zu nächtigen pflegt, pfeift und läutet, bis der Verschlafene mit wehenden Rockschößen über den Acker gerannt kommt, seine Dienstpflichten zu erfüllen. Auch die Oma Kossak konnte ein Lied singen von der ungewöhnlichen Pünktlichkeit der masurischen Eisenbahn. In dem Jahr, als der Hindenburg zu Grabe getragen wurde, wollte sie ihre erste Reise unternehmen, aber als sie mit letzter Luft das Treppchen zum Bahnhof erreichte, war es schon drei Minuten über höchste Zeit und vom Personenzug nach Nikolaiken nur eine Rauchfahne übrig geblieben, die trübe in den Bäumen hing und sich bedächtig auf den leeren Bahnsteig und die alte Frau senkte. 52

Na, wenn es so ist, wird das Trudke ihr erstes Kind allein auf die Welt bringen müssen. Die alte Frau setzte sich auf die Bank, um zu verpusten. Sie legte Gesangbuch und Katechismus neben sich, trank ein Schlubberchen Himbeersaft und war eigentlich recht zufrieden, dass die übermäßige Pünktlichkeit der masurischen Eisenbahn ihr diese Reise erspart hatte. Bloß das Trudke, das tat ihr leid. Der Bahnhofsvorsteher, der nach der Abfertigung des Nikolaiker Zuges auch nuscht zu tun hatte, nahm neben ihr Platz und sagte die Abfahrtzeiten späterer Züge auf. Über vier Stunden sollte die Oma Kossak sich die Zeit vertreiben, nach dem masurischen Wetter und dem nächsten Zug Ausschau halten. Als der Mann hörte, dass es um Leben oder Tod ging, stellte er die Signale so, dass der Güterzug, der leere Rübenwagen von Ortelsburg bringen sollte, zum Stehen kommen musste. Er besprach sich mit dem Lokomotivführer, warf ein Bund Stroh auf den letzten Wagen, dann hoben die beiden Männer Oma Kossak, der es gar nicht recht war, auf den offenen Waggon, setzten sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung ins Stroh, reichten ihr die Tasche, in der Eier, Speck und ein Literchen Schmand mitreisten, und versprachen der alten Frau, dass sie in einer halben Stunde unversehrt in Nikolaiken eintreffen werde. Damit die Zugluft keinen Hexenschuss verursacht, spannten sie einen blau karierten Regenschirm auf, unter dem die Oma Kossak saß wie die Marktfrauen von Marggrabowa. Nicht bedacht hatten sie den rauchigen Atem der Lokomotive, der die alte Frau so in Schwaden hüllte, dass sie die liebliche Landschaft hinter einem Schleier sah, wenn überhaupt. Die meiste Zeit hielt sie die Augen geschlossen und klammerte sich ans Gesangbuch, denn es kam ihr so vor, als sei dieses keine Reise nach Nikolaiken, sondern zum Herrn der Unterwelt, der mit Pech und Schwefel regiert. Da auch die masurischen Güterzüge es mit der Pünktlichkeit hielten, kam sie wie versprochen nach einer halben Stunde auf dem Nikolaiker Güterbahnhof an. Sie warf das Strohbund auf den Schotter, nahm den aufgespannten Regenschirm nebst Tasche in beide Hände und sprang hinterher. Ein Weilchen musste sie sich am Geländer festhalten, weil sie bedusselt war von der weiten Reise, aber dann fand sie den Weg zu ihrer Tochter und kam mit Dreiviertelstunde Verspätung gerade nach Kleinmittag an. Der Gnubbel war schon geboren, wog sechseinhalb Pfund und wurde gerade gebadet. Ein paar Tage blieb Oma Kossak in Nikolaiken, versorgte Mutter und Kind, bis ihr das städtische Leben zu aufregend wurde und sie sich bangte nach der masurischen Wildnis. Das Trudke wollte sie erster Klasse nach Hause schicken, denn die Oma sollte erfahren, wie schön Eisenbahnreisen wirklich sein können. Aber die alte Frau bestand darauf, mit dem Milchwagen zurück zu klappern. Pferdefuhrwerke haben zwar auch ihre Eile, bergab gehen sie meistens im Trab, aber sie lassen den Gedanken Zeit und geben dem Auge Raum für die Landschaft zu beiden Seiten. Auch gefiel es ihr, unterwegs Buttermilch zu trinken und mit dem Milchkutscher über alte Zeiten zu plachandern, als 53

