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Nur ein kleines Streiflicht \(aus Anlaß einer Lehrveranstaltung in Chur\)

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Versuch’s mal mit der „Höflichkeit“ …<br />

<strong>Nur</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong> kl<strong>e<strong>in</strong></strong>es <strong>Streiflicht</strong> (<strong>aus</strong> Anlass <strong>e<strong>in</strong></strong>er <strong>Lehrveranstaltung</strong> <strong>in</strong> Chur)<br />

Von Andreas-P. Alkofer<br />

„Brave Mädchen kommen <strong>in</strong> den Himmel, böse überall h<strong>in</strong>“, so heisst <strong>e<strong>in</strong></strong> Buch, das vor<br />

<strong>e<strong>in</strong></strong>igen Jahren lange Zeit die Bestsellerlisten zierte (Achtung: das geht auch „böse<br />

Buben“ an!). Und das hat Gründe: Ego ist Trumpf, Frechheit siegt, Ellenbogen angesagt wie<br />

selten, Entblössung die Norm. Was ist da los? – E<strong>in</strong>e hoffentlich sachliche Polemik (und<br />

hoffentlich zudem <strong>e<strong>in</strong></strong>e höfliche) …<br />

Er ist k<strong>e<strong>in</strong></strong> Phantom (beileibe eben!), eher <strong>e<strong>in</strong></strong> häufiger Zeitgenosse: der authentische (!)<br />

Mensch. Anzutreffen ist er Tag für Tag. Beispielsweise im K<strong>in</strong>o. Da sitzt er h<strong>in</strong>ter uns,<br />

dermassen anwesend, dass wir uns (<strong>in</strong>sgeheim nur, klar) den psychopathischen Serienkiller<br />

von der L<strong>e<strong>in</strong></strong>wand herunterwünschen – und zwar dem authentischen Menschen an den Hals<br />

(auch eher „authentisch“ dieser Wunsch, als diskret). Er ignoriert offenbar, dass <strong>e<strong>in</strong></strong> Film<br />

neben Bildern auch <strong>e<strong>in</strong></strong>e Tonspur zu bieten hat, die für den <strong>e<strong>in</strong></strong>en oder anderen von Interesse<br />

s<strong>e<strong>in</strong></strong> könnte. Wie selbstverständlich wird <strong>e<strong>in</strong></strong> lautstarkes Gespräch mit Sitznachbarn geführt,<br />

„nur“ von geräuschvoller Nahrungsaufnahme und Tütengeraschel unterbrochen. Weitere<br />

Beispiele gefällig unter diesem Rubrum „Kränkungen, die wir uns alltäglich zufügen“? Bitte:<br />

der Verlust des Grusses, die Feststellung, dass die Worte „Bitte“ und „Danke“ zu<br />

Fremdworten degenerieren, das Phänomen, dass <strong>e<strong>in</strong></strong> Telephonanruf allemal Priorität hat vor<br />

<strong>e<strong>in</strong></strong>em anwesenden Gesprächspartner, das ungebeten, vorschnell vertrauliche „Du“, ebenso<br />

die Invasion <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong> Zimmer ohne Anklopfen, die grossen „Ins-Wort-Faller“ – wie schwer ist<br />

es ihnen, andere den Satz, <strong>e<strong>in</strong></strong>en Gedanken zuende br<strong>in</strong>gen zu lassen. Oder jene<br />

Verkäufer(<strong>in</strong>nen), die beim Kunden sofort <strong>e<strong>in</strong></strong> schlechtes Gewissen <strong>aus</strong>lösen, bloss weil er<br />

was kaufen will. Endlose Liste von täglichen Ärgerlichkeiten. Jede <strong>e<strong>in</strong></strong>zelne vielleicht nicht<br />

der Rede wert, aber geballt ...?<br />

Die verflixte Tatsache, dass sich uns <strong>in</strong> derlei Situationen der Satz „So was tut man<br />

nicht!“ als <strong>e<strong>in</strong></strong>ziger Kommentar aufdrängt, macht stutzig und verdutzt, wiederholt er doch<br />

wortgetreu die Ermahnungen der Vorgängergenerationen. Also wird man ihn wahrsch<strong>e<strong>in</strong></strong>lich<br />

samt des entstandenen Ärgers schleunigst wieder verschlucken. Denn wer es wagt, derlei<br />

