Sommer 2012 - Stadtgemeinschaft Tilsit eV - Landsmannschaft ...
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Das Märchen von der Witwe<br />
Von Heinz-Georg Podehl<br />
Wie jedermann weiß, grenzt Sassen<br />
im Norden an Pogesanien. Und in<br />
diesem Lande lebte eine widdewu, eine<br />
Witwe, mit Namen Sanglobe, allein<br />
und kinderlos in ihrem Haus, weitab<br />
am äußersten Rande eines Dorfes.<br />
Sie war in den besten Jahren, hatte<br />
aber keinerlei nähere Verwandtschaft,<br />
und das Leben fiel ihr sehr schwer, so<br />
allein. Ihr großes Unglück war, dass<br />
ihr Mann vor einem Jahr im Dezember<br />
an einer tückischen Krankheit gestorben<br />
war. Ja, damals war sie noch beliebt<br />
und angesehen, weil ihr Mann einer<br />
der bekanntesten Schwertfechter<br />
des Landes gewesen war. Doch jetzt<br />
kümmerte sich niemand mehr um sie.<br />
Sicher, sie hatten schon immer sehr<br />
zurückgezogen gelebt in ihrem großen<br />
Haus mit dem Fechtsaal. Denn<br />
ihr lieber Mann hatte seine vielen<br />
kunstvollen Fechtfiguren hier, verborgen<br />
vor fremden Augen, an lebensgroßen<br />
Puppen immer wieder geübt.<br />
Denn Ruhm verpflichtet.<br />
Oft hatte er auch seine Frau einspringen<br />
lassen als Partner, damit er sich<br />
mehr und mehr verbessern konnte in<br />
seiner Kunst. Die ganze Heimlichtuerei<br />
aber war ihm nötig erschienen,<br />
weil niemand während des Übens<br />
von seinen Schwächen erfahren sollte.<br />
Und zum anderen auch, weil kein<br />
Mensch wissen durfte, dass seine<br />
Frau mit dem Schwert umzugehen<br />
verstand, zumindest einigermaßen.<br />
Es hätte sicherlich viel Aufsehen gegeben,<br />
hätte man gewusst, dass eine<br />
Frau hier so ganz gegen die Sitten<br />
des Prussenlandes und entgegen<br />
den Geboten der Götter handelte.<br />
34<br />
Eines Tages im Winter streute<br />
Sanglobe wieder einige Körner als<br />
Futter vor die Tür ihres Hauses für eine<br />
Krähe, die sie seit etlichen Tagen<br />
regelmäßig besuchen kam, und dabei<br />
sang sie, wie schon öfter im letzten<br />
Jahr, das Lieblingslied ihres verstorbenen<br />
Mannes:<br />
Mais calabian, isarwi, labbai<br />
bhe en stas ränkan debikan:<br />
krawia-urminan kyrteis täns.<br />
Bhe kan mais lauxnos tit tusnan,<br />
aulaut wissai tuldisnan, spartin...<br />
Was so viel heißt, wie:<br />
Mein Schwert, getreu, ist gut<br />
und in der Hand so leicht:<br />
es schlägt ins rote Blut.<br />
Und wenn mein Stern sich neigt,<br />
ertrinkt der Freude Mut...<br />
Mit einem Mal sprach da die Krähe:<br />
„Bist du die Fechtwitwe, die das<br />
Schwert zu führen versteht?“<br />
Erschrocken unterbrach Sanglobe ihren<br />
Gesang und flüsterte ängstlich:<br />
„Still, still, niemand darf davon wissen!<br />
Ja, ich fechte um mein Leben<br />
gern, aber so gut, wie mein Mann<br />
war, bin ich lange nicht.“<br />
„Du hast mir immer Futter gegeben“,<br />
sagte die Krähe, „deshalb will ich dir<br />
helfen. Wo ist der Fechtsaal?“<br />
Sie begaben sich beide in den Saal,<br />
plötzlich stand da, wie durch Zauberei,<br />
statt der kleinen schwarzen Krähe<br />
ein großer, schlanker Mann.<br />
„Mein Name ist Warne“, sagte der<br />
Fremde, und warne bedeutet ja, wie<br />
allgemein bekannt ist, Krähe. „Nimm<br />
dein Schwert, wir werden fechten.“<br />
So geschah es, und der Fechter<br />
brachte ihr nun Kniffe, Finten und