Die masurische Eisenbahnreise<br />

Von Arno Surminski<br />

Als der Herr noch auf Erden wandelte,<br />

kam er am späten Nachmittag, als<br />

er schon etwas müde war, ins Masurische<br />

und erschuf, bevor er einschlief,<br />

mit sanfter Hand und ohne<br />

viel nachzudenken, die masurische<br />

Wildnis. Seitdem ist Masuren ein<br />

Land ohne Eile, das gern die Zeit verschläft<br />

und seinen Menschen die<br />

Langeweile lehrt. Brachen neue Zeiten<br />

an, erreichten sie Masuren mit<br />

gehöriger Verspätung, so um die<br />

Vesperzeit, nachdem sie sich unterwegs<br />

ausgetobt hatten. Das elektrische<br />

Licht wurde ein Menschenleben<br />

später erfunden, das Telefon blieb<br />

lange stumm, die Ozeandampfer erreichten<br />

die Masurischen Seen nicht,<br />

und von den ersten Automobilen wird<br />

berichtet, dass sie ihren Dienst verweigerten,<br />

als sie der masurischen<br />

Wildnis ansichtig wurden. Die Luftschifffahrt,<br />

die überall mit Lärm und<br />

Getöse daherkam, zeigte sich in Masuren<br />

mit bunten Ballons und dicken<br />

Zeppelinen, die lautlos, ohne Mensch<br />

und Tier zu erschrecken, ihre Schattenbilder<br />

über die Seen zogen. Auch<br />

die Eisenbahn näherte sich mit Bedacht.<br />

Ihr größter Fehler war es, dass<br />

bei ihrem Anblick die Pferde durchgingen.<br />

Darum stahlen sich die Züge<br />

unauffällig durchs Land, nahmen<br />

gern die lieblichere Form der Kleinbahn<br />

an und vermieden unterwegs<br />

jedes Läuten und Pfeifen. Auch bewahrte<br />

sich die masurische Eisenbahn<br />

eine gewisse Beschaulichkeit<br />

dadurch, dass sie an Steigungen erschöpft<br />

stehen blieb und den Fahrgästen<br />

Gelegenheit gab, mit Wassereimerchen<br />

zum nahen See zu laufen,<br />

um Flüssigkeit für den Dampfkessel<br />

zu holen. Wintertags war sie oft bockig,<br />

wollte bei Stiemwetter nicht fahren<br />

oder gab den Reisenden Zeit, sie<br />

aus Schneeschanzen freizuschaufeln.<br />

Die masurischen Menschen erfanden<br />

die Langsamkeit und das Fluchen.<br />

Ihnen sagt man nach, dass sie mehr<br />

trinken als andere und sich im Winter<br />

gern mit ein paar Flaschen Bärenfang<br />

einschneien lassen. Auch liegt es ihnen<br />

mehr, Fische zu fangen und<br />

Rehböcke zu jagen, als die Felder zu<br />

bestellen. Doch ihre Eisenbahnen<br />

lassen sie pünktlich fahren. Hat der<br />

Schaffner die Zeit verschlafen, fährt<br />

der Lokomotivführer schon mal los,<br />

um die Pünktlichkeit zu beachten.<br />

Nach einem Kilometerchen hält er auf<br />

freier Strecke vor der Siedlung, in der<br />

der Schaffner zu nächtigen pflegt,<br />

pfeift und läutet, bis der Verschlafene<br />

mit wehenden Rockschößen über<br />

den Acker gerannt kommt, seine<br />

Dienstpflichten zu erfüllen.<br />

Auch die Oma Kossak konnte ein<br />

Lied singen von der ungewöhnlichen<br />

Pünktlichkeit der masurischen Eisenbahn.<br />

In dem Jahr, als der Hindenburg<br />

zu Grabe getragen wurde, wollte<br />

sie ihre erste Reise unternehmen,<br />

aber als sie mit letzter Luft das<br />

Treppchen zum Bahnhof erreichte,<br />

war es schon drei Minuten über<br />

höchste Zeit und vom Personenzug<br />

nach Nikolaiken nur eine Rauchfahne<br />

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den leeren Bahnsteig und die alte<br />

Frau senkte.<br />

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