DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi
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<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />
<strong>ORDNUNG</strong><br />
begründet von Laurentius Siemer OP<br />
und Eberhard Welty OP<br />
Nr. 2/2006 April 60. Jahrgang<br />
Editorial<br />
Wolfgang Ockenfels,<br />
Christlich-konservativ<br />
Lothar Roos, Liebe und Gerechtigkeit.<br />
Die Enzyklika Benedikts XVI.<br />
Heinrich Pompey, Die Enzyklika „Deus<br />
Caritas est“. Profilierung für die Caritas?<br />
Norbert Blüm, Die Moderne als Grenzbeseitigung.<br />
Ideologien der Arbeit und Technik<br />
Manfred C. Hettlage, Ist der Streik ein Recht<br />
oder ein Unrecht?<br />
Bericht und Gespräch<br />
Rudolf Uertz, Walberberg und Die Neue<br />
Ordnung. Vor 60 Jahren: Siemer und Welty<br />
Wolfgang Bergsdorf, Die Neue Ordnung als<br />
politische Zeitschrift<br />
Jürgen Liminski, Glaube aus Stein. Juden<br />
und Muslime im Heiligen Land<br />
Fides Krause-Brewer, Die vermaledeite<br />
Maschine<br />
Besprechungen<br />
82<br />
84<br />
96<br />
111<br />
123<br />
133<br />
140<br />
148<br />
152<br />
154<br />
Herausgeber:<br />
Institut für<br />
Gesellschaftswissenschaften<br />
Walberberg e.V.<br />
Redaktion:<br />
Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />
Heinrich Basilius Streithofen OP<br />
Bernd Kettern<br />
Redaktionsbeirat:<br />
Stefan Heid<br />
Martin Lohmann<br />
Edgar Nawroth OP<br />
Herbert B. Schmidt<br />
Günter Triesch<br />
Rüdiger von Voss<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Andrea und Hildegard Schramm<br />
Druck und Vertrieb:<br />
Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />
53708 Siegburg<br />
Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />
Die Neue Ordnung erscheint alle<br />
2 Monate<br />
Bezug direkt vom Institut<br />
oder durch alle Buchhandlungen<br />
Jahresabonnement: 25,- €<br />
Einzelheft 5,- €<br />
zzgl. Versandkosten<br />
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Anschrift der<br />
Redaktion und des Instituts:<br />
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Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />
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81
Editorial<br />
Christlich-konservativ<br />
Konservative haben es schwer. Sie sollen sich rechtfertigen, was sie bewahren<br />
wollen - und warum. Hingegen kommt der „progressive“ Anspruch auf Veränderung,<br />
auch wenn er keinerlei Verbesserung erwarten läßt, meist ohne diese<br />
Rechtfertigung durch. Die APO der Achtundsechziger brauchte keine Apologetik,<br />
die Verheißung der Emanzipation genügte. Jetzt erweist sie sich als großer<br />
Schwindel, für den keiner verantwortlich sein will. Manche mußten sich erst<br />
verirren, um das Richtige zu finden. Und wer als „zurückgeblieben“ galt, war oft<br />
seiner Zeit voraus.<br />
Auch progressive Christen müssen heute konservativ sein, sonst sind sie keine<br />
Christen mehr. Was am Christentum unbedingt bewahrenswert ist und also die<br />
chris tliche Grundhaltung konservativ prägt, wird freilich nicht durch irgendeinen<br />
progressiven oder konservativen Zeitgeist, sondern durch biblische Offenbarung,<br />
Tradition und Kirche definiert. Schließlich besteht die konservative Haltung der<br />
Christen in der gläubigen Erwiderung und praktischen Bestätigung jener erlösenden<br />
Liebe und Treue, die in Jesus Christus ihren Ausgang nimmt.<br />
Konservativ zu sein und dabei stets aktuell zu bleiben bedeutet für Christen eben<br />
nicht, eine abgestandene Konserve von Zeit zu Zeit mit einem neuen Et ikett zu<br />
versehen. Es geht ihnen nicht um die Musealisierung eines nostalgischen Andenkens,<br />
nicht um die Mumifizierung der Erinnerung an eine Person, die längst<br />
verblichen ist. Christus lebt und ist in seiner Kirche präsent. Das ist die anhaltend<br />
wirkende Erfahrung und mithin konservative Botschaft des Christentums.<br />
Deshalb ist die Übertragung der typisch politischen und allzu groben Unterscheidung<br />
„konservativ-progressiv“ auf die Kirche unpassend – und für Christen,<br />
die an der überlieferten, stets hoffnungsfrohen Glaubenserfahrung festhalten,<br />
inakzeptabel. Aber schon in der politischen Sphäre deutet sich inzwischen an,<br />
wie strukturreformerisch gerade wertkonservative Politiker sein können. Der<br />
altmoderne Widerspruch zwischen „konservativ“ und „progressiv“ scheint sich<br />
langsam aufzuheben. Wie sehr sich die Fronten verkehrt haben, beweisen die<br />
vormals Progressiven: Sobald eine „Reform der Reform“ droht, erstarren sie in<br />
Abwehrhaltung, um ihre vermeintlichen Errungenschaften zu retten.<br />
Gilt dies auch für die Kirche? Nur sehr eingeschränkt, und dann auf einer anderen<br />
Ebene. Die Kirche mag zwar, soziologisch betrachtet, Teil unserer politischökonomischen<br />
Kultur sein. Aber wer sie lediglich als integriertes Subsystem<br />
unserer demokratischen und marktwirtschaftlichen Gesellschaft wahrnimmt,<br />
übersieht ihren substantiell eigenständigen Charakter als Gemeinschaft religiöser<br />
Art., die sich im Kontrast zur „Welt“ gelegentlich auch quer zur Gesellschaft<br />
stellen muß, um auf eine „ganz andere“ Wirklichkeit hinzuweisen.<br />
82
Diese Wirklichkeit, Reich Gottes genannt, ist eben keine politisch-ökonomische<br />
Größe. Und jeder Versuch, sie „auf Erden“, also säkular und autonom, herstellen<br />
zu wollen, hat stets die Hölle hervorgebracht. Dies haben die ideologischen Konstrukte<br />
und totalitären Systeme des letzten Jahrhunderts deutlich genug bewiesen.<br />
Kritisch konservative Christen waren dagegen immunisiert und wollten<br />
nicht auch noch ihren eigenen Ersatz beerben.<br />
Einstweilen scheint Entwarnung gegeben zu sein, was die vormals progressiven<br />
Großideologien betrifft. Abgesehen vom aggressiv politischen Islamismus tritt<br />
heute nur noch der globale Geist des Marktes als Weltverbesserungsinstanz in<br />
Erscheinung. Und zwar mit dem Wahrheitsanspruch, daß es keine allgemeine<br />
Wahrheit mehr gibt. Diese totalitär anmutende Marktlogik hat auch schon die<br />
Lebenswelt der Christen ergriffen. Da soll jeder seine Sinn- und Wertnachfrage<br />
beliebig befriedigen und nach Kosten und Nutzen sein Glück probieren.<br />
Die entscheidende Stelle in den Briefen des heiligen Paulus (Röm 12,2) lautet:<br />
„Paßt euch nicht dieser Weltzeit an, sondern gestaltet euch um durch die Erneuerung<br />
des Geistes, damit ihr prüft, was der Wille Gottes, das Gute, Wohlgefällige<br />
und Vollkommene ist.“ Dieses „Nolite conformari“ bedeutet zunächst: Christen<br />
sind Nonkonformisten, keine Anpasser, die dem jeweils sich vordrängelnden<br />
Geist der Zeit nachlaufen. Den Grund für diese christliche Unzeitgemäßheit sieht<br />
Paulus in den dunklen Seiten, die diese Welt seit dem Sündenfall kennzeichnen:<br />
Sie ist vergänglich und kurzlebig; böse Mächte bedrücken sie; in ihr wirken<br />
Sünde und Laster, Habgier und Ve rblendung.<br />
Das ist keine Schwarzmalerei des Apostels, sondern eine realistische Wahrnehmung<br />
der Wirklichkeit - und es fällt nicht schwer, passende Beispiele auch für<br />
unsere Gegenwart zu nennen: Etwa die massenhaften Abtreibungen; die Tendenzen<br />
zur aktiven Euthanasie; die Vernutzung embryonaler Stammzellen zu medizinischen<br />
Zwecken; die Entwicklung zur genetischen Selektion und Manipulation;<br />
die staatliche Förderung homosexueller Partnerschaften; die allgegenwärtige<br />
Pornographie; der Kult der Gewalt in den Medien, in Terror und Krieg; der Zerfall<br />
der Familien und der Verlust der Erziehung - und nicht zuletzt Armut, Elend<br />
und Hunger in großen Teilen der Welt.<br />
All das hört die fortschrittsoptimistische Moderne nicht gern. Klar ist, daß Christen<br />
dieses Spiel nicht mitspielen oder sich gemütlich einnisten dürfen. Kein<br />
Anschluß unter dieser Nummer. Die Negativliste der „Zeichen der Zeit“ läßt auf<br />
Erlösungsbedürftigkeit schließen und setzt zugleich positiv die Erfahrbarkeit des<br />
Guten, Wahren und Schönen voraus. Doch viele Christen sind vom „positiven<br />
Denken“ so benebelt, daß sie die Schattenseiten kaum mehr wahrnehmen.<br />
Christen müssen heute in profilierter, kritisch unterscheidender Weise konservativ<br />
sein, indem sie die Aufklärer aufklären, die Emanzipatoren befreien und die<br />
Kritiker kritisieren. An den Früchten ihrer eigenen Lebensweise bezeugen sie die<br />
Wahrheit ihres Glaubens und ihrer moralischen Ansprüche. Und wenn sie sich<br />
missionarisch als „Salz der Erde“ bewähren wollen, sollten sie zunächst einmal<br />
innehalten, umkehren und bei sich selber anfangen.<br />
Wolfgang Ockenfels<br />
83
Lothar Roos<br />
Liebe und Gerechtigkeit<br />
Die Enzyklika Benedikts XVI. über Caritas und Soziallehre<br />
Die „Mitte des christlichen Glaubens“, so beginnt die erste Enzyklika von Papst<br />
Benedikt XVI., ist „das christliche Gottesbild“ und „das daraus folgende Bild des<br />
Menschen“ (1). Wir sind von Gott geliebt und in dieser Liebe untereinander und<br />
mit allen Menschen dieser Erde in Liebe verbunden und zur Liebe verpflichtet.<br />
Mit dieser Wahrheit wendet sich der Papst „an alle Christgläubigen“. Das bedeutet<br />
aber nicht, daß „das Eigentliche des Christentums aus den grundlegenden<br />
Lebenszusammenhängen des Menschseins ausgegliedert und zu einer Sonderwelt“<br />
würde, die „vom Ganzen der menschlichen Existenz abgeschnitten“ (7)<br />
wäre. Im Gegenteil: Weil Gott alle Menschen geschaffen und weil er in Jesus<br />
unser aller Bruder geworden ist, deshalb ist das christliche Go ttes- und Menschenbild<br />
für das Glück aller Menschen bedeutsam. Für die Kirche ergibt sich<br />
daraus ein „dreifacher Auftrag“: „Verkündigung von Gottes Wort (Kerygma –<br />
martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia). Es sind<br />
Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht von einander trennen<br />
lassen“ (25a). Diesem Dienst der Liebe widmet Benedikt XVI. seine erste Enzyklika.<br />
Wer aber über „die christliche Liebe“ schreibt, muß sich auch mit dem Verhältnis<br />
von „Gerechtigkeit und Liebe“ befassen. Unter dieser Überschrift (26-30)<br />
kommt Benedikt XVI. in seiner Enzyklika eingehend auch auf die „Katholische<br />
Soziallehre“ oder „die Soziallehre der Kirche“ zu sprechen (27). Während die<br />
bisherigen Reaktionen auf das Weltrundschreiben des Papstes insgesamt durchweg<br />
zustimmend waren, gab es zu seinen Ausführungen über die Katholische<br />
Soziallehre auch einige kritische Einwände.<br />
Wir wollen im folgenden herausarbeiten, wie Benedikt XVI. die Soziallehre der<br />
Kirche versteht und welche sozialethischen Wegweisungen die Enzyklika enthält.<br />
Dabei werden wir auch auf die erwähnte Kritik eingehen. 1<br />
1. Nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit für die Armen?<br />
Benedikt XVI. beginnt seine Ausführungen über die moderne Katholische Soziallehre<br />
mit einem Rückblick auf deren Entstehungszeit im 19. Jahrhundert. Bekanntlich<br />
antwortete die Kirche auf die Notlage vieler Menschen in der frühindustriellen<br />
Gesellschaft zunächst hauptsächlich mit karitativen Maßnahmen und<br />
Initiativen. Dem hielt damals vor allem die marxistische Kritik entgegen: „Die<br />
Armen bräuchten nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit.“ An diesem Argument,<br />
so sagt der Papst, sei „einiges richtig, aber vieles auch falsch“. Um der<br />
Gerechtigkeit zu dienen, genügten selbstverständlich nicht „Almosen“, vielmehr<br />
84
sei „das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit“. Insbesondere<br />
galt es damals „aufzustehen“ gegen die „Rechtlosigkeit der arbeitenden<br />
Massen“ und die in den Händen weniger liegende Macht, die „Produktionsstrukturen“<br />
zu bestimmen (26).<br />
Da nur der Staat die Rechtsordnung setzen und verändern kann, ist klar, daß er<br />
der erstverantwortliche Adressat sozialpolitischer Forderungen war. Wenn der<br />
Frankfurter Sozialethiker Friedhelm Hengsbach dem Papst vorwirft, er vertrete<br />
ein „vorplurales und vormodernes Politikverständnis“, weil für ihn „nur der Staat<br />
Träger der Politik sei, nicht aber die plurale Zivilgesellschaft“ 2 , dann ist dieser<br />
Vorwurf aus zwei Gründen unzutreffend: Zum einen betont Benedikt XVI. ausdrücklich,<br />
daß der Staat seine Aufgaben „unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips“<br />
(26) wahrnehmen müsse, zum anderen zeigt er auf, wie gerade die<br />
katholisch-soziale und katholische-politische Bewegung als Teil der Zivilgesellschaft<br />
in der frühindustriellen Zeit die sozialen Nöte zu beheben suchten. Benedikt<br />
XVI. stellt den deutschen Katholizismus hier geradezu als Musterbeispiel<br />
heraus, wenn er ausdrücklich „Bischof Ketteler von Mainz“ erwähnt und auf die<br />
„Zirkel, Vereinigungen, Verbände und Föderationen und vor allem neue Ordensgeme<br />
inschaften“ hinweist, die damals „den Kampf gegen Armut, Krankheit und<br />
Bildungsnotstand aufnahmen“. Auch in der ersten Sozialenzyklika Rerum Novarum<br />
(1891) wird zwar nachdrücklich der Staat auf seine sozialrechtliche Verantwortung<br />
verpflichtet, genauso aber stellt Leo XIII. die Verantwortung der „Gesellschaft“<br />
für eine Veränderung der Verhältnisse heraus, indem er z. B. die<br />
Arbeitgeber auf gerechte Löhne verpflichtet (RN 17, 34, 35) und das Koalitionsrecht<br />
der Arbeitervertretungen als „Naturrecht“ (RN 38) hervorhebt.<br />
2. Wo „berühren sich Politik und Glaube“?<br />
Eine wichtige Aufgabe sieht der Papst darin, „genauer zu klären“, worin im<br />
„notwendigen Ringen um Gerechtigkeit und den Dienst der Liebe“ sowohl die je<br />
eigene Aufgabe als auch das Miteinander von Glaube und Politik bestehen: Die<br />
Kirche „kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen“, sie<br />
muß vielmehr „auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft<br />
eintreten, und sie muß die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die<br />
immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann“.<br />
Sie soll vor allem „durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse<br />
des Guten“ die ethischen Voraussetzungen für eine „gerechte Gesellschaft“<br />
vermitteln, die dann „von der Politik geschaffen werden“ muß.<br />
Da Politik „mehr als Technik der Gestaltung öffentlicher Ordnungen“ sei, muß<br />
sie sich auch der Frage stellen: „Was ist Gerechtigkeit?“. Diese Frage kann deshalb<br />
nicht rein soziotechnisch beantwortet werden, weil sie „ethischer Natur“ ist.<br />
An dieser Stelle „berühren sich Politik und Glaube“: Die Antwort auf die Frage<br />
nach der Gerechtigkeit sei zunächst „eine Frage der praktischen Vernunft“.<br />
Wenn man darüber nachdenkt, welche problematischen Ziele schon im Verlauf<br />
insbesondere der Neuzeit als Postulate der Vernunft ausgegeben wurden, dann<br />
kann man der Feststellung des Papstes nur Recht geben: „Aber damit die Ve r-<br />
85
nunft recht funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn<br />
ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die<br />
die Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr.“<br />
Genau hier sei „der Ort der Katholischen Soziallehre anzusetzen“. Sie „argumentiert<br />
von der Ve rnunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen<br />
Menschen wesensgemäß ist.“ Sie will auf dieser Grundlage der „Gewissensbildung<br />
in der Politik dienen und helfen, daß die Hellsichtigkeit für die wahren<br />
Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von<br />
ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen widerspricht.“<br />
Zu dieser „Re inigung“ der Vernunft ist der christliche Glaube dann fähig, wenn<br />
er „sein eigenes Wesen als Begegnung mit dem lebendigen Gott“ begreift und so<br />
„zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst“ darstellt. „Er befreit<br />
sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr<br />
deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk<br />
besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen.“ 3 Mit ihrer Soziallehre wolle<br />
sich die Kirche nicht „Macht über den Staat verschaffen; sie will auch nicht<br />
Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen,<br />
die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft<br />
beitragen und dazu helfen, daß das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und<br />
dann auch durchgeführt werden kann.“ (28)<br />
Der Aufbau „gerechter Strukturen“ gehört also „dem Bereich der selbstverantwortlichen<br />
Vernunft“ an und damit unmittelbar „der Ordnung der Politik“. Die<br />
Kirche habe dabei „eine mittelbare Aufgabe insofern, als ihr zukommt, zur Reinigung<br />
der Vernunft und zur Weckung der sittlichen Kräfte beizutragen, ohne die<br />
rechte Strukturen weder gebaut werden noch auf Dauer wirksam sein können.“<br />
Diese Aufgabe kommt „eigens den gläubigen Laien zu“. Sie sollen „das gesellschaftliche<br />
Leben in rechter Weise gestalten, indem sie dessen legitime Eigenständigkeit<br />
respektieren und mit den anderen Bürgern gemäß ihren jeweiligen<br />
Kompetenzen und in eigener Verantwortung zusammenarbeiten“ (29).<br />
Der Tübinger Sozialethiker Dietmar Mieth glaubt in diesen Aussagen eine „gewisse<br />
Schieflage“ zu erkennen. Er nimmt an der „sehr undialektischen Behauptungsweise“<br />
Anstoß, daß der „Aufbau gerechter Strukturen nicht unmittelbar<br />
Aufgabe der Kirche ist.“ Damit würden nicht nur explizit der Marxismus und<br />
ohne Namensnennung die Befreiungstheologie getroffen, sondern auch kirchliche<br />
Bewegungen, wie das Arbeiterpriestertum, die polnische Solidiaritätsbewegung<br />
und die soziale Aktion der Kirche. 4 – Diese Kritik ist insofern nicht nachvollziehbar,<br />
als sie nicht nur die neue Enzyklika, sondern genau das kritisiert,<br />
was das II. Vaticanum hierzu in der Pastoralkonstitution und im Dekret über das<br />
Laienapostolat gesagt hat.<br />
3. Der Sozialstaat ersetzt nicht den „Dienst der Liebe“<br />
In einem kurzen konzentrierten Abschnitt (28b) befaßt sich die Enzyklika mit<br />
dem Verhältnis von sozialstaatlicher Gerechtigkeit und dem karitativen „Dienst<br />
der Liebe“. Die Grundthese lautet: „Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die<br />
86
den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte“. Dies wäre selbst dann nicht<br />
der Fall, wenn der Sozialstaat die Gestalt des „totalen Versorgungsstaats, der<br />
alles an sich zieht“, annehmen würde. Denn als „bürokratische Instanz“ kann er<br />
„das Wesentliche nicht geben, das der leidende Mensch – jeder Mensch -<br />
braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung“.<br />
Daraus zieht der Papst die ordnungspolitische Konsequenz: „Nicht den alles<br />
regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend<br />
dem Subsidiaritätsprinzip großzügig Initiativen anerkennt und unterstützt,<br />
die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und<br />
Spontanität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden.“ Hinter der<br />
Vorstellung, „gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen,<br />
verbirgt (sich) tatsächlich ein materialistisches Menschenbild,“ das „den<br />
Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt.“<br />
Friedhelm Hengsbach meint dazu: „Die Kritik am Sozialstaat klingt so, als hätten<br />
bürgerliche Eliten aus Deutschland sie diktiert.“ Gerne würde man wissen,<br />
wen Hengsbach damit meint. Die hier vom Papst vorgetragenen Befürchtungen,<br />
der Sozialstaat könne zum totalen Versorgungsstaat degenerieren, ist heute in<br />
Deutschland – von wenigen Außenseitern abgesehen – wissenschaftliches Allgemeingut.<br />
5 Im übrigen geht es dem Papst an dieser Stelle nicht um eine aktuelle<br />
Kritik am Zustand des deutschen Sozialstaats, vielmehr darum, daß dieser grundsätzlich<br />
nicht zum anti-subsidiären Versorgungsstaat wird, indem er „die aus den<br />
verschiedenen gesellschaftlichen Kräften“ aufsteigenden sozial-karitativen Initiativen<br />
und Institutionen erstickt.<br />
4. Das „soziale Umfeld“ im „Ringen um Gerechtigkeit und Liebe“<br />
Unter welchen ideologischen und gesellschaftlichen Bedingungen kann der<br />
kirchliche Einsatz für Gerechtigkeit und Liebe heute geleistet werden? Der Papst<br />
sieht hier eine ganze Reihe hilfreicher Faktoren. Zunächst zeichnet er ein positives<br />
Bild der „Massenkommunikationsmittel“, insofern sie „heute unseren Planeten<br />
kleiner werden lassen, indem sie unterschiedlichste Menschen und Kulturen<br />
schnell einander erheblich näher gebracht haben“, so daß man „die Nöte der<br />
Menschen viel direkter erfährt“. Das Leiden, mit dem wir täglich „aufgrund<br />
vielgestaltiger materieller wie auch geistiger Not in der Welt“ über die Medien<br />
konfrontiert werden, kann eine „neue Bereitschaft“ wecken, „dem notleidenden<br />
Nächsten zu helfen“ (30a).<br />
Positiv sieht Benedikt XVI. auch die „zahlreichen Formen der Zusammenarbeit<br />
zwischen staatlichen und kirchlichen Instanzen“, um Menschen in Not weltweit<br />
zu helfen. Aufgabe kirchlicher Initiativen sei es, vor allem in der „treuen Erfüllung<br />
ihrer Pflicht, die Liebe zu bezeugen, auch die zivilen Instanzen mit christlichem<br />
Geist (zu) befruchten und eine wechselseitige Abstimmung (zu) fördern,<br />
die zweifellos der Wirksamkeit des karitativen Dienstes nützlich sein wird“. Die<br />
Enzyklika verweist weiter auf „vielfältige Organis ationen mit karitativen und<br />
philanthropischen Zielen“ und auf „das Entstehen und die Ausbreitung verschiedener<br />
Formen des Volontariats“ und widmet allen diesen Bemühungen „ein<br />
87
esonderes Wort der Anerkennung und Dankbarkeit“. Er erwähnt in diesem<br />
Zusammenhang auch die Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ seines Vorgängers,<br />
in der dieser die Zusammenarbeit mit allen Kirchen und Gemeinschaften gewürdigt<br />
hat, die aus der „gleichen Grundmotivation“ handeln, nämlich einem „wahren<br />
Humanismus, der im Menschen das Ebenbild Gottes erkennt und ihm helfen<br />
will, ein Leben gemäß dieser seiner Würde zu verwirklichen“ (Vgl. SRS 32).<br />
Benedikt XVI. macht aber auch deutlich, mit welchen „Parteien und Ideologien“<br />
die Kirche nicht kooperieren kann. Er spricht von „verschiedenen Varianten<br />
einer Philosophie des Fortschritts, deren radikalste Form der Marxismus darstellt“.<br />
Von daher werde der karitative Einsatz als „systemstabilisierend denunziert<br />
und angegriffen“. Benedikt XVI. nennt dies eine „Philosophie der Unmenschlichkeit“,<br />
durch die der „jetzt lebende Mensch ... dem Moloch Zukunft<br />
geopfert“ wird, und hält dem entgegen: „In Wahrheit kann die Menschlichkeit<br />
der Welt nicht dadurch gefördert werden, daß man sie einstweilen stillegt. Zu<br />
einer besseren Welt trägt man nur bei, indem man selbst jetzt das Gute tut, mit<br />
aller Leidenschaft und wo immer die Möglichkeit besteht“ (31b).<br />
Benedikt XVI. gibt hier in Kurzform das wieder, was sich in entsprechenden<br />
Aussagen der „Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über einige<br />
Aspekte der Theologie der Befreiung“ vom 6. August 1984 und in einem damals<br />
zeitgleich von ihm publizierten Artikel findet. 6 Dort sprach er von der „theokratischen<br />
Gefahr“, die dann auftrete, wenn „die Mesalliance zwischen Christentum<br />
und Marxismus die Vorspiegelung eines politisch schaffbaren Gottesreiches<br />
hervorholt“. Im „Mythos der besseren Welt“ werde „das Ethos vom Menschen<br />
auf die Strukturen verlagert“. Ratzinger sieht darin eine „Flucht aus dem Moralischen<br />
ins Utopische“ und fordert demgegenüber den „Mut zur Unvollkommenheit<br />
und zum Ethos“. Das Ethos aber ist „allzeit gefährdet, nie vollkommen und<br />
muß immer neu errungen werden. Deswegen ist ein vom Ethos, von der Freiheit<br />
getragener Staat nie fertig, nie ganz gerecht, nie gesichert. Er ist unvollkommen<br />
wie der Mensch selbst.“ Der Staat als „societas imperfecta“ brauche „Kräfte von<br />
außerhalb seiner selbst, um als er selbst bestehen zu können“. Diese Kräfte kann<br />
er nirgendwo besser finden als im Christentum. Es hat „von Anfang an darauf<br />
bestanden, das Politische in der Sphäre der Rationalität und des Ethos zu belassen.<br />
Es hat die Annahme des Unvollkommenen gelehrt und ermöglicht. Anders<br />
ausgedrückt: Das Neue Testament kennt politisches Ethos, aber keine politische<br />
Theologie“.<br />
5. Die Eigenart der „Soziallehre der Kirche“<br />
Wie aber ist diese „Sphäre der Rationalität und des Ethos“ genauer zu beschreiben,<br />
und welche Handlungsperspektiven lassen sich hier finden? Damit sind wir<br />
bei der in der Enzyklika nachdrücklich angesprochenen Frage nach dem Selbstverständnis<br />
der „Soziallehre der Kirche“.<br />
In seinem Lehrbuch „Christliche Gesellschaftslehre“, dessen erweiterte Neuausgabe<br />
(1997) 7 inzwischen in zehn Sprachen übersetzt wurde, betont Joseph Kardinal<br />
Höffner den inneren Zusammenhang zwischen sozialtheologischen und<br />
88
sozialphilosophischen Methoden in der Katholischen Soziallehre, weil die<br />
„Grundsätze des Naturrechts und die Offenbarungswahrheiten wie zwei keineswegs<br />
entgegengesetzte, sondern gleichgerichtete Wasserläufe, beide ihre gemeinsame<br />
Quelle in Gott“ haben. 8 Dieser methodische Ansatz wurde in der jüngeren<br />
Vergangenheit innerhalb der Kirche von manchen als „nicht mehr zeitgemäß“<br />
kritisiert. Insofern durfte man gespannt sein, ob und wie Benedikt XVI. in<br />
seiner ersten Enzyklika diese Frage behandeln würde.<br />
a) Die Unverzichtbarkeit der naturrechtlichen Argumentation<br />
Das Ergebnis ist eindeutig: Die Caritas als ein Grundauftrag der Kirche und die<br />
„Soziallehre der Kirche“ sind beide unentbehrlich, um der Liebe Gottes zum<br />
Menschen gerecht zu werden. Das wichtigste erkenntnistheoretische Instrument<br />
dieser Sozia llehre ist gemäß der neuen Enzyklika das, „was allen Menschen<br />
wesensgemäß ist“. Das bedeutet: „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von<br />
der Vernunft und vom Naturrecht her“ (28). Der dazu nötige „Imperativ der<br />
Nächstenliebe“ sei „vom Schöpfer in die Natur des Menschen selbst eingeschrieben“<br />
(31). Damit stellt Benedikt XVI. klar: Die naturrechtliche Argumentation<br />
ist für die Soziallehre der Kirche grundlegend und deshalb unverzichtbar.<br />
In einer Anmerkung (22) seiner Enzyklika verweist er auch auf die unter seiner<br />
Verantwortung als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre am 24. November<br />
2002 veröffentliche „Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz<br />
und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“. 9 Dieses Dokument<br />
spricht an nicht weniger als sieben Stellen vom „natürlichen Sittengesetz“, von<br />
der „Natur des Menschseins“, einer „natürlichen Ethik“, vom „menschlichen<br />
Wesen“ und dessen „natürlicher Erkenntnis“. Schlägt man den Index des kürzlich<br />
auch in deutscher Sprache vorgelegten Kompendiums der Soziallehre der<br />
Kirche auf, dann findet man unter den Begriffen „Natur“, „Naturrecht“ – „natürliches<br />
Recht“ insgesamt 43 Hinweise, in denen auf die naturrechtliche Argumentation<br />
zurückgegriffen wird. 10 Wer also die Sache der Katholischen Soziallehre<br />
begreifen und vertreten will, kommt an der naturrechtlichen Argumentation nicht<br />
vorbei. Dabei ist es freilich unumgänglich, das damit Gemeinte näher zu erläutern<br />
und gegen Mißverständnisse abzuklären.<br />
b) Kritische Reaktionen<br />
Die Selbstverständlichkeit, mit der sowohl die Enzyklika als auch das erwähnte<br />
Kompendium der Soziallehre der Kirche das Wort von der „ewigen Wiederkehr<br />
des Naturrechts“ 11 bestätigen, ist nicht unwidersprochen geblieben. Daniel Deckers<br />
kritisiert in seiner Rezension des Kompendiums: „Der Begriff Naturrecht<br />
etwa wird in den herangezogenen Texten mit einer an Naivität grenzenden<br />
Selbstverständlichkeit gebraucht, die nichts von den schwerwiegenden Anfragen<br />
an die philosophischen Prämissen sowie an Theorie und Praxis der Normbegründung<br />
erahnen läßt, denen die kirchliche Sozialverkündigung seit ihrer Entstehung<br />
im 19. Jahrhundert ausgesetzt ist.“ 12 Auch Christian Geyer rieb sich offensichtlich<br />
etwas verwundert die Augen angesichts der schlichten Aussage der<br />
Enzyklika, die Soziallehre der Kirche „argumentiert von der Vernunft und vom<br />
Naturrecht her“. Er meinte zumindest „haarfeine Risse im scheinbar ehernen<br />
89
Vokabular der überkommenen Lehre“ entdecken zu können, weil Benedikt XVI.<br />
nicht gesagt habe: Die Soziallehre „gründet auf Vernunft und Naturrecht“, sondern<br />
sie „argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her“. 13 Diese Ve r-<br />
wunderung ist insofern teilweise verständlich, als Kardinal Ratzinger in seinem<br />
Disput mit Jürgen Habermas gesagt hatte: „Die Idee des Naturrechts setzte einen<br />
Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinandergreifen, die<br />
Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie<br />
zu Bruch gegangen. Die Natur als solche sei nicht vernünftig, auch<br />
wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt: Das ist die Diagnose, die uns von<br />
dort gestellt wird und die heute weithin unwidersprechlich scheint.“ 14<br />
Christian Geyer hatte einige Monate vor dem Erscheinen der Enzyklika auch das<br />
Gespräch von Benedikt XVI. mit Hans Küng kommentiert. In der „Erklärung des<br />
Heiligen Stuhls zur Begegnung von Papst Benedikt XVI. mit Theologieprofessor<br />
Hans Küng“ steht: „Der Papst würdigte das Bemühen von Professor Küng, im<br />
Dialog der Religionen wie in der Begegnung mit der säkularen Vernunft zu einer<br />
erneuerten Anerkennung der wesentlichen moralischen Werte der Menschheit<br />
beizutragen“. 15 Geyer meinte dazu: „Der Akzent liegt hier nicht länger darauf,<br />