Rücksichtslosigkeiten mit diesem altbackenen Wort entgegenzutreten, hätte zweifellos mit<br />

dem Vorwurf zu rechnen, „Omas Benimm“ nachzueifern. Und wer will schon zur<br />

Gouvernante gestempelt werden. Von „Opas Benimm“ ist dabei – erstaunlich – nicht die<br />

Rede.<br />

Höflichkeit zu fordern, ihr das Wort zu reden, bereitet Schwierigkeiten. Warum? E<strong>in</strong>e<br />

Ursache liegt <strong>in</strong> der Gleichsetzung von Höflichkeit mit Benimm, wobei der entscheidende<br />

Unterschied verlorengeht. Unter Benimm wird gem<strong>e<strong>in</strong></strong>h<strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong> Katalog von<br />

Verhaltensvorschriften verstanden, der heute weitgehend auf Skepsis stösst (nicht ganz zu<br />

Unrecht, aber es gibt auch Gegentendenzen), leicht Heiterkeit erregt als anachronistisch,


übertrieben und restriktiv. Störend wirkt vor allem das Normative. Ironisch-kritisch fasst die<br />

Publizist<strong>in</strong> Cora Stephan diese verbreitete Haltung zusammen: Höflichkeit und Benimm, das<br />

alles sei alles unterschiedslos<br />

„... irgendwie reaktionär bis faschistisch, freiheits<strong>e<strong>in</strong></strong>engend, verklemmt, frauen- oder gar<br />

<strong>aus</strong>länderf<strong>e<strong>in</strong></strong>dlich oder sonst etwas ganz Schlimmes.“<br />

Das Motiv macht’s. Was aber ist an der Höflichkeit so erfrischend anders? Zwar ist auch sie<br />

auf mehr oder weniger festgelegte, zuweilen durch<strong>aus</strong> subtile Verhaltenskonventionen<br />

angewiesen, jedoch ist ihr Motiv anders: nicht Herrschaft, sondern ethische Haltung.<br />

Ver<strong>e<strong>in</strong></strong>facht gesagt geht es um Rücksichtnahme und Respekt, um die Bereitschaft, andere als<br />

andere mit eigenen Interessen überhaupt wahrzunehmen und sie nicht, <strong>e<strong>in</strong></strong>em Panzer gleich,<br />

zu überrollen. Dies mutet verhältnismässig banal und selbstverständlich an. Auch wenn wir es<br />

längst vergessen haben. Unser Wort (und die Haltung dah<strong>in</strong>ter) „höflich“ entwickelt sich <strong>aus</strong><br />

der höfischen Kultur des Mittelalter, <strong>aus</strong> der ethischen Zivilisationstradition, die im<br />

Französischen (courtoisie) und Italienischen (cortesia) drei Dimensionen anfanghaft zu<br />

verb<strong>in</strong>den sucht: die ästhetische (<strong>aus</strong> dem deutschen Pendant „hövesch“ wird <strong>in</strong> der<br />

Wortgeschichte «hübsch»), <strong>e<strong>in</strong></strong>en ethische (<strong>aus</strong> „hövesch“ wird auch „höflich“, das m<strong>e<strong>in</strong></strong>t<br />

Respekt, Aufmerksamkeit, E<strong>in</strong>fühlung und Diskretion) und <strong>e<strong>in</strong></strong>e soziale<br />

(„höfisch“ kennzeichnet soziale und personale Unterschiede und versucht anschliessend diese<br />

so zu regulieren, dass alle möglichst unbeschadet <strong>aus</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong>em Zusammentreffen hervorgehen).<br />