daß erst der Glaube die Vernunft zu sich selbst bringt – sondern die Vernunft<br />
trägt viele Gesichter ... Wenn es aber nicht mehr den einen höchsten Begriff von<br />
‚Vernunft‘ gibt, dann kann es auch einen solchen von ‚Natur‘ nicht geben, einem<br />
weiteren Klassiker katholischer Argumentationsfiguren.“ Dabei beruft sich der<br />
Autor auch auf die eben zitierten Äußerungen Joseph Ratzingers im Gespräch<br />
mit Jürgen Habermas. 16 Übersehen wird dabei, daß Joseph Ratzinger im Gespräch<br />
mit Habermas in naturrechtlicher Diktion von den „wesentlichen moralischen<br />
Werten der Menschheit“ spricht; sodann, daß er sich „in diesem Gespräch“<br />
nicht auf das Naturrecht „stützen“ wolle. Die christliche Naturrechtsphilosophie<br />
kann ihre letzte Gewißheit nur von ihrem theologischen Vorzeichen her gewinnen,<br />
wonach der Schöpfer den Menschen genügend Vernunft gegeben hat, um<br />
das Gute vom Bösen zu unterscheiden. So kann man gegenüber jemand, der sich<br />
wie Habermas als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, schwer argumentieren.<br />
Sodann hielt es Joseph Ratzinger an dieser Stelle wohl nicht für angebracht, sich<br />
mit der Evolutionstheorie zu befassen. Daß er die Hypothese des evolutionistischen<br />
Zufalls nicht teilt, wird aus der in einer Anmerkung dazu aufgeführten<br />
eigenen und fremden kritischen Literatur zur evolutionistischen Zufallstheorie 17<br />
ebenso deutlich, wie aus dem Satz seiner ersten Predigt als Papst: „Wir sind<br />
nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht<br />
eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht.“ 18<br />
Daß Joseph Ratzinger keineswegs auf die naturrechtliche Argumentation verzichten<br />
will, dies zeigt eben seine erste Enzyklika.<br />
c) Das rationalistische Mißverständnis des Naturrechts<br />
Das Anstößige der naturrechtlichen Argumentation scheint für viele darin zu<br />
liegen, daß sie auf anthropologische Konstanten, also auf das, „was allen Menschen<br />
wesensgemäß“ (28) ist, zurückgreift. „Wesensmäßig“ wäre das, was der<br />
„Natur des Menschen“ entspricht und deshalb als „vernünftig“ anzusehen ist.<br />
Dies könnte man im Sinne eines naturalistischen Rationalismus mißverstehen.<br />
90
Im ersten Teil der Enzyklika wird jedoch das theologische Vorzeichen und die<br />
darin letztlich abgesicherten Postulate des Naturrechts von Benedikt XVI. eingehend<br />
am Verhältnis der „schenkenden Liebe“ (Agape) Gottes und der „begehrenden<br />
Liebe“ (Eros) des Menschen erhellt. Er stellt dabei fest, der Eros sei<br />
„gleichsam wesensmäßig im Menschen selbst verankert“, und fährt fort: „Der<br />
Eros verweist von der Schöpfung her den Menschen auf die Ehe, auf eine Bindung,<br />
zu der Einzigkeit und Endgültigkeit gehören. So, nur so erfüllt sich seine<br />
innere Weisung. Dem monotheistischen Gottesbild entspricht die monogame<br />
Ehe“ (11).<br />
Daß eine solche Schlußfolgerung provoziert, kann man verstehen. So fragte denn<br />
auch Christian Geyer in seinem bereits erwähnten Kommentar: „Der naturrechtliche<br />
Vernunftsbegriff, er ist unhintergehbar monogam. Ist und bleibt also alles<br />
andere unvernünftig?“ Unter indirektem Hinweis auf die faktischen Varianten<br />
des Eros gibt er den Rat, „nicht in einer Enzyklika“, sondern „im Zweifel bei<br />
Shakespeare“ nachzulesen, „daß das Projekt, den Menschen zur monogamen<br />
Vernunft zu bringen, so unvernünftig sein könnte, wie die Liebe selbst“. – Diesem<br />
Einwand gegen den „naturrechtlichen Vernunftbegriff“ liegt das „naturalistische“<br />
Mißverständnis zugrunde, als ob man aus dem faktisch feststellbaren<br />
menschlichen Verhalten ohne weiteres Sollensforderungen ableiten könne. Dies<br />
wäre nur unter der Voraussetzung des materialistischen Neo-Darwinismus mö g-<br />
lich. Im Unterschied zum Tier ist aber der Mensch nicht in dem Sinn ein „Naturwesen“,<br />
daß er die für sein Leben und Überleben nötigen Verhaltensweisen<br />
biotopisch vorfindet und instinktgesichert verwirklicht, er muß vielmehr aus der<br />
Fülle seiner Möglichkeiten, wenn er sich nicht selbst verlieren will, auswählen<br />
und dabei zwischen gut und böse unterscheiden. Er ist als o ein sittliches Wesen,<br />
das an Wertenscheidungen nicht vorbeikommt. Das Naturrecht fällt nicht wie ein<br />
Stein vom Himmel. Es verdankt seine Einsichten einem langen kulturellen Reflexionsprozeß,<br />
in dessen Verlauf die allen Menschen zukommende Würde und<br />
deren normative Konsequenzen allmählich bewußt werden.<br />
Karl Jaspers etwa spricht im Blick auf die abendländische Kultur von einem<br />
dreitausendjährigen historischen Optimierungsprozeß. Dabei machen wir anthropologisch<br />
verbindliche Erfahrungen, hinter die wir um des Menschen willen<br />
nicht wieder zurückfallen dürfen, z. B. daß die Einehe der Polygamie vorzuziehen<br />
ist. Die Kultur ist stets „das Unwahrscheinliche“ (Arnold Gehlen). Der<br />
Rückfall in die Barbarei ist jederzeit möglich. Kultur muß jeweils der immer<br />
bedrohlichen Neigung zur Dekadenz abgerungen werden. Daß deshalb naturrechtlich<br />
begründete Postulate „kontrafaktisch-normativen Charakter“ (Geyer)<br />
haben können, ist kein Einwand gegen ihre Richtigkeit. Ethische Verbote sind<br />
immer auch kontrafaktisch, also gegen das gerichtet, was „man so tut“, sonst<br />
wären sie überflüssig. Würden wir die Zehn Gebote halten, bräuchten wir sie<br />
nicht. Wohin eine Gesellschaft abdriftet, wenn das dem Menschen „Wesensgemäße“<br />
gerade im Bereich von Ehe und Familie relativistisch zerfällt, läßt sich<br />
leicht ausmachen. 19<br />
Insofern steht im Kern der naturrechtlichen Argumentation die Einsicht in eine<br />
mit dem Menschsein gegebene Würde und damit verbundene unveräußerliche<br />
91
Rechte und entsprechende Pflichten. In diesem Sinne erklärte Papst Benedikt<br />
XVI. z. B. am 24. Juni 2005 bei der Ansprache anläßlich seines Besuchs beim<br />
italienischen Staatspräsidenten Ciampi: „Die Kirche, die gewohnt ist, den Willen<br />
Gottes zu erforschen, der in die Natur des menschlichen Geschöpfes eingeschrieben<br />
ist, sieht in der Familie einen äußerst wichtigen Wert, der vor jedem<br />
Angriff geschützt werden muß, weil dieser darauf abzielt, ihre Festigkeit zu<br />
unterhöhlen und ihre Existenz in Frage zu stellen.“ Hier und bei ähnlichen Fragen<br />
solle der Gesetzgeber „humane“ Lösungen suchen, welche die „unveräußerlichen<br />
Werte achten, die in ihnen enthalten sind.“ 20 In seinem Gespräch mit Jürgen<br />
Habermas hatte Joseph Ratzinger festgestellt, als „letztes Element des Naturrechtes<br />
... sind die Menschenrechte stehen geblieben. Sie sind nicht verständlich<br />
ohne die Voraussetzung, daß der Mensch als Mensch, einfach durch seine<br />
Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, daß sein Sein selbst<br />
Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind.“ 21<br />
Ähnlich begründet werden die Menschenrechte in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung<br />
von 1776 und im Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes.<br />
d) Die „Korrelationalität“ von Vernunft und Glaube<br />
Ein zweites Mißverständnis hinsichtlich des christlichen Naturrechtsdenkens<br />
besteht in seiner Gleichsetzung mit einem rationalistischen Vernunftoptimismus,<br />
der glaubt, auf Gottes Wort verzichten zu können. Deshalb bedarf es, wie schon<br />
gesagt, stets der „Reinigung der Ve rnunft“ im Lichte der biblisch-christlichen<br />
Offenbarung. Genau darin unterscheidet sich eine christliche Naturrechtsphilosophie<br />
von einem puren Rationalismus. Sie wendet sich aber genauso gegen eine<br />
reine „Glaubensethik“, die ihre Postulate außerhalb der Hörweite der menschlichen<br />
Vernunft formulieren will. Die Wiege des neuzeitlichen naturrechtlichen<br />
Denkens liegt ja in der spanischen Spätscholastik des „Goldenen Zeitalters“.<br />
Franz von Vitoria und Franz Suarez wandten sich damals gegen theologische<br />
Rechtfertigungen der spanischen Conquista in Lateinamerika. Sie betonten das<br />
„natürliche Recht“ der indigenen Kulturen auf Existenz. Joseph Höffner, ein<br />
ausgewiesener Kenner dieser Zeit, machte in diesem Zusammenhang auf die<br />
kritische Kraft der naturrechtlichen Vernunft gegenüber theologischen Grenzüberschreitungen<br />
aufmerksam. 22 Wenn theologische Argumente sich auf den<br />
„Willen Gottes“ stützen, dann gibt es keine vernünftige Basis, sich gegen sie zu<br />
wenden. Das Naturrecht aber beruft sich auf die menschliche Vernunft. Es muß<br />
auf dieser Grundlage argumentieren und kann deshalb auch mit Vernunftargumenten<br />
kritisiert werden.<br />
Auf Ähnliches hat Joseph Ratzinger am Ende seines Gesprächs mit Jürgen Habermas<br />
hingewiesen. Er sprach von „Pathologien in der Religion“ und von<br />
„Pathologien der Vernunft“. Beide können gefährlich und bedrohlich werden.<br />
Ratzingers Fazit: „Ich würde demgemäß von einer notwendigen Korrelationalität<br />
von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger<br />
Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das<br />
gegenseitig anerkennen müssen.“ 23 Und dem stimmte Jürgen Habermas zur<br />
Überraschung mancher zu.<br />
92
Von daher wird klar: Eine christliche Naturrechtsphilosophie ist etwas anderes<br />
als ein autonomistischer Rationalismus. Ihre gesellschaftliche Notwendigkeit<br />
wird heute zunehmend in dem Maße neu erkannt, wie sich eine Gesellschaft<br />
ohne Gott in die Aporien einer rein technischen Vernunft verfängt. Insofern steht<br />
Benedikt XVI. eher für ein postmodernes als für ein „vormodernes“ Verhältnis<br />
von Vernunft und Glaube, von Glaube und Politik. Er zeigt auf, daß die „Liebestätigkeit“<br />
der Kirche und die Verwirklichung der Katholischen Soziallehre eine<br />
zwar zu unterscheidende, aber theologisch untrennbare Einheit bilden. Der Papst<br />
betont in seinem methodischen Ansatz ähnlich wie Joseph Höffner den inneren<br />
Zusammenhang zwischen sozial-theologischen und sozial-philosophischen Methoden.<br />
Dieser Ansatz findet sich bereits in der von Joseph Höffner 1935 an der<br />
Gregoriana vorgelegten Dissertation. 24 Dies entspricht ganz dem Zweiten Vatikanischen<br />
Konzil, das den Auftrag der Kirche, „den Glauben zu verkünden, ihre<br />
Soziallehre kundzumachen“ in einem Atemzug nennt (vgl. GS 76,5), mit den<br />
Worten der Enzyklika gesagt: „Glaube, Kult und Ethos greifen ineinander als<br />
eine einzige Realität, die in der Begegnung mit Gottes Agape sich bildet“ (14).<br />
6. Die kulturbildende Kraft des Christentums<br />
Mit seiner Enzyklika „Deus Caritas est“ macht Benedikt XVI. auch auf die kulturbildenden<br />
Kraft des christlichen Glaubens, der von ihm ausgehenden Liebe<br />
und dem Streben nach Gerechtigkeit aufmerksam. Daß Gott, der die Liebe ist,<br />
den Menschen als sein „Abbild“ geschaffen hat, daß Jesus Christus, die menschgewordene<br />
Liebe Gottes, sich mit den geringsten seiner und unseren Brüder und<br />
Schwestern identifiziert (vgl. Mt 25), hat zunächst die abendländische Kultur,<br />
dann aber auch alle anderen Kulturen, mit denen das Christentum wesentlich in<br />
Kontakt kam, nachhaltig geprägt. Dies geschah und geschieht durch Tugenden<br />
und Werke der christlichen Caritas, aber auch durch die Bildung spezifischer<br />
normativer Aussagen und Lebensformen im Sinne einer Kultur der Ehe und<br />
Familie, der Wirtschaft, von Staat und Politik, des Erziehungs- und Bildungswesen<br />
usw. Die Enzyklika macht deutlich, daß eine solche Kultur nicht „nebensächlich“<br />
entstehen konnte, sondern ihre Wurzel zutiefst im biblischen Gottes- und<br />
Menschenbild hat. Unter der Überschrift „Das Liebestun als Auftrag der Kirche“<br />
zeigt dies Benedikt XVI. zunächst am Beispiel des Ur- und Frühchristentums auf<br />
(20-24); dann unter der Überschrift „Gerechtigkeit und Liebe“ am Beispiel der<br />
Personen, Bewegungen und Dokumente der kirchlichen Sozialverkündigung,<br />
dank derer sich die Kirche besonders seit dem Beginn der Industriegesellschaft<br />
um Gerechtigkeit und Liebe müht.<br />
Daraus ergibt sich die Frage, wie es derzeit um diese kulturbildende Kraft des<br />
Christentums steht, und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie sich<br />
behaupten muß. Diese Frage stellt sich sowohl im Hinblick auf das zusammenwachsende<br />
Europa als auch auf das weltweite Bemühen um Liebe und Gerechtigkeit<br />
unter den Bedingungen einer globalen Zivilisation. Joseph Ratzinger hat<br />
sich dazu vielfach vor und seit seiner Wahl zum Papst geäußert, kurz davor in<br />
einem Vortrag, den er in Subiaco gehalten hat. 25 Er kritisiert darin vor allem die<br />
Geschichtsvergessenheit, die sich in der Nichterwähnung „der christlichen Wur-<br />
93
zeln Europas“ in der Präambel des europäischen Verfassungsvertrages ausdrückt.<br />
Er zeigt auf, wie eine „konfuse Ideologie der Freiheit“ zu einem „Dogmatismus“<br />
führt, der nur noch den religiösen und ethischen Relativismus als „political correct“<br />
akzeptiert. 26<br />
Die Enzyklika, so kann man zusammenfassend feststellen, ist nicht nur eine<br />
Magna Charta der christlichen Caritas, sondern auch ein Dokument der Soziallehre<br />
der Kirche. Sie bietet eine Fülle von Denkanstößen darüber, wie die kulturbildende<br />
Kraft des Christentums unter heutigen und morgigen Bedingungen als<br />
das „signifikant Andere“ in der Welt, aber eben nicht als eine „Sonderwelt“,<br />
sondern in den „grundlegenden Lebenszusammenhängen des Menschseins“ (7)<br />
heilend und helfend fruchtbar werden könnte.<br />
Anmerkungen<br />
1) Zur spezifisch deutschen Kritik an Johannes Paul II. und seinem Nachfolger siehe<br />
auch: Andreas Püttmann: Päpstliche Ereignisse: Papstbegräbnis – Papstwahl – Papstbesuch,<br />
in: Die Neue Ordnung 59 (2005) 335-348.<br />
2) Theologen zur Enzyklika: „Gewisse Schieflage“, in: KNA-ID Nr. 10/8. März 2006, 5.<br />
3) Nikolaus Monzel hat dafür die prägnante Formel geprägt: „Die Liebe ist die Sehbedingung<br />
der Gerechtigkeit“. Ganz ähnlich sagt dies Johannes Paul II. in der Enzyklika „Dives<br />
in misericordia“ 12,3.<br />
4) Vgl. Theologen zur Enzyklika, a. a. O.<br />
5) Vgl. dazu neuerdings Bernhard Matthias Hillen: Institutionenethik und Tugendethos.<br />
Sozialstaat in aktuellen Konzepten der Wirtschaftsethik und der Katholischen Soziallehre,<br />
Bonn 2005.<br />
6) Joseph Kardinal Ratzinger: Der Mut zur Unvollkommenheit und zum Ethos. Was<br />
gegen eine politische Theologie spricht, in: FAZ vom 4. August 1984 Nr. 171.<br />
7) Joseph Kardinal Höffner: Christliche Gesellschaftslehre, hrsg., bearbeitet und ergänzt<br />
von Lothar Roos, Kevelaer (1997) 22000.<br />
8) Pius XII.: Radiobotschaft an Pfingsten 1. Juni 1941 (UG 498); über die genaue Zuordnung<br />
dieser beiden Quellen vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer: „Duplex ordo cognitionis“.<br />
Zur systematischen Grundlegung einer Katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie<br />
und Theologie, Paderborn 1991.<br />
9) Verlautbarung des Apostolischen Stuhls 158, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen<br />
Bischofskonferenz, Bonn 2002. Vgl. dazu Lothar Roos: Die politische Verantwortungen<br />
des Christen unter den Bedingungen von Globalismus, Laizismus und Relativismus, in:<br />
Unitas 143 (2003) 183-188, sowie ders.: Wahre und falsche „Laizität“. Zur „politischen<br />
Note“ der päpstlichen Glaubenskongregation, in: Die Neue Ordnung 57 (2003) 223-227.<br />
10) Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der<br />
Kirche, Freiburg 2006, 509f.<br />
11) Heinrich Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, Leipzig 1936, München 2 ,<br />
1947.<br />
12) Daniel Deckers: In mehr als hundert Jahren gewachsen, in: FAZ vom 2. Februar 2006,<br />
Nr. 28.<br />
13) Christian Geyer: Ratzingers Erste. Fragmente einer Sprache der Liebe: Die neue<br />
Enzylika, in: FAZ vom 26. Jan. 2006 Nr. 22, S. 39.<br />
94
14) Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und<br />
Religion, Freiburg 2005, 50f.<br />
15) Vom Heiligen Stuhl veröffentlichtes deutsches Original ZG05092604.<br />
16) Christan Geyer: (Küng) Freundliche Einklammerung: Benedikts Weltethos, in: FAZ<br />
vom 28. Sept. 2005 Nr. 226 S. 37.<br />
17) Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, a. a. O., Anm. 2, 59.<br />
18) Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 168, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen<br />
Bischofskonferenz, Bonn 2005, 35.<br />
19) Vgl. z. B. eine französische Untersuchung, die in der bei islamischen Einwanderern<br />
verbreiteten Polygamie eine der Ursachen der französischen Vorstadtkrawalle ausgemacht<br />
hat (Michaela Wiegel, „Verwahrlosung durch Polygamie“, in: FAZ vom 17. November<br />
2005, Nr. 268 S. 3).<br />
20) Osservatore Romano vom 8. Juni 2005 Nr. 27 S. 11.<br />
21) A. a. O. 51.<br />
22) Joseph Höffner: Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen<br />
Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947.<br />
23) A. a. O. 57.<br />
24) Joseph Höffner: Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe, Saarbrücken 1935.<br />
25) Europa in der Krise der Kulturen. Vortrag von Joseph Kardinal Ratzinger, gehalten in<br />
Subiaco, hier zitiert aus: Medizin und Ideologie 3/05, 18-25.<br />
26) Vgl. ebd. 20 und 23.<br />
Prof. em. Dr. Lothar Roos war bis 2000 Lehrstuhlinhaber für „Christliche Gesellschaftslehre<br />
und Pastoralsoziologie“ an der Universität Bonn und lehrt heute<br />
an der privaten Hochschule „Gustav-Siewerth-Akademie“ in Oberbierbronnen.<br />
Er ist Vorsitzender der Joseph-Höffner-Gesellschaft.<br />
95
Heinrich Pompey<br />
Die Enzyklika „Deus Caritas est“<br />
Eine Profilierungschance für die Caritas?<br />
In seiner Ansprache anläßlich einer Audienz für die Teilnehmer der Konferenz<br />
des Päpstlichen Rates Cor Unum – zwei Tage vor der Publikation der Enzyklika<br />
– beschreibt der Papst die Absicht seines Lehrschreibens zur Caritas: „Es war<br />
mein Wunsch, die zentrale Bedeutung des Glaubens an Gott hervorzuheben –<br />
des Glaubens an den Gott, der ein menschliches Antlitz und ein menschliches<br />
Herz annahm. Der Glaube ist keine Theorie, die man übernehmen oder auch<br />
beiseite legen kann.“ „Ich wollte die Menschlichkeit des Glaubens verdeutlichen.“<br />
1<br />
1. Die Einmaligkeit der Enzyklika<br />
Seit Bestehen der Kirche ist die Enzyklika die erste grundlegende Inspiration der<br />
caritativ-diakonischen Sendung der Kirche und in dieser systematischen wie<br />
zugleich praktischen Weise singulär in der lehramtlichen Theologie des Westens.<br />
Benedikt XVI. greift die frühkirchliche programmatische, caritastheologische und<br />
caritaspraktische Reflexionstradition der Väter des Ostens Johannes Chrysostomus<br />
(349-407) wie Basilius d. Gr. (330-379) wieder auf. 2 Unbestritten gab es im<br />
Verlauf der Geschichte katholische und evangelische Theologen, die Abhandlungen<br />
zu Teilaspekten insbesondere zur Theologie der Liebe bzw. zu den theologischen<br />
Grundlagen der caritativen Diakonie der Kirche verfaßten. 3<br />
Mit Recht darf die katholische Kirche stolz sein, seit dem 19. Jahrhundert im<br />
Blick auf die makrosystemischen gesellschaftlichen Bedingungen der vorherrschenden<br />
sozialen Not (z. B. in der Arbeitswelt, in den Familien und im Migrationsschicksal<br />
etc.) jeweils mit einer qualifizierten und richtungweisenden lehramtlichen<br />
Verkündigung reagiert zu haben. Der Papst selbst erinnert an die Sozial-Enzykliken:<br />
Rerum Novarum (1891), Quadragesimo Anno (1931), Mater et<br />
Magistra (1961), Laborem Exercens (1981), Sollicitudo Rei Socialis (1987)<br />
sowie schließlich Centesimus Annus (1991). 4 In diesen lehramtlichen Dokumenten<br />
findet die mikrosystemisch ausgerichtete caritative Diakonie im Sinne der<br />
Barmherzigkeit jedoch nur eine bescheidene Erwähnung und nimmt lediglich<br />
eine komplementäre Funktion zur Gerechtigkeits-Diakonie ein. Auch im Vergleich<br />
zu den kirchlichen Grunddiensten Wortverkündigung und Liturgie fand<br />
die caritative Diakonie in den offiziellen Äußerungen des Lehramtes bisher nur<br />
eine marginale Berücksichtigung.<br />
Trotz caritastheologischer und caritaspraktischer Hinweise des II. Vatikanischen<br />
Konzils z. B. in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche und in der Pastoralen<br />
Konstitution über die Kirche in der Welt wie im Dekret über das Laien-<br />
96
apostolat 5 finden sich im neuen nachkonziliaren Katechismus der Katholischen<br />
Kirche von 2005 6 nicht die Stichworte Diakonie oder Caritas. Als göttliches<br />
Gebot ist die Nächstenliebe zwar an verschiedenen Stellen erwähnt, ein Bezug<br />
zur heilenden und helfenden Caritas wird jedoch nicht hergestellt. 7 Ebenfalls ist<br />
im nachkonziliaren Kirchenrecht von 1983 8 die caritative Diakonie nur viermal<br />
mit Namen genannt. Demgegenüber enthält das Kirchenrecht je ein eigenes Buch<br />
(Nr. III) zum Verkündigungsdienst sowie ein eigenes Buch (Nr. IV) zum Heiligungsdienst,<br />
d. h. zur Liturgie. Auch im klassischen, in über 40 Auflagen erschienenen<br />
Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum de rebus<br />
fidei et morum 9 von H. Denzinger sucht man vergeblich nach lehramtlichen<br />
Darlegungen zur caritativen Diakonie der Kirche. Im neuen Kompendium der<br />
Soziallehre der Kirche des Päpstlichen Rates Justitia et Pax von 2004 findet die<br />
caritative Diakonie eine – wenn auch bescheidene – Erwähnung, zumindest wird<br />
die helfende Barmherzigkeit viermal, die Brüderlichkeit elfmal und die Zivilis a-<br />
tion der Liebe dreimal thematisiert. Doch die Stichworte Caritas und Diakonie<br />
sucht man vergebens. 10<br />
2. Die Adressaten<br />
Der Papst spricht als Adressaten seiner Botschaft zunächst die Bischöfe an und<br />
erinnert sie an das ihnen durch Weihe übertragene caritativ-soziale Diakonat.<br />
Zugleich macht er ihnen die theologische Tiefe des Liebestuns der Kirche wieder<br />
bewußt. Er mahnt sie, dafür zu sorgen, daß die Kirche als Familie Gottes ein Ort<br />
der gegenseitigen Hilfe und der Dienstbereitschaft für alle Hilfebedürftigen ist<br />
(DCE Nr. 32): „Der bischöflichen Struktur der Kirche entspricht es, daß … in<br />
den Teilkirchen die Bischöfe als Nachfolger der Apostel die erste Verantwortung<br />
dafür tragen, daß das Programm der Apostelgeschichte (vgl. 2, 42-44) auch heute<br />
realisiert wird … Bei der Bischofsweihe gehen dem eigentlichen Weiheakt Fragen<br />
an den Kandidaten voraus, in denen die wesentlichen Elemente seines<br />
Dienstes angesprochen und ihm die Pflichten seines zukünftigen Amtes vorgestellt<br />
werden. In diesem Zusammenhang verspricht der zu Weihende ausdrücklich,<br />
‚um des Herrn willen den Armen und den Heimatlosen und allen Notleidenden<br />
gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein’“ (DCE Nr. 32).<br />
Gemeinsam mit den Bischöfen spricht der Papst alle Gläubigen an – so ist es<br />
ebenfalls der Überschrift zur Enzyklika zu entnehmen –, die in den Pfarreien<br />
ehrenamtlich neben ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen liebevoll<br />
Kranken, Armen und Bedrängten jeder Art beistehen, sei es im Lebensraum der<br />
Familie, in der Nachbarschaft, in den Elendsvierteln der Städte oder in Katastrophengebieten.<br />
Ihr Engagement der helfenden Liebe gilt es aus der Kraft und<br />
Weisheit des christlichen Glaubens zu bestärken und zu inspirieren, seien sie als<br />
einzelne, als Gruppen oder im Rahmen einer sozial-caritativen Gemeindeaktion<br />
tätig. Den geistlichen und sozialpädagogischen Animateuren und Fachbegleitern<br />
der gemeindlichen Caritas möchte der Papst die Theologik und Ekklesiologik der<br />
caritativen Diakonie erschließen, damit diese im Lebensraum der Gemeinde oder<br />
im Bistum ihren freiwilligen He lferInnen die Sinn- und Wertoptionen ihres Einsatzes<br />
besser verdeutlichen können.<br />
97
3. Caritastheologische Themen der Enzyklika<br />
a) Die Trias Eros, Philia und Agape – Grundthemen menschlicher Existenz –<br />
bestimmen die caritastheologischen wie caritasanthropologischen Reflexionen<br />
Benedikts XVI. Die leidenschaftliche Beziehung Gottes zu seinem Volk Israel<br />
und die menschliche Urbeziehung von Mann und Frau werden zum Maßstab<br />
einer caritativen Beziehung. Mit einer Option für eine leibhafte caritative Zuwendung,<br />
die im Eros gründet, werden Motivations- und Wärmeströme in den<br />
helfenden Beziehungen freigesetzt. Durch diese Akzentsetzung erhält die caritativ<br />
helfende und heilende Beziehung einen ausdrücklich personalen und zugleich<br />
attraktiven Charakter, der nicht nur vom Verstand, von moralischen Imperativen,<br />
sondern von Herzensgüte geprägt ist. Dies bedeutet eine Weise des Helfens, die<br />
die Worte: „B-arm-herzig-keit“, d. h. den Armen zu herzigen oder der lateinische<br />
Begriff „Misericordia“, für die Elenden ein Herz haben, ebenfalls zum Ausdruck<br />
bringen. Die Agape transformiert den Eros, gibt ihm eine besondere Ausrichtung,<br />
und der Eros transformiert die Agape, d. h. verleiht ihr Herzensdynamik<br />
und Herzenserkenntnis. 11<br />
b) Eine durch tiefe Herzensgüte geprägte helfende Zuwendung ist notwendig z.<br />
B. angesichts des unverhofften herzlosen Hereinbrechens der Arbeitslosigkeit in<br />
ein erfülltes Berufsleben, einer lieblosen Trennung von vertrauten Menschen und<br />
Lebensräumen bzw. von einem glücklichen Familienleben oder anläßlich der<br />
grauenvollen Botschaft einer irreversiblen Erkrankung, die ein psycho-physisch<br />
gesundes und zufriedenes Leben zerstört, etc. Neben den äußeren Ve rletzungen<br />
schlagen solche Ereignisse innere Wunden, die vielfach schwer zu heilen sind;<br />
denn angesichts solch leidvoller Erfahrungen können Menschen nicht mehr an<br />
das Gutsein ihres Lebens glauben, nicht mehr auf eine lebensvolle Zukunft hoffen<br />
und können sich und ihr Leben nicht mehr liebevoll bejahen. Ihr Lebensurvertrauen<br />
ist zerstört. Die caritative Diakonie will Glauben, Hoffen und Lieben in<br />
diesen Situationen revitalisieren (DCE Nr. 39). Es gilt (vgl. DCE Nr. 39, DCE<br />
Nr. 41) in hoffnungslosen und lieblosen Lebenslagen als HelferIn stellvertretend<br />
wider alle Hoffnung für die Betroffenen zu hoffen und sie gegen alle Lieblosigkeit<br />
zu lieben und – trotz aller Bosheit der Lebenssituation – vom tiefen Gutsein<br />
des Betroffenen und seines Lebens überzeugt zu bleiben. Dies kann nur als<br />
Dienst, d. h. demütig i. S. von dien-mutig geschehen (DCE Nr. 39). Es muß ein<br />
Dienen sein, das von Mut getragen ist, das nicht aufgibt, auch wenn bei einem<br />
Leidenden die Revitalisierung des Glaubens an das eigene Gutsein (= Gott-<br />
Geprägtsein) des Lebens und die Hoffnung wie die Liebe in einer Lebenssituation<br />
blockiert sind. Diesen Mut nicht zu verlieren heißt, Geduld zu haben (DCE<br />
Nr. 39). Mit Druck und Gewalt ist das unumgängliche Lebensurvertrauen in<br />
Form von Glauben, Hoffnung und Liebe nicht zu revitalisieren.<br />
Aus diesem Grund entfaltet Benedikt XVI. den Glauben und die daraus resultierende<br />
Liebe als Quelle der „not-wendigen“ Lebenskraft und der Lebensweisheit<br />
und lädt so zu einer vertiefenden caritas-theologischen Reflexion der therapeutischen<br />
Wirkungen von Glaube, Hoffnung und Liebe unter Berücksichtigung von<br />
Demut und Geduld ein. 12 Ferner hebt er hervor, daß die Diakonie des Glaubens,<br />
98
Liebens und Hoffens ihre volle Kraft und Inspiration nur communial entfaltet, d.<br />
h. wenn die helfende Beziehung und der Leidende mitgetragen sind von einer<br />
„Gemeinschaft der Liebe“ (DCE-Überschrift 2. Teil). Wie die Enzyklika versteht<br />
bereits das II. Vatikanische Konzil die Kirche als „Gemeinschaft des Glaubens,<br />
der Hoffnung und der Liebe“. 13<br />
4. Das caritativ-diakonische Selbstverständnis der Kirche<br />
a) Dem Papst ist es ein großes Anliegen, die caritative Hilfe nicht allein als helfende<br />
Praxis des einzelnen Christen darzustellen, sondern als zentrale Aufgabe<br />
der Kirche deutlich zu machen (DCE Nr. 25a). In seinem eigenen Kommentar<br />
hebt er hervor, „daß der völlig persönliche Akt der Agape niemals etwas rein<br />
Individuelles bleiben darf, sondern vielmehr ein wesentlicher Akt der Kirche als<br />
Gemeinschaft werden muß, d. h. er bedarf auch der institutionalisierten Form,<br />
die sich im gemeinschaftlichen Handeln der Kirche äußert. Die kirchliche Organisation<br />
der Caritas ist keine Form der Sozialhilfe, die zufällig der Wirklichkeit<br />
der Kirche hinzugefügt wird, eine Initiative, die man auch anderen überlassen<br />
könnte.“ In der Enzyklika spricht er vom „opus proprium“, das die Kirche nicht<br />
anderen gesellschaftlichen Gruppen oder dem Staat überlassen kann.<br />
b) Kirche als „Gemeinschaft der Liebe“ beschreibt der Papst anhand der Jerusalemer<br />
Urgemeinde (Apg 2, 44-45) (DCE Nr. 20). Daraus zieht er den Schluß:<br />
„Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung<br />
von Gottes Wort (kerygma-martyria ), Feier der Sakramente (leiturgia ),<br />
Dienst der Liebe (diakonia ). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen<br />
und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst … gehört zu ihrem<br />
Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (DCE Nr. 25a). Im<br />
Kontext der Grundwirklichkeiten: Martyria und Leiturgia leistet die Dia konia<br />
einen „wesentlichen“ Beitrag zur Entwicklung der Gemeinschaft (Koinonia)<br />
innerhalb der Kirche und zwischen den Menschen. 14 Wie die Liturgie die Koinonia<br />
mit Gott kultiviert, so die Diakonia die Koinonia der Menschen untereinander<br />
(vgl. DCE Nr. 20-22, 25). Sie sind zugleich Ausdruck der gelebten Martyria<br />
der Caritas Dei, die durch die verdeutlichende Martyria des Wortes bestärkt<br />
wird. 15 In diesen drei Wesensvollzügen der Kirche teilt Gott seine Liebe den<br />
Menschen mit. Sie sind Orte der Erfahrung Gottes. So wie Jesus im Sakrament<br />
und im Wort erfahrbar wird, so auch – gemäß der Endgerichtsrede Jesu (Mt<br />
25,31-46) – im leidenden Menschen. Die Gleichwesentlichkeit der Gotteserfahrung<br />
im leidenden Menschen – analog zur Gotteserfahrung im Wort und im<br />
Sakrament – ist bislang offiziell als Aussage des Lehramtes so klar nicht zu hören<br />
gewesen.<br />
Das Verständnis der Kirche und damit ihrer Gemeinden als „Gemeinschaft der<br />
Liebe“ stellt Fragen an das praktizierte Gemeindeleben: Wie können religiösindividualistisch<br />
geprägte Liturgie-Gemeinden in West- und Mitteleuropa ein<br />
caritativ-communiales Gesicht erhalten? Sie caritativ-communial zu inspirieren,<br />
ist eine große Herausforderung der gegenwärtigen pastoralen Theologie und<br />
Praxis. Ein Blick in die Gemeindepraxis der nordamerikanischen wie der latein-<br />
99
amerikanischen Kirche zeigt, daß dies möglich ist – sowohl unter Bedingungen<br />
einer Wohlstandsgesellschaft wie auch unter Bedingungen einer Mangelgesellschaft.<br />
16 Aus ihrem caritativ-helfenden Miteinander erwächst den amerikanischen<br />
Gemeinden ein beeindruckendes soziales Engagement für andere. 17 Sodann<br />
läßt sich fragen, ob die seit den 70er bis 90er Jahren in Bistümern und Gemeinden<br />
vorherrschende Blickverengung auf Strukturreformen durch eine Option<br />
für eine Gemeindeerneuerung aus dem von Benedikt XVI. beschriebenen<br />
caritativen Geist zu überwinden ist, d. h. durch den Geist, der nach den Worten<br />
Jesu und dem Glauben der Kirche der eigentliche Erhalter der Kirche ist.<br />
5. Die Notwendigkeit eines organisierten Liebestuns der Kirche<br />
Kirche und Gläubige können ihre caritative Christusnachfolge nur realisieren,<br />
wenn sie sich selbst konkret leidenden Mitmenschen zuwenden; so hebt die Enzyklika<br />
im Blick auf die Relativität der organisierten Caritas für das Christsein<br />
des Einzelnen hervor: Den „Gestus der Liebe“, die „Zuwendung“ kann „ich nicht<br />
nur über die dafür zuständigen Organisationen“ umleiten oder nur „als politische<br />
Notwendigkeit“ bejahen (DCE Nr. 18). Ebenfalls wird unterstrichen: „Von der<br />
Übung der Liebestätigkeit als gemeinschaftlich geordneter Aktivität der Gläubigen<br />
kann die Kirche nie dispensiert werden, und es wird andererseits auch nie<br />
eine Situation geben, in der man der praktischen Nächstenliebe jedes einzelnen<br />
Christen nicht bedürfte, weil der Mensch über die Gerechtigkeit hinaus immer<br />
Liebe braucht und brauchen wird.“( DCE Nr. 29) Mit anderen Worten eine Gemeinde<br />
oder ein einzelner Christ kann sich nicht durch die Verbandscaritas von<br />
der konkreten caritativen Zuwendung zu den Leidenden dispensieren. Auch in<br />
der konkreten Pfarrgemeinde ist das Zeugnis der Liebe unumgänglich.<br />
Die organisierte Caritas ist insbesondere für Deutschland typisch. Dank erfreulicher<br />
historischer Bedingungen konnte sich die Verbandscaritas in dieser spezialisierten,<br />
fachlich einmalig qualifizierten und berufsmäßig ausgeübten Weise in<br />
den letzten hundert Jahren entfalten. 18 Allein in Deutschland beschäftigt die<br />
organisierte Caritas fast 500.000 Mitarbeiter hauptamtlich. Demgegenüber ist die<br />
Caritas der Weltkirche vorrangig durch den Einsatz von Freiwilligen geprägt. So<br />
kommen in der Weltkirche im allgemeinen – sei es in den katholischen Ländern<br />
Europas, in den USA, in Lateinamerika, in Afrika und Asien – z. B. auf einen<br />
Hauptamtlichen ca. 15 bis 20 Ehrenamtliche. In Deutschland ist das Verhältnis<br />
1:1. Dennoch ist in allen Ländern eine Organisation der Caritas für die Sendung<br />
der Kirche unverzichtbar.<br />
6. Organisierte Caritas im Auftrag der Kirche<br />
Sehr deutlich focussiert der Papst das caritative Engagement der Kirche als<br />
Communio, so wie es die Überschrift des zweiten Teils der Enzyklika: „Caritas –<br />
Das Liebestun der Kirche als einer ‚Gemeinschaft der Liebe“ zu m Ausdruck<br />
bringt. Die caritativ-individuelle Mitmenschlichkeit des einzelnen Christen beschreibt<br />
er in Verbindung mit der caritativ -communialen Praxis. Die ekklesiologische<br />
Perspektive der organisierten Caritas kann helfen, das Selbstverständnis<br />
100
und die Praxis des gemeindlichen wie verbandlichen Caritas-Zeugnisses der<br />
Kirche in der Gesellschaft tiefer zu verstehen.<br />
Da die Caritas der Kirche Ausdruck ihres gelebten Glaubens ist, kann sie ihre<br />
caritative Sendung nicht delegieren, selbst nicht an einen Privatverein von Katholiken<br />
und schon gar nicht an Andersgläubige, die an eine spezifisch christliche<br />
Gestalt der Caritas nicht glauben: „Die karitativen Organisationen der Kirche<br />
stellen dagegen ihr opus propriu m dar, eine ihr ureigenste Aufgabe, in der sie<br />
nicht mitwirkend zur Seite steht, sondern als unmittelbar verantwortliches Subjekt<br />
selbst handelt und das tut, was ihrem Wesen entspricht“ (DCE Nr. 29).<br />
Wenn die Kirche in der organisierten Caritas das handelnde Subjekt ist, dann<br />
kann die verbandlich organisierte Caritas in Deutschland kirchenrechtlich kein<br />
selbständiger privater kirchlicher Verein (kein Zusammenschluß von einzelnen<br />
Christen oder christlichen Vereinen) sein, der stellvertretend für die Kirche die<br />
organisierte Form ihrer Caritas betreibt. In den Caritasverbänden handelt die<br />
Kirche selbst. So läßt sich fragen, ob das alle Satzungen der Diözesancaritasverbände<br />
eindeutig zum Ausdruck bringen? Die organisierte Caritas der Kirche<br />
besitzt stets einen öffentlich-rechtlichen Charakter, da die Kirche durch sie öffentlich<br />
handelt. In diesem Zusammenhang könnten sich Fragen zur Ausgliederung<br />
von caritativen Teilbereichen als selbständige gemeinnützige GmbH’s stellen<br />
wie ebenso zur ekklesiologischen Relevanz der diözesanen und überdiözesanen<br />
Fachverbände. Ist in diesen Ausgliederungen die Kirche das handelnde Subjekt?<br />
Vielleicht läßt sich auch dank der Präzisionen der Enzyklika die ausstehende<br />
kirchenrechtliche Definition des Deutschen Caritasverbandes klären. Welche<br />
ekklesiologische Bedeutung kommt dem DCV zu? Kann es genügen, daß die<br />
Caritaskommission der deutschen Bischöfe nur eine Aufsichtsfunktion über den<br />
DCV wahrnimmt, oder müßte die Kommission die Leitungsfunktion des Caritasverbandes<br />
ausüben? Ist es hinreichend und was bedeutet es kirchlich, daß der<br />
DCV eine von den Bischöfen anerkannte „Vertretung der katholischen Caritas in<br />
Deutschland“ ist, wie es die Satzung des Deutschen Caritasverbandes in der<br />
Fassung vom 4. Mai 1993 formuliert: „§ 1 (1) Der Caritasverband ist die von den<br />
deutschen Bischöfen anerkannte institutionelle Zusammenfassung und Vertretung<br />
der katholischen Caritas in Deutschland.“ Nicht von ungefähr betont die<br />
Enzyklika in ihren abschließenden Passagen: „In den bisherigen Überlegungen<br />
ist schon klar geworden, daß das eigentliche Subjekt der verschiedenen katholischen<br />
Organisationen, die einen karitativen Dienst leisten, die Kirche selber ist,<br />
und zwar auf allen Ebenen, angefangen von den Pfarreien über die Teilkirchen<br />
bis zur Universalkirche“ (DCE Nr. 32). Kann es sachlich richtig sein, wenn der<br />
deutsche Caritasverband von einem „gemeinsamen Auftrag“ der Caritas und der<br />
Kirche spricht? 19 Nach der Ekklesiologik der Enzyklika kooperieren nicht zwei<br />
gleiche Partner – wie z. B. zwei unterschiedliche Kirchen oder Sozialverbände –<br />
miteinander, die dann einen „gemeinsamen Auftrag“ formulieren. Der Caritasverband<br />
als Träger des caritativen Zeugnisses der Kirche erfüllt nur den caritativen<br />
Auftrag der Kirche. Er partizipiert an der caritativen Sendung der Kirche und<br />
ist ekklesiologisch nicht selbständiger Träger der Caritas der Kirche. Ferner legt<br />
101
die Feststellung der Satzung des DCV § 1(2) „Er ist Verband der freien Wohlfahrtspflege“<br />
die Frage nahe, inwieweit die Zugehörigkeit zum Verband der<br />
freien Wohlfahrtspflege das caritative „opus proprium“ der Kirche tangiert. 20 Der<br />
Staat kann weder direkt noch indirekt tragendes wie handelndes Mitsubjekt der<br />
Verbandscaritas der Kirche sein.<br />
Neben der konkreten organisatorischen Sicherung des caritativen Helfens der<br />
Kirche hebt die Enzyklika als Aufgabenstellung der organisierten Caritas die<br />
Wahrnehmung sozialpolitischer Verantwortung hervor: „Die karitativen Organisationen<br />
der Kirche – angefangen bei denen der (diözesanen, nationalen und<br />
internationalen) ,,Caritas“ – müssen das ihnen Mögliche tun, damit die Mittel<br />
dafür und vor allem die Menschen bereitstehen, die solche Aufgaben übernehmen“<br />
(DCE Nr. 31a). Diese anwaltschaftliche Funktion wird unbestritten engagiert<br />
vom DCV wahrgenommen, wie ein Blick in die laufenden sozialpolitischen<br />
Stellungnahmen der verbandlichen bzw. fachlichen Caritas zeigt. 21 Eine Frage ist<br />
es, ob die Diözesanen Caritasverbände bzw. der Deutsche Caritasverband im<br />
Namen der Kirche überhaupt sozial-politisch agieren können?<br />
7. Herausforderungen der verbandlich organisierten Caritas<br />
Unbestritten funktionieren Caritas und Diakonie in Deutschland auch ohne<br />
päpstlich spirituellen Impuls fachlich optimal – sowie dies hinsichtlich der fachlichen<br />
Qualität bei anderen Wohlfahrtsverbänden in Deutschland der Fall ist –,<br />
solange die finanziellen Voraussetzungen von Seiten der Öffentlichen Hand in<br />
der bisherigen Form für die Einrichtungen und Dienste des Wohlfahrts- und<br />
Gesundheitssektors garantiert sind. Die ehrenamtlich geprägte Caritas der Weltkirche<br />
ist bei ihren Aktionen vorrangig von einer qualifizierten geistlichen Animation<br />
der Mitarbeiter abhängig. Ihr Engagement beruht vor allem auf dem<br />
Bewußtsein einer gelebten Teilhabe an der Menschenliebe Gottes, d. h. stellvertretend<br />
für Christus aus Liebe den Leidenden beizustehen und die eigene Lebenskraft,<br />
die eigenen Lebenserfahrungen und die eigenen Lebenschancen mit<br />
Ausgegrenzten, Betrübten, Bedrängten, Armen und Kranken zu teilen. Diese<br />
Dienste und Initiativen will der Papst zum Wohl der leidenden Menschen geistlich<br />
stützen. Unabhängig von der materiellen Sicherung ihrer Wohlfahrts- und<br />
Gesundheitsdienste – im Vergleich zu den Möglichkeiten der 2. und 3. Welt –<br />
könnte auch die verbandlich organisierte Caritas der Kirche in Deutschland die<br />
Botschaft der Enzyklika als ein Refreshment und als eine Dynamisierung ihrer<br />
Unternehmensphilosophie aufgreifen, um das eigene Leitbild zu vertiefen bzw.<br />
fortzuschreiben und die spezifische Qualität zum Wohl der leidenden Menschen<br />
zu optimieren.<br />
Mißt die deutsche Kirche ihrer verbandlich organisierten Caritas einen Verkündigungscharakter<br />
und damit eine Zeugniskraft für den Glauben zu, da „die Liebe<br />
in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem<br />
wir glauben und der uns zur Liebe treibt“ (DCE Nr. 31c), dann läßt sich darüber<br />
nachdenken, ob dies durch die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen<br />
kirchlicher Arbeitsverhältnisse von 1993 genügend gesichert ist, oder ob die<br />
102
dort vertretene organisatorisch-strukturelle Verankerung des christlichen Auftrags<br />
nicht durch eine personale und damit spirituelle Verortung bei den Mitwirkenden<br />
ergänzt werden muß. Die Inspirationen der Enzyklika regen zumindest<br />
zu entsprechenden Anfragen an. Bezüglich der Mitwirkung in der kirchlichen<br />
Caritas wird nach Art. 1 der Grundordnung erwartet, daß die MitarbeiterInnen<br />
„sich an der Glaubens- und Sittenlehre und an die Rechtsordnung der katholischen<br />
Kirche auszurichten haben“. Die Enzyklika macht über die Orientierung<br />
an der Glauben- und Sittenlehre hinaus deutlich, daß die Mitwirkung in der<br />
kirchlichen Caritas voraussetzt, aus dem Glaubensverständnis der Kirche zu<br />
leben.<br />
Das ist ein anderes Verständnis von kirchlich-caritativer Mitarbeiterqualität als<br />
die Grundordnung des kirchlichen Dienstes formuliert. Denn wie kann sich ein<br />
Mitarbeiter – innerlich von Christus und seiner Caritas gedrängt (DCE Nr. 33) –<br />
,leidenden Menschen caritativ zuwenden, wenn Christus ihm fremd ist? Der<br />
Papst optiert für eine caritative Diakonie, die nicht allein dadurch abgedeckt ist,<br />
daß „ein Mitarbeiter die Eigenart des kirchlichen Dienstes“ bejaht (Art. 3 [1])<br />
bzw. der ihm „übertragenen Funktion gerecht“ wird (ebd.) und bei seiner Arbeit<br />
die katholische Glaubens- und Sittenlehre anerkennt und beachtet (Art. 4 [1]).<br />
Dem Papst geht es um mehr als um eine Loyalitätsoption mit dem kirchlichen<br />
Träger einer caritativen Einrichtung (vgl. Art. 4), und zwar um eine existentielle<br />
Verbundenheit mit dem caritativen Auftrag der Kirche. Es erhebt sich somit die<br />
Frage, ob ein nichtkatholischer und schon gar ein nichtchristlicher Mitarbeiter,<br />
dessen Mitarbeit die Grundordnung erlaubt, aus dem in der Enzyklika beschriebenen<br />
Glaubensfundament der Caritas handeln kann, wenn er persönlich von<br />
diesem Glauben gar nicht erfaßt ist und damit nicht über ein entsprechendes<br />
Glaubensengagement – i. S. eines caritativen Eros – verfügt, das nach der Enzyklika<br />
aus der Symbiose von Eucharistia, Diakonia und Martyria entsteht?<br />
Für Benedikt XVI. is t das Zeugnis der Liebe eine Wesensaufgabe der Kirche<br />
(DCE Nr. 20-22), die sich nicht delegieren läßt (DCE Nr. 29, 31-32), schon gar<br />
nicht an nicht-kirchliche Gemeinschaften und Vereine wie logischerweise dann<br />
auch nicht an ungläubige, nicht-kirchliche Einzelpersonen. Selbst bei Kooperationsprojekten<br />
mit nicht-katholischen bzw. nicht-kirchlichen Trägern bittet der<br />
Papst, darauf zu achten, daß die katholischen Mitträger das eigene Profil ihres<br />
caritativen Helfens nicht aufgeben. Caritative Diakonie ist mehr als ein bloßer<br />
Wohlfahrtdienst, der zwar in sich einen hohen Wert darstellt, aber in der caritativen<br />
Diakonie der Kirche christlich optimiert werden muß.<br />
Reicht es für das caritative Zeugnis der Kirche aus, wenn nur die „Chefetage“, d.<br />
h. die Träger und Leiter eines caritativen Dienstes oder einer Einrichtung katholisch<br />
sind bzw. katholisch leben? Kann bei den helfenden und pflegenden MitarbeiterInnen<br />
darauf verzichtet werden, wenn die caritative Diakonie nach Meinung<br />
des Papstes ein „geistlicher Dienst“ ist (DCE Nr. 21)? Die Grundordnung<br />
fordert nur von MitarbeiterInnen im pastoralen, katechetischen und erzieherischen<br />
Diensten „das persönliche Lebenszeugnis“. Kann die deutsche Kirche –<br />
nach dem Caritasverständnis der Enzyklika – die CaritasmitarbeiterInnen ihres<br />
Gesundheits-, Pflege-, Altenbereichs sowie ihrer Beratungsdienste davon dispen-<br />
103
sieren, ohne den Leidenden einen entscheidenden christlich humanen Qualitätsaspekt<br />
vorzuenthalten? Die Enzyklika macht deutlich, daß gerade das Zeugnis<br />
der Liebe für die Kirche der Dienst schlechthin ist (DCE Nr. 19-22, 25).<br />
Da eine Organisation nicht von sich aus, sondern nur durch ihre Mitglieder einen<br />
caritativen Charakter besitzt 22 , stellt sich die Frage, ob das Arbeitsvertragsrecht<br />
vom 1. 5.1980 23 , das die persönliche Identifikation bzw. eine konkrete Verwurzelung<br />
des einzelnen Mitarbeiters in der caritativen Glaubensüberzeugung der<br />
Kirche zum Wohl der leidenden Menschen fordert, nicht wesentlich eher dem<br />
tieferen Caritasverständnis der Enzyklika entspricht? So wie die fachliche Qualifizierung<br />
für die Trägervertreter der verbandlichen Caritas keine Frage ist – übrigens<br />
auch nicht für den Papst (vgl. DCE Nr. 31a) –, so sollte auch die spirituelle<br />
Stärkung der Mitwirkenden keine Frage sein. 24 Leider ist vielerorts zu hören, daß<br />
kirchliche Dienstgeber meinen, auf eine Sensibilisierung für die caritastheologische<br />
Spiritualität im Rahmen ihrer Sparmaßnahmen als erstes verzichten zu<br />
können. Im Sinne der Enzyklika ist das ein Sparen am falschen Ende des Dienstleistungsprofils.<br />
8. Spiritualität eines Mitarbeiters der caritativen Diakonie<br />
Bezüglich einer daraus resultierenden Mitarbeiterauswahl sind die Ausführungen<br />
der Enzyklika zur Ur-Kirche sehr aufschlußreich. Das für die caritative Diakonie<br />
bestimmte Sieben-Männer-Gremium sollte „keinen bloß-technischen Ve r-<br />
teilungsdienst“ leisten, darum mußten es Männer „voll Geist und Weisheit“ sein<br />
(DCE Nr. 21). „Das bedeutet, daß der Sozialdienst, den sie zu leisten hatten, ein<br />
ganz konkreter, aber zugleich durchaus geistlicher Dienst und ihr Amt daher ein<br />
wirklich geistliches Amt war, das einen der Kirche wesentlichen Auftrag – eben<br />
die geordnete Nächstenliebe – wahrnahm“ (DCE Nr. 21). Dieses Auswahlkriterium<br />
macht deutlich, daß MitarbeiterInnen gebraucht werden, die vom caritativen<br />
Geist und von menschlicher Lebensweisheit erfüllt sind, d. h. aus der Sicht<br />
der heutigen Arbeitspsychologie über eine entsprechende Arbeitseinstellung und<br />
eine qualifizierte Fachkompetenz verfügen. Sie sollen „sich von dem Glauben<br />
führen lassen, der in der Liebe wirksam wird (vgl. Gal. 5,6)“ und nicht von Ideologien<br />
der Weltverbesserer leiten lassen (DCE Nr. 33). Die dazu erforderliche<br />
positive Hilfekompetenz nimmt Maß an Christus, an seiner Menschlichkeit.. Die<br />
Mitarbeiter „müssen daher zu allererst Menschen sein, die von der Liebe Christi<br />
berührt sind, deren Herz Christus mit seiner Liebe gewonnen und damit die Liebe<br />
zum Nächsten geweckt hat“ (DCE Nr. 33). Ihr Leitwort sollte der Satz aus<br />
dem 2. Korintherbrief sein: „Die Liebe Christi drängt uns (5,14)“. Ein atheistischer<br />
oder andersgläubiger Mitarbeiter kann dies ehrlichen Herzens kaum von<br />
sich aussagen. Ferner heißt es, da „die Menschen immer mehr brauchen als eine<br />
bloß technische Behandlung“, benötigen Helfer „neben und mit der beruflichen<br />
Bildung vor allem Herzensbildung“ (DCE Nr. 31b), die nicht eine Dienstleistungsforderung<br />
darstellen kann, sondern Ausdruck des Glaubens der Mitarbeiter<br />
und Mitarbeiterinnen sein muß, eines Glaubens, „der in der Liebe wirksam wird<br />
(vgl. Gal.5 ,6)“ (DCE Nr. 31a).<br />
104
Als grundlegend für die helfende Beziehung verdeutlicht der Papst die Christo-<br />
Logik des demütigen, d. h. des dienenden Helfens und macht so für die Mitwirkenden<br />
die innere Verbundenheit mit dem Glauben der Kirche deutlich. Da der<br />
Helfende „letzten Endes nur Werkzeug in der Hand des Herrn ist“, darf der Helfende<br />
die Begrenztheit seines Tuns dem Herrn überlassen und widersteht so am<br />
ehesten der „Versuchung zur Mutlosigkeit“. Der Mensch ist Werkzeug und nicht<br />
der eigentliche Auktor, d. h. Ursprung der Kraft des Helfens. Das bleibt Gott.<br />
Dieses Verständnis schützt die Helfenden vor Überforderung, d. h. vor „burnout“,<br />
der heute zunehmend bei HelferInnen anzutreffen ist. 25 „Er wird in Demut<br />
das tun, was ihm möglich ist und in Demut das andere dem Herrn überlassen“<br />
(DCE Nr. 35). Das caritative Helfen steht unter der Gnade Gottes.<br />
Aus den Überlegungen ergibt sich der nächste Gedanke, durch das Gebet in der<br />
caritativen Diakonie sich stets„neu von Christus Kraft zu holen“ (DCE Nr. 36).<br />
„Frömmigkeit schwächt nicht den Kampf gegen Armut“, sondern sie ist Motor<br />
des Helfers. Es ist dem Papst ein großes Anliegen, „angesichts des Aktivismus<br />
und des drohenden Säkularismus vieler in der caritativen Arbeit beschäftigter<br />
Christen die Bedeutung des Gebetes erneut zu bekräftigen“ (DCE Nr. 36). Dabei<br />
geht er auf das Bittgebet (DCE Nr. 37) und auf das Klagegebet (DCE Nr. 38) ein<br />
und verdeutlicht letzteres mit einem Hinweis auf Ijob und auf die Verlassenheit<br />
Jesu am Kreuz (DCE Nr. 38). Für caritative HelferInnen ist es erleichternd, wenn<br />
sie die Sorgen dem Herrn überlassen dürfen und ihre Enttäuschungen über den<br />
ausbleibenden „Erfolg“ vor Christus selbst mit den Worten: „Mein Gott, mein<br />
Gott warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34) aussprechen können. Diese<br />
Formen der geistlichen Entlastung durch das Gebet deblockieren und revitalisieren<br />
die Lebens- und Arbeitskraft. Sie machen das Denken wieder frei für neue<br />
Lebensinspirationen und Lebensideen. 26<br />
In seinen Darlegungen über den inneren Zusammenhang von Glauben, Hoffnung<br />
und Liebe als Wirkeinheit hebt der Papst die tragende Bedeutung der Tugenden<br />
Geduld und Demut im Blick auf die helfende Begleitung hervor. Ein ungeduldiger<br />
oder manipulierender Glaube, eine entsprechende Hoffnung und Liebe werden<br />
ihre Lebenskraft und Lebensinspiration nicht entfalten. Unbestritten lassen<br />
sich weitere biblisch überlieferte Kriterien der helfenden und heilenden Caritas<br />
benennen, von Benedikt XVI. werden nur die grundlegenden genannt. 27<br />
Im Blick auf die Kirchlichkeit der Mitarbeiter – seien sie freiwillig (DCE Nr.<br />
30b) oder hauptamtlich aktiv – hebt der Papst hervor: „Wer Christus liebt, liebt<br />
die Kirche und will, daß sie immer mehr Ausdruck und Organ seiner Liebe sei.<br />
Der Mitarbeiter jeder katholischen caritativen Organisation will mit der Kirche<br />
und daher mit dem Bischof dafür arbeiten, daß sich die Liebe Gottes in der Welt<br />
ausbreitet.“ (DCE Nr. 33). Ein Mitarbeiter, der die Kirche ablehnt, kann dies<br />
ehrlich nicht optieren. Läßt sich seine Mitarbeit mit der Theorie des anonymen<br />
Christseins rechtfertigen? Die Kirche kann ihre caritative Evangelisation der<br />
Lebenswelten nur mit Mitwirkenden erreichen, die sich mit dem caritativen Auftrag<br />
der Kirche identifizieren, also im Sinne der Enzyklika über ein „s entire cum<br />
ecclesia“ verfügen.<br />
105
Wenn der Papst auch keine „Tempelreinigung“ im Blick auf die caritative Diakonie<br />
der Kirche vornimmt, d. h. diejenigen nicht vor die Tür setzt, die das Haus<br />
Gottes zu ihren eigenen Zwecken, und zwar vorrangig zum Geldverdienen nutzen<br />
– wie Jesus es beim Besuch des Tempels antraf (Jo 2,13-25), so wirbt der<br />
Papst nicht weniger leidenschaftlich für eine caritative Prägung der Kirche, damit<br />
sie Tempel Gottes, d. h. Haus Gottes für die Menschen sein kann; denn Caritasarbeit<br />
der Kirche ist nur aus der Mitte des Gottesglaubens möglich. Dafür<br />
trägt die Kirche die Verantwortung; konsequenterweise spricht die Enzyklika in<br />
diesem Zusammenhang die Bischöfe an (DCE Nr. 32).<br />
Würde die Kirche in Deutschland wie der Papst den Sozialdienst der Caritas als<br />
einen geis tlichen Dienst und das Amt ihrer Mitarbeiter als „wirklich geistliches<br />
Amt…, das einen der Kirche wesentlichen Auftrag“ wahrnimmt, verstehen, dann<br />
müßten die für die Caritas Verantwortlichen dieser Kirche, wenn schon nicht bei<br />
der Auswahl, dann hinsichtlich der Ausbildung ihrer MitarbeiterInnen entsprechende<br />
Konsequenzen ziehen. Angesichts der theologisch unbestritten notwendigen<br />
spirituellen Komp onente der caritativen Diakonie stellt sich die Frage, ob<br />
nicht ein Teil der im allgemeinen nur humanwissenschaftlich ausgebildeten pflegenden<br />
und helfenden MitarbeiterInnen zumindest über eine niederschwellige<br />
spirituelle seelsorgliche Kompetenz verfügen müßte? Und ob außerdem nicht<br />
caritastheologisch wie pastoralpsychologisch geschulte Theologen als Spirituale<br />
die direkt caritativ tätigen MitarbeiterInnen spirituell unterstützend zur Seite<br />
stehen sollen? 28 Wie kann ansonsten die geistliche Ausrichtung des caritativen<br />
Helfens gesichert werden?<br />
Andernfalls verzichtet die Kirche in Deutschland auf die geistliche Qualität ihrer<br />
caritativen Diakonie. Würden also die Kirche und ihre organisierte Caritas aus<br />
der Enzyklika den Schluß ziehen: „Weiter so, wir machen es bereits richtig“,<br />
wäre das zu kurz gegriffen. Die Enzyklika will eine „Rückenstärkung für kirchliche<br />
Sozialarbeit“ sein, so wie es der Präsident des DCV Neher treffend formuliert.<br />
29 Es geht um die Profilierung der Caritas zum Wohl der leidenden Menschen<br />
und nicht um einen Rückzug aus dem caritativen Engagement der Kirche<br />
für die Gesellschaft. Sind zu diesem geistlichen Investment die Kirche und ihre<br />
organisierte Caritas in Deutschland bereit?<br />
8. Verhältnis Kirche und Staat und der Dritte Weg in Deutschland<br />
Im Blick auf die Caritas fordert der Papst ein subsidiäres Verhalten des Staates<br />
gegenüber der sozialen Selbstverantwortung der Gesellschaft und der Mithilfe<br />
der Kirche (DCE Nr. 28b): „Die Kirche ist eine solche lebendige Kraft: In ihr<br />
lebt die Dynamik der vom Geist Christi entfachten Liebe, die den Menschen<br />
nicht nur materielle Hilfe, sondern auch die seelische Stärkung und Heilung<br />
bringt, die oft noch nötiger ist als die materielle Unterstützung“ (DCE Nr. 28).<br />
Dieser Mitwirkungsanspruch ergibt sich aus dem Selbstverständnis ihres eigenen<br />
Wesens: „Liebe zu üben für die Witwen und Waisen, für die Gefangenen, für die<br />
Kranken und Notleidenden welcher Art auch immer, gehört genauso zu ihrem<br />
Wesen wie der Dienst der Sakramente und die Verkündigung des Evangeliums.<br />
106
Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und<br />
Wort“(CDE Nr. 22). 30 In diesem Sinne versteht sich die Kirche als eine zivilgesellschaftliche<br />
Kraft.<br />
In einmaliger Weise gesteht der deutsche Staat der Kirche ihre volle Selbstbestimmung<br />
zu. Rechtsverbindlich garantiert das Bundesverfassungsgericht einen<br />
sog. Dritten Weg (BVerfGE 24 vom 16.10.1968 und BVerfGE 46 vom 11. 10.<br />
1977). Im Vergleich zur AWO, zum Roten Kreuz, zum Paritätischen Wohlfahrtsverband<br />
etc. darf die Kirche das Tarifrecht, Streikrecht etc. selbst bestimmen,<br />
da die caritative Diakonie Ausübung der grundgesetzlich gesicherten Religionsfreiheit<br />
ist.<br />
Voraussetzung für diesen Sonderweg ist jedoch, daß das spezifisch religiöse<br />
Profil der Caritas tatsächlich praktiziert wird. Das Bundesverfassungsgericht<br />
stellt zu Gunsten der Kirche fest: „Christliche Liebestätigkeit ist nach dem<br />
Selbstverständnis der christlichen Kirchen also etwas anderes als ein sozialer<br />
Vorgang, der sich in der Fürsorge für Arme, Elende und Bedürftige aus Mitverantwortung<br />
für den Nächsten im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens im<br />
Staat erschöpft und lediglich aus sozialen Gründen das Existenzminimum des<br />
Nächsten sichert, um die Führung eines Lebens in der Gemeinschaft zu ermöglichen,<br />
die der Würde des Menschen entspricht.“ (BVerfGE 24, 249)<br />
In einem anderen Urteil BVerfGE 46 (11.10.1977) heißt es: „1. Nach Art. 140<br />
GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV sind nicht nur die organisierte<br />
Kirche und die rechtlich selbständigen Teile dieser Organisation, sondern alle<br />
der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf<br />
ihre Rechtsform Objekte, bei deren Ordnung und Verwaltung die Kirche grundsätzlich<br />
frei ist, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder<br />
ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in dieser<br />
Welt wahrzunehmen und zu erfüllen“ (BVerfGE 46,74).<br />
Selten kommt es in der Weltkirche zu einer so großen Übereinstimmung zwischen<br />
Staat und Kirche hinsichtlich der spezifischen caritativen Dia konie der<br />
Kirche. Somit ist die Enzyklika auch ein exzellentes Dokument, die Berechtigung<br />
des Dritten Weges zu begründen und zu beschreiben. Andererseits ergibt<br />
sich aber auch die Frage, inwieweit die Kirche in Deutschland die ihr gewährten<br />
Rechtsvorteile und Möglichkeiten im Rahmen ihrer verbandlich organisierten<br />
Caritas zum Wohl der Menschen in ihrem konkreten Helfen nutzt.<br />
Umgekehrt kann sich die Situation ergeben, daß der verfassungsrechtlich zwar<br />
gesicherte Dritte Weg in Folge einer Überregulation der sozialen, medizinischen<br />
und pflegerischen Dienste durch staatlich-administrative Vorgaben sowie angesichts<br />
gravierender Sparmaßnahmen der Öffentlichen Hand und im Hinblick auf<br />
die zunehmende Verdichtung der Arbeitszeiten etc. noch im Rahmen einer fachlich<br />
spezialisierten Caritas nicht mehr realisierbar ist. Wenn der Staat jedoch in<br />
dieser Weise die Vo raussetzungen für die spezifische caritative Diakonie beschneidet,<br />
dann wird die Kirche ihrer Caritas – trotz ihrer Rechtsstellung – sagen<br />
müssen: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“ (Mt<br />
22,21).<br />
107
9. Ausblick auf das Handeln der Kirche<br />
Die caritastheologische Botschaft der Enzyklika wird erst dann zur Quelle für<br />
das Leben der Menschen, insbesondere der leidenden Menschen, wenn die Kirche<br />
mit der Konkretion bei sich selbst beginnt. 31 Somit stellt die Enzyklika zunächst<br />
eine positive „Provokation“ für die Qualifizierung der Gemeinden und<br />
Gemeinschaften dar (Vgl. DCE Überschrift 2. Teil). Diese Option hat eine Nähe<br />
zur Forderung von Paul VI., daß die Zivilisation der Liebe in der Kirche in ihren<br />
Gemeinden und Gemeinschaften beginnen muß. 32 Ebenso stellt die Enzyklika<br />
eine Anfrage an die Orts- und Profilbestimmung der verbandlich organisierten<br />
Fachcaritas dar. „Ecclesia semper reformanda“, das gilt auch für ihre Caritas.<br />
Will die deutsche Fachcaritas eine profilierte Alternative auf dem pflegerischen<br />
und sozialen Dienstleistungssektor in Deutschland sein, dann bietet die Enzyklika<br />
eine Chance, das eigene christlich-humane Profil und damit die Unterscheidbarkeit<br />
zu anderen Leistungsanbietern zu verstärken. Hier sei positiv und exe m-<br />