Um so bemerkenswerter ist deshalb die Tatsache, dass höfliches Verhalten k<strong>e<strong>in</strong></strong>esfalls<br />

selbstverständlich ist, mitunter geradezu Unbehagen zu verursacht. So fragt Roland Barthes<br />

im Blick auf asiatischen Höflichkeitstraditionen: „Warum betrachtet man die Höflichkeit im<br />

Westen mit Argwohn?“ Verantwortlich für den offenkundigen Misskredit macht er <strong>e<strong>in</strong></strong>e<br />

spezifische Form des Selbstverständnisses, die er als „Mythologie der ,Person‘“ begreift:<br />

Danach gilt der westliche Mensch „als <strong>e<strong>in</strong></strong> Doppeltes, das <strong>aus</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong>em gesellschaftlichen,<br />

künstlichen, falschen ‚Äusseren‘ und <strong>e<strong>in</strong></strong>em persönlichen, echten ,Inneren‘ zusammengesetzt<br />

ist“. E<strong>in</strong>en authentischen Kern, der das Individuelle repräsentiert, umgibt demzufolge <strong>e<strong>in</strong></strong>e<br />

kulturelle Hülle, die das über<strong>aus</strong> wertgeschätzte „Persönliche“ verbirgt. So gesehen<br />

verwundert es nicht, dass der uniformierenden gesellschaftlichen Zwangsjacke nicht gerade<br />

die respektvollste Behandlung zuteil wird: In das ungeliebte Kleidungsstück werden Löcher<br />

gerissen. Wer solchermassen daherkommt, kann nun das „Eigene“, das „Unverblümte“ oder<br />

„Eigentliche“ zusehens entblössen oder, wie man treffend sagt, „r<strong>aus</strong>hängen lassen“. Das<br />

Ideal ist der vollendete Striptease (nicht wenige Talk-Shows geben davon Zeugnis): Unhöflich<br />

s<strong>e<strong>in</strong></strong> bedeutet wahrhaftig s<strong>e<strong>in</strong></strong>, ungeschm<strong>in</strong>kt und ungebremst. Noch <strong>e<strong>in</strong></strong>mal Cora Stephan:<br />

„Bei vielen Zeitgenossen sch<strong>e<strong>in</strong></strong>t nach tiefer Menschenliebe, und zwar vor allem zu den ganz<br />

fernen Völkern, lange gar nichts und dann die weite Wüste zu kommen: Die Formeln für den<br />

alltäglichen Verkehr gelten als unwesentlich, ‚bloss formal‘, lästig. Ehrlicherweise treten wir<br />

<strong>e<strong>in</strong></strong>ander gegenüber, wie wir s<strong>in</strong>d: Viel Gefühl, k<strong>e<strong>in</strong></strong> Benehmen.“


E<strong>in</strong> Missverständnis. Wird <strong>in</strong>folgedessen jedes offenkundig konventionsbestimmte Handeln<br />

als distanzierte Steifheit, gar als Heuchelei denunziert, so kann sich umgekehrt noch die<br />

gröbste Rücksichtslosigkeit mit dem Gütesiegel der Ehrlichkeit schmücken und mittels dieses<br />

merkwürdigen E<strong>in</strong>satzes von Moral vor Kritik und drohender Sanktionierung schützen. Wer<br />

sich also trauen sollte, z.B. dem lärmenden K<strong>in</strong>obesuchern <strong>e<strong>in</strong></strong> „Psssst“ zuzuzischen, muss<br />

rechnen, kurzerhand als Exekutor <strong>e<strong>in</strong></strong>er Norm blossgestellt zu werden, die unterdrückerisch<br />

<strong>e<strong>in</strong></strong>schreitet, wo sich doch lediglich authentische Bedürfnisse <strong>aus</strong>leben und Aufrichtigkeit alle<br />

Konvention zersprengen darf. Auf diesem Weg der Wahrheit stattet sich deren Missachtung<br />

mit dem Selbstbewussts<strong>e<strong>in</strong></strong> <strong>aus</strong>, revolutionär zu s<strong>e<strong>in</strong></strong>, und zwar ungeachtet der Frage, wogegen<br />

eigentlich revoltiert oder was mit diesem Aufbegehren bezweckt werden soll. Die<br />

exhibitionistische Hervorkehrung des Inneren kommt <strong>e<strong>in</strong></strong>em narzisstischen Begehren nach.<br />