plarisch auf die eindrucksvolle caritativ-humane Qualitätssicherung der Kindertages<br />
stätten in vielen Diözesen Deutschlands hingewiesen. 33<br />
Mit seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ stellt Benedikt XVI. bedeutende<br />
caritastheologische Reflexionsweichen. Die geöffneten theologischen Leitspuren<br />
verdienen es, zum Wohl der leidenden Menschen weiter und noch vertiefter<br />
verfolgt zu werden.<br />
Anmerkungen<br />
1) Vgl. Benedikt XVI. Ansprache bei der Audienz der Teilnehmer an der vom Päpstlichen<br />
Rat Cor Unum veranstalteten Tagung am 23. 1. 2006 in der Sala Clementina.<br />
2) Die der Papst in seiner Enzyklika nicht eigens erwähnt.<br />
3) Vgl. z. B. Ratzinger, Georg, Geschichte der kirchlichen Armenpflege, Freiburg 2 1884;<br />
Beeking, J., Die Nächstenliebe nach der Lehre der heiligen Schrift, Düsseldorf, 1930.<br />
Hemmerle, K., (Hg), Liebe verwandelt die Welt. Mainz 1979; Järveläinen, M., Gemeinschaft<br />
in der Liebe: Diakonie als Lebens- und Wesensäußerung der Kirche im Verständnis<br />
Paul Philippis. (Diakoniewissenschaftliche Studien.Bd.1) Heidelberg 1993; Pompey,<br />
H.,(Hrsg), Caritas – Das menschliche Gesicht des Glaubens: ökumenische und internationale<br />
Anstöße einer Diakonietheologie, Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Caritas<br />
und Sozialen Pastoral“, Bd. 10, Echter, Würzburg 1997; Päpstlicher Rat Cor Unum<br />
(Hgb), Acts of the World Congress on Charity, Rom 1999; Lazewski, W. / Pompey, H. /<br />
Skorowski, H. (Hrsg.), Caritas Christi urget nos. Caritas w Europie trzecim tysiacleciu,<br />
Caritas in Europe in the third millennium, Caritas in Europa im 3. Jahrtausend, Internationaler<br />
Caritaswissenschaftlicher Kongreß 22.-26.9.1999, Warszawa 2000. Kießling, K.,<br />
„Love greets you“ – on the culture of deacony. (Publications of the Department of<br />
Practical Theology.93) Helsinki 1998 und viele andere.<br />
4) Die im Blick auf eine Soziale Pastoral durch die Enzykliken Evangelii Nuntiandi<br />
(1975), Redemptor Hominis (Joh. Paul II., 4.3.1979), Dives Misericordiae (Joh. Paul II.,<br />
30.11.1980) ergänzt wurden.<br />
5) Vgl. Völkl, R., Kirche und „Caritas“ nach den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen<br />
Konzils, in: Caritas 67. (1966) 73-96; 123-145.<br />
108
6) Vgl. Index des Kompendiums des Katechismus der Katholischen Kirche, München<br />
2005.<br />
7) Nur im Katechismus der Katholischen Kirche, München, Wien 1993 findet sich in der<br />
Abhandlung über die Tugenden (Nr. 1829) ein Bezug der Liebe zur Wohltätigkeit.<br />
8) Vgl. Index des Codex Juris Canonici, Rom 1983, dt. Kevelaer 1983.<br />
9) Vgl. Index, a. a. O. Denzinger, H. (Hrsg.) Freiburg 36 1976.<br />
10) Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre<br />
der Kirche, Freiburg 2006, Stichwortverzeichnis.<br />
11) Vgl. Benedikt XVI. Ansprach bei der Audienz der Teilnehmer an der vom Päpstlichen<br />
Rat Cor Unum veranstalteten Tagung am 23.1.2006 in der Sala Clementina. Ebs. „Der<br />
Eros Gottes ist nicht nur eine ursprüngliche kosmische Kraft, sondern ist auch Liebe, die<br />
den Menschen erschuf und die sich über den Menschen neigt, so wie der barmherzige<br />
Samariter sich über den verletzten und ausgeraubten Mann neigt“. Ebd.<br />
12) Vgl. Pompey, H., Religiosität und christlicher Glaube bei der Begleitung von Schwerund<br />
Todkranken, in: Koch, U., Lang, K., Mehnert A., Schmeling-Kludas, Ch. (Hrsg.), Die<br />
Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen – Grundlagen und Anwendungshilfen<br />
für Berufsgruppen in der Palliativversorgung. Stuttgart 2006. 146-159.<br />
13) Vgl. II. Vatikanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 8.<br />
14) Vgl. II. Vatikanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 1.<br />
15) Vgl. Pompey, H., Theologisches Verständnis von Leben und Leiden, von Solidarität<br />
und Helfen – Ein caritativ-diakonisches Credo, in: Pompey, H. (Hrsg.), Caritas – Das<br />
menschliche Gesicht des Glaubens a. a. O. 1997, 321-357, 349ff.<br />
16) Die wohlfahrtsstaatliche Prägung der Länder Kontinentaleuropas und die damit verbundene<br />
Erwartung einer sozialen und gesundheitlichen Versorgung durch den Staat<br />
erschwert entscheidend die Entwicklung einer Solidaritätskultur der Gegenseitigkeit in<br />
den Lebensorten der Menschen.<br />
17) Vgl. Heidenreich, R., J., Caritatives Selbstverständnis amerikanischer Pfarrgemeinden<br />
– Gemeindeprojekte und Kooperationen mit Staat und Kommunen, in: Pompey, H.(Hrsg),<br />
Caritas – Das menschliche Gesicht des Glaubens; a. a. O. 1997, 248-277; Pompey, H.,<br />
Die Soziale Pastoral der Dritten Welt als Herausforderung für das diakonisch-caritative<br />
Engagement einer Gemeinde, in: Biemer, G., u. a. (Hrsg.), Gemeinsam Kirche sein. Festschrift<br />
der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. für Erzbischof Dr. Oskar<br />
Saier, Freiburg 1992, 410-443; Ders., Solidarität und Hilfeverhalten in den Lebensräumen<br />
der Menschen, in: Lazewski, W. / Pompey, H. / Skorowski, H. (Hrsg.), Caritas Christi<br />
urget nos. Caritas w Europie trzecim tysiacleciu, Caritas in Europe in the third millennium,<br />
Caritas in Europa im 3. Jahrtausend, Internationaler Caritaswissenschaftlicher Kongreß<br />
22.-26.9.1999, Warszawa 2000, 167-187.<br />
18) Vgl. Rauscher, A., Verhältnis von Staat und kirchlicher Caritas – Subsidiarität als<br />
Leitprinzip, in: Glatzel, N., Pompey, H., Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit? Zum Spannungsfeld<br />
von christlicher Sozialarbeit und christlicher Soziallehre. Freiburg, 1991, 84-<br />
98.<br />
19) Vgl. Caritas: Profilierung durch Anwaltschaft, in: KNA – ID Nr. 10/8 März 2006.<br />
20) Ein einsamer Kämpfer für dieses Profil war Anfang der 90iger Jahre der Altjustitiar<br />
des Deutschen Caritasverbandes Dr. Klein, vgl. Klein, F., Das christliche Profil der Verbandscaritas<br />
aus rechtlicher Sicht, in: Pompey, H. (Hrsg.), Caritas im Spannungsfeld von<br />
Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit a. a. O. 1997, 165-175. Seine Meinung wurde<br />
damals ignoriert.<br />
109
21) Vgl. die jüngste Stellungnahme: Caritas: Profilierung durch Anwaltschaft, in: KNA –<br />
ID Nr. 10/8 März 2006.<br />
22) Genügt es – so ist im Sinne der Enzyklika demgegenüber zu fragen –, den caritativtheologischen<br />
Auftrag der Einrichtungen und Dienste der kirchlichen Verbandscaritas<br />
allein über die kirchlich-organisatorische Zuordnung der MitarbeiterInnen zu garantieren,<br />
die die Mitwirkenden der Verbandscaritas lediglich anerkennen müssen.<br />
23) Vgl. Arbeitsvertragsrecht in der Kirche – Regional-Koda in Nordrhein-Westfalen.<br />
Vom 1.5.1980. Arbeitshilfe 16A, (Hrsg.) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz<br />
Bonn 1980, 15.<br />
24) Seit Jahren liegen hierzu erprobte Modelle vor, vgl. z. B. Pompey, H., Caritatives<br />
Engagement – Lernort des Glaubens und der Gemeinschaft, Effizienzuntersuchung eines<br />
Grund- und eines Aufbaukurses zum Kennenlernen theologischer Aspekte des Leitbildes<br />
sozial-diakonischer Hilfe und zur Sensibilisierung der Mitwirkenden für den communialen,<br />
dienstgemeinschaftlichen Charakter kirchlicher Sozialdienste, Würzburg 1994.<br />
25) Vgl. Flosdorf, B., Berufliche Belastung, Religiosität und Bewältigungsformen, 12.<br />
Bd. „Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und der Sozialen Pastoral“, Pompey,<br />
H., Roos, L., (Hrsg.), Würzburg 1998.<br />
26) Vgl. Pompey, H. , Das Gebet in der caritativ-seelsorglichen Begleitung, in: Lebendige<br />
Katechese, (2001), 87-90.<br />
27) Vgl. Pompey, H., Biblical and theological foundations of charitable works, in: Acts of<br />
the World Congress on Charity, Rom 1999, 106-132.<br />
28) Es fällt auf, daß im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands weit<br />
mehr TheologInnen in den verschiedensten Handlungsfeldern mitarbeiten als in der deutschen<br />
Verbandcaritas.<br />
29) Vgl. KNA/job, Rückenstärkung für kirchliche Sozialarbeit, in: Kirche und Leben, v.<br />
5.2.2006, 7.<br />
30) Der Papst belegt diese Ausrichtung des pastoralen Handelns der Kirche mit der caritativen<br />
Tradition der frühen Kirche, so wie sie von Ignatius von Antiochien († um 117),<br />
Justin dem Martyrer († ca. 155), Tertullian († nach 220) u. a. bezeugt wird (DCE Nr. 22).<br />
31) „Die Kirche, Trägerin der Evangelisation, beginnt damit, sich selbst zu evangelisieren.<br />
Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter und gepredigter Hoffnung,<br />
als Gemeinschaft brüderlicher Liebe muß die Kirche unablässig selbst vernehmen,<br />
was sie glauben muß, welches die Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot<br />
der Liebe ist.“; Evangelii Nuntiandi, n.15.<br />
32) Evangelii Nuntiandi, n.15 und n. 18.<br />
33) Welche Dienstleistungsbereiche ermöglichen in ähnlicher Weise zumindest annähernd<br />
ein so klares christlich-humanes Zeugnis in der Gesellschaft?<br />
Prof . Dr. Heinrich Pompey lehrte Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit<br />
an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.<br />
110
Norbert Blüm<br />
Die Moderne als Grenzbeseitigung<br />
Über Ideologien der Arbeit, Technik und Selbstherrlichkeit<br />
Arbeit ist das Signum der Neuzeit. Vom Lebensmittel zum Lebenszweck transformiert<br />
sich die Arbeit. Arbeit ist das neuzeitliche Programm der Selbsterschaffung<br />
des Menschen. Mittelalterliche Tradition und Autorität werden zurückgelassen.<br />
An ihre Stelle treten Entdeckung und Experiment. „Innovatio“ ist die<br />
Parole der Modernität.<br />
Wahrheit ist nicht mehr gegeben, sondern wird geschaffen. Die selbstgesetzte<br />
Hypothese muß sich im Versuch bewähren: Die Wahrheit unterwirft sich dieser<br />
neuen „Geisteshaltung“. Sie ist nicht mehr „adäquatio intellectus ad rem“, sondern<br />
Konstrukt. Erkenntnis ist nicht rezeptive Schau, sondern konstruktives Erschaffen.<br />
Theorie weicht der Praxis. Sie wird ihr Diener.<br />
Kolumbus, Bacon und Galilei – zwar durch zeitlichen Abstand getrennt, sind<br />
dennoch Zeitgenossen. Sie setzen Ziele im Unbekannten und suchen den Weg<br />
dorthin. Die Neuzeit ist immer unterwegs zu neuen Zielen. Auf dem Weg finden<br />
sich sogar Ziele, die gar nicht gesucht worden waren (Kolumbus entdeckt Amerika<br />
auf der Suche nach dem Seeweg nach Ost-Indien).<br />
Das Selbst wird zur Instanz der Wahrheit. Am Ende ist nur das Selbstgeschaffene<br />
erkenntnisfähig. Francis Bacon erklärt die „angestellten Versuche“ zur neuen<br />
Erkenntnismethode. Vico komprimiert die neue Weltsicht in den kurzen Satz:<br />
„verum et factum convertuntur.“ Erkenntnisfähig ist nur das Geschaffene. Erkenntnis<br />
ist erarbeitet. Der Imperialismus der Arbeit ist inzwischen weitergekommen.<br />
Selbst so elementare „Erlebnisse“ wie die Liebe geraten neuzeitlich in<br />
den Sog der Arbeit. Liebe wird zur „Beziehungsarbeit“. Barmherzigkeit mendelt<br />
zur „Sozialarbeit“. Trauer ist nicht mehr ohne „Verlustarbeit“ zu haben. Geschichte<br />
vollendet sich in der „Aufarbeitung“ der Vergangenheit. Schritt für<br />
Schritt unterwirft also die Arbeit alle menschlichen Lebensbereiche.<br />
Es ist erstaunlich: Just zu der Zeit, als die Erde die kosmische Position verlor,<br />
um die das Weltall kreiste, setzte sich der Mensch ins Zentrum. Offenbar ko m-<br />
pensierten die Menschen die Degradierung der Erde durch ein gesteigertes<br />
Selbstbewußtsein. Hypertrophe Selbstüberschätzung lindert so die Schmerzen<br />
eines beschädigten Selbstbewußtseins. Gesteigerte Schaffenskraft wurde Trost<br />
für verlorene Transzendenz. Das geozentrische Weltbild wird durch das anthropozentrische<br />
ersetzt.<br />
Dreimal wurde das Selbstbewußtsein des modernen Menschen schwer erschüttert.<br />
Kopernikus setzte ihn auf einen Planeten unter anderen. Darwin machte ihn<br />
zum Nachfolger des Affen, und Freud verstieß ihn aus dem Haus seines<br />
Selbstbewußtseins und degradierte ihn zum Agenten eines unbewußten „Es“. Je<br />
111
größer die Erschütterung, um so verzweifelter klammerte der Mensch sich offenbar<br />
an das, was er kann: arbeiten.<br />
Die Arbeit wird zu einer Art Religionsersatz. Glück ist das Ergebnis der Arbeit.<br />
Im Calvinismus behält die Arbeit allerdings eine letzte Verbindung zur Transzendenz,<br />
insofern der Arbeitserfolg zum Kriterium der Praedestination wird. Je<br />
weniger Heilsgewißheit, umso verzweifelter wird jedoch im Arbeitsergebnis die<br />
Bestätigung der Auserwählung gesucht. Aus dem puritanischen Arbeitsethos,<br />
von innerweltlicher Askese diszipliniert, erhielt der Kapitalismus seinen stärksten<br />
Schub, worauf bereits Max Weber hinwies. Nicht Landbesitz wie für die<br />
Physiokraten, nicht Handel wie für die Merkantilisten: Für Adam Smith, den<br />
Erzvater des Kapitalismus, ist die Arbeit die einzige Quelle des Wohlstandes der<br />
Völker.<br />
Der Marxismus, „Milchbruder des Kapitalismus“ (Oswald von Nell-Breuning<br />
SJ), erklärt schließlich die Arbeit zum alleinigen Prinzip der Selbstwerdung des<br />
Menschen. Arbeit schafft alle Werte. Marx fügt dem ökonomischen Wert, den<br />
Adam Smith durch Arbeit bestimmt, den anthropologischen hinzu. Der prometheisch-faustische<br />
Aufstand gegen eine übergeordnete Ordnung wird zu guter<br />
Letzt durch den Existentialismus auf die Spitze getrieben. Jean Paul Sartre entledigt<br />
sich aller kollektiven Fessel, durch welche Marx die Selbstwerdung des<br />
Menschen noch als Gattungsaufgabe gebändigt hatte, und macht das Individuum<br />
zum Entwurf seiner selbst. „Der Mensch, das ist seine Wahl“, ist das Kurzprogramm<br />
des Sartre’schen Existentialismus.<br />
Der Weg von Smith über Marx zu Sartre beschreibt die Etappen einer Entwicklung,<br />
die zur Hypostasie des „Schaffens“ führte. Diese Entwicklung führt zur<br />
Selbstverherrlichung des Menschen. Der Mensch wird zum Geschöpf seiner<br />
selbst. Die Arbeit ist der Geburtshelfer des neuen Menschen. Der Mensch verwirklicht<br />
sich durch Arbeit.<br />
Frühsozialisten<br />
Die Frühsozialisten entfalten im Gefolge der Französischen Revolution den neuen<br />
Kult der Arbeit. Mit Spott überzieht Henri de Saint Simon die arbeitslosen<br />
Würdenträger seines Zeitalters. „Nehmen wir weiter an, es (Frankreich) verlöre<br />
zur gleichen Zeit alle Großwürdenträger, Staatsminister (mit und ohne Portefeuille),<br />
Staatsräte, die Sachbearbeiter für Petitionen im Staatsrat (maitres des requetes),<br />
Marschälle, Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe, Großvikare und Domherrn,<br />
alle Präfekten und Unterpräfekten, Ministerialangestellten, Richter und dazu<br />
noch die zehntausend reichsten Eigentümer von denen, die vornehm leben. Dieses<br />
Ereignis würde die Franzosen sicher betrüben, weil sie gute Menschen sind<br />
und nicht gleichmütig eine so große Zahl ihrer Mitbürger plötzlich verschwunden<br />
sehen könnte. Doch würde der Verlust von dreißigtausend Personen, die als<br />
die wichtigsten im Staate angesehen werden, nur ihrem Gefühl Schmerzen bereiten,<br />
denn es entstünde hieraus kein politisches Unglück für den Staat.“ (Saint-<br />
Simon, Organisator. In: Der Frühsozialismus S. 26.)<br />
112
Ganz anders wäre es jedoch, wenn Frankreich „seine genialen Männer in Wissenschaft<br />
und Künsten, dem Handwerk und dem Gewerbe“ verlieren würde,<br />
dann wäre Frankreich ruiniert. (Saint Simon: ebd.). Die alte Obrigkeit, das sind<br />
Schmarotzer; die Produzenten sind die neuen Könige. Mit der Inthronisation der<br />
arbeitenden Klasse als die Retter der Gesellschaft nahm Saint Simon Marx vorweg,<br />
ohne allerdings die Erlösung durch Arbeit in einen historischen Prozeß<br />
einzuordnen, der nach Marx zwangsläufig ablaufen muß.<br />
Die marxistische Verehrung der Produktivkräfte<br />
Auch Karl Marx stand im Banne einer Hypostase der Arbeit. Er war von der<br />
Produktivkraft des Kapitalismus fasziniert. Man kann das kommunistische Manifest,<br />
das Karl Marx zusammen mit Friedrich Engels verfaßte und in dem er sein<br />
Programm 1848 in eine agitatorische Form für den Bund der Kommunisten<br />
brachte, auch als einen Hymnus an die kapitalistischen Produktivkräfte verstehen,<br />
die lediglich von den hemmenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen<br />
befreit werden müßten, um ins Reich der klassenlosen Gesellschaft zu führen.<br />
„Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere<br />
und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen<br />
zusammen.“ Geradezu schwärmerisch zählt Marx auf: „Unterjochung<br />
der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau,<br />
Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer<br />
Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden gestampfte<br />
Bevölkerungen – welche frühere Jahrhunderte ahnten, daß solche Produktionskräfte<br />
im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“ (Marx - Engels:<br />
Das kommunistische Manifest; in: Frühschriften S. 530.)<br />
Die Arbeit als Erlösung von der Arbeit, das ist der Sinn des dialektischen historischen<br />
Prozesses. Die Überwindung des Kapitalismus ist die letzte Schlacht zwischen<br />
Produktivkraft und Produktionsverhältnissen. Nicht die Philosophen, wie<br />
bei Plato, sollen den Staat führen, nicht der Mensch als Zoon politikon, der sich<br />
von der Arbeit und dem Geschäft freihalten muß, um die Befähigung zur Staatsregierung<br />
zu erhalten, wie bei Aristoteles, auch kein König von Gottes Gnaden,<br />
wie zu Zeiten absolutistischer Herrschaft, bilden den Staat, sondern der Arbeiter<br />
ist die Zentralgestalt der Zukunft. Das ist das gemeinsame Credo von Frühsozialisten<br />
und orthodoxen Marxisten.<br />
Karl Marx freilich verachtete die utopischen Träumereien der Frühsozialisten.<br />
Im Kommunistischen Manifest wirft Marx den Frühsozialisten vor: „Sie erblicken<br />
auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm<br />
eigentümliche politische Bewegung“ (Marx: Kommunistisches Manifest, in<br />
Frühschriften S. 556). Den Frühsozialisten fehlt nach Marx die Philosophie der<br />
Revolution, die nach Gesetzen des dialektischen Materialismus verläuft. An<br />
Stelle der frühsozialistischen Utopie setzt Marx deshalb den wissenschaftlichen<br />
Sozialismus, der eine Kreuzung von Hegel’scher Dialektik und Feuerbach’schem<br />
Materialismus ist.<br />
113
Von Hegel übernahm Marx das Prinzip Dialektik. „Das Große an der Hegelschen<br />
Phänomenologie und ihrem Endresultate – der Dialektik, der Negativität<br />
als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also, einmal daß Hegel die<br />
Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung<br />
als Entgegenständlichung, als Entäußerung, und als Aufhebung dieser Entäußerung;<br />
daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen,<br />
wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit<br />
begreift.“ (Karl Marx „Nationalökonomie und Philosophie“ in Frühschriften S.<br />
269.)<br />
Der Mensch ist das Resultat seiner eigenen Arbeit, das ist die Quintessenz der<br />
Hegel’schen und Marx’schen Anthropologie. Marx stellt freilich diese Philosophie,<br />
wie er selbst behauptet, vom Kopf auf die Füße, indem er den praktischen,<br />
sinnlichen Menschen zum dialektischen Subjekt/Objekt der Selbstfindung des<br />
Menschen macht und nicht das „abstrakte Denken“. Feuerbach hatte bereits<br />
„Anschauung“ gegen Hegel’s Geistphilosophie gesetzt. Von Feuerbach entlieh<br />
Marx den Materialismus. Marx wendet jedoch gegen Feuerbach ein: „Feuerbach<br />
mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, will Anschauung; aber er faßt die<br />
Sinnlichkeit nicht als praktische, menschlich sinnliche Tätigkeit“ (Karl Marx:<br />
Thesen gegen Feuerbach, in Frühschriften S. 340).<br />
Feuerbach sieht die Welt nur als Objekt, „nicht aber als sinnlich praktische Tätigkeit“<br />
(Marx, ebd.). Dialektik überwindet den Gegensatz zwischen Subjekt und<br />
Objekt, indem er diese in einem dynamischen Prozeß „aufhebt“ in dreifachem<br />
Sinne „bewahren, „annullieren“, „emporheben“. Subjekt und Objekt bedingen<br />
sich wechselseitig.<br />
„Indem er (der Mensch) durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm einwirkt<br />
und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur“ (Karl Marx: Das<br />
Kapital Bd. I S. 185 ff.). In der kommunistischen Arbeit fallen das Sichverändern<br />
und Verändern der Welt zusammen. Im vorgeschichtlichen paradiesischen<br />
Zustand versorgte die Natur den Menschen allerdings noch ohne sein Hinzutun.<br />
„Die Erde (worunter ökonomisch auch das Wasser einbegriffen) wie sie den<br />
Menschen ursprünglich mit Proviant versorgte, fertigen Lebensmittel ausrüstet,<br />
findet sich ohne seine Zutun als allgemeinen Gegenstand der Arbeit vor“ (Karl<br />
Marx: Bd I, III Abschnitt 5. Kapitel). „Natura pura“ gibt es aber, wie Karl Marx<br />
ironisch vermerkt, nur noch auf einer entfernten unbewohnten Koralleninsel.<br />
Diese exotische Restgröße wird von der Arbeit eliminiert. Der Mensch umgibt<br />
sich so restlos mit einer zweiten, von ihm produzierten Natur.<br />
Als die Menschwerdung begann, war die Arbeit nur „Stoffwechsel mit der Natur“.<br />
„Die Arbeit ist ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, worin der Mensch<br />
seinen Stoffwechsel mit der Natur durch eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“<br />
(Marx: Das Kapital, Bd. I S. 185 ff.). Der Mensch tritt sodann der Natur<br />
als Naturmacht gegenüber und bringt so den Naturstoff in eine lebensdienliche<br />
Form. Mit der Arbeit wird die Natur zum Gegenstand des Menschen, den der<br />
Mensch hervorbringt und die ihn hervorbringt. Damit wird der Stoffwechsel mit<br />
der Natur, der lediglich das Leben erhält, zu einer Produktion des Menschen, die<br />
ihn in Distanz zur Natur bringt. Arbeit hat die Erde in Rohstoff verwandelt. Roh-<br />
114
stoff ist bearbeitete Natur. „Sobald überhaupt der Arbeitsprozeß einigermaßen<br />
entwickelt ist, bedarf es bereits bearbeiteter Arbeitsmittel“ (Karl Marx, ebd.).<br />
Der Stein wird mit Hilfe der Arbeit aus dem Zusammenhang gerissen und zur<br />
Steinaxt. So verwandelt sich die Natur in ein produziertes Produktionsmittel.<br />
Die Natur wird das „Kunstprodukt“ der Arbeit. Das ist die Transformation der<br />
Natur ins Menschenwerk. Erst mit der Arbeit beginnt die Geschichte des Menschen.<br />
„So z. B. der Samen in der Agrikultur. Tiere und Pflanzen, die man als<br />
Naturprodukte zu betrachten pflegt, sind nicht nur Produkte vielleicht der Arbeit<br />
vom vorigen Jahr, sondern in ihren jetzigen Formen, Produkte einer durch viele<br />
Generationen unter menschlicher Kontrolle, vermittels menschlicher Arbeitskraft,<br />
fortgesetzte Umwandlung!“ (Karl Marx, ebd.)<br />
Gegen Feuerbach wendet Marx ein: „Er sieht nicht, wie die ihn umgebende Welt<br />
nicht ein von Ewigkeit her gegeben sich stets gleich bleibendes Ding ist, sondern<br />
das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes.“ (Marx Deutsche<br />
Ideologie, in Frühschriften S. 351.) Der Kirschbaum ist keine platonische Idee,<br />
sondern Werk des Menschen, denn ohne Züchtung gibt es den Kirschbaum nicht<br />
so, wie er ist. In der so bearbeiteten Natur erblickt sich der Mensch im Spiegel<br />
seiner Arbeit. Dialektik ist ein Arbeitsprinzip, in dem nichts feststeht, sondern<br />
alles Moment des Arbeitsprozesses ist. Wirklichkeit ist Wirken. „Wie die Individuen<br />
ihr Leben äußern, so sind sie, was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer<br />
Produktion, sowohl damit, was sie produzieren als auch damit, wie sie produzieren.“<br />
(Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften, S. 347.)<br />
In der 11. These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden<br />
interpretiert: es kömmt darauf an, sie zu verändern“ (Marx: Thesen über<br />
Feuerbach, in Frühschriften S. 341.) formuliert Karl Marx nicht einen Appell,<br />
der aus Einsichten Aktionen fordert, sondern das Programm einer praktischen<br />
Philosophie, die alle Wirklichkeit in sich enthält, so daß die Trennung von Theorie<br />
und Praxis entfällt. Die Praxis ist nicht Anwendung der Theorie. Praxis ist<br />
vielmehr Handlungs- und Erkenntnisprozeß, die sich beide wechselseitig<br />
bestimmen. Praxis vereinnahmt Theorie.<br />
Entfremdung<br />
Einen bedeutenden Beitrag zur Philosophie der Neuzeit liefert Marx in seiner<br />
Lehre von der Entfremdung, womit er allerdings ungewollt auf der Spur einer<br />
alten christlichen Sündenlehre bleibt. Sünde ist nach scholastischer Definition<br />
„abalienatio“ – Abwendung von Gott. Marx verstrickt sich dabei allerdings in<br />
das Dilemma, das ihm für das Schema „eigentlicher“ und „entfremdeter“<br />
Mensch der Bezugspunkt „Eigentlichkeit“ fehlt, von dem der Entfremdete sich<br />
abwenden könnte. Denn der eigentliche Mensch ist erst das Produkt der Zukunft.<br />
Das Wesen der Entfremdung besteht darin, daß der Mensch sich in seiner Entäußerung<br />
nicht mehr erkennen kann. Der Mensch wird sich fremd, wenn er sich<br />
in der Welt, die er geschaffen hat, nicht widerspiegeln kann. „Die Entäußerung<br />
des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung nicht nur, daß die Arbeit zu<br />
einem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern daß sie außer ihm,<br />
115
unabhängig fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber<br />
wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und<br />
fremd gegenübertritt“ (Karl Marx: Das Kapitel, Bd. I S. 83 f.). Der Mensch gerät<br />
in die Rolle des Zauberlehrlings, der die Dinge, die er hervorruft, nicht mehr<br />
beherrscht.<br />
Die elementare Entfremdung setzt mit der Trennung von geistiger und materieller<br />
Arbeit ein. Sie ist die Quelle der Verselbständigung des Bewußtseins. „Die<br />
Teilung der Arbeit wird erst wirkliche Teilung von dem Augenblick an, wo Teilung<br />
in geistige und materielle Arbeit eintritt. Von diesem Augenblick kann sich<br />
das Bewußtsein einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehenden<br />
Praxis zu sein“ (Karl Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften S. 35 J.). Die<br />
abgetrennte Theorie erhebt sich über Praxis und dominiert so die Praxis, womit<br />
sich beide wechselseitig fremd werden.<br />
Die Steigerung der Entfremdung besteht in der Trennung von Arbeit und Genuß,<br />
Produktion und Verbrauch. Indem der Kapitalist den Mehrwert der Arbeit für<br />
sich vereinnahmt, enteignet er den Arbeitnehmer und beraubt ihn der Möglichkeit,<br />
sich im eigenen Produkt wiederzuerkennen. Arbeit schafft Kapital. Der<br />
Kapitalbesitzer überläßt dem Arbeiter nur jenen Teil des Arbeitsergebnisses, den<br />
dieser zur Reproduktion seiner Arbeitskraft benötigt. „Daß ein halber Arbeitstag<br />
nötig ist, um ihn (den Arbeiter) 24 Stunden zu erhalten, hindert den Arbeiter<br />
keineswegs, einen ganzen Tag zu arbeiten.“ (Karl Marx, Das Kapital B I, V.<br />
Abschnitt, 15. Kapitel.)<br />
Eigentum entsteht aus der Differenz zwischen Lohn und Arbeitsergebnis. Der<br />
Mehrwert, die Quelle des Eigentums, ist vorenthaltener Lohn. Privateigentum<br />
entsteht aus der Enteignung des Arbeitnehmers, dem der Gegenwert seiner Arbeit<br />
vorenthalten wird. Entfremdung wächst aus der Teilung zwischen Arbeit<br />
und Privateigentum. „Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische<br />
Ausdrücke.“ (Karl Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften S. 354.)<br />
Die „Sünde“ des Kapitalismus besteht darin, daß er dem Arbeiter nicht ermö g-<br />
licht, das entäußerte Produkt zu sich zurückzunehmen, weil er es als Privateigentum<br />
des Kapitalisten dem Arbeiter entwendet wird. Eigentum ist deshalb in einem<br />
weiteren Sinn als es Proudhon gesagt hat, nicht nur ökonomischer, sondern<br />
anthropologischer „Diebstahl“. Zwischen Produzent und Produkt klafft in der<br />
kapitalistischen Gesellschaft eine Distanz, aus der Entfremdung des Menschen<br />
entspringt.<br />
Entfremdung korrumpiert die gesamte Gesellschaft; sowohl die Kapitalistenklasse<br />
wie die Arbeiterklasse: „Aber die erste Klasse fühlt sich in der Selbstentfremdung<br />
wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als die eigene Macht und besitzt<br />
in ihr den Schein der menschlichen Existenz; die Zweite fühlt sich in der Entfremdung<br />
vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer<br />
unmenschlichen Existenz.“ (Karl Marx: Heilige Familie, in Frühschriften S.<br />
317.)<br />
Die Arbeitsteilung unterjocht die Menschen, indem „jeder einen bestimmten<br />
Kreis der Tätigkeit (hat), die ihm aufgedrängt wird; aus dem er nicht heraus<br />
116
kann.“ (Karl Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften S. 360.) Der Mensch,<br />
der nur Bruchstücke produziert, wird selber Bruchstück. Die Arbeitszerlegung<br />
zerlegt den Menschen. In der kommunistischen Gesellschaft dagegen, „wo jeder<br />
nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen<br />
Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt<br />
und mir eben dadurch möglich macht, heute dies und morgen jenes zu tun, mo r-<br />
gens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das<br />
Essen zu kritisieren ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie<br />
ich gerade Lust habe“ (Karl Marx ebd.), entfaltet sich das Gattungswesen des<br />
Menschen; herrschaftslos und unterdrückungsfrei, gleichsam gottgleich. Das<br />
Programm von Karl Marx kann als Gottwerdung des Menschen beschrieben<br />
werden. Der eigentliche Mensch ist die Existenz, die alle Fesseln abgestreift hat.<br />
Geschichte<br />
Der Klassenkampf, der die Geschichte vorwärts treibt, ist der Konflikt zwischen<br />
dem Stand der Produktivkräfte und den jeweiligen Produktionsverhältnissen. Der<br />
Stand der Produktivkräfte gibt den Stand der Gesellschaft an. Die Zeitalter werden<br />
nach den dominierenden Produktivkräften benannt. Steinzeit, Eisenzeit,<br />
Bronzezeit etc. Die Handmühle charakterisiert das Feudalzeitalter, die Damp f-<br />
maschine die industrielle Epoche. Die Produktivkräfte sind also nicht nur Gradmesser<br />
der Arbeitskraft, sondern auch der Anzeiger der Produktionsverhältnisse,<br />
die freilich im Fortschritt der Produktionskraft überwunden werden. Die Produktionsverhältnisse<br />
sind nur der Überbau der Produktivkräfte. Diese bestimmen<br />
den Fortgang des historischen Prozesses. Ohne Kapitalismus kein Kommunismus,<br />
denn der Kapitalismus ist der unausweichliche Durchgang zum Kommunismus.<br />
Die kommunistische Gesellschaft wird die dreifache Entfremdung überwinden,<br />
die zwischen Theorie und Praxis, die zwischen Arbeit und Privateigentum und<br />
die durch Arbeitszerstückelung. Die kommunistische Gesellschaft ist die Heimholung<br />
des Menschen in sein Gattungswesen. Das Gattungswesen Mensch befreit<br />
sich im Kommunismus aus seiner Vereinzelung in den kapitalistischen<br />
Produktionsverhältnissen. Das Individuum existiert nicht mehr. Der Mensch fügt<br />
sich in den Zusammenhang der Gattung. Die Gattungskräfte entfalten sich nur<br />
im Gesamtwirken der Menschen. Das Gattungswesen des Menschen ist das Resultat<br />
von Geschichte und Gesellschaft.<br />
Jean Paul Sartre: Existentialismus<br />
Sartre hat diesen Gattungszusammenhang wieder aufgelöst. Der Mensch ist nach<br />
Sartre ein einsamer Einze lner. Sozial ist er nur insofern, als er den anderen als<br />
anderen anerkennt und sich in dem anderen und der andere in ihm wie im Spiegel<br />
erkennt. Sartre macht dieses Verhältnis von Für-Sich und Für-andere und<br />
Für-einander am Beispiel der Scham deutlich: In der Reflexion über mich selbst<br />
finde ich das Urteil eines anderen vor. Dies ermöglicht über mich wie einen<br />
Gegenstand zu urteilen, also zum Beispiel sich zu schämen. Das Soziale ist also<br />
117
lediglich die Reflexionsbasis, auf der ich mich definiere. Der andere ist das Vehikel<br />
der Selbsterkenntnis. Es gibt also nicht irgendeine Art von Wesensnatur<br />
wie bei Aristoteles oder ein Gattungswesen wie bei Marx, das den Zusammenhang<br />
schafft, sondern nur der einsame, zur Freiheit verdammte Mensch, der sich<br />
erst noch selbst bestimmen muß.<br />
Das Ich und die anderen sind zunächst nur da. Sie existieren. Vom Dasein zum<br />
Sosein befördert sich der Mensch selbst. Die Essenz, das Wesen des Menschen,<br />
ist sein jeweiliger Entwurf. „Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz<br />
vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert, auf sich trifft und erst<br />
dann definiert“ (Jean Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus;<br />
Satz 149). Der Mensch ist eine Schöpfung aus dem Nichts. „Der Mensch, wie<br />
ihn der Exentialismus versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist“<br />
(Sartre, ebd. S. 149). Es gibt kein vorgegebenes Menschenbild. Der Mensch<br />
erschafft sich nach seinem eigenen Bild. „Der Mensch ist nichts anderes als das,<br />
wozu er sich macht“ (Sartre, ebd. Seite 150).<br />
Kein Gott, keine Idee rettet den Menschen aus der Einsamkeit. Keine Gattung<br />
gewährt ihm Heimat. Niemand hat den Menschen ersonnen, außer er sich selbst.<br />
Marx und Sartre übertreffen die paradiesische Versuchung: Ihr werdet sein wie<br />
Gott. Der Mensch ist sein eigener Gott.<br />
Leszek Kolakowski charakterisiert diesen Prometheismus so: „Es ist der Glaube<br />
an die durch nichts begrenzten Fähigkeiten des Menschen als Schöpfer seiner<br />
selbst und die Erfassung der menschlichen Geschichte als eines Prozesses der<br />
Selbsterzeugung der Gattung durch Arbeit, die Verachtung der Tradition und des<br />
Vergangenheitskults sowie die Überzeugung, daß der Mensch von morgen seine<br />
‚Poesie’ nicht aus der Vergangenheit, sondern allein aus der Zukunft schöpfen<br />
werde.“ (Kolakowski, Die drei Hauptprobleme des Marxismus; in: Narr und<br />
Priester, S. 179 f.) Während Marx den Menschen noch in den Zusammenhang<br />
der Gattung einbindet, läßt ihn Sartre allein. Der Weg von Marx zu Sartre ist der<br />
Weg von der vollendeten Gesellschaft zum vollendeten Individuum.<br />
Grenzen des Menschen<br />
Das Programm der Moderne heißt Grenzbeseitigung. Nichts soll der menschlichen<br />
Arbeit Grenzen setzen. Es gibt keinen verbotenen Baum, von dessen Früchten<br />
wir nicht essen dürfen. „Was wir können, machen wir auch, und was wir<br />
machen können, das dürfen wir auch.“ Das ist die Maxime der Selbstherrlichkeit<br />
des neuen Menschen.<br />
Der Imperialismus der Machbarkeit wird grenzenlos. Selbst die Grenzen der<br />
Erde werden überschritten. Dort, wo die Sterne am Himmel stehen und die Planeten<br />
ihre Bahn ziehen, kreisen jetzt unsere Satelliten. Vom Jubel der Sowjetunion,<br />
als sie die erste bemannte Rakete in den Weltraum schoß, ist allerdings so<br />
wenig übrig geblieben wie vom Sowjetimperium, das – wie Lenin behauptete –<br />
auf „Elektrizität und Sozialismus“ gründete. Gagarin, der erste Kosmonaut,<br />
triu mphierte, als er von seiner Himmelfahrt zur Erde zurückkehrte, er habe dort<br />
oben Gott nicht gesehen. Ist Gott tot, weil Gagarin ihn nicht gesehen hat? Doch<br />
118
die Gottesfrage ist trotz aller technischen Triumphe nicht verstummt. Und „daß<br />
der erste Schritt getan sei, um dem Gefängnis der Erde zu entrinnen“, wie ein<br />
amerikanischer Journalist fortschrittstrunken feststellte, hat das „Gefängnis“<br />
nicht verändert. Immer noch leiden und sterben Menschen, erleiden Schiffbruch<br />
ihres Lebens wie eh und je und bleiben in die Kontingenz ihres Lebens eingespannt.<br />
Offenbar gibt es existentielle Grenzen, die keine Technik sprengen kann.<br />
Mit den Grenzen des Lebens, wie sie durch den Tod gesetzt werden, kommt die<br />
Anthropologie von Marx und Sartre so wenig zurecht wie mit der Kontingenz<br />
unserer Geburt. Der Tod wie die Geburt bilden die vorerst unüberwindbaren<br />
Grenzen des Lebens. Der Tod ist immer noch Grenze des Lebens auf Erden. Mit<br />
der Geburt bleiben wir Kinder von Eltern, und die haben wir uns nicht ausgesucht,<br />
weder erarbeitet noch entworfen. Anfang und Ende des Lebens sind exi -<br />
stentielle Grenzen, die nicht gänzlich in unsere Hand gegeben sind.<br />
Doch der Angriff auf diese letzten Grenzen hat bereits begonnen. Die Grenzen<br />
sollen künstlich ausgeräumt werden. Homunculus ohne Tod ist das ultimative<br />
Projekt der Moderne. Ein Leben ohne Ende könnte vielleicht noch gelingen. Mit<br />
der Selbsterzeugung unserer biologischen Ausstattung freilich verhält es sich<br />
schwieriger. Der Gen-Cocktail, der das Wunschkind auf die Reise schickt, bleibt<br />
fremdbestimmt. Das Wunschkind entspricht den Wünschen, die es nicht selber<br />
setzt, sondern derer, dessen Wunsch es ist, und das kann es nicht selber sein.<br />
Ursache seiner selbst zu sein schafft kein Mensch. Er ist ohne Anfang nicht<br />
denkbar; und wäre ein Leben ohne Ende auf der Erde wünschbar? Wäre ein<br />
Leben ohne Tod erstrebenswert? Nichts mehr wäre einmalig. Kairos: Jetzt oder<br />
nie, Liebe: die oder keine, das alles blieben unbekannte Erlebnisse. Die ewige<br />
Wiederkehr des Gleichen wäre der Preis für ein Leben ohne Tod.<br />
Marx und Sartre scheitern an der Sinnfrage. Die Grenzen des Lebens sind der<br />
letzte Widerstand, vor dem selbst die sich selbst schaffende Arbeit kapitulieren<br />
muß. Das unendliche Sein ist Gott vorbehalten. „Ich bin, der ich bin.“ Jedes<br />
Attribut würde Gott begrenzen. Der Mensch läßt sich jedoch ohne Grenzen nicht<br />
definieren. Verzweifelt versucht der Mensch, Gott gleich zu werden. Diesen<br />
Versuch haben Adam und Eva mit Sterblichkeit bezahlen müssen. Aber selbst<br />
die stärksten „Pioniere der Arbeit“ werden die Gottgleichheit nicht schaffen.<br />
Marx wie Sartre mauern den Menschen in die selbst geschaffene Schöpfung ein.<br />
Den entscheidenden Angriff auf die Freiheit, die ihr Subjekt in der Person des<br />
Menschen hat, führt Karl Marx jedoch, indem er den Menschen zum Funktionär<br />
eines historischen Prozesses macht, der gesetzesmäßig abläuft.<br />
Es ist kein Zufall, daß Karl Marx mit der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung<br />
große Schwierigkeiten hatte. Einerseits kämpfen die Gewerkschaften für die<br />
Verbesserung der Lage des Proletariats, andererseits halten sie gerade mit der<br />
Verbesserung jene Verelendung auf, aus welcher der Funke der Revolution zünden<br />
und der Umschlag in die Vollendung der klassenlosen Gesells chaft bewirkt<br />
werden soll. Der Kompromiß im Lohnsystem behindert nach Marx den Kampf<br />
gegen das Lohnsystem. Revolution oder Evolution, aktives Eingreifen oder passive<br />
Erwartung? Zwischen diesen Alternativen konnte sich Marx nie wirklich<br />
119
entscheiden. Keine Dialektik befreite ihn aus der selbst gestellten Falle. Wer die<br />
Entwicklung verzögert, stört ihre historische Zwangsläufigkeit. Freiheit reduziert<br />
sich so auf die Einsicht in die historische Notwendigkeit. Der Mensch ist so nur<br />
Agent eines historischen Prozesses.<br />
Die Verzögerung oder gar Veränderung der Revolution ist ein „teuflisches<br />
Werk“. Wie die christliche Theologie dem Teufel nur die Macht der Negation<br />
zusprach, so können nach Marx die Conter-Revolutionäre auch nichts Positives<br />
schaffen, sondern lediglich das Positive behindern. Die Freiheit, die bleibt, ist die<br />
Sünde der Abwendung – bei Augustinus von Gott, bei Marx von der Revolution.<br />
Bei Marx jedoch ersetzt keine Gnade Gottes die Defizite der schöpferischen<br />
Freiheit. Es gibt nur die Alternative: Mitmachen (reihe dich ein ...) oder untergehen.<br />
„Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“ (Friedrich Engels).<br />
„Die Revolution frißt ihre Kinder“ ist der Preis für Uneinsichtigkeit in die<br />
Zwangsläufigkeit des historischen Prozesses und das Nachhinken der Produktivverhältnisse<br />
hinter den Produktivkräften. Prometheus, der Freiheitskämpfer,<br />
fesselt sich selbst an die ehernen Gesetze der Revolution. Ist es eine List der<br />
Dialektik, daß die versprochene totale Freiheit in der totalen Unfreiheit landet?<br />
Ausblick<br />
Die neuzeitliche Verherrlichung der Arbeit mündete im Glauben, daß technischer<br />
Fortschritt moralischer Fortschritt sei. Das menschliche Heil wird in der Expansion<br />
von Wissenschaft und Technik gesucht. In den vielfältigen Versuchen, die<br />
Eigenart des Menschen vom Tierreich abzugrenzen, wird die Definition des<br />
Menschen zum homo faber zur dominierenden Wesensbestimmung. Der Werkzeug<br />
benutzende Arbeiter wird zur differentia specifica des menschlichen Lebewesens.<br />
Archäologische Funde werden zur Stützung dieser Hypothese herangezogen.<br />
Vielleicht ist dies nur eine archäologische Falle. Grabkammern bewahren zwar<br />
Steinäxte, Pfeile und andere Gerätschaften auf, nicht aber Träume, Tänze, Gesten<br />
und Rituale. Vielleicht ist jedoch der homo faber sogar nur Nachzügler der technischen<br />
Intelligenz, wie sie sich in erstaunlicher Baukunst von Vögeln, Bienen,<br />
Bibern, Ameisen und Termiten offenbart. Vielleicht hat der Mensch geträumt,<br />
bevor er die Arbeit erfand. Träume jedoch scheinen auch im Schlaf von Tieren<br />
zu sein. Aber nicht der Versuch, Träume ins Wachsein zu befördern. Es ist kein<br />
Hund bekannt, den sein Vogeltraum zum Bau eines Flugzeuges inspirierte. Vielleicht<br />
ist der Mensch jenes einzigartige Tier, das mit einem Überschuß von Emotionen<br />
und Phantasien zurechtkommen mußte und deshalb Sprachen erfand, die<br />
nicht lediglich – wie beim Tier – Schmerz oder Spaß signalisiert, sondern sogar<br />
Erinnerung und Erwartung aufbewahren und ausdrücken konnte. Vielleicht geben<br />
die frühen Höhlenmalereien mehr Auskunft über Träume und Phantasien des<br />
Menschen als alle Steinäxte zusammen. Vielleicht war der Mensch eher „homo<br />
religiosus“ und „homo ludens“ und „homo ridens“, bevor er „homo faber“ wurde.<br />
120
Die Sprache des Menschen drückt jedenfalls mehr aus als materielle Bedürfnisse<br />
und setzt eine kompliziertere biologische Ausstattung voraus als alle anderen<br />
instrumentellen Begabungen und jedwede Technik. Sprache bedarf einer vielfältigeren<br />
organischen Abstimmung als die Handhabung einer Steinaxt. Sprache ist<br />
nicht lediglich ein zielgerichtetes Signalsystem, sondern das Ventil, das dem<br />
ungeheuren Überdruck psychischer Energien des Menschen Ausdruck verschaffte<br />
und sie kanalisierte, indem sie Kommunikation zur Bildung von Gemeinschaften<br />
und Geschichte einsetzte, was kein Tier je zustande brachte.<br />
Vielleicht war der Mensch erst Künstler, bevor er Arbeiter wurde. Die australischen<br />
Buschmänner, die zur frühen Menschheitsgeschichte zählten, besaßen<br />
zwar nur eine rudimentäre Technik, aber hochentwickelte religiöse Zeremonien,<br />
komplizierte Sippenorganisationen und eine differenzierte Sprache. In Ägypten<br />
und Mesopotamien benutzten die Menschen noch primitive Grabstöcke und<br />
Steinäxte, als sie bereits schreiben konnten. Nicht die Kultur folgt der Technik,<br />
sondern umgekehrt: Die Technik ist eine Reaktion auf kulturelle Fragen. Vielleicht<br />
wurde die Ablösung des Menschen vom Tier eher im Spiel als durch Arbeit<br />
„bewerkstelligt“.<br />
Die Geschichte nach dem Stand der Produktivkräfte einzuteilen, verengt den<br />
Blick auf die materielle Entwicklung. Die Erfindung der Dampfmaschine sagt<br />
über die Kultur der Goethezeit weniger aus als die Gedichte Goethes. Bevor der<br />
Mensch seine Umwelt verändert, veränderte es sich. Sprache, Musik, Religion<br />
sind ein stärkerer Ausdruck seiner Einmaligkeit als seine Arbeitskraft. Vielleicht<br />
ist der Arbeiter nicht der erste Mensch, sondern der letzte, und zwar derjenige,<br />
der es schaffte, sich selber abzuschaffen.<br />
Im Gestus des Propheten beschwor Ernst Jünger den Arbeiter als Herold einer<br />
neuen Zeit: „Der Vorgang, in dem sich eine neue Gestalt, die Gestalt des Arbeiters,<br />
in einem besonderen Menschentum zum Ausdruck bringt, stellt sich in bezug<br />
auf die Meisterung der Welt dar als das Auftreten eines neuen Prinzips, das<br />
als Arbeit bezeichnet werden soll. Durch dieses Prinzip werden die in unserer<br />
Zeit einzig möglichen Formen der Auseinandersetzung bestimmt; es unterstellt<br />
die Plattform, auf der allein man sich sinnvoll begegnen kann, wenn man sich<br />
überhaupt zu begegnen gedenkt. Hier liegt das Arsenal der Mittel und Methoden,<br />
an deren überlegener Handhabung man die Repräsentanten einer werdenden<br />
Macht erkennt.“ (Ernst Jünger: Der Arbeiter, S. 89.)<br />
Von dieser Heilslehre der Arbeit zehrte schließlich noch die „Nationalsozialistische<br />
Deutsche Arbeiter-Partei“. Auschwitz, die Offenbarungsstätte ihrer Unmenschlichkeit,<br />
trägt am Tor die Überschrift: „Arbeit macht frei“. Das ist die<br />
Offenbarung der finsteren Allmacht der Arbeit. Arbeit kennt kein Halten mehr.<br />
Arbeit, welche die Würde des Menschen begründen sollte, vernichtet sie in<br />
Auschwitz „arbeitsam“. Das ist die Pointe des losgelassenen Fleißes der Moderne.<br />
Am Ende dieser Epoche, die alles Heil von der Arbeit erwartete, steht ein Großteil<br />
der Menschheit ohne Arbeit da. Arbeitslos – einst das Privileg der Reichen<br />
und Mächtigen, um das sie von den Massen beneidet worden waren, ist zum<br />
121
Makel der Massen geworden. Die Produktivitätsrekorde haben das Elend der<br />
Welt nicht beseitigt, sondern eher vergrößert. In den entwickelten Ländern gerät<br />
unter das Diktat der Arbeit auch die arbeitsfreie Zeit. Sie ist die Fortsetzung der<br />
Arbeitsgewohnheiten mit anderen Mitteln. Freizeit ist nur noch die abhängige<br />
Variable der Arbeit, innerhalb derer sich Arbeitskraft regeneriert. Arbeitsfreie<br />
Zeit ist so lediglich entweder Not oder Streß. Die vita activa hat die vita contemplativa<br />
aufgefressen. Muse und Schönheit sind unbekannt verzogen.<br />
Doch das Lebensmuster der modernen Arbeit taugt nicht zum globalen Rezept.<br />
Die Erde hält den Verbrauch an Ressourcen nicht aus. Wenn alle so arbeiten, wie<br />
in der westlichen Arbeitsgesellschaft gearbeitet wird, bricht Mutter Erde zusammen.<br />
Vom Sinn der polaren Spannung zwischen Arbeit und Muße (vita aktiva /<br />
vita contemplativa; ora et labora) – bet’ und arbeit’ – sind nur versprengte Relikte<br />
übrig. Die „Pioniere der Arbeit“ sind in einer Gesellschaft gelandet, deren<br />
Fortschritt den Bewegungen der Ratte in der Trommel gleicht. Sie strampelt und<br />
kommt nicht vorwärts. Fortschritt – wohin?<br />
Literatur<br />
Fetscher: „Der Marxismus“, Bd. I, München 1962.<br />
Die Frühsozialisten, hg Thilo Ramm, Stuttgart 1956.<br />
Ernst Jünger: Der Arbeiter, Stuttgart 1982.<br />
Leszek Kolakowski: „Narr und Priester“, Frankfurt 1987.<br />
Karl Marx: „Die Frühschriften“, Stuttgart 1953.<br />
Karl Marx: „Das Kapital“, Berlin 1947.<br />
Marx-Engels: „Gesamtausgabe“ Berlin 1956 ff.<br />
L. Mumford „Der Mythos der Maschine – 4001“.<br />
Jean-Paul Sartre: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“, 2. Aufl., Hamburg 2002.<br />
Dr. Norbert Blüm, langjähriger Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung,<br />
lebt in Bonn.<br />
122
Manfred C. Hettlage<br />
Ist der Streik ein Recht oder ein Unrecht?<br />
Die sozialethische Rolle der Urabstimmung<br />
„Du sollst nicht streiken!“ – nach einem solchen Satz wird man unter den Zehn<br />
Geboten vergeblich suchen. Umgekehrt kann aus dem Fehlen eines solchen Ve r-<br />
bots nicht abgeleitet werden, der Streik sei aus der Sicht der Hl. Schrift erlaubt.<br />
Die Bibel will kein Handbuch für die Lösung sozialer Konflikte dieser Welt sein.<br />
In ihren Augen ist der Streik eher „ein weltlich Ding“. Und „daß der Mensch<br />
nicht vom Brot alleine lebt“, weiß man schon aus dem fünften Buch Moses (8,3).<br />
1. Die katholischen Hausgehilfinnen wollten nicht streiken<br />
Die Antwort darauf, ob der Streik verboten oder erlaubt sei, mag aus der Sicht<br />
der Bibel zweitrangig sein, die Sozialethik kann sie nicht einfach unbeantwortet<br />
lassen. Als Schulbeispiel mag der konkrete Fall des Verbandes der Katholischen<br />
Hausgehilfinnen und Hausangestellten e.V. dienen. Sie waren dadurch aufgefallen,<br />
daß sie in ihren Vereinsstatuten mit Arbeitskämpfen nichts im Sinn hatten<br />
und keinen Wert auf den Streik legten. Darin sah man eine religiöse Abweichung<br />
von der Normalität – um nicht zu sagen „Opium für das Volk“.<br />
Prompt wurde der Verband der Katholischen Hausgehilfinnen von der DGB -<br />
Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten mit dem Argument angegriffen, wer<br />
den Kampf mit den Arbeitgebern scheue und im Zweifel nicht streiken wolle, sei<br />
überhaupt keine Gewerkschaft im rechtlichen Sinne und könne mit den Arbeitgebern<br />
keine kollektiven Tarifabkommen vereinbaren, die als Mindestarbeitsbedingungen<br />
Gültigkeit haben. Der Rechtsstreit ging durch alle Instanzen und landete<br />
zuletzt sogar vor dem Bundesverfassungsgericht. 1<br />
Die Verfassungshüter in Karlsruhe hatten ein Einsehen. Denn sie waren sich<br />
darüber sehr wohl im Klaren, daß man die friedlich gesinnten Katholikinnen<br />
nicht gut zu einem Bekenntnis für den Arbeitskampf nötigen, genau genommen<br />
sogar zu tatsächlichen Streiks drängen konnte, nur um den Beweis zu erbringen,<br />
daß der Verband tariffähig sei. Denn das hätte noch gefehlt, um die Klage auf die<br />
Spitze zu treiben, wenn die Verfassungsrichter im Sinne eines kategorischen<br />
Imperativs geurteilt hätten: „Du sollst streiken!“<br />
Nein, die Richter in den roten Roben umschifften diese tückische Klippe der<br />
Juristerei. Sie nahmen die Katholischen Hausgehilfinnen gegen die Klage der<br />
Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten in Schutz. Anders als alle drei Vorinstanzen<br />
bekräftigte das Höchste Gericht in Karlsruhe, das sinnvolle Funktionieren<br />
der Tarifautonomie hänge nicht von Arbeitskämpfen ab. Friedlichen Methoden<br />
müsse man von Staats wegen den Vorzug geben, zumal ein Streik auch das<br />
Gemeinwohl schädige, für das der Staat Verantwortung trage. 2<br />
123
Welche Antwort haben wir damit in der Hand? Eine Verpflichtung zum Streik,<br />
das gibt es nicht und das kann es auch gar nicht geben. Mehr noch: Man darf auf<br />
den Streik verzichten und mit friedlichen Mitteln die Mindestarbeitsbedingungen<br />
zu regeln suchen. Das weltberühmten schweizerischen Friedensabkommen aus<br />
dem Jahre 1937, mit dem die Eidgenossen ihre Tarifangelegenheiten nun schon<br />
seit sieben Jahrzehnten unter beiderseitigem Verzicht auf Arbeitskämpfe regeln,<br />
zeigt es: Der gegenseitige Verzicht auf Arbeitskämpfe ist sinnvoll, ist möglich<br />
und keineswegs eine Abweichung von der Normalität.<br />
Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen und sagen, es sei besser, auf<br />
friedlichem Wege zu eine kollektiven Regelung der Mindestarbeitsbedingungen<br />
zu kommen als durch Streiks. Das aber ist gar nicht die eigentliche Frage. Denn<br />
hier geht es um etwas anderes. Das berühmte Hausgehilfinnen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
besagt, daß man auf den Streik verzichten darf, aber bei<br />
der Beurteilung der Frage, ob und unter welchen Bedingungen man streiken darf,<br />
hilft der Richterspruch aus Karlsruhe nicht allzu viel weiter.<br />
2. „Wer aussperrt, gehört eingesperrt“<br />
Das Gegenstück zum Streik – die Aussperrung – ist eigentlich nur die Kehrseite<br />
der gleichen Medaille. Auch sie beschäftigte die Oberste Gerichtsbarkeit. Das<br />
berühmte Aussperrungsurteil des Bundesarbeitsgericht 3 rief den Nestor der Katholischen<br />
Soziallehre Prof. Oswald von Nell-Breuning S.J. auf den Plan, der<br />
insbesondere bei den DGB-Gewerkschaften als hochangesehene Autorität galt<br />
und in diesen Kreisen in einen geradezu legendären Ruf stand.<br />
Zum Thema Aussperrung ließen die „Stimmen der Zeit“ 4 sogar einen Sonderdruck<br />
mit einem Aufsatz von Nell-Breuning erscheinen, der über die normale<br />
Auflage hinaus eine weite Verbreitung nicht nur in Gewerkschaftskreisen fand.<br />
Im Ergebnis trat v. Nell-Breuning dem Ansinnen der DGB-Gewerkschaften<br />
entgegen, die Aussperrung unter Berufung auf ein Verbot, das in Art. 29 Abs. 5<br />
der Hessischen Landesverfassung ausgesprochen wurde, für unzulässig zu erklären.<br />
Dem Slogan: „Wer aussperrt, gehört eingesperrt!“ konnte der Jesuitenpater<br />
jedenfalls nicht allzu viel abgewinnen.<br />
„Arbeitskämpfe sind ein Übel“, schreibt Nell-Breuning klar und unmißverständlich<br />
und meint damit Streik und Aussperrung gleichermaßen. 5 Auch das Bundesarbeitsgericht<br />
habe Arbeitskämpfe als „unerwünscht“ bezeichnet. Es sei daher<br />
anzustreben, daß der Arbeitskampf auf beiden Seiten „domestiziert“ werde, so<br />
der Sozialethiker, der allerdings dem Streik weniger Bedenken entgegenstellen<br />
wollte als der Aussperrung mit ihren größeren „menschlichen Härten“.<br />
Zum Schluß seines Beitrags in den „Stimmen der Zeit“ kommt v. Nell-Breuning<br />
zu dem Ergebnis: „Völlig aus der Welt schaffen lassen sich Streik und Aussperrung<br />
wohl nur beide zusammen, sei es durch staatlichen Hoheitsakt, sei es durch<br />
ein Friedensabkommen, wie es die schweizerische Maschinenbau- und Uhrenindustrie<br />
seit Jahrzehnten hat. Darin sollten die Sozialpartner eine ehrenvolle und<br />
lohnende Aufgabe sehen ...“ 6 – Freilich verhallte dieser Appell ungehört. Immer-<br />
124
hin hätten wir damit eine klare Antwort in der Hand: Arbeitskämpfe, also Streik<br />
und Aussperrung, sind in den Augen v. Nell-Breunings „ein Übel“.<br />
3. Das Recht zur Notwehr<br />
In diesen Tagen stattete Bundesarbeitsminister Franz Müntefering dem AEG-<br />
Werk in Nürnberg einen Besuch ab. 7 Das Werk soll geschlossen, die Arbeitnehmer<br />
entlassen werden. Wie man weiß, hat die IG Metall dagegen zum Streik<br />
aufgerufen. Die Zustimmung, die sich die Gewerkschaft in einer Urabstimmung<br />
bestätigen ließ, ist überwältigend. Der Minister sprach vor den von der Entlassung<br />
bedrohten Arbeitnehmern von „Notwehr“, die ihnen niemand streitig machen<br />
könne. Das Notwehrrecht als „Übel“ zu bezeichnen, wäre verwegen. Notwehr<br />
ist kein Übel, sondern dessen Gegenteil, die Abwehr eines Übels, dem<br />
anders nicht mehr beizukommen ist. Bricht also das Unwerturteil, das sich v.<br />
Nell-Breuning gestützt auf das Bundesarbeitsgericht zueigen gemacht hat, in sich<br />
zusammen?<br />
Prof. Arthur F. Utz O.P., ein namhafter Sozialethiker, der wie v. Nell-Breuning<br />
ebenfalls fest auf dem Boden der Katholischen Soziallehre steht, schreibt: „Vom<br />
Standpunkt der Sozialethik aus betrachtet waren und sind Streik und Aussperrung<br />
von allem Anfang an als Notstands- und Notwehrrechte zu verstehen. Aus<br />
diesem Blickwinkel – und nur aus diesem Blickwinkel – hat auch die Katholische<br />
Soziallehre die naturrechtliche Legitimation von Arbeitskämpfen beurteilt<br />
und bis in die Gegenwart hinein immer wieder grundsätzlich anerkannt.“ 8 Seit<br />
der ersten industriellen Revolution habe sich jedoch die Lage der Arbeiter in den<br />
entwickelten Industrienationen ganz entscheidend verbessert, so Utz.<br />
Weiter führt der Pater des Dominikanerordens dazu aus: „Breite Schichten der<br />
Bevölkerung vor allem der Arbeitnehmer genießen den Schutz der Renten-,<br />
Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie der Sozialhilfe. Die Kassen der<br />
Gewerkschaften sind gefüllt, es können sogar Streikgelder ausbezahlt werden.<br />
Vom Kampf um das bloße Existenzminimu m, von krassem Unrecht, das für<br />
jeden einsichtig und rechtschaffen denkenden Bürger erkennbar wäre, kann hier<br />
und heute nicht mehr gesprochen werden. Eine Situation, die zur Notwehr berechtigt,<br />
liegt in aller Regel nicht vor.“ 9<br />
Als Ge genbeispiel nennt Utz den Streik der Bergleute in den Zechen und der<br />
Facharbeiter in den Atomkraftwerken wie in der Öl- und Gasförderung Rußlands<br />
vom April 1994. In der damals noch jungen Russischen Föderation, die nach<br />
dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand, war es zu einer bedrohlichen<br />
Wirtschaftskrise gekommen. Den Streikenden war mehr als drei Monate lang<br />
kein Lohn mehr ausbezahlt worden. Inwieweit bei Arbeitsverweigerungen im<br />
Fall rückständiger Löhne schon ein Streik vorliegt oder aber nur ein bestehender<br />
Rechtsanspruch auf Zurückhaltung der Leistung ausgeübt wird, den schon das<br />
allgemeine Schuldrecht kennt, soll hier nur am Rande erwähnt werden. 10<br />
Immerhin hatte sogar die Internationale Atomenergiekommission IEAO in Wien<br />
vor der schlechten und unregelmäßigen Bezahlung der Facharbeiter in den russischen<br />
Kernkraftwerken gewarnt. Sie gefährde die Sicherheit dieser Anlagen. Im<br />
125
Februar 1995 kam es erneut zu Demonstrationen und Streikaktionen in Moskau,<br />
in den Kohle-Revieren des Kussbass-Beckens wie in Rostow am Don und anderen<br />
Fördergebieten. Sie beschäftigten auch die Staatsduma, also das russische<br />
Parlament, das sich beeilte, die monatlichen Mindestlöhne der Arbeitnehmerschaft<br />
auf 50.000 Rubel (etwa 11,04 Euro) nochmals zu verdoppeln, nachdem sie<br />
kaum ein halbes Jahr zuvor schon auf 20.500 Rubel angehoben worden waren.<br />
Zu allem kam erschwerend hinzu, daß damals in Rußland das Existenzminimum<br />
amtlich mit 146.000 Rubel beziffert war. 11<br />
Das Urteil von Utz zu den russischen Hungerlöhnen Mitte der 90er Jahre ließ<br />
keinen Zweifel aufkommen. „Mit vollem Recht und Zustimmung der Sozialethik<br />
bricht sich hier das elementare Naturrecht Bahn: Keine Macht der Welt, kein<br />
Gesetz und keine Verfassung kann und darf es verhindern, wenn es in einer solchen<br />
Situation zu Arbeitsniederlegungen oder gar zu Aufständen kommt.“ 12<br />
Ist der Streik ein Recht oder ein Unrecht? Die klassische Antwort würde demnach<br />
lauten: Es kommt darauf an. Im Fall der berechtigten Notwehr kann es<br />
keinen Zweifel geben. Umgekehrt schlußfolgert Utz: „Liegen die Voraussetzungen<br />
für einen naturrechtlich und damit sozialethischen Streik nicht vor, wie das<br />
in den entwickelten Staaten sicher der Fall ist, dann treten andere Werte in den<br />
Vordergrund.“ 13 4. Ein „amorpher Anerkennungsprozeß“<br />
Es werden aber noch andere Erinnerungen wach, wenn es um den „amorphen<br />
Anerkennungsprozeß“ 14 in der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Streiks<br />
geht. Im Mai 1889 wurde ein Streik der Bergarbeiter in 127 Zechen des Ruhrgebietes<br />
mit Hilfe von Polizei und Militär niedergeschlagen. Zahlreiche Verletzte<br />
und sogar Tote waren zu beklagen. Die öffentliche Sympathie war auf der Seite<br />
der Streikenden. Auch hatte der Deutsche Kaiser, Wilhelm II., eine Delegation<br />
der Bergarbeiter zur Audienz empfangen. Doch lehnte der Monarch jede Ve r-<br />
mittlung ab. Mehr noch drohte er in seinem jugendlich barschen Ton, „alle über<br />
den Haufen schießen zu lassen“, die sich nicht fügen wollten. 15 Damals jedenfalls<br />
wurde der Streik noch mit Aufruhr und Landfriedensbruch gleichgesetzt.<br />
Diese staatspolitische Bewertung hat sich nur langsam und in einer sich<br />
schmerzhaft in die Länge ziehenden historischen Entwicklung gewandelt.<br />
Zu einem historischen Schlüsselerlebnis mu ßte 16 Jahre später der Aufstand von<br />
1905 in Rußland werden. Er war nach den Worten Lenins nur die „eine Generalprobe“<br />
für die Russische Revolution von 1917, die den Anfang für eine neue<br />
Epoche in der Weltgeschichte markierte. „Der 22. Januar 1905 ist in die russische<br />
Geschichte als ‚Blutsonntag’ eingegangen. Zar Nikolaj II. ließ in der Hauptstadt<br />