Gezeigt werden soll nämlich, dass dieses Innere voll ist und, vor allem, mit der <strong>in</strong>neren Fülle<br />

anderer konkurrieren kann. Neben dem Versuch, <strong>e<strong>in</strong></strong>en Mangel des anderen aufzudecken,<br />

steigert sich deshalb nicht selten das Selbstdarstellungsbedürfnis regelrecht <strong>in</strong>s Obsessionelle.<br />

Genügt dem distanzlosen <strong>e<strong>in</strong></strong>zelnen noch s<strong>e<strong>in</strong></strong> entmündigtes Gegenüber als E<strong>in</strong>schreibfläche<br />

für die eigene Persönlichkeit, so stellt die <strong>in</strong>flationierende Anzahl der Fernseh-Talk-Shows im<br />

Nachmittagsprogramm ebenso viele Bühnen für <strong>e<strong>in</strong></strong>en massenhaften, vor grossen<br />

Zuschauermassen praktizierten Exhibitionismus bereit. Hier nun darf nicht nur, es muss sogar<br />

alles mit grösstmöglicher Schamlosigkeit gezeigt werden, um Gott und der Welt und nicht<br />

zuletzt sich selbst zu beweisen, dass da auch etwas ist, das gezeigt werden kann – auch <strong>e<strong>in</strong></strong>e<br />

„gebrochene“ Persönlichkeit ist immerh<strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong>e. Ruft das Modell von der falschen<br />

gesellschaftlichen Hülle und dem echten <strong>in</strong>dividuellen Kern <strong>e<strong>in</strong></strong> latentes Misstrauen<br />

gegenüber den kulturellen Konventionen hervor, <strong>in</strong>itiiert es somit zugleich das Missverstehen<br />

alles Höflich-Formbestimmten als Produkt <strong>e<strong>in</strong></strong>er gewaltsamen Verbiegung, so beruht es doch<br />

auf <strong>e<strong>in</strong></strong>em grundlegenden Missverständnis. Dieses Missverständnis betrifft den Status der<br />

Kultur und vor allem der Sprache. Diese wird sozusagen <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong>em Aussen gehalten, wo es<br />

doch, spätestens seit dem Auftreten der Psychoanalyse, angeraten ist, das Subjektive nicht als<br />

autonome Substanz, sondern vielmehr als von der Sprache Durchdrungenes oder sogar von ihr<br />

erst Hervorgebrachtes zu denken. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie sich das kultisch<br />

verehrte Unmittelbare und Unvermittelte denn überhaupt mitteilen soll – entzieht es sich doch<br />

per def<strong>in</strong>itionem dem Vermittelnden, also der Sprache? Oder anders: Wie kommt es, dass sich<br />

der angeblich <strong>in</strong> uns allen h<strong>in</strong>ter <strong>e<strong>in</strong></strong>er Fassade der Zivilisiertheit h<strong>aus</strong>ende gute Wilde so<br />

über<strong>aus</strong> beredsam gibt und demnach offenbar über <strong>e<strong>in</strong></strong>e Kompetenz verfügt, die ihn gar nicht<br />

mehr so wild ersch<strong>e<strong>in</strong></strong>en lässt?<br />

Kopf oder Bauch – falsche Alternative. Dass es Individualität gibt, soll, ja darf nicht <strong>in</strong><br />

Abrede gestellt werden. <strong>Nur</strong> bezweifelt werden darf, ob es sich dabei um jenen unteilbaren,<br />

ursprünglichen Kern handelt, der vor und diesseits des Symbolischen existieren soll und somit<br />

logischerweise undarstellbar bleibt. Was sich hier zeigt, ist mith<strong>in</strong> gar nichts Authentisches,<br />

sondern selbst <strong>e<strong>in</strong></strong> sich verfestigender Code des „Authentischen“, <strong>e<strong>in</strong></strong> Terror der Intimität, wo<br />

sie gar nicht am Platz ist, weil alle Annäherung an <strong>e<strong>in</strong></strong>en anderen <strong>in</strong> dieser Tiefe Zeit und<br />

Formen braucht. Etabliert hat sich im Zuge der Verehrung des R<strong>e<strong>in</strong></strong>en und Natürlichen <strong>e<strong>in</strong></strong><br />

regelrechter Spontaneitätskult, weil nämlich das aufgrund spontaner Gefühlsregung


Geäusserte <strong>in</strong> dem Ruf steht, geradewegs von <strong>in</strong>nen oder, wie es auch heisst, „<strong>aus</strong> dem<br />

Bauch“ zu kommen, also von dort, wo merkwürdigerweise die Wahrheit nisten soll. „Das<br />

Spontane des Menschen ist s<strong>e<strong>in</strong></strong>e Kultur“, erkannte h<strong>in</strong>gegen Roland Barthes. Die<br />

Realisierung des bauchgetriebenen Befreiungswunsches nimmt sich bei näherer Betrachtung<br />

ohneh<strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong>igermassen schwierig <strong>aus</strong>, weil doch alles Vorgegebene erst <strong>e<strong>in</strong></strong>mal erkannt,<br />

benannt, also <strong>in</strong> irgend<strong>e<strong>in</strong></strong>er Weise bewusst durchquert s<strong>e<strong>in</strong></strong> muss, bevor sich jemand davon<br />

absetzen kann. E<strong>in</strong> Vorgehen, das somit notgedrungen mit der zeitaufwendigen Anstrengung<br />

<strong>in</strong>tellektueller Reflexion verbunden ist. E<strong>in</strong> Vorgehen aber auch, das von den selbsternannten<br />

Bauchmenschen nicht selten der „Kopflastigkeit“ geziehen, dem also <strong>e<strong>in</strong></strong>e gewisse<br />

niederdrückende Schwere oder sogar Unmenschlichkeit attestiert wird. Infolgedessen schlägt<br />

kritischem Nachfragen häufig Aggressivität entgegen, vor allem, wenn Zweifel an dem<br />

geäussert werden, was den Bauch mancher Leute spontan und geistig recht unverdaut verlässt<br />

und das, so skurril und abgefahren es auch zunächst anmuten mag, über den Gem<strong>e<strong>in</strong></strong>platz<br />

doch nicht h<strong>in</strong><strong>aus</strong>kommt oder sich dem Wortdunkel der momentan grassierenden esoterischen<br />

Rede h<strong>in</strong>gibt, die sich un<strong>aus</strong>gesetzt um die Suche nach der „eigenen Mitte“ dreht. Indem die<br />

„eigene M<strong>e<strong>in</strong></strong>ung“ als direkter Ausdruck des Ich begriffen wird, gerät sie zum kostbaren<br />

Eigentum, das mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, so dass Aus<strong>e<strong>in</strong></strong>andersetzungen<br />

unvermeidlich auf der persönlichen Ebene <strong>aus</strong>getragen werden. Ironischer-, aber nicht<br />

komischerweise bildet die der Abwehr alles Verunsichernden dienende und begriffsmodisch<br />

zur „Verletzlichkeit“ veredelte Mimosenhaftigkeit oftmals nur die Rückseite der<br />

Rücksichtslosigkeit.<br />

Übersteigerte Sorge um das Selbst zeitigt Effekte, die <strong>in</strong>s Theatralische h<strong>in</strong><strong>e<strong>in</strong></strong>spielen. Kaum<br />

noch <strong>e<strong>in</strong></strong> Ort, gleichgültig, ob öffentlich oder privat, der nicht als Bühne für exzessive<br />

personality shows herhalten könnte. Stilbestimmend für diese Darbietungen wirkt sich <strong>e<strong>in</strong></strong><br />

Hang zum Naturalismus <strong>aus</strong>. Damit ist gem<strong>e<strong>in</strong></strong>t, dass sich die Rollenhaftigkeit des<br />