St. Petersburg auf demonstrierende Arbeiter schießen. Mindestens 130<br />
Menschen starben, fast 300 wurden verletzt. (...) Kirchliche und patriotische<br />
Lieder singend zog eine riesige Menschenmenge – zwischen 50.000 und 100.000<br />
Personen – aus allen Teilen der Stadt mit Zaren-Bildern und Ikonen zum Winterpalast.<br />
Sie wurden von dem Popen Gabon geführt, der dem Zaren eine Petiti-<br />
126
on überreichen wollte. Nikolaj II. und seine Regierung lehnten ein Gespräch mit<br />
den streikenden Arbeitern jedoch ab.“ 16<br />
Nur wenige Wochen zuvor, im Dezember 1904, war es zum Generalstreik auf<br />
den russischen Ölfeldern von Baku gekommen. Die Streiks sprangen Anfang<br />
Januar 1905 auf St. Petersburg über. Streik und Revolution vermischten sich in<br />
tragischer Weise. Revolutionäre Kräfte, die das Regime des Zaren schon lange<br />
zu Fall bringen wollten, schürten die Streiks mit allen Kräften und wollten damit<br />
einen Flächenbrand entfachen. Die für jeden Herrscher unterläßliche Unterscheidung<br />
der Geister war Zar Nikolaj nicht gegeben. In der Absicht, sich der Revolutionäre<br />
zu erwehren, ließ er in völliger Verkennung der Situation auf unbewaffnete<br />
Demonstranten schießen – und ihr Blut floß in Strömen.<br />
Nach dem Massaker am „Blutsonntag“ geriet das Land dann endgültig in Aufruhr.<br />
Landesweit breiteten sich wie Lauffeuer immer neue Streiks aus, schon<br />
kurze Zeit später waren eine halbe Million Arbeiter im Ausstand. Trotz aller eilig<br />
eingeleiteten Reformschritte konnte sich das Zaren-Regime von der Bluttat des<br />
22. Februar nicht wieder reinwaschen. Um die Akzeptanz des Regimes in der<br />
Bevölkerung war es endgültige geschehen. Zwölf Jahre später wurde nicht nur<br />
der Zar und seine Regierung, sondern die gesamte Monarchie in einem Aufstand<br />
hinweggefegt, der als die Oktoberrevolution von 1917, die Russische Revolution,<br />
in die Geschichte einging.<br />
Auch vor der Revolution von 1917 zog ein Sturm von Streiks über das russische<br />
Land hinweg, doch weigerten sich, anders als 1905, die in Petrograd stationierten<br />
Regimenter Pawlowski, Preobrashenski und Wolynski auf das Volk zu schießen.<br />
– Die Revolutionäre in den Reihen der Streikenden sahen ihre Stunde gekommen.<br />
Und diesmal gelang es ihnen, den Streik in Rebellion umschlagen zu lassen<br />
und die Monarchie zu Fall zu bringen.<br />
Doch ist die Geschichte immer für eine Überraschung gut. Wer geglaubt hatte,<br />
nach der Russischen Revolution von 1917 sei der Streik in den kommunistischen<br />
Volksrepubliken nun endlich anerkannt worden, der mußte sich eines anderen<br />
belehren lassen. Unter der „Diktatur des Proletariats“ wollten die kommunistischen<br />
Machthaber einen Streik, der sich nach ihrem Verständnis ja nicht mehr<br />
gegen den verhaßten Monarchen, sondern gegen das Volk richten würde, keineswegs<br />
zulassen. Die Gewerkschaften wurden von Lenin zum „Transmissionsriemen“<br />
der kommunistischen Partei erklärt und gleichgeschaltet, Streiks mit den<br />
Mitteln der geheimen Staatspolizei unterdrückt. 17 Es mag merkwürdig klingen,<br />
aber die rechtlich zwar eingeschränkte Anerkennung des Streiks – besser gesagt<br />
die bedingte Duldung – vollzog sich, historisch betrachtet, durchaus nicht in den<br />
Ländern des Kommunismus, sondern des Kapitalismus.<br />
5. Im Grundgesetz wurde nur die Koalitionsfreiheit verankert<br />
Das Hin und Her im Ringen um die Anerkennung des Streiks spiegelt sich auch<br />
in der deutsche Verfassungsgeschichte wider. Das Bonner Grundgesetz von 1949<br />
stellte die Koalitionsfreiheit – das Recht also, zur Verbesserung der Arbeits- und<br />
Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden und mit vereinten Kräften<br />
127
Tarifabkommen für ein Kollektiv von Arbeitnehmern auszuhandeln – wieder<br />
her. Damit setzten die Urheber der Verfassung die Tradition der Weimarer Republik<br />
fort, die durch das Verbot der Gewerkschaften während der Diktatur des<br />
Nationals ozialismus unterbrochen worden war.<br />
Allerdings konnte sich die verfassungsgebende Versammlung 1949 nicht darauf<br />
verständigen, über die Garantie der Koalitionsfreiheit hinaus auch das Recht zu<br />
garantieren, Arbeitgeber durch Streiks unter Druck zu setzen. Und weil man sich<br />
nicht einigen konnte, klammerte man die Frage aus. Dem Wortlaut des Art. 9<br />
Abs. 3 GG, der die Tarifhoheit normiert, ist deshalb ein Recht auf Streik nicht zu<br />
entnehmen. Aus dem Schweigen des Gesetzgebers kann aber auch nicht auf das<br />
Gegenteil geschlossen und der Streik als Form von Nötigung oder sogar von<br />
Landfriedensbruch verworfen werden.<br />
Die Verfassungsgarantie Koalitionsfreiheit schließt das Streikrecht weder ein<br />
noch aus. – „Der Rest ist Schweigen.“ Freilich hat die sog. Verfassungswirklichkeit<br />
diese Position längst hinweggespült. Der Streik gehört im Wirtschaftsleben<br />
durchaus zur Normalität. Verfassung hin, Grundgesetz her, das „Streikrecht“ gilt<br />
allgemein als eine ausgemachte Sache. 18 Auch wenn sich aus dem Wortlaut des<br />
Art. 9 Abs. 3 GG ein Streikrecht nicht ergibt, würde kein Richter die Konsequenz<br />
ziehen, den Streik im Grundsatz für unzulässig zu erklären.<br />
Unter der Lupe der Rechtsdogmatik betrachtet, bleibt es dennoch eine unzulässige<br />
Simplifikation, von einem „Streikrecht“ zu sprechen. Denn durch den Streik<br />
werden geltende Arbeitsverträge massenweise außer Kraft gesetzt und Arbeitgeber<br />
wie Allgemeinheit zu Schaden gebracht. Wenn auch nur vorübergehend wird<br />
gleichwohl der eherne Grundsatz des gesamten Vertragsrechts „suspendiert“, 19<br />
daß geschlossene Verträge eingehalten werden müssen. Das Prinzip „pacta sunt<br />
servanda“ läßt sich bis ins römische Recht zurückverfolgen. Diese tragende Säule<br />
des Privatrechts wird für die Dauer des Streiks umgeworfen, weil und solange<br />
das Volk innerhalb des Tarifgebietes es so haben will. Ist der Streik beendet,<br />
werden die Gesetzbücher, die man zuvor bis auf weiteres zugeklappt hat, wieder<br />
aufgeschlagen, und die Arbeitsverträge müssen dann wieder so wie Miet-, Kredit-<br />
und Versicherungsverträge etc. eingehalten werden.<br />
Hier liegt der springende Punkt. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, der<br />
Volkssouverän ist daher befugt, geltende Arbeitsverträge außer Kraft zu setzen,<br />
sofern, soweit und solange er das will. Wie jedem Souverän – sei es dem Kaiser,<br />
sei es dem Zaren – sind aber auch dem Volkssouverän Schranken gesetzt. Auch<br />
er kann nicht willkürlich tun und lassen, was er gerade will. Das Grundgesetz<br />
schränkt die vom Volke ausgehende Staatsgewalt, die in Wahlen und Abstimmungen<br />
ausgeübt wird, verfahrensrechtlich durch das Demokratiegebot ein.<br />
Ohne die Legitimation der Abstimmung kann es keinen zulässigen Streik geben.<br />
Ein Streik gegen den Willen der Mehrheit ist ungesetzlich, mehr noch, er ist ein<br />
Angriff auf die Verfassung. Die Urabstimmung ist also eine Bedingung, ohne die<br />
es keinen legalen Streik gibt. Wir können also sagen: Ohne Zustimmung der<br />
Mehrheit in einer Urabstimmung is t der Streik kein Recht, sondern ein Unrecht.<br />
Und noch etwas: Die verbindliche Rechtsprechung der Obersten Gerichte hat für<br />
die Zulässigkeit des Streiks den Grundsatz der ultima ratio errichtet. Wegen<br />
128
seiner Bedeutung für das Gemeinwohl darf der Streik immer nur der letzte Ausweg<br />
sein. Solange verhandelt wird, muß gleichsam „Waffenstillstand“ gehalten<br />
werden und es darf nicht gestreikt werden. Das Prinzip der ultima ratio schließt<br />
zumindest den verhandlungsbegleitenden Warnstreik aus. – Doch die Wirklichkeit<br />
ist eine andere: In der Praxis schert das niemand.<br />
Wegen der Schäden für das Gemeinwohl wie für die bestreikten Arbeitgeber ist<br />
der Streik im Normalfall weit eher ein malum als ein bonum. Nach dem Prinzip<br />
der ultima ratio im Grundsatz verboten, ist er deshalb nur ausnahmsweise erlaubt,<br />
und das nur dann, wenn alle Mittel der friedlichen Verständigung ausgeschöpft<br />
sind und sich eine Mehrheit in der Urabstimmung für den Streik ausgesprochen<br />
hat. Mag der Streik also ein Ausnahmefall sein, der zu dulden ist, ein<br />
grundsätzlich positiv zu bewertendes Rechtsgut ist er nicht, es sei denn, es liegt<br />
der Extremfall einer unverkennbaren Notwehrsituation vor.<br />
6. Durch die Urabstimmung wird der Streik „domestiziert“<br />
Wie gezeigt hat schon v. Nell-Breuning verlangt, den Streik zu „domestizieren“.<br />
Mit dieser Forderung steht er keineswegs allein. Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts<br />
sah in seiner Grundsatzentscheidung vom 28.1.1955 die Rechtsprechung<br />
in der Pflicht, den Zugang zum Streik nicht zu erleichtern. Daher bietet<br />
sich das Demokratiegebot in Art. 20 GG als Instrument in besonderer Weise an,<br />
um die Zulässigkeit eines Streiks von der Mehrheit in einer Urwahl abhängig zu<br />
machen. Hinzu kommt die Akzeptanz der Urabstimmung in den Reihen der<br />
führenden Gewerkschaften, die darin einen anerkannten Bestandteil ihrer Geschichte<br />
sehen.<br />
Denn bis 1974 mußte niemand die Abhaltung von Urabstimmungen verlangen,<br />
sie war eine Selbstverständlichkeit und in den Streikrichtlinien der DGB-<br />
Gewerkschaften ja auch vorgeschrieben. 20 Allerdings kam die Pflicht zur Abstimmung<br />
1974 zu Fall, weil man sich dieser selbstgeschmiedeten Fußfessel<br />
entledigen wollte, um für die Streiktaktik der „neuen Beweglichkeit“ freie Bahn<br />
zu schaffen, also den traditionellen Flächenstreik mit Urabstimmung und mit<br />
Streikgeld durch ein wellenartiges System kurzfristiger Warnstreiks ohne vorherige<br />
Urabstimmung und ohne Streikgeld zu ersetzen. Doch haben sich die DGB -<br />
Gewerkschaften damit keineswegs grundsätzlich von der Urabstimmung verabschiedet.<br />
Vielmehr halten sie daran – wenn auch nach ihrem eigenen Belieben –<br />
weiterhin freiwillig fest.<br />
In seinem Handbuch „Über das Naturrecht“ hat sich Prof. Johannes Messner<br />
intensiv mit den „fast unüberwindlichen Schwierigkeiten einer Streikgesetzgebung“<br />
auseinandergesetzt. 21 Wie Utz und v. Nell-Breuning gehört auch er mit zu<br />
den „klassischen“, inzwischen verstorbenen Vertretern der katholischen Soziallehre.<br />
Doch verkennt auch Messner, daß eine solche Streikgesetzgebung nicht<br />
neu geschaffen werden muß. Sie ist schon da! Dabei geht es nicht nur um das<br />
grundsätzliche Streikverbot, wie es in dem durch höchstrichterliche Rechtsprechung<br />
aufgestellten Prinzip der ultima ratio Niederschlag fand. Auch das staatsrechtliche<br />
Demokratiegebot des Art. 20 GG war Messner ja keineswegs fremd.<br />
129
Im Gegenteil. Anders als v. Nell-Breuning und anders als Utz ist es allein Messner,<br />
der für die gewerkschaftliche Urabstimmung vor dem Streik ausdrücklich<br />
die Frage stellt: „Wer ist zur Abstimmung berechtigt? Nur Gewerkschaftsmitglieder?<br />
Warum nicht auch die Nichtmitglieder? Die Gewerkschaftsmitglieder<br />
können möglicherweise nur einen Teil der Belegschaft ausmachen.“ 22 Dieser<br />
Vorschlag werde jedoch von den Gewerkschaftsführern mit dem Hinweis abgelehnt,<br />
bedauert Messner, bei einer solchen Abstimmung könnte eine Mehrheit<br />
von Streikwilligen die Gewerkschaften gegen ihr besseres Urteil zum Ausrufen<br />
eines Streiks zwingen. Messner verkennt, daß zum Streik überhaupt niemand<br />
gezwungen werden kann und bei der Auszahlung von Streikgeld alle Gewerkschaftsvorstände<br />
eine vereinsrechtlich ausreichend gesicherte Veto-Position<br />
haben.<br />
Schließlich hinterfragt Messner auch die Richtigkeitsgewähr von Urabstimmu n-<br />
gen. Man habe nicht zuletzt auch zu bedenken, „wieweit eine Abstimmung, um<br />
unbeeinflußt zu sein, unter Aufsicht staatlicher Organe erfolgen müßte und damit<br />
für den Staat die Gefahr des Eingriffes in die Vereinigungs- und Handlungsfreiheit<br />
der Arbeiterschaft bestehen würde.“ 23 – Völlig überraschend läßt Messner<br />
jedoch den Faden an dieser Stelle fallen. Zu Ende gedacht, würde seine Überlegung<br />
darauf hinauslaufen, daß der Staat eine falsche oder sogar gefälschte Urabstimmung<br />
tatenlos hinzunehmen und das Demokratiegebot in Art. 20 GG hintanzusetzen<br />
habe.<br />
Doch es ist anders. Die Urabstimmung kommt einem historisch gewachsenen<br />
Bürgerentscheid innerhalb frei bestimmbarer Tarifgebiete zumindest sehr nahe,<br />
um nicht zu sagen gleich. 24 Wird mit qualifizierten Drei-Viertel-Mehrheiten<br />
abgestimmt, wie das durchgängig so gehandhabt wird, dann ergibt sich bei einem<br />
Organisationsgrad von über 70 Prozent der Beschäftigten des Tarifgebietes automatisch<br />
die absolute Mehrheit aller Mitglieder in den betroffenen Belegschaften.<br />
Die Abstimmung allein unter Gewerkschaftsmitgliedern ist also bei entsprechend<br />
hoher Organisationsdichte und gleichzeitiger Drei-Viertel-Mehrheit für<br />
die Gesamtheit repräsentativ, und man kann das historisch gewachsene Verfahren<br />
zur Not weiterhin akzeptieren. 25<br />
Ganz anders ist das, wenn der Organisationsgrad unter die kritische Schwelle<br />
sinkt und deshalb die Drei-Viertel-Mehrheit nicht mehr absolute Mehrheit aller<br />
Beschäftigten ergeben kann. Hier kann sich der Streik sehr wohl gegen den Willen<br />
der schweigenden Mehrheit richten, die von niemandem nach ihrer Entscheidung<br />
gefragt wurde. Folgt man dem Grundgesetz, geht die Staatsgewalt, die in<br />
Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, durchaus nicht von den Gewerkschaften,<br />
sondern vom Volk aus. Als Zulassungsbedingung für den Streik ist<br />
Abstimmung allein unter Gewerkschaftsmitgliedern daher staatsrechtlich nicht<br />
zu begründen.<br />
7. Das Fazit<br />
Wird dem höchstrichterlichen Prinzip der ultima ratio Genüge getan, daß alle<br />
Möglichkeiten zu einer friedlichen Lösung ausgeschöpft wurden, und ist außer-<br />
130
dem der Wille des Volkes innerhalb des Tarifgebietes, die Arbeit kollektiv niederzulegen,<br />
durch Urabstimmung im Sinne des Art. 20 GG legitimiert, ist der<br />
Streik ein vorübergehend zu duldender Ausnahmenzustand. Wird aber gegen den<br />
Grundsatz der ultima ratio verstoßen oder wird das in der Verfassung verankerte<br />
Demokratiegebot mißachtet, ist der Streik ein „wilder“ Streik, und „wilde“<br />
Streiks sind ebenso verwerflich wie ungesetzlich. Wer dennoch dazu aufruft,<br />
kann auf Unterlassung verklagt werden und muß den entstandenen Schaden<br />
ersetzen. Im Extremfall der Abwehr einer für jedermann erkennbaren Notwehrsituation<br />
ist der Streik jedoch an keine der beiden Vorbedingungen gebunden.<br />
Anmerkungen<br />
1) BVerfG vom 6.5.1964, 1 BvR 79/62; BVerfGE 18,18.<br />
2) Vgl. BVerfGE, a. a. O. (Fn. 1), S. 30.<br />
3) Vgl. BAG 10.6.1980, BAGE 33, 140 (Archiv f. civilistische Praxis, GG Art. 9 Arbeitskampf<br />
Nr. 43).<br />
4) v. Nell-Breuning, Stimmen der Zeit, Heft 1, Januar 1980, S. 3 ff.<br />
5) v.. Nell-Breuning, a. a. O. (Fn. 4), S. 3 ff. So auch Kissel, Arbeitskampfrecht, Ein<br />
Leitfaden, München 2002, S. 847, § 60, Rdnr. 1: Das Charakteristikum eines Arbeitskampfs<br />
„besteht in der bewußten Störung der vertragsgemäßen Durchführung des Arbeitsverhältnisses<br />
als kollektive Druckausübung mit Schadenseffekt“.<br />
6) v. Nell-Breuning, a. a. O. (Fn. 4), S. 15. Kursiv geschriebene Hervorhebung bei v.<br />
Nell-Breuning.<br />
7) Vgl. SüddZ vom 3.2.2006, „Müntefering: Der Streik ist Notwehr“. – Inwieweit bei<br />
AEG Nürnberg ein Fall tatsächlich von Notwehr vorliegt, soll hier nicht entschieden<br />
werden.<br />
8) Utz, Schlichten statt streiken, Das schweizerische Friedensabkommen als Modell für<br />
Deutschland? Hrsg. Manfred Hettlage/Robert Hettlage, Bonn 1997, S. 27.<br />
9) Utz, a. a. O. (Fn. 8), S. 28.<br />
10) Vgl. §§ 273 BGB (Zurückbehaltungsrecht) und 320 BGB (Einrede des nicht erfüllten<br />
Vertrags).<br />
11) Vgl. Utz, a. a. O. (Fn 8), S. 28, gestützt auf die Berichte in der Tagespresse vom April<br />
1994 und vom Februar 1995 über die Russische Föderation.<br />
12) Utz, a. a. O. (Fn. 7), S. 28.<br />
13) Utz, a. a. O. (Fn. 7) S. 29.<br />
14) So Zacher vor dem Ausschuß für Arbeits- und Sozialordnung des Deutschen Bundestags<br />
in der 62. Sitzung am 19.12.1974 in Bonn, Stenographisches Protokoll Nr. 62, S. 55.<br />
15) Vgl. Jürgensen, H., FAZ v. 18.1.1990. Ferner Kissel, a. a. O. (Fn. 5), § 2, Rdnr. 21.<br />
16) Vgl. Dittmar Dahlmann, SüddZ Nr. 17, vom 22.1.2005, S. 14, „Keine Feinde auf der<br />
Linken / Generalprobe für 1917 – Die russische Revolution von 1905“.<br />
17) Fischer, Louis, Das Leben Lenins, Köln/Berlin 1964, S. 162 f., 546, 565 ff., 684.<br />
(Titel der amerikanischen Originalausgabe: The life of Lenin; übersetzt von Irmgard<br />
Kutscher.) Über die Rolle und Aufgaben der Gewerkschaften, vgl. ferner Lenin Werke,<br />
Bd. 33, S. 169-181.<br />
131
18) Vgl. Jonas Viering in SüddZ vom 3.2.2006, „Ungerecht aber richtig“ . Viering: „Streiken,<br />
daran muß erinnert werden, ist ein Recht.“<br />
19) Vgl. Entscheidung des Großen Senats BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (unter II, 3 der<br />
Entscheidungsgründe); Archiv für civilistische Praxis GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 1.<br />
20) Zu den Streikrichtlinien des DGB vgl. Vorderwühlbecke, BB 1987, S. 750 ff. (750).<br />
21) Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik,<br />
6. Aufl. Innsbruck/München/Wien, 1966, S. 626 ff (635).<br />
22) Messner, a. a. O. (Fn 21), S. 635.<br />
23) Messner, a. a. O. (Fn 21), S. 635.<br />
24) Aus staatsrechtlicher Sicht de lege lata vgl. Hettlage, NJW 2004, 3299 ff. „Sind<br />
Streiks ohne Urabstimmung wilde Streiks?“<br />
25) De lege ferenda vgl. Hettlage BB 2004, 714 ff., „Keine Arbeitskämpfe gegen den<br />
Willen der Mehrheit!“ Außerdem Dieter Hundt, Michael Sommer und Manfred C. Hettlage<br />
in: ifo-Schnelldienst 9/2004, „Zur Diskussion gestellt: Obligatorische Urabstimmung<br />
unter Kont rolle des Staates?“ Ferner Hettlage, ZRP 2003, 366 ff., „Demokratisierung des<br />
Streikrechts“; ders., ifo-Schnelldienst, 15/2003, „Die heimlichen Lohnerhöhungen“; ders.,<br />
BB 1985, 2252 ff., „Arbeitskämpfe im rechtlichen Niemandsland?“<br />
Dr. Manfred C. Hettlage ist Wirtschaftswissenschaftler und wirkt als freier Publizist<br />
in München.<br />
132
Bericht und Gespräch<br />
Rudolf Uertz<br />
Walberberg und Die Neue Ordnung<br />
Vor 60 Jahren: Laurentius Siemer und Eberhard Welty<br />
Die Geschichte der Walberberger Bewegung, die ich anläßlich des 60jährigen<br />
Bestehens der Zeitschrift Die Neue Ordnung vortragen möchte,* ist schon oft<br />
erzählt worden. Und doch ist es von Nutzen, diese Historie wieder und wieder zu<br />
erinnern und weiterzugeben. Jede Generation schreibt die Geschichte, die ja ihre<br />
Geschichte ist, neu. Oft werden dabei unbekannte Quellen und neue Sachverhalte<br />
bekannt, so daß spätere Generationen oft mehr wissen, als frühere.<br />
Im Falle von Walberberg scheint das aber nicht der Fall zu sein. Denn es wird<br />
offenbar mehr und mehr Mode, bei der „Neuvermessung“ (Axel Schildt) der<br />
frühen Epoche der Bundesrepublik Deutschland die Strickmuster älterer Untersuchungen<br />
aufzulösen und die Fäden neu zu verknoten. Bei einer solchen Neuvermessung,<br />
wie sie derzeit in der Zeitgeschichte im Gange ist, fallen mit der<br />
Abwendung von den ideologischen Kontroversen der Frühzeit der Bundesrepublik<br />
jedoch auch die Motive der Gründergeneration, wie z.B. ihre entschiedene<br />
Abwehrhaltung gegenüber dem Totalitarismus, Kollektivismus und Kommunismus,<br />
flach.<br />
Diese ideologische Problemstellung der Frühzeit, so meint Damian van Melis in<br />
einem Artikel über „Die Dominikanerzeitschrift Neue Ordnung in den ersten<br />
Jahrzehnten der BRD“ aus dem Jahre 2000, sei „heute in der allgemeinpolitischen<br />
und in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nur noch von nachgeordnetem<br />
Interesse“. Nach dieser Lesart sind also die Werte und Normen, für die<br />
Frauen und Männer einst ins Gefängnis gingen und gar geköpft wurden, auch für<br />
die wissenschaftliche Betrachtung nicht mehr interessant. Das Ende der kommunistischen<br />
Staatenordnung in Europa wird hier zum Anlaß genommen, die Auseinandersetzung<br />
zwischen den werteorientierten Haltungen wie den christlichdemokratis<br />
chen und christlich-sozialen Positionen einerseits und den Spielarten<br />
des Totalitarismus, Kommunismus und Sozialismus nach 1945 systematisch zu<br />
ignorieren.<br />
Ich möchte bei meiner kurzen Darstellung der Walberberger Bewegung von<br />
einer solchen eingeengten Perspektive, die nicht zuletzt auch Folge der Verflachung<br />
des akademischen Lehr- und Forschungsbetriebs ist, absehen.<br />
133
Man wird der Rolle von Walberberg und seinen Leistungen für den religiösen,<br />
kulturellen und gesellschaftlichen Wiederaufbau nur gerecht, wenn man den<br />
Stellenwert von Religion und Kirche in den 1940er und 1950er Jahren genügend<br />
in Anrechnung stellt. Die Kirche war in den späten 1930er und den 1940er Jahren<br />
in eine Oppositionsrolle gegen das Naziregime hineingewachsen. Ihre eherne<br />
Ordnung war nach dem Zusammenbruch 1945 der einzige intakte institutionelle<br />
Rahmen. Die deutsche Staats- und Rechtsordnung hatte zu existieren aufgehört;<br />
alle Macht und Gewalt lag bei den Alliierten. Säkulare Ideologien wie der Nationalsozialismus,<br />
der Nationalismus, der Kommunismus, aber auch der Liberalismus<br />
waren verbraucht und diskreditiert.<br />
Angesichts der erlebten Verbrechen, der Greuel des NS-Unrechtssystems und<br />
der Kriegsfolgen besann man sich wieder verstärkt auf die christlichen Rechts -<br />
und Ordnungsgrundsätze, d. h. auf naturrechtliche Ideen, die weit über den kirchlichen<br />
Raum hinaus wieder an Bedeutung gewannen. Kirche, Theologie und<br />
christliche Ethik sind so nach den Säkularisierungsschüben des 19. und des frühen<br />
20. Jahrhunderts – gewissermaßen subsidiär – in eine Rolle hineingewachsen,<br />
die ihnen im pluralistischen Gemeinwesen normalerweise nicht mehr zufällt.<br />
Von hierher erklärt sich die besondere Bedeutung, die den Walberberger Dominikanern<br />
wie auch anderen kirchlichen Persönlichkeiten und Kreisen in den<br />
späten 1940er und den 1950er Jahren zugewachsen ist. Ihre soziale Predigt und<br />
Lehre ist aus dem Christentum und dem abendländischen Gedankengut erwachsen.<br />
Der Gedanke des Abendlandes wurde dabei keineswegs – jedenfalls nicht in<br />
den hier zur Rede stehenden Kreis en – rückwärtsgewandt betrachtet, wie das<br />
schon früh die Parteiagitation linker Kreise (u. a. Walter Dirks) behauptet hat<br />
und auch gegenwärtig in der Zeitgeschichte wieder verbreitet wird. Vielmehr<br />
stand der Begriff Abendland zum einen für die religiösen und sittlichen Grundlagen,<br />
auf denen die Neuordnung aufbauen sollte, zum anderen wurde er synonym<br />
für den Europagedanken gesetzt und zur Kennzeichnung der gemeinsamen europäischen<br />
Kultur und der politischen und wirtschaftlichen Integration verwandt.<br />
Die Geistlichen wurden in besonderer Weise wieder zu Lehrern des Kirchenvolkes<br />
– eine Konstellation, die man zeitversetzt und in etwas anderem Kontext,<br />
wenngleich mit auffälligen Parallelen, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten<br />
auch in Polen, und dort vor allem auch in der Gewerkschaft Solidarnosc,<br />
sehen konnte.<br />
Doch zurück nach Walberberg: Dorthin wenden sich ehemalige christliche Arbeiterführer<br />
und Gewerkschafter aus dem Kölner Kettelerhaus im Jahre 1941.<br />
Sie bitten Pater Siemer, daß er ihnen Seminare über die christliche Soziallehre<br />
halte. Über kurz oder lang, so ist man sich sicher, wird das Dritte Reich zugrunde<br />
gehen. Man will sich daher Gedanken darüber machen, welche Ordnung man<br />
beim politischen Neuanfang anstreben soll. Pater Siemer sagt den Arbeiterführern<br />
zu, bittet aber Pater Welty, den sozialethischen Fachmann, die Konferenzen<br />
inhaltlich zu betreuen. Welty arbeitet das Ganze zu einem Konzept aus.<br />
Das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler bringt das jähe Ende des Kreises, der<br />
Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen unterhält. Viele ihrer Mitglieder wer-<br />
134
den vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, andere kommen mit Zuchthausstrafen<br />
davon oder tauchen – wie Pater Siemer und Jakob Kaiser – unter. Andere<br />
überleben, weil das Todesurteil nicht mehr vollstreckt wird. Die Mitarbeit von<br />
Pater Welty bleibt durch ein gnädiges Geschick unentdeckt.<br />
Unmittelbar nach Kriegsende läßt Welty seine Aufzeichnungen im benachbarten<br />
Brühl unter dem Titel drucken: „Was nun? Grundsätze und Hinweise zur Neuordnung<br />
im deutschen Lebensraum“. Weltys Schrift und ihre Erweiterung von<br />
1946, „Die Entscheidung in die Zukunft“, gehören zusammen mit den Arbeiten<br />
Oswald von Nell-Breunings zu den wichtigsten Publikationen der christlichen<br />
Soziallehre im Nachkriegsdeutschland.<br />
Gründung und Urprogramm der CDU<br />
Weltys Programmschriften handeln von der Personwürde des Menschen, den<br />
Themen Rechtsordnung und Rechtssicherheit, Staatsgemeinschaft, Familie, der<br />
Auseinandersetzung mit den Irrmeinungen zum „lebensunwerten Leben“; sie<br />
beschäftigen sich ferner mit der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit und<br />
– in ihrem größten Teil – mit der Eigentums - und Sozialordnung.<br />
Wie in vielen anderen Gründerkreisen entsteht auch im Kölner Kreis unter der<br />
Initiative von Leo Schwering im Juni 1945 spontan die Idee der Gründung einer<br />
Christlich-Demokratischen Partei. Man ist sich im klaren: Diese soll gemäß den<br />
Erfahrungen mit der katholischen Zentrumspartei vor 1933, der Konfessionsspaltung<br />
in Deutschland und den gesellschaftlich-politischen Problemen der Weimarer<br />
Republik – eine interkonfessionelle Volkspartei, eine Union für alle Schichten<br />
sein.<br />
Die Mitwirkung von Welty bei der Ausarbeitung des ersten Programms der CDU<br />
im Westen Deutschlands, den Kölner Leitsätzen vom Juni 1945, ist selbstverständlich.<br />
Und selbstverständlich ist es auch für Pater Siemer, die Einladung an<br />
den Kreis auszusprechen, künftig in Walberberg zu tagen, das für die folgenden<br />
Jahre zur wichtigsten Anlaufstätte und zum Schulungsort für kirchliche, politische,<br />
gewerkschaftliche und gesellschaftliche Gruppierungen wird. Im „Institut<br />
für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V“ erhält es ab 1951 einen neuen<br />
institutionellen Rahmen. In Walberberg werden auch die Kölner Leitsätze beraten.<br />
Aber schon bei der erst Sitzung kommt es zum Eklat: Pater Siemer gehen die<br />
sozialen und eigentumspolitischen Grundsätze der Versammlungsrunde, zu der<br />
nunmehr auch Protestanten gehören, nicht weit genug. Er will, daß die neue<br />
Partei „Christlich-Sozialistische Gemeinschaft“ heißt. Das finden aber Teile des<br />
Kreises als nicht tragfähig. Also tagt man nach dem Rauswurf durch Siemer für<br />
die nächsten Wochen wieder in Köln.<br />
Es ist unzweifelhaft: „die Union entsteht links“, wie es der französische Politikwissenschaftler<br />
Alfred Grosser in seiner Geschichte Deutschlands nach 1945<br />
formuliert. Und wichtige Paten dieser Partei-Gründung sind eben die Walberberger<br />
Dominikaner. Der von Welty verwendete Begriff des „Christlichen Sozialismus“<br />
ist allerdings nicht der marxistische, sondern der vor Marx gebräuchliche<br />
135
Sozialismusbegriff, der die sozialen Dimensionen menschlicher Gemeinschaft<br />
und Gesellschaft markiert. In der Sache handelt es sich hierbei um nichts anderes<br />
als um klassische Ideen der katholischen Soziallehre, wie sie auch in den päpstlichen<br />
Enzykliken Rerum novarum (Über die Arbeiterfrage) von 1891 und Quadragesimo<br />
anno (Über die gesellschaftliche Ordnung) von 1931 enthalten sind.<br />
Konrad Adenauer, der ab 1946 die Führung der CDU übernimmt, verwirft entschieden<br />
den Begriff „christlicher Sozialismus“, weil er mißverständlich ist und<br />
die Abgrenzung der Partei zum linken und extrem linken Parteienspektrum erschwert.<br />
Und doch vermögen Pater Welty und Mitglieder des Walberberger Kreises,<br />
zu denen Johannes Albers und andere Unionspolitiker gehören, in beträchtlichem<br />
Maße die CDU-Programmatik zu beeinflussen, wie es insbesondere im<br />
Ahlener Programm der CDU der britischen Zone vom Februar 1947 der Fall ist.<br />
Aber dieses wohl bekannteste deutsche Manifest des 20. Jahrhunderts ist schon<br />
ein Jahr später in wichtigen Teilen überholt – durch die Wirtschaftspolitik Ludwig<br />
Erhards und folglich durch das Programm der CDU für die Wahlen zum<br />
Ersten Deutschen Bundestag, die Düsseldorfer Leitsätze vom Juni 1949. In diesen<br />
Leitsätzen zur Sozialen Marktwirtschaft wird jedoch der Gegensatz zwischen<br />
christlicher Soziallehre und dem Ordoliberalismus deutlich – ein Gegensatz, der<br />
letztlich nur „überbrückt“, nicht aber wirklich gelöst werden kann, wie es Kurt<br />
Biedenkopf in einer grundsatzprogrammatischen Analyse 1973 formuliert hat.<br />
Das Kloster Walberberg beschränkt sich in seiner christlich-sozialen Arbeit keineswegs<br />
bloß auf die CDU und auch nicht bloß auf kirchliche Kreise. Auch<br />
SPD-Politiker und Vertreter anderer Parteien suchen Kontakt zu den Patres. Die<br />
SPD interessiert vor allem die kulturpolitis che Haltung des deutschen Katholizismus.<br />
Walberberg wird zu einem „Haus der offenen Tür“, das für Angehörige<br />
aller Parteien, Schichten, Berufe und Konfessionen offensteht. Es wären viele<br />
Namen von Dominikanern und anderen Persönlichkeiten zu nennen, die in der<br />
sozialen und religiösen Bildungsarbeit, wie auch in der philosophischtheologischen<br />
Forschung und Lehre mitwirken. Ein Produkt dieser Arbeit ist die<br />
Edition der Lateinisch-deutschen Thomas-Ausgabe.<br />
Aber Walberberg gewinnt in der Frühzeit seinen besonderen Glanz und seine<br />
Anziehungskraft durch zwei große Persönlichkeiten, die gegensätzlicher kaum<br />
hätten sein können: Einerseits Pater Laurentius Siemer, eine imposante Gestalt<br />
und eine rhetorische Begabung. Er liebt die Außendarstellung und ist ein glänzender<br />
Kommunikator; er verfügt über hervorragende Kontakte zu unterschiedlichsten<br />
Persönlichkeiten in Kirche, Politik, Gesellschaft und Kultur. Im Jahre<br />
1948 organisiert er in Walberberg den ersten internationalen katholischen Journalistenkongreß<br />
im Nachkriegsdeutschland. Wegen seiner repräsentativen Ge s-<br />
talt und seinen vielfältigen Aktivitäten nennt man ihn ehrfurchtsvoll den „geheimen<br />
Bischof von Köln“ und den „weißen Kardinal“.<br />
An seiner Seite der eher zurückhaltende Wissenschaftler, der tief in der thomistisch-scholastischen<br />
Philosophie und Theologie verwurzelte Eberhard Welty,<br />
der in besonderer Weise das schriftliche Wort beherrscht und der unermüdlich<br />
Bücher, Artikel, Manifeste, Protokolle und wissenschaftliche Abhandlungen<br />
136
schreibt. Sein besonderes Talent: Er vermag das Gehörte und Gelesene auch in<br />
Diskussionsrunden sogleich umzusetzen, wobei er mit Geschick Positionen und<br />
Gegenpositionen zu einer neuen Synthese zu formulieren vermag, wenn er dies<br />
für nötig hält. Bei Programmberatungen fungiert Welty imme r wieder als Brückenbauer.<br />
Für den Kölner Kardinal, Joseph Frings, ist er ein wichtiger sozialethischer<br />
Ratgeber und Ideenspender. Seine „Grundsätze christlicher Soziallehre<br />
und zeitnahe Folgerungen“ (1947) wurden von dem Dominikaner redigiert.<br />
Es liegt nahe, daß Welty und Siemer ein weiteres Forum schaffen, um ihre sozialen<br />
Ideen einem breiteren Publikum zu erschließen, um das intellektuelle Klima<br />
im Nachkriegsdeutschland anzuregen und das Vakuum zu füllen, das die nationalsozialistische<br />
Unkultur hinterlassen hat. Im Dezember 1946 erscheint im<br />
Kerle-Verlag Heidelberg das erste Heft der Zweimonatsschrift „Die Neue Ordnung“.<br />
Herausgeber ist Laurentius Siemer, damals auch Provinzial der norddeutschen<br />
Dominikanerprovinz Teutonia. Die Schriftleitung übernimmt Eberhard<br />
Welty, der zugleich das Amt des Studienregens bekleidet.<br />
Herausgeber und Schriftleiter wissen, daß sie mit einer Vielzahl von wieder- und<br />
neugegründeten katholischen Zeitschriften konkurrieren. Hören wir, was Welty<br />
gleich in den ersten Zeilen des ersten Hefts seiner Zeitschrift als deren „Ziel und<br />
Art“ ausführt:<br />
„Unter dem Titel: ‚Die neue Ordnung‘ stellt sich diese Zeitschrift heute der Öffentlichkeit.<br />
(...) Es geht nicht darum, die bereits vorhandenen oder noch zu erwartenden<br />
Zeitschriften um eine weitere zu vermehren. (...) Es geht in vollem<br />
Ernst darum, der Gegenwart bzw. dem Menschen von heute, der um Klarheit<br />
ringt oder am Werk des Wiederaufbaues mittätig ist, auf die vielen drängenden,<br />
letzte Entscheidungen abfordernden Fragen die grundsätzlich richtige und damit<br />
die wegweisende Antwort zu geben. (...) Die christliche Kultur des Abendlandes<br />
vor dem Untergang bewahren bzw. sie erneuern und fördern zu helfen, und zwar<br />
dadurch, daß das Ordnungsbild dieser Kultur nicht nur in seinem geschichtlichen<br />
Werdegang und seiner geschichtlichen Bedeutung, sondern vorab in seiner tiefsten<br />
Verankerung und unbedingten Geltung, in seinen zeitgemäßen Ansprüchen<br />
und Verwirklichungsmöglichkeiten aufgezeigt wird.“<br />
Die Neue Ordnung füllt zweifellos eine Marktlücke: Sie ist die einzige sozialethische<br />
Fachzeitschrift in Deutschland. Sozialethik wird dabei nicht im engeren<br />
Sinne verstanden, sondern umfassend bezogen auf die Bereiche Religion, Kultur,<br />
Gesellschaft, wie es die Zeitschrift im Untertitel programmatisch ankündigt. Ihre<br />
Beiträge widmen sich vor allem den Grundsatzfragen der politischen, rechtlichen,<br />
sozialen und kulturellen Ordnung.<br />
Die Sozialethik will und kann nicht, wie es einmal der evangelische Sozialethiker<br />
Trutz Rendtorff salopp formuliert hat, Blaupausen für die Wirtschaft und<br />
Politik zeichnen. So einfach kann Ordnung nicht generiert werden, so simpel<br />
funktionieren gesellschaftliche Institutionen nicht. Die Neue Ordnung will vielmehr<br />
den sittlich-religiösen und kulturellen Boden bereiten, auf dem die konkrete<br />
Ordnung von Mensch, Gesellschaft und Staat in ihrer Heterogenität aufruht.<br />
Das ist ein kompliziertes und komplexes Geschäft, vor allem in einem pluralisti-<br />
137
schen Gemeinwesen, in dem viele Interessen und Interessengegensätze zum<br />
Ausgleich gebracht werden müssen, wie es Welty zwischen 1948 und 1950 als<br />
ordnungspolitischer Berater der Sozialausschüsse hautnah erfährt. Die Wirtschafts<br />
- und Gesellschaftsordnung ist jedoch keineswegs nur das Geschäft von<br />
Volkswirten und Technikern. Klassiker der Ökonomie wie Walter Eucken wußten<br />
noch um die Ordnungspotenzen, die dem katholischen Sozialdenken innewohnen.<br />
Zu diesen zählen in hohem Maße auch anthropologische, psychologische<br />
und kulturelle Faktoren. Wenn man den Beitrag des politischen Katholizismus<br />
und insbesondere von Walberberg zur Neuordnung nach 1945 wissenschaftlich-zeitgeschichtlich<br />
analysiert, muß man sich redlicherweise auf die Spezifika<br />
christlich-sozialer Theorie und Programmatik einlassen. Offenbar fällt diese<br />
ideengeschichtlich-systematische Analyse heute den jüngeren Autoren besonders<br />
schwer.<br />
Die Zeitschrift Die Neue Ordnung und die zahlreichen Autoren, unter ihnen viele<br />
namhafte Wissenschaftler, Publizisten und Praktiker, beobachten das politische,<br />
soziale und kulturelle Geschehen der aufstrebenden Bundesrepublik; sie kommentieren<br />
kritisch deren Entwicklungen und bemühen sich, das neue Gemeinwesen<br />
nicht zuletzt auch von der religiös-sittlichen Wertebasis her zu fundieren.<br />
Dies ist das Markenzeichen der Zeitschrift unter Welty, und es ist es auch geblieben<br />
unter den ihm folgenden Schriftleitern, Edgar Nawroth und seinen beiden<br />
Nachfolgern Basilius Streithofen und Wolfgang Ockenfels, – ein Grund, nach<br />
sechzig Jahren die Ursprünge der Neuen Ordnung wieder in Erinnerung zu rufen.<br />
Anmerkung<br />
*Vortrag vom 10. Februar 2006 anläßlich der Feier zum 60. Jahrestag der Gründung der<br />
Zeitschrift Die Neue Ordnung im Hotel Königshof, Bonn.<br />
Literatur<br />
Becker, Winfried / Buchstab, Günter / Anselm Doering-Manteuffel / Morsey, Rudolf<br />
(Hg.): Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn 2002.<br />
Brelie-Lewien, Doris von der: Katholische Zeitschriften in den Westzonen 1945-1949.<br />
Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Göttingen 1986.<br />
Melis, Damian van: Europapolitik oder Abendlandideologie? Die Dominikanerzeitschrift<br />
Neue Ordnung in den ersten Jahrzehnten der BRD, in: Thomas Sauer (Hg.): Katholiken<br />
und Protestanten in den Aufbaujahren der Bundesrepublik, Kohlhammer 2000, S. 170-<br />
186.<br />
Nawroth, Edgar: Walberberg: „Kloster der offenen Tür“. Die „Walberberger Bewegung“<br />
im Wiederaufbau der Nachkriegszeit, in: Thomas Eggensperger / Ulrich Engel (Hg.):<br />
Wahrheit. Recherchen zwischen Hochscholastik und Postmoderne, Mainz 1995, S. 365 ff.<br />
Ockenfels, Wolfgang: Eberhard Welty, in: Jürgen Aretz / Rudolf Morsey / Anton Rauscher<br />
(Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19.<br />
und 20. Jahrhunderts, Bd. 4, Mainz 1980, S. 240 ff.<br />
Ockenfels, Wolfgang: Laurentius Siemer, in: ebd., Bd. 5, Mainz 1982, S. 147 ff.<br />
138
Streithofen, Heinrich Basilius: Das Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg.<br />
Eberhard Welty – Arthur F. Utz. Versuch einer Würdigung, in: Arthur F. Utz, Ethik und<br />
Politik. Aktuelle Fragen der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtsphilosophie. Gesammelte<br />
Aufsätze, Stuttgart 1970, S. 13-31.<br />
Uertz, Rudolf: Christentum und Sozialismus in der frühen CDU. Grundlagen und Wirkungen<br />
der christlich-sozialen Ideen in der Union 1945-1949, Stuttgart 1981.<br />
Uertz, Rudolf: Von den Gründungsaufrufen 1945 bis zu den Grundsatzprogrammen 1978<br />
und 1994. Zur Programmgeschichte der CDU, in: Brücke in eine Neue Zeit. 60 Jahre<br />
CDU, hg. von Günter Buchstab, Freiburg i. Br. 2005, S. 94.138.<br />
Welty, Eberhard, Was nun? Brühl (1945); Nachdruck und Informationen hierzu in: Was<br />
nun? Was tun? Zur Lage der nordrhein-westfälischen CDU, Sondernummer Die Neue<br />
Ordnung, September 1985.<br />
Welty, Eberhard: Die Entscheidung in die Zukunft. Grundsätze und Hinweise zur Neuordnung<br />
im deutschen Lebensraum, Köln und Heidelberg 1946.<br />
Prof. Dr. Rudolf Uertz ist Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin.<br />
139
Wolfgang Bergsdorf<br />
Die Neue Ordnung als politische Zeitschrift<br />
Bemerkungen zum 60. Geburtstag*<br />
Vor 60 Jahren erschien im Kerle -Verlag Heidelberg die erste Ausgabe der<br />
Zweimonats-Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ mit dem Untertitel: Zeitschrift für<br />
Religion, Kultur, Gesellschaft. Das Einzelheft kostete stolze zwei Reichsmark.<br />
Herausgeber war Laurentius Siemer OP, Provinzial der Dominikaner-Provinz<br />
Teutonia und Spiritus Rektor der Albertus Magnus Akademie in Walberberg. Als<br />
Schriftleiter fungierte Eberhard Welty OP, ebendort Studienregens. Im ersten<br />
Editorial, das mit dem Titel „Unser Ziel und unsere Art“ versehen war, war zu<br />
lesen: „Es mag beinahe verwegen und überheblich klingen. Aber dies ist das Ziel<br />
unserer Zeitschrift: Die christliche Kultur des Abendlandes vor dem Untergang<br />
bewahren bzw. sie erneuern und fördern zu helfen, und zwar dadurch, daß das<br />
Ordnungsbild dieser Kultur nicht nur in seinem geschichtlichen Werdegang und<br />
seiner geschichtlichen Bedeutung, sondern vorab in seiner tiefsten Verantwortung<br />
und unbedingten Geltung, in seinen zeitgemäßen Ansprüchen und Verwirklichungsmöglichkeiten<br />
aufgezeigt wird. Dabei sei ausdrücklich betont: Die Zeitschrift<br />
soll ihre Aufgabe nicht damit erfüllt haben, daß sie unterrichtet, daß sie an<br />
Gewesenes und Verlorenes erinnert, daß sie ein Ordnungsbild entwirft und geistig<br />
neu entstehen läßt. Sie soll zugleich bewegen, die Antriebe wecken, zur wirksamen<br />
und schöpferisch-gestaltenden Tat aufrufen und erziehen. Sie soll ausrichten,<br />
die Erneuerungsbewegungen in die rechte Bahn lenken, vor Fehlleistung<br />
bewahren“. 1<br />
Wenige Seiten später machen die Initiatoren der neuen Zeitschrift auf eine Nebenabsicht<br />
aufmerksam: „In dieser Zeitschrift soll u. a. das Wahrheitsgut gehoben<br />
und der Gegenwert entboten werden, das die beiden großen Denker des<br />
christlichen Abendlandes Albert der Große und Thomas von Aquin ihrer und<br />
jener nachfolgenden Zeit erarbeitet haben.“ 2 Schließlich machen sich die Zeitschriftengründer<br />
Gedanken über ihre potentiellen Leser. „Die Zeitschrift wendet<br />
sich nicht nur und nicht zunächst an einen Leserkreis, der aus fachwissenschaftlichem<br />
Interesse den Fragen nachspürt und die Abhandlungen durcharbeitet. Sie<br />
will vielmehr all jenen dienen, die genügend geschult sind und vor allem genügend<br />
regsam sind, Gedankengängen grundsätzlicher Art zu folgen… Das bedeutet,<br />
daß die Beiträge dieser Zeitschrift wissenschaftlich bestens unterbaut sein<br />
müssen.“ 3<br />
Dies war ein höchst anspruchsvolles Redaktionsprogramm, das ich als damals<br />
Fünfjähriger natürlich nicht zur Kenntnis genommen habe, obwohl ich es hätte<br />
tun können, denn ich wuchs in Brühl, im Hause meines Großvaters, wenige Kilometer<br />
von Walberberg, auf und mein Großvater gehörte zu den Abonnenten.<br />
Den Namen Eberhard Welty habe ich damals nicht zum ersten Mal gehört, denn<br />
140
mein Großvater, früherer Provinzial-Landtagsabgeordneter des Zentrum, davor<br />
eine zeitlang Assistent bei Adam Stegerwald in Berlin, gehörte zu den Männern,<br />
die in den Monaten vor und nach Kriegsende immer wieder nach Walberberg<br />
kamen, um dort mit dem Provinzial und Eberhard Welty über die Neuordnung zu<br />
diskutieren.<br />
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einige Bemerkungen zur Rolle der politischen<br />
Zeitschrift in unserer Medienlandschaft anzubieten, einige kurze Blicke<br />
auf die Wettbewerbssituation der politischen Zeitschriften damals zu werfen und<br />
abschließend den Versuch einer Würdigung der Neuen Ordnung zu wagen.<br />
I. Zur Entwicklung der Massenmedien<br />
Die deutschen Medien haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen sehr dramatischen<br />
Veränderungsprozeß hinter sich bringen müssen. Der Entmonopolisierung<br />
der elektronischen Medien folgte die Digitalisierung der gedruckten Presse und<br />
die Internet-Revolution. Alle Veränderungen bewirkten nicht nur eine Beschleunigung<br />
der journalistischen Arbeit und einen Abbau von internen Qualitätskontrollen,<br />
sondern auch eine ungeheure Steigerung des Wettbewerbsdrucks der<br />
Medien untereinander und ein wachsender Druck auf die Politik.<br />
Medien nehmen – so erscheint es aus der Perspektive der Politik – die Politik zur<br />
Beute, personalisieren politische Sachthemen, setzen sie unter Visualisierungszwang<br />
und unterwerfen alles dem Diktat der Unterhaltung. Dies gilt natürlich<br />
vor allem für das heute einflußreichste Medium, für das Fernsehen. Unter den<br />
Marktbedingungen moderner Massenkommunikation entsteht so „das große<br />
Palaver“, das eher von Verlautbarungen als durch einen Austausch von Argumenten,<br />
eher durch Polemik als durch Diskurs bestimmt ist. Von dem Habermas’schen<br />
Ideal der Medien als Forum des Diskurses freier Bürger, allein dem<br />
Gebot politischer Vernünftigkeit verpflichtet, scheint sich unser allgemeiner<br />
Medienzustand weit entfernt zu haben. Wir erleben täglich eine lärmende Geräuschentwicklung<br />
der Medien, die kleine und große Themen mit der ihnen eigenen<br />
Flüchtigkeit behandeln, in der Regel kontrovers, oft genug schrill, üblicherweise<br />
ohne Nachhaltigkeit, auch im Blick auf Skandale, vermeintliche oder<br />
tatsächliche.<br />
Dies erinnert an die beiläufige Bemerkung des französis chen Amerika-<br />
Beobachters Alexis de Tocqueville, der vor 130 Jahren notierte: „Ich gestehe, für<br />
die Pressefreiheit keineswegs die uneingeschränkte und unwillkürliche Liebe zu<br />
empfinden, die man für Dinge hegt, die unbestreitbar gut sind. Ich schätze sie<br />
weit mehr in Erwägung der Übel, die sie verhindert als wegen des Guten, das sie<br />
leistet.“ 5 Mit Übel meinte er vor allem Konformismus, Konsonanz und Kumulation<br />
der Medieninhalte, die die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts zur Perfektion<br />
entwickelt haben.<br />
Das ist unser Problem nicht. Die Medien fungieren heute zweifelsfrei nicht mehr<br />
als Mägde der Politik. Sie haben sich von staatlicher Bevormundung so gründlich<br />
emanzipiert und sind mittlerweile selbst zu einem so bedeutsamen Faktor<br />
der Politik geworden, daß immer mehr Kommunikationswissenschaftler und<br />
141
Politikwissenschaftler von den Medien als „Vierte Gewalt“ 6 oder von der „Mediodemokratie“<br />
7 sprechen.<br />
Medien favorisieren Aktualität. Nachrichten definieren sich durch ihren Neuigkeitswert.<br />
Im Konkurrenzkampf der Medien steigert sich die Jagd nach Neuem.<br />
Und oft wird, wenn Neues nicht zu melden ist, bereits Bekanntem ein neues<br />
Kleid übergezogen, indem ein weiterer Politiker dazu Stellung nimmt und eine<br />
neue Nuancierung findet. So kommt es auf der politischen Agenda zu hektischen<br />
Themenkonjunkturen und in der politischen Praxis zu einer drastischen Ve r-<br />
schärfung des Tempos – angetrieben von Wahlterminen. Der Planungs- und<br />
Deliberationshorizont von Politik verkürzt sich dramatisch, Politik droht sich<br />
immer stärker in Rhetorik zu erschöpfen, der Wettbewerb von Politikern und<br />
Parteien gerät in das semantische Umfeld von Querelen und Wadenbeißerei. 8<br />
Die Organisation des „Gesprächs der Gesellschaft mit sich selbst“ haben in<br />
Deutschland 70 öffentlich-rechtliche und private, in - und ausländische Fernsehprogramme<br />
übernommen, 150 öffentlich-rechtliche Hörfunk-Programme, 381<br />
Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 27 Mill. Exemplaren, 27 Wochenzeitungen<br />
mit einer Gesamtauflage von 2,0 Mill. Hinzu kommen 828 Publikumszeitschriften<br />
mit einer Gesamtauflage von 125 Mill. und 1084 Fachzeitschriften<br />
unterschiedlichster Art mit einer Gesamtauflage von 16.7 Mill. Medien<br />
werden unterschiedlich genutzt. Der durchschnittliche Fernsehkonsum ist in den<br />
letzten 30 Jahren von 113 auf 185 Minuten gewachsen, gleichzeitig ist die Dauer<br />
der durchschnittlichen Zeitungslektüre von 35 auf 29 Minuten gesunken. 9<br />
Für den öffentlichen Diskurs über Politik eignen sich die Medien in unterschiedlicher<br />
Weise. Fernsehen und Hörfunk sind in erster Linie Unterhaltungsmedien,<br />
denen sich der Konsument passiv aussetzt. Dies bedeutet keineswegs ihre politische<br />
Irrelevanz, aber ihre frühere, das heißt vor der Programmexplosion nach<br />
Einführung privater Rundfunkveranstalter ab 1984 prägende Bedeutung für die<br />
politische Meinungsbildung ist abgesenkt worden, ihre politische Thematisierungskraft<br />
geschwächt. Dem gegenüber erfordert die Auseinandersetzung mit<br />
dem gedruckten Wort in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern eine aktive Rolle<br />
des Rezipienten. Fernsehen ist ein emotionales Medium, das von den Bildern<br />
lebt, die Texte haben nachgeordnete Bedeutung und verblassen schnell im Gedächtnis<br />
des Rezipienten. Zeitungen hingegen, das gilt vor allem für Wochenzeitungen<br />
als Zweitzeitungen, liefern vertiefende und nachhaltige Informationen<br />
und Argumentationen und setzen auf rationale Kommunikation über komplexe<br />
Sachverhalte. Wer sich am politischen Diskurs beteiligen will, kann die Printmedien<br />
nicht außer acht lassen.<br />
II. Politische Zeitschriften für Multiplikatoren<br />
Für die politische Zeitschrift gilt dies in ganz besonderer Weise. Ihre Gesamtzahl<br />
ist begrenzt, das gleiche gilt für ihre Gesamtauflage, die 100.000 Exemplare<br />
nicht überschreitet. Aber für die vertiefte Information, für eine möglichst rationale<br />
Auseinandersetzung über Politik sind sie unverzichtbar. Denn sie bieten Texte<br />
zum politischen Diskurs an, die deutlich ausführlicher sind als die Kommentare<br />
142
der aktuellen Presse, dabei kürzer als Monographien. Die politischen Zeitschriften<br />
sind das Medium der hochkarätigen Multiplikatoren. Ihr Publikum ist jener<br />
winzige Anteil der Bevölkerung, der sich für Politik interessiert und für Politik<br />
engagiert. Quantitativ ist ihr Einfluß nicht zu messen, qualitativ nicht zu überschätzen.<br />
Heinrich Scholler rechnet deshalb die politische Zeitschrift zur „elitären Presse“.<br />
Deutlicher und intensiver als andere Medien richten sich ihre Argumente jenseits<br />
der Tagesaktualität auf Entwicklungen und Zusammenhänge. Es sind die politischen<br />
Zeitschriften, die die wichtige publizistische Funktion erfüllen, den Ansturm<br />
der Informationsflut dadurch zu bewältigen, in dem sie das Belangvolle<br />
vom Belanglosen unterscheiden. Das wichtigste Format der politischen Zeitschrift<br />
ist deshalb der Essay. Im Vergleich zum kürzeren Zeitungsartikel und zur<br />
umfangreichen Monographie bietet der Essay die Chance, einen Gegenstand auf<br />
einigen Druckseiten ohne systematische Gliederung argumentativ und assoziativ<br />
auszuleuchten. Er leistet dies idealerweise in einem Sprachstil, der vom Jargon<br />
ebenso weit entfernt ist wie von der wissenschaftlichen Fachsprache.<br />
Politische Zeitschriften haben in Deutschland eine lange und reiche Tradition.<br />
Schon 1665 wurde in Paris das „Journal de Savants “ gegründet, die damit den<br />
Anspruch erheben kann, erste Zeitschrift der Welt zu sein. Übrigens erreichte<br />
dieses Journal ein sehr hohes Alter. Die bisher letzte Ausgabe – nach einer Phase<br />
unregelmäßigen Erscheinens – wurde im Mai 2000 veröffentlicht und enthielt<br />
ein Editorial von Bernhard Henri Levy gegen die in Frankreich sich ausbreitenden<br />
antiamerikanischen Ressentiments.<br />
Angeregt durch dieses Pariser Vorbild entstand in Deutschland in den letzten<br />
drei Jahrhunderten eine reichhaltige und sich immer wieder verändernde Zeitschriftenlandschaft,<br />
deren Studium noch aufschlußreicher als das der Tagespresse<br />
Aufschluß über die Leitgedanken, zentralen Fragestellungen und geistigen<br />
Profile einer Epoche geben kann.<br />
Für die Geschichte der politischen Zeitschriften Deutschlands hatten Wilmont<br />
Haacke und Günter Pötter ihre Standardwerke vorgelegt. In ihnen wird der<br />
Stand der Zeitschriftenforschung rekapituliert und systematisiert und definitorisch<br />
aufgearbeitet, die Geschichte der politischen Zeitschriften anhand von<br />
zahlreichen Beispielen erörtert, die führenden Kommunikatoren der letzten dreihundert<br />
Jahre biographisch vorgestellt. Das Werk bietet eine zuverlässige, mittlerweile<br />
aktualisierungsbedürftige Grundlage für jede Beschäftigung mit dem<br />
Medium „Politische Zeitschrift“, ohne das ein rationaler Diskurs über Politik<br />
nicht gedacht werden kann.<br />
Die unmittelbare Nachkriegszeit ist die Gründungsphase und Hoch-Zeit der<br />
politischen Monatszeitschrift. Der nationalsozialistische Totalitarismus, der von<br />
ihm entfesselte Weltkrieg und die totale Niederlage Deutschlands haben bei den<br />
Überlebenden im zerstörten Deutschland einen ungeheuren Neuorientierungsbedarf<br />
entstehen lassen, den die lizenzierte Presse nicht zu erfüllen vermochte.<br />
Vertiefte Informationen und ausführlichere Deliberation waren gefragt. Sie wurden<br />
von den Monatszeitschriften geleistet.<br />
143
Wie Pilze auf einem nassen Waldboden schossen Zeitschriftenneugründungen<br />
aus der Erde. Die Rekordauflagenhöhen zeigten den Wissensdurst der Bevölkerung.<br />
Noch 1945 erscheint die erste Ausgabe der Monatszeitschrift „Wandlung“,<br />
dessen Herausgeber Dolf Sternberger war. Als Redakteure waren angegeben:<br />
Karl Jaspers, Marie Luise Kaschnitz und Alfred Weber. Sie erreichte eine Auflagenhöhe<br />
von bald 35.000, die nach der Währungsreform auf 14.000 zusammenschmolz.<br />
Das letzte Heft erschien im April 1949.<br />
1947 gründete Hans Paeschke die Monatszeitschrift „Merkur“ in Baden-Baden<br />
mit Unterstützung der französischen Besatzungsbehörden. Die Auflage schwankte<br />
um die 30.000 Exemplare, abhängig von der jeweiligen Papierzuteilung. Sie<br />
war dem europäischen Denken verpflichtet. Nach der Währungsreform sank die<br />
Auflage auf 4-6.000 Exemplare und hat sich bis heute auf dieser Größenordnung<br />
gehalten. Zu ihren Autoren zählten Gottfried Benn, Thomas Mann, Theodor<br />
Adorno, Martin Heidegger, André Gide, T.S. Eliot, Hannah Arendt, Margret<br />
Bovary und Ernst Jünger. Hans Schwab Felisch übernahm in den 70er Jahren die<br />
Herausgeberschaft, gefolgt von Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel, die heute<br />
dafür sorgen, daß der „Merkur“ die Balance hält zwischen einem anspruchsvollen<br />
politischen und kulturellen Essayismus.<br />
In Ostberlin gab Alfred Kantorowicz 1947 die Zeitschrift „Ost und West“ heraus;<br />
sie trug den Untertitel „Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit“.<br />
Kantorowicz gelang es , prominente Autoren aus Ost und West zu gewinnen wie<br />
Wolf Weyrauch, Heinrich Mann, Theodor Dreiser, Virginia Woolf und Boris<br />
Pasternak . Er erreichte die stolze Auflage von 100.000 Exemplaren. Nach der<br />
Währungsreform schmolz die Auflage auf 7.500 Exemplare. Die letzte Ausgabe<br />
erschien im Februar 1949.<br />
In Westberlin startete 1948 der „Monat“, zunächst mit amerikanischen Geldern<br />
finanziert. Als Herausgeber und Chefredakteur fungierte Melvin J. Lasky, er war<br />
Anfang der 40er Jahre Literaturredakteur von „The New Leader“ (New York)<br />
und später 1944-1945 US-Kriegsberichterstatter in Deutschland. Zur Redaktion<br />
gehörte von Anfang an Hellmut Jaesrich, Literat und brillanter Übersetzer. 1960<br />
trat an Laskys Stelle der Schweizer Publizist Fritz René Allemann, der später von<br />
dem Lyriker Peter Härtling abgelöst wurde. Letzter Herausgeber war Klaus<br />
Harpprecht. Aufgrund von Geldmangel wurde die Zeitschrift 1971 eingestellt.<br />
Eine Wiederbelebung des Titels als Vierteljahresschrift mißlang 1978. An die<br />
frühere Resonanz vermochte der neue „Monat“ nicht anzuknüpfen.<br />
1954 erschien in Bielefeld die „Neue Gesellschaft“. Sie verstand sich „als theoretisches<br />
Organ der SPD“ und wurde zunächst von Willi Eichler, Erich Potthoff,<br />
Fritz Bauer und Otto Stammer herausgegeben. Später traten Otto Brenner, Fritz<br />
Erler, Waldemar von Knoeringen und Carlo Schmid dem Herausgeberkreis bei.<br />
Seit 1972 wird die Zeitschrift „für die Friedrich-Ebert-Stiftung“ herausgegeben.<br />
Chefredakteure waren Leo Bauer, Ulrich Lohmar, Herbert Wehner und Peter<br />
Glotz, der Mitte der 80er Jahre eine Fusion mit den vom Aus bedrohten „Frankfurter<br />
Heften“ zustande brachte. Heute wird die Monatszeitschrift herausgegeben<br />
von Holger Börner, Klaus Harpprecht und Hans-Jochen Vogel. Langjähriger<br />
Chefredakteur war der im letzten Jahr verstorbene Erfurter Universitäts-<br />
144
Gründungsrektor Peter Glotz, sein Nachfolger wurde Thomas Meyer, verantwortlicher<br />
Redakteur ist Norbert Seitz.<br />
1956 erschien das erste Heft der „Politischen Meinung“. Am Schluß fand sich<br />
der Hinweis, die neue Zeitschrift wolle „alle brennenden Probleme der Zeit ansprechen<br />
und sie über die Polemik und schneller Beantwortung des Tages hinaus<br />
zu grundsätzlicher Analyse und Stellungnahme heben“. Politisch denken heißt<br />
Stellung nehmen, heißt einen Standpunkt haben. Das Impressum des ersten Heftes<br />
zeigte keine Gründer, keine Herausgeber an, nur Karl Willy Beer (1909-1979)<br />
als verantwortlichen Redakteur.<br />
Durch das hundertste Heft erfuhren die Leser, daß Otto Lenz und Erich Peter<br />
Neumann die Gründung der neuen Zeitschrift betrieben hatten und sich die Unterstützung<br />
Konrad Adenauers versichern konnten.<br />
Nachdem Herausgeber Erich Peter Neumann 1967 starb, übernahm die Konrad-<br />
Adenauer-Stiftung die Finanzierung der Zeitschrift und ihr geschäftsführender<br />
Vorsitzender Bruno Heck übernahm die Herausgeberschaft. Nach dessen Tod<br />
1989 folgte ihm sein Nachfolger als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung,<br />
Bernhard Vogel.<br />
Von Karl Willy Beer übernahmen 1979 Ludolf Herrmann und nach dessen Tod<br />
Peter Hopen 1986 die Chefredaktion der Zeitschrift. Seit 1998 redigiere ich<br />
diese Zeitschrift. Es hat erheblicher Anstrengungen bedurft, damit die „Politische<br />
Meinung“ in den letzten Jahren nicht nur ihre Leserschaft hat verjüngen können,<br />
vor allem Studierende greifen immer häufiger nach Recherchen im Internet auf<br />
„Die Politische Meinung“ zurück. Mit 5.500 Exemplaren erreicht „Die Politische<br />
Meinung“ als einflußreiches Forum bürgerlicher Politik rund 20.000 Multiplikatoren,<br />
die sich am öffentlichen Gespräch über Politik und Kultur in Deutschland<br />
beteiligen.<br />
III. „Die Neue Ordnung“ als sozialethisches Forum<br />
Wer 60 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges auf die Zeitschriften-<br />
Landschaft in Deutschland blickt, dem fällt als erstes auf, daß „Die Neue Ordnung“<br />
mit dem Gründungsjahr 1946 mittlerweile die älteste politische Zeitschrift<br />
von Rang ist. Die im gleichen Jahr gegründeten „Frankfurter Hefte“ sind mittlerweile<br />
in der „Neuen Gesellschaft“ aufgegangen. Ihr Gründer Walter Dirks<br />
gehörte übrigens zu den Autoren der „Neuen Ordnung“. Weiter besticht die<br />
bemerkenswerte personelle Kontinuität der „Neuen Ordnung“. Nur vier Chefredakteure<br />
in 60 Jahren, das ist schon eine besondere Leistung, die der Verbindung<br />
dieser Zeitschrift mit dem Dominikaner-Orden und dem Prinzip der Selbstverantwortung<br />
geschuldet ist. Die Redaktionsarbeit wird nebenamtlich geschultert,<br />
hauptamtliche Mitarbeiter gab es und gibt es nicht. Eberhard Welty redigierte<br />
die Zeitschrift 19 Jahre, Edgar Nawroth trug 18 Jahre die redaktionelle Ve r-<br />
antwortung, Basilius Streithofen leitete sie neun Jahre lang und Wolfgang Ockenfels<br />
dirigiert sie seit 14 Jahren durch die Stürme der Zeiten, die für das Lebenslicht<br />
gerade von politischen Zeitschriften so gefährlich sind.<br />
145
Die Neue Ordnung hat es in den vergangenen sechs Jahrzehnten geschafft, zum<br />
Diskussionsforum der Katholischen Soziallehre zu werden, das in einer immer<br />
verständlichen Sprache die jeweils aktuellen Probleme der Sozialethik aufbereitet<br />
und Lösungsvorschläge postuliert. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten,<br />
die Leistung einer Zeitschrift über Jahrzehnte zu würdigen. Man kann eine Inhaltsanalyse<br />
machen, man kann auch anekdotisch an diese Aufgabe herangehen,<br />
man kann herausragende Aufsätze und ihre Öffentlichkeitswirksamkeit untersuchen.<br />
All das erfordert Zeit, viel mehr als mir jetzt zur Verfügung steht. Deshalb<br />
benutze ich eine andere Methode der Qualitätsevaluierung, nämlich die der Präsentation<br />
der über das jeweilige Fachgebiet hinausgehenden Prominenz ihrer<br />
Autoren.<br />
Das Autorenverzeichnis der letzten 60 Jahre weist die crème de la crème der<br />