Dargestellten h<strong>in</strong>ter s<strong>e<strong>in</strong></strong>er angeblichen Natürlichkeit verschleiert. Darüber gerät auch genau<br />

diese Rollenhaftigkeit jeglichen Verhaltens <strong>aus</strong> dem Blick. Die Rolle verfestigt sich<br />

paradoxerweise gerade <strong>in</strong> der krampfhaften Zurückweisung alles „Künstlichen“ und<br />

„Falschen“ zur – Pose.<br />

Unverschämt unmittelbar – auch dieser Zusammenhang greift zu kurz. Unmittelbarkeit und<br />

Unverstelltheit dürfen und müssen ihre Orte haben: Orte des gewachsenen Vertrauens oder<br />

der Intimität. Das aber ist k<strong>e<strong>in</strong></strong>esfalls mit <strong>e<strong>in</strong></strong>er Verkehrsform zu verwechseln, die <strong>in</strong> jeder<br />

Öffentlichkeit an den Tag gelegt werden kann. Darauf weist Cora Stephan ebenfalls h<strong>in</strong>:<br />

„ (...) wir können nicht jeden Menschen lieben, mit dem wir gleichwohl gewaltfreien Umgang<br />

pflegen sollen und müssen. Und sie (i.e. die Förmlichkeit) ist <strong>e<strong>in</strong></strong> Integrationsangebot für<br />

Fremde, die sich den hier bereits Lebenden h<strong>in</strong>zugesellen wollen oder müssen. Manieren<br />

geben darüber h<strong>in</strong><strong>aus</strong> Auskunft über die Massstäbe, die <strong>in</strong> <strong>e<strong>in</strong></strong>em Land gelten. Die Kultur der<br />

Unmittelbarkeit, der Authentizität, der Identität und wie die Vokabeln alle heissen, kennt<br />

<strong>in</strong>des k<strong>e<strong>in</strong></strong>erlei Massstäbe <strong>aus</strong>ser denen, die sich <strong>aus</strong> Situation und Gefühlslage ergeben, was<br />

bekanntlich Unzuverlässigkeit garantiert. Insbesondere lassen Formen und Trennungen die<br />

Gefühle frei, nämlich dort, wo sie h<strong>in</strong>gehören: als Privatangelegenheit beim E<strong>in</strong>zelnen selbst.


Wer sich auf Regeln verlassen kann, muss nicht schon bei sich selbst mit der Reglementierung<br />

anfangen. Das ist das Freiheitsversprechen der guten Manieren. R<strong>e<strong>in</strong></strong>e Innerlichkeit aber<br />

kennt k<strong>e<strong>in</strong></strong>e Gewaltenteilung und zw<strong>in</strong>gt die Menschen, sich vom Unsichersten überhaupt<br />

abhängig zu machen: von ihrem guten Charakter.“<br />

Das ist als mehr als nur bedenkenswert angesichts all der Aufdr<strong>in</strong>glichkeiten, die man, mit<br />

<strong>e<strong>in</strong></strong>igem Pech, oft <strong>aus</strong>zuhalten hat im täglichen Umgang mit so vielen Menschen <strong>in</strong> so vielen<br />

unterschiedlichen, teils nur flüchtigen Begegnungen. Aber genau das prägt das Klima und oft<br />

die eigene Stimmung.<br />

Steile Überlegungen. Es mag erstaunen, aber vielleicht ist es auch <strong>e<strong>in</strong></strong> Zeichen, dass es schon<br />

so lange her ist. Aber schon <strong>in</strong> den 50er und 60er Jahren hat der f<strong>e<strong>in</strong></strong>s<strong>in</strong>nige und scharfsichtige<br />

Theologe und Philosoph Romano Guard<strong>in</strong>i festgehalten, wie wichtig es ist, dass wir<br />

angesichts <strong>e<strong>in</strong></strong>er immer engeren, von immer mehr Menschen und Aufgaben besetzten, immer<br />

schnelleren Welt, nach Formen suchen, die <strong>e<strong>in</strong></strong>e Art der „Ökologie der<br />

Begegnung“ <strong>aus</strong>machen:<br />

„Die Menschen leben auf engem Raum mit<strong>e<strong>in</strong></strong>ander, im Bereich des H<strong>aus</strong>es, des Büros, der<br />

Fabrik, <strong>in</strong> den Zimmern der Behörden, im Gedränge der Strassen und ihres Verkehrs, <strong>in</strong> der<br />

Enge des vielbesiedelten Landes. So berühren sich ihre Lebenssphären beständig. Ihre<br />

Absichten kreuzen <strong>e<strong>in</strong></strong>ander geradeso wie die Wege, die sie gehen. So entsteht auch immerfort<br />

die Gefahr der Reibung, der Entzündung, und jeder vernünftige Mensch wünscht, ihr zu<br />

begegnen. Er wird nach Formen suchen, <strong>in</strong> denen sich die Sorge für <strong>e<strong>in</strong></strong> richtiges<br />

Zusammenleben der Vielen <strong>aus</strong>drückt; die Heftigkeit gegensätzlicher Gefühle und Absichten<br />

sich mildert; Jeder dem Anderen entgegenkommt und s<strong>e<strong>in</strong></strong>erseits Entgegenkommen erfährt.“<br />

Und – so wiederum Guard<strong>in</strong>i:<br />

„Kultur beg<strong>in</strong>nt nicht mit Zudr<strong>in</strong>gen und Anpacken, sondern mit Hände-Wegnehmen und<br />

Zurücktreten. Die Höflichkeit schafft freien Raum um den Anderen; bewahrt ihn vor der<br />

bedrängenden Nähe, gibt ihm s<strong>e<strong>in</strong></strong>e eigene Luft.“<br />

Aber das hat für Guard<strong>in</strong>i noch <strong>e<strong>in</strong></strong>en, ja, den <strong>e<strong>in</strong></strong>en Grund:<br />

„Dann aber gelangt der Gedanke, wenn er folgerichtig weitergeht, zu <strong>e<strong>in</strong></strong>er Höhe, die zugleich<br />

letztes Geheimnis ist: Haben wir <strong>e<strong>in</strong></strong>mal daran gedacht, wie Gott s<strong>e<strong>in</strong></strong> Geschöpf <strong>in</strong> Ehren hält?<br />

Wie S<strong>e<strong>in</strong></strong> ganzes Verhalten zum Menschen auf der nie <strong>aus</strong>zudenkenden Tatsache ruht, dass Er<br />

ihn frei geschaffen hat? Er, der alles vermag, will, dass der Mensch freie Person sei, eigenem<br />

Stand stehe, über sich selbst verfüge, <strong>aus</strong> <strong>in</strong>nerem Anfang her<strong>aus</strong> handle. An diese Freiheit<br />

rührt Gott nicht. Er zw<strong>in</strong>gt nicht, schreckt nicht, verführt nicht – auch dann nicht, wenn der<br />

Mensch sich gegen Ihn und, eben damit, gegen sich selbst wendet.“


Die Rede ist von nichts anderem als der „Höflichkeit Gottes“ ... anders gesagt: von dem<br />

Entfaltungsraum, den <strong>e<strong>in</strong></strong>er dem andern überlässt, ohne ihn akustisch, gestisch, verbal oder<br />

wie auch immer zu bedrängen. Höflichkeit will diesen Raum, die personale Sphäre, die jede(r)<br />

um sich hat, diese Verwundbarkeit und Fragilität <strong>e<strong>in</strong></strong>es anderen schützen und die <strong>e<strong>in</strong></strong>en<br />

geschützt wissen.<br />

Also – höfliche Mädchen/Buben (die müssen nicht brav und bieder s<strong>e<strong>in</strong></strong>!) kommen wirklich <strong>in</strong><br />

den Himmel. Unverschämte gehen schlicht auf die Nerven. Das ist <strong>e<strong>in</strong></strong> Vergehen ... – und das<br />

kostet diegleichen (Nerven, nämlich) und mehr

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