Katholischen Sozialethiker aus: Johannes Messner, Oswald von Nell-Breuning<br />
SJ, Edgar Nawroth OP, Wolfgang Ockenfels OP, Anton Rauscher SJ, Basilius<br />
Streithofen OP, Manfred Spieker, Arthur Fridolin Utz OP, Eberhard Welty OP.<br />
Auch wenn die Zeitschrift immer wieder auf aussagestarke Autoren wie Willehard<br />
Paul Eckert, Paulus Engelhardt, Ambrosius Esser aus dem Orden zurückgreifen<br />
konnte, so hat sie sich nie als Zeitschrift der Dominikaner verstanden.<br />
Für Autoren anderer Orden und für Weltgeistliche und Bischöfe und Kardinäle<br />
wie Josef Homeyer, Julius Kardinal Döpfner, Josef Kardinal Höffner und Leo<br />
Kardinal Scheffczyk oder Prälat Bernard Hanssler war sie ebenso offen für evangelische<br />
Autoren wie Erwin Wilkens.<br />
Diese Offenheit zeigt sich auch bei den Politikern, die von der Neuen Ordnung<br />
zur Mitarbeit in den vergangenen 60 Jahren eingeladen wurden. Natürlich dominieren<br />
Wirtschaft- und Sozialpolitiker wie Norbert Blüm, Hans Katzer, Dieter<br />
Julius Cronenberg, Fritz Hellwig, Thomas Ruff, Hermann-Josef Russe, Josef<br />
Stingl, Hans Tietmeyer. Aber auch Christoph Böhr, Bruno Heck, Helmut Kohl,<br />
Norbert Lammert, Rupert Scholz, Edmund Stoiber, Erwin Teufel und viele andere<br />
haben für „Die Neue Ordnung“ zur Feder gegriffen. Daß die Zeitschrift auch<br />
den Dialog mit den Sozialdemokraten gesucht hat, zeigen Beiträge von Peter<br />
Glotz, Georg Leber und Hans Jochen Vogel. Die gleiche Offenheit leitete die<br />
Einladungen an Publizisten. Konrad Adam gehört ebenso zu den Autoren der<br />
Neuen Ordnung wie Reinhard Appel, Franz Barsig, Anton Böhm, Hermann Boventer,<br />
Peter Coulmas, Dettmar Cramer, Friedrich Karl Fromme, Fides Krause-<br />
Brewer, Herbert Kremp, Alois Schardt oder Dieter Stolte.<br />
Besonders beeindruckend ist die lange Liste hochkarätiger Wissenschaftler,<br />
jenseits der Sozialethik, die in den vergangenen 60 Jahren für „Die Neue Ordnung“<br />
schrieben. Dazu gehören Staatsrechts lehrer wie Josef Isensee, Franz<br />
Klein, Otto Kimminich, Martin Kriele, Paul Mikat, Carl Schmitt (der aus Plettenberg),<br />
Herbert Schambeck und Bernd Rüthers; Soziologen wie Meinolf Dierkes,<br />
Franz Xaver Kaufmann, Erwin Scheuch, Ökonomen wie Fritz Burgbacher,<br />
André Habisch Philipp Herder-Dorneich, Meinhard Miegel, Bruno Molitor,<br />
Wilfried Schreiber, Christian Watrin. Philosophen wie Hanna-Barbara Gerl,<br />
Norbert Hinske, Walter Warnach, Historiker und Politikwissenschaftler wie Karl<br />
Buchheim, Paul Kevenhörster, Nikolaus Lobkowicz, Wolfgang Mantl, Hans<br />
146
Maier, Anton Pelinka, Peter Steinbach, Bernhard Sutor, Paul Weihnacht und<br />
Manfred Wilke, Kommunikationswissenschaftler wie Hans Braun, Otto B. Roegele,<br />
Ulrich Saxer, Hans Wagner. Das alles sind Namen, die weit über ihren<br />
Wirkungsbereich hinaus Gewicht in der Öffentlichkeit haben. Jede politische<br />
Zeitschrift lebt von der Qualität ihrer Beiträge und dem Gewicht ihrer Autoren.<br />
„Die Neue Ordnung“ hat von den ersten 60 Jahren ihres Erscheinens eine überaus<br />
glückliche Hand bei der Auswahl der Themen und Autoren bewiesen, weil<br />
sie nie ideologisch, sondern immer offen für andere Ansichten war. Dazu kann<br />
ich die Redaktion nur herzlich beglückwünschen und ihr die gleiche Geschicklichkeit<br />
auch für die kommenden 60 Jahre wünschen.<br />
Anmerkungen<br />
*Vortrag vom 10. Februar 2006 anläßlich der Feier zum 60. Jahrestag der Gründung der<br />
Zeitschrift Die Neue Ordnung im Hotel Königshof, Bonn.<br />
1) Neue Ordnung, Heft 1, 1946/47, 1. Jahrgang, S. 3.<br />
2) a. a. O. S. 6.<br />
3) a. a. O. S. 7.<br />
4) Neidhardt, F. (2002). Das Große Palaver, in: Tagesspiegel 3.9.p.19.<br />
5) de Tocqueville, A. (1956). Die Demokratie in Amerika. Frankfurt a.M. p. 204 f.<br />
6) Bergsdorf, W. (1982). Die Vierte Gewalt, Einführung in die politische Massenkommunikation,<br />
Mainz.<br />
7) Meyer, T. (2001) Mediokratie, Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt<br />
a. M.<br />
8) Neidhardt, a. o. O.<br />
9) Mediaperspektiven, P. (ed.) (2003), Basisdaten zu Mediensituation in Deutschland<br />
2003, Frankfurt a. M., p. 41.<br />
10) Haake, Wilmont - Pötter, Günter, Die politische Zeitschrift I, 1965-1960, Stuttgart<br />
1968, sowie diess., Die politische Zeitschrift II, 1900-1980, Stuttgart 1982.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf, Ministerialdirektor a. D., ist Präsident der Universität<br />
Erfurt und Chefredakteur der „Politischen Meinung“.<br />
147
Jürgen Liminski<br />
Glaube aus Stein<br />
Juden und Muslime im Heiligen Land<br />
Um 1750 lebte in Toulouse ein wohlhabender Kaufmann mit Namen Jean Calas.<br />
Seine Vorfahren waren Juden, er selbst Protestant. Unter der anonymen Anklage,<br />
einen seiner Söhne erdolcht zu haben, weil dieser zum Katholizismus konvertieren<br />
wollte, wurde Calas ein rascher Prozeß gemacht. Aber nur eine Minderheit<br />
johlte, als er vor das Schafott gezerrt wurde. Die meisten ahnten schon, daß der<br />
Sohn tatsächlich Selbstmord begangen und keineswegs die Absicht gehabt hatte<br />
zu konvertieren.<br />
Das Ereignis wurde zum Anlaß einer Schrift. 1763 schrieb Voltaire sein „Tra ktat<br />
über die Toleranz“. Der französische Denker verabscheute religiöses Engagement.<br />
Seine Vorstellung von Toleranz deckt sich inhaltlich weitgehend mit<br />
Gleichgültigkeit und ist insofern recht modern. Ihr entspricht auch die Gleichsetzung<br />
von Intoleranz und Fanatismus. Aufklärung und Rationalismus trugen diese<br />
Sicht religiösen Fühlens und Denkens bis in unsere Tage hinein. Die heutige<br />
Gleichgültigkeit gegenüber der Religion hat hier tiefe Wurzeln. Das Unverständnis<br />
gegenüber religiösen Gefühlen ebenfalls. Zwar ist man vom Kult der Vernunft<br />
eines Robespierre wieder abgerückt. Dafür betet man das goldene Kalb<br />
Karriere an und leidet für „das höchste Gut Gesundheit“, vor allem in Fitness-<br />
Centern. Das mit der Gleichgültigkeit einhergehende Unverständnis gegenüber<br />
der lebensspendenden und lebensformenden Kraft des Glaubens aber ist dem<br />
modernen Abendland zu eigen geblieben. Mehr noch: Es hat die Kluft zum Orient<br />
vertieft. In diesem von Religiosität durchdrungenen und erfüllten Raum hätte<br />
Voltaire keine Chance gehabt. Seine Spötteleien über betende Menschen wären<br />
versandet.<br />
Jerusalem und das Heilige Land liegen im Orient. Der jüdis ch-christliche Kulturkreis,<br />
der Westen, hat zum genius loci seines Ursprungsortes jedoch nur<br />
schmale Brücken erhalten. Die Verbindungen zu Jerusalem sind trotz aller Beteuerungen<br />
der Politiker vorwiegend geistiger Natur, von der besonderen Beziehung<br />
der Deutschen zu den Juden einmal abgesehen. Jerusalem, die Stadt Gottes,<br />
Oase des Friedens und des Gebetes, Stätte der Begegnung – so sah es Papst Paul<br />
VI. bei seinem Besuch auf dem Berg Zion im Jahre 1964. „Freue Dich Zion, du<br />
heilige, du Mutter der Kirchen, du Wohnstätte Gottes. Du hast als erste empfangen<br />
Ve rgebung der Sünden durch die Auferstehung“. So lautet die Inschrift über<br />
dem Bogen des griechisch-orthodoxen Altarraumes in der Grabeskirche. Jerusalem<br />
ist für die Christen vor allem das himmlische, das geistige Jerusalem und als<br />
solches Urbild der Kirche.<br />
Der Altarraum liegt gegenüber dem Kouvouklion, so heißt das Kapellchen, das<br />
das heilige Grab umschließt. Sechs verschiedene Bekenntnisse feiern hier sechs<br />
148
verschiedene Liturgien – eine tägliche Demonstration dafür, daß in Jerusalem<br />
niemand und keine Religion einen Monopolanspruch erheben kann.<br />
Das Verhältnis der anderen beiden monotheistischen Religionen zu Jerusalem ist<br />
entsprechend ihrem Staats- und Weltverständnis grundlegend von dem christlichen<br />
verschieden. Für die Christen sind nicht die historischen Tatsachen – Geburt,<br />
Leben und Tod Christi – , nicht die heilige Stadt oder das heilige Land<br />
schon der Mittelpunkt, sondern Christus selbst. Historische Tatsachen sind nur<br />
Beiwerk, nur Grundfolie zur Stiftung des Glaubens in den Herzen der Gläubigen.<br />
Im Islam dagegen haben religiöse Überzeugungen historische Fakten geschaffen,<br />
entsprechend der gewollten Identifikation zwischen Glaube und Staat (din wa<br />
daula). Das weltweite Kalifat, der universale Gottesstaat ist das Ideal des Islam.<br />
Der Felsen als Zentrum der Welt<br />
Die meisten Islamkenner sind der Ansicht, daß Mohammed nie in Jerusalem war.<br />
Jerusalem wird im Koran auch nicht genannt, in den jüdischen Schriften dagegen<br />
634 mal. Dennoch ist eine Stelle im Koran (Sure 17,9) für das Verhältnis der<br />
Muslime zu Jerusalem entscheidend: „Preis sei Allah, der seinen Diener bei<br />
Nacht von der Heiligen Moschee zur Entfernten Moschee brachte, deren Vorhöfe<br />
gesegnet seien“. Schon seit der Frühzeit des Islam gilt die Interpretation, wonach<br />
Mohammed in einer Nacht auf wunderbare Weise von Mekka nach Jerusalem<br />
kam, dort von einem Felsen in den Himmel aufstieg und in derselben Nacht<br />
wieder nach Mekka zurückkehrte. Der Glaube an diese nächtliche Reise (isra´)<br />
und der Aufstieg ist seit Jahrhunderten eine Quelle muslimischer Dogmatik,<br />
Frö mmigkeit und Andacht.<br />
Jerusalem hat natürlich nie die Bedeutung Mekkas oder auch nur Medinas erlangen<br />
können. Seine Aufwertung durch den Bau der Al-Aksa-Moschee (die Entfernte<br />
Moschee) gegen Ende des siebten Jahrhunderts, war auf pragmatische<br />
Erwägungen der Omajaden-Politik zurückzuführen. Der Kalif Malik ibn Marwan<br />
wollte damit den Einfluß des rebellischen Gegenkalifen Subair in Mekka neutralisieren.<br />
Die Instrumentalisierung der Religion für politische Ziele ist mit den<br />
Jahrhunderten zum Dogma mutiert. Jerusalems religiöse Bedeutung wuchs immer<br />
besonders in Zeiten politischer Konfrontation. Der Streit um den jahrtausendealten<br />
Tunnel am Tempelberg lieferte vor ein paar Jahren noch ein anschauliches<br />
Beispiel. In der Urzeit des Islam, noch vor der Eroberung im Jahre 638, soll<br />
die Ge betsrichtung (qibla) der Muslime nach Jerusalem orientiert gewesen sein,<br />
angeblich um die ebenfalls monotheistischen Juden zur Bekehrung zu bewegen.<br />
Die Weigerung der Juden, Mohammed als Prophet und Höhepunkt der prophetischen<br />
Tradition anzuerkennen, empfanden die Muslime als Verrat. Jerusalem<br />
wurde ein umso begehrteres Missionsziel – bis heute. Der Felsendom, die Omar-<br />
Moschee steht auf dem Platz des alten jüdischen Tempels, gleichsam als islamische<br />
Überwölbung des ehemaligen Sanktuariums. Und der Verdacht liegt nahe,<br />
daß die isra´ die jüdische Überlieferung überdecken soll, wonach auf dem Felsen,<br />
von dem Mohammed aufstieg, Abraham einst seinen Sohn Isaak Gott opfern<br />
wollte. Der Felsen, der der Moschee den Namen gab, galt im Mittelalter als<br />
149
Zentrum der Welt. Wie ein Pol zog er die Geister an, die Welt und Religion nicht<br />
zu trennen vermochten. Sei es unter der der Fahne des Kreuzes oder des Propheten.<br />
Noch heute ist in arabischen Schulbüchern nichts über die Bedeutung Jerusalems<br />
und der Stätten dort für die Juden zu lesen. Andererseits ist der Koran den Juden<br />
so unbekannt wie die Thora den Arabern. Israel und Ismael, die Söhne Abrahams,<br />
wissen nur wenig voneinander. Mangelnde Bildung behindert bekanntlich<br />
differenziertes Denken und fördert die Neigung zu Pauschalurteilen. Sie ist,<br />
gepaart mit einem hitzigen Temperament, wie man es im Nahen Osten oft antrifft,<br />
ein denkbar guter Nährboden für Demagogie. Hinzu kommt, daß das islamische<br />
Denken grosso modo abgeschlossen ist, zumindest bei den radikalreligiösen<br />
Muslimen.<br />
Der französische Orientalist Ernest Renan sprach in diesem Zusammenhang gern<br />
von dem „eisernen Ring“ um den Geist des islamischen Menschen. Mit diesem<br />
Bild umschrieb er die verschlossene Radikalität vor alle m des arabischen Gläubigen.<br />
Die Entwicklungen in Nahost zeigen indes, daß auch der eiserne Ring um<br />
den Geist der radikalen Juden rostfrei ist. Die Psychologie der Massen spielt in<br />
Nahost, wo Staat und Religion kaum voneinander zu trennen sind, eben eine<br />
aktive Rolle in der Politik. Das mag gerade deutschen Beobachtern unheimlich<br />
sein. Aber westliche Maßstäbe von Demokratie und Konsens- und Kompromißsuche<br />
sind hier jedenfalls fehl am Platz.<br />
Nur, wie kann eine Kompromißformel unter Radikalen aussehen? Auch hier<br />
wäre es zu kurz gegriffen, wollte man alle Gegner eines Kompromisses in einen<br />
Topf werfen und - mit dem westlichen Deckelchen des Begriffs jüdischer oder<br />
islamischer Fanatismus versehen - kopfschüttelnd beiseite schieben. Israel ist für<br />
die Juden mehr als ein Staat. Im Judentum verdichtet sich, wie der deutsche<br />
Dichter und Emigrant Karl Wolfskehl schrieb, die Metaphysik in ein Stück Land.<br />
Das Judentum sei „ganz Historie und ganz Metaphysik“. Und der amerikanische<br />
Orientalist Krister Stendhal hält fest: „Für Christen und Muslime ist der Begriff<br />
‚heilige Stätte’ ein adäquater Ausdruck. In Jerusalem gibt es heilige Stätten,<br />
geweiht durch die heiligsten Ereignisse, hier gibt es Pilgerstätten, die den Anziehungspunkt<br />
für tiefste Frömmigkeit darstellen. Die dem Judentum heiligen Stätten<br />
aber haben keine Schreine. Seine Religion ist auch nicht an Stätten, sondern<br />
an das Land gebunden, nicht daran, was in Jerusalem geschah, sondern an Jerusalem<br />
selbst.“<br />
Dieses Land, diese Stadt ist materialisierte Identität, die Steine sind jüdisch, die<br />
Früchte des Bodens in Judäa und Samaria (der sogenannten Wes tbank) atmen<br />
den Hauch Abrahams. Und seit König David ist Jerusalem der Eckpfeiler der<br />
religiösen, kultischen und nationalen Einigung des jüdischen Volkes. Jerusalem<br />
war immer nur die Hauptstadt der Juden, nie eines anderen Volkes. In keiner<br />
anderen der großen Religionen ist das Land und eine Stadt so mit der Identitätsgeschichte<br />
des Volkes verschmolzen, es ist der Kern ihrer Existenz. Deshalb ist<br />
für viele Siedler und Religiöse in Israel das Leben nur sekundär, was zählt ist<br />
Eretz Israel, das Land der Väter.<br />
150
Das ist bei den säkularisierten Juden anders. Für sie ist das Land sekundär, zuerst<br />
kommt der Friede jetzt, nicht die Metaphysik von immer, nicht die Geschichte<br />
von gestern. Deshalb waren und sind sie auch bereit, Land für Frieden zu geben.<br />
Für ihre Haltung trifft zu, was Uri Avneri mit beißender Ironie sagte: „Die<br />
Mehrheit der Bevölkerung in Israel glaubt nicht an Gott, aber alle Israelis glauben,<br />
daß Gott ihnen dieses Land gegeben hat.“<br />
Die Renaissance des Islam hat auch in Israel zu einer Renaissance des religiösen<br />
Bewußtseins geführt. Sie berührt Herz und Verstand gleichermaßen, sie rührt an<br />
das existentielle Empfinden der Israelis, sie macht die religiösen Juden anfällig<br />
für Worte und Leidenschaften, für die Dynamik, Wirbel und Strudel existentiellen<br />
Denkens, das zum Handeln drängt. So werden sie den muslimischen Monotheisten,<br />
den Nachkommen Ismaels ähnlich.<br />
Jerusalem steht zwischen den Leidenschaften der Kinder Abrahams auf beiden<br />
Seiten. Den Stein der Weisen hat gewiß niemand. Aber der israelische Premier<br />
hätte es in der Hand, die erhitzten Gemüter zu beruhigen, wenn er den Mut aufbrächte,<br />
auch mal auf die gemeinsamen Wurzeln hinzuweisen und – ähnlich wie<br />
es am Beginn des Friedensprozesses vor dreißig Jahren Begin und Sadat taten –<br />
mit diesem geschichtlichen Rückgriff das religiöse Grundbuchdenken zu überwinden.<br />
Es wäre, ohne über den Schatten des Judentums zu springen, auch eine geistige<br />
Annäherung an die jüngeren Geschwister, an die Christen. Es wäre ein Zeichen<br />
des Verständnisses und der Toleranz. Dann würde das Heilige Land zur Chance<br />
der Versöhnung, Jerusalem zur Stätte des Ausgleichs. Wie immer der Status der<br />
Stadt sein mag, es muß eine Begegnung jenseits des religiösen Grundbuchdenkens<br />
gefunden werden, sonst ist der Friede im Sinne der Eintracht und der Gerechtigkeit<br />
nicht vorstellbar.<br />
Jürgen Liminski, Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, lebt in St. Augustin.<br />
151
Fides Krause-Brewer<br />
Die vermaledeite Maschine<br />
Einen T-Punkt der neuesten Generation für alle Bonner Bürger, eine Ladenzeile,<br />
ein Café, Reinigung, Friseur und noch mehr – dies alles wird der bisher so publikumsscheue<br />
Telekommunikations-Riese Telekom in seiner Bonner Zentrale<br />
bieten. Hat also die Telekom die Absicht, menschlich zu werden? Oder bleibt es<br />
so, wie es der Komiker Carrey ausdrückte: „Irgendwie scheinen wir alle nur<br />
noch Eigentum von weltweiten Konzernen zu sein.“<br />
In der Tat: Computer, Internet, E-mail, SMS, Call-Center, Sprachcomputer und<br />
andere Wunderwerke der Technik schneiden uns immer mehr vom Kontakt mit<br />
„richtigen Menschen“ ab. Wie oft stößt der Kunde, der eine Auskunft braucht,<br />
auf die bekannte Computeransage „Zur Zeit sind alle Plätze belegt. Haben Sie<br />
noch etwas Geduld, Sie werden gleich mit dem nächsten freien Platz verbunden.“<br />
Welch ein Glück, wenn sich nach geraumer Zeit und entnervender elektronischer<br />
Musik-Darbietung endlich eine menschliche Stimme meldet!<br />
Nicht so bei der Telekom. Ich wollte mich telefonisch wecken lassen, weil mein<br />
alter Küchenwecker – der mit der lauten Glocke oben drauf – kaputt war. Im<br />
Telefonbuch steht: Kosten eines Weckrufes 1,18 Euro. Die angerufene Telefonnummer<br />
ist besetzt – ohne Ansage. Beim dritten Wählversuch meldet sich eine<br />
Stimme: „Hallo – hier spricht der Sprachcomputer des automatischen Weckrufs<br />
der Telekom. Bitte sprechen Sie laut und deutlich, damit ich (wer? der Comp u-<br />
ter?) Sie verstehen kann.“ Ich soll sagen, wann ich geweckt werden will. „Morgen<br />
früh um sieben Uhr“ – sage ich arglos. Der Computer prompt: „Sie möchten<br />
am fünfundzwanzigsten zwölften zweitausend sieben geweckt werden, ist das<br />
korrekt?“ „Nein“ rufe ich entsetzt. Der Computer wird ärgerlich. „Ich habe Sie<br />
nicht verstanden“ und dann: „Leider sind Weckrufe nur bis 48 Stunden im Vo r-<br />
aus möglich.“<br />
Bis zum Jahre 2007 reicht meine Bestellung allerdings wirklich nicht. Also wiederhole<br />
ich meine Bitte. Der Computer: „Sie wollen am Samstag geweckt werden?“<br />
Ich wütend: „Nein, das ist falsch! Ich will am Freitag den fünfundzwanzigsten<br />
zwölften um sieben Uhr geweckt werden!“ Der Computer versteht wieder<br />
nicht. Er versucht was anderes: „Sie möchten am zwanzigsten sechsten geweckt<br />
werden, ist das korrekt?“ Auf meinen verzweifelten Protest versucht es die<br />
vermaledeite Maschine mit dem 17. April. Ich lege entmutigt auf und starte nach<br />
einer Erholungspause einen neuen Anruf. Das Spiel wiederholt sich. Diesmal<br />
bietet der Computer „Sechsuhr vierundvierzig.“ Wieder verneine ich, so laut wie<br />
ich kann. Jetzt fällt ihm was Neues ein: „Geben Sie die gewünschte Uhrzeit<br />
vierstellig ein.“ Wie macht man das?<br />
Ich gebe es auf. Das Ende vom Lied: die Telekom kassiert rund zweieinhalb<br />
Euro, aber geweckt wurde ich nicht.<br />
152
Ein Angehöriger des Weltunternehmens, von dem ich wissen wollte, ob die angekündigte<br />
Kürzung der Call-Center um fast die Hälfte nicht zu einer Minderung<br />
des Kunden-Service des Konzerns führen könnte, und dem ich zur Illustration<br />
meine Erlebnisse mit dem Weckruf berichtete, war nicht amüsiert. „Das kommt<br />
davon, daß Sie Ihren Wunsch nicht mit Zahlen auf Ihrem Telefon-Hörer eingegeben<br />
haben.“ Mein Einwand, daß ich eben gern noch meine eigene Stimme<br />
gebrauche, fand er schlicht hinterwäldlerisch. Im übrigen werde die Qualität des<br />
Kundenservice der Telekom durch die erwähnten Kürzungen in keiner Weise<br />
leiden. Wie das erreicht werden soll, sagte er mir nicht.<br />
Mein Erlebnis ist nur ein Beispiel für die „Entmenschlichung“, mit der uns die<br />
Technik mit immer neuen Erfindungen beglückt. Liebespaare kommunizieren<br />
mit Vorliebe nur noch mittels SMS, die sie allerdings mit erstaunlicher Behendigkeit<br />
in ihre Handys tippen. Zum Einkauf geht die moderne Hausfrau nicht<br />
mehr in den Laden um die Ecke, wo man früher auch mal ein Schwätzchen halten<br />
konnte. Der Laden ist längst wegrationalisiert und der Supermarkt ist weit.<br />
Also mailt sie ganz solo ihre Bestellung in den seelenlosen Computer.<br />
Will man wissen, wann ein Zug von A nach B fährt, muß man sich den Sprachcomputer<br />
der Bahn vom Morgengrauen bis zum späten Abend anhören, bis die<br />
gewünschte Verbindung vorbeikommt. Es sei denn, man hat einen Internetanschluß,<br />
aber mit dem bleibt man eben auch allein.<br />
Nota bene: Durch Zufall bin ich an eine Telefonnummer der Bahn gekommen,<br />
auf der sich tatsächlich eine freundliche Dame meldet und Auskunft gibt. Aber<br />
die verrate ich nicht, sonst wird sie auch noch wegrationalisiert.<br />
Fides Krause-Brewer, langjährige ZDF-Redakteurin, lebt in Bonn.<br />
153
Besprechungen<br />
Jesus<br />
Klaus Berger, der wohl meistgelesene<br />
Bibelexeget und Bibelvermittler im<br />
deutschen Sprachraum, Professor für<br />
Neues Testament an der Evangelisch-<br />
Theologischen Fakultät Heidelberg und<br />
zusammen mit seiner Frau Christiane<br />
Nord vielbeachteter Übersetzer („Neues<br />
Testamentes und frühchristliche Schriften“,<br />
1. Aufl. Insel Verlag 1999), hat als<br />
„Summa“ seines wissenschaftlich-publizistischen<br />
Wirkens nun das 700-Seiten-<br />
Werk „Jesus“ vorgelegt.<br />
Klaus Berger, Jesus. Pattloch-Verlag,<br />
München 2004, 704 S.<br />
Die Bibel als Primärquelle für die Wahrnehmung<br />
Jesu soll fortan wieder „fremd<br />
erscheinen“, „Salz“ und „Licht“ für die<br />
Welt sein, obwohl kein anderes Buch so<br />
heftig „von den Leuten zertreten“ und<br />
verdunkelt wurde. Das, was andere einen<br />
„Paradigmenwechsel“ nennen, wird<br />
bei Bergers unorthodoxer und dennoch<br />
wissenschaftlich abges icherten Sicht der<br />
Bibelauslegung Wirklichkeit. Manche<br />
vermuten, schon vom Titel her, einen<br />
Anti-Bultmann, aber durch den Ansatz<br />
bei der „Postmoderne“ läßt der Autor<br />
solche einfachen polemischen Antithesen<br />
weit hinter sich. Im Gegenteil: Ein<br />
Satz aus Rudolf Bultmanns noch vor der<br />
Entmythologisierungsdebatte verfaßten<br />
gleichnamigem Buch „Jesus“ (1926),<br />
könnte heute auch von Klaus Berger<br />
stammen: „Jesus ist weder dämonisch<br />
noch faszinierend. Es ist auch nicht von<br />
dem ewigen Wert in seiner Botschaft,<br />
den zeitlosen Tiefen der Menschenseele<br />
oder dergleichen die Rede.“<br />
Was für den dialektischen Theologen<br />
Bultmann die Jesusbilder der liberalen<br />
protestantischen Theologie waren, die er<br />
in den zwanziger Jahren des letzten<br />
Jahrhunderts zusammen mit Karl Barth<br />
und Erik Peterson auszuhebeln berufen<br />
war – leider bei ihm unter Absehen der<br />
historischen Verankerung des Offenbarungsgeschehens<br />
–, das ist heute für<br />
Berger der Jesuanismus der (angeblich!)<br />
„historisch-kritischen“ mainstream-<br />
Exegese des theologischen Establis h-<br />
ment, das sich dann populär sowohl bei<br />
Rudolf Augstein, als auch (während<br />
Protestanten meist ein höheres Niveau<br />
der Bibelauslegung behalten) bei dissidenten<br />
Katholiken artikuliert.<br />
Berger hält sich an keine „theological<br />
correctness“, die zur spirituellen Langeweile<br />
und zur Entleerung von Kirchen<br />
und Fakultäten führte. Weihrauch gehört<br />
nach einem Berger-Diktum in die Liturgie,<br />
Durchzug und Entrümpelung dagegen<br />
in die Seminarien der Wissenschaft.<br />
In der Realität herrscht leider das Umgekehrte,<br />
was ja schon den Indienmissionar<br />
Franz Xaver zu seinen bekannten<br />
Aussprüchen über die Wissenseitelkeit<br />
europäischer Akademien brachte.<br />
Bergers mit streitbarem Temperament,<br />
biographischen „Verschränkungen“ und<br />
zugleich liebevollem Einfühlungsvermögen<br />
verfaßtes neues Buch, das sich<br />
jeder Fachgelehrsamkeit und des üblichen<br />
Anmerkungsgepränges enthält, ist<br />
ein solcher „Durchzug“ im gängigen<br />
Theologie- und Bibel-Betrieb. Hier wird<br />
mit Karl Rahners Wort vom „Christen<br />
als Mystiker“ ernst gemacht, hier werden<br />
endlich „mystische Fakten“, die<br />
appellative Apokalyptik und die jesuanischen<br />
Zeichen und Wunder so wahrg e-<br />
nommen, wie sie immer gemeint sind,<br />
hier bleibt aber auch die Autorität der<br />
Sprache und des Textes bestehen vor<br />
aller relativierenden Hermeneutik.<br />
Dabei is t Bergers vielfach belegte exegetische<br />
Kompetenz und sprachliche<br />
Souveränität frei von Fundamentalismusverdacht.<br />
Wer solches argwöhnt,<br />
154
wird wahrscheinlich das Buch kaum<br />
gelesen, geschweige denn verstanden<br />
haben. Wie über aktuelle Fragestellungen<br />
wie Jesu Göttlichkeit, sein Verhältnis<br />
zum menschlichen Glück, zu den<br />
Frauen und zum menschlichen Leid<br />
geschrieben wird ist einfach glaubhaft,<br />
überzeugend und „von Geist und Kraft“.<br />
Auch politische Fragen, das Verhältnis<br />
zum Judentum, zur Kirche und zur Ö-<br />
kumene werden unter das Licht und<br />
Gericht des Nazareners gestellt. Viele<br />
geistliche Einsichten auch für die ko n-<br />
krete Lebensgestaltung kann die äußerst<br />
anregende Lektüre vermitteln. Sprühende<br />
Vergleiche und überraschende<br />
Schlußfolgerungen in einer überzeugenden<br />
Sprachform bieten sich in einer<br />
unerschöpflichen Fülle dar.<br />
Am Schluß finden sich faszinierende<br />
Kapitel über Jesus als Begleiter in Sterben<br />
und Tod, ein „Dialog über irdisches<br />
und ewiges Leben“ und die Liebe zu<br />
Jesus: „Gegen große Vorzüge eines<br />
Andern gibt es kein Rettungsmittel als<br />
Liebe“ (Goethe). Berger, der sein der<br />
Äbtissin Maria Assumpta Schenkl OCist<br />
in Helfta bei Eisleben gewidmetes Buch<br />
nur aus einer tiefen Betrachtung seines<br />
Gegenstandes schreiben konnte, „rettet“<br />
sich als Zisterzienserspirituale am Ende<br />
in einen liturgischen Lobpreis: „O rex<br />
gloriae Christe, veni nobis cum pace! –<br />
Christus, herrlicher König, komm und<br />
bring uns Frieden!“ Sein „Jesus“ ist<br />
schon vielen ein „Lieblingstitel“, in<br />
jedem Fall ein Buchereignis, das bereits<br />
mehrere Auflagen erreichte und im<br />
Feuilleton großer Zeitungen kontroverse<br />
Aufmerksamkeit fand.<br />
Evangelische und katholische wissenschaftliche<br />
Theologie und Exegese sind<br />
nach ihm nicht mehr dasselbe, was sie<br />
vorher in ihrem beruhigten „mainstream“<br />
waren. Auch darin besteht Bergers<br />
Parallele zu Bultmann. Möge der<br />
entstandene „Durchzug“ nicht nur Staub<br />
aufwirbeln, sondern vielen Jungen und<br />
Nachkommenden Mut machen, ihre<br />
Segel zu spannen.<br />
Stefan Hartmann<br />
Naturrecht<br />
Der vorliegende Band vereinigt Vorträge,<br />
die auf einem Symposium der „Johannes<br />
Messner Gesellschaft “ im April<br />
2004 gehalten wurden:<br />
W. Freistetter / A. Klose / R. Weiler<br />
(Hg.), Naturrecht als Herausforderung<br />
– Menschenrechte und Me n-<br />
schenwürde, NWV, Wien-Graz 2005<br />
Auf diesem Symposium sollte die Herausgabe<br />
des 6. Bandes ausgewählter<br />
Werke Messners (Johannes Messner,<br />
Menschenwürde und Menschenrecht.<br />
Ausgewählte Artikel, Verlag für Geschichte<br />
und Politik Oldenbourg, Wien-<br />
München 2004) vorbereitet werden.<br />
Dem katholischen Priester und Sozialphilosophen<br />
Johannes Messner ging es<br />
in seinem Denken stets um eine angemessene<br />
Begründung der Rede von<br />
einer Würde, die allen Menschen ohne<br />
Ausnahme zukomme und Grundrechte<br />
enthalte, die von allen Gesellschaftsformen<br />
gewährleistet werden müssen, so<br />
sie sich nicht den Vorwurf der Inhumanität<br />
gefallen lassen wollen. Er versucht<br />
dabei die alte Tradition der Naturrechtslehre,<br />
wie sie sich von den griechischen<br />
Anfängen über die christliche Lehre<br />
entwickelt hat, in die Gegenwart hinein<br />
neu zu übersetzen.<br />
Das „Naturrecht“ ist schon lange in eine<br />
Legitimationskrise gelangt. Doch das<br />
Anliegen Johannes Messners – und der<br />
Befürworter eines „Naturrechts“ – ist<br />
keineswegs obsolet geworden. Das zeigt<br />
das nun vorliegende Buch deutlich. Es<br />
ist zudem eine gute Einführung in die<br />
katholische Soziallehre, wie sie Messner<br />
155
vorschwebte: nicht sich auf sich selbst<br />
zurückziehen und andere – gegnerische<br />
– Positionen von vorneherein abwerten;<br />
vielmehr den eigenen Standpunkt im<br />
Dialog mit anderen stets zu revidieren.<br />
Die Aktualität dieses Bemühens, eine<br />
tragfähige humanitäre Basis für unser<br />
Leben in der einen Welt zu gewinnen,<br />
erscheint heute notwendiger denn je.<br />
Nicht erst seit dem 11. September 2001<br />
sind die Schattenseiten der Globalisierung<br />
deutlich geworden. Alle Menschen<br />
stehen auf demselben Boden. Doch<br />
leider haben nicht alle dieselben Lebensvoraussetzungen.<br />
Zu vielen Menschen<br />
wird tagtäglich der Boden unter<br />
den Füßen weggezogen. Und Andere<br />
profitieren davon.<br />
Wenn ein Weltfrieden möglich sein soll,<br />
braucht es (1) die Besinnung auf einen<br />
gemeinsamen Boden, der für alle da ist,<br />
und (2) die Besinnung auf tragfähige<br />
Wände und ein Dach, die unser gemeinsames<br />
Lebenshaus erst vervollständigen.<br />
Der Grundsatz, um den Johannes Messners<br />
Denken kreist, lautet gemäß den<br />
Herausgebern: „Alles gesellschaftliche<br />
Sein hängt am Menschen.“ (5) Bei den<br />
Beiträgen in diesem Sammelband handelt<br />
es sich um Kommentare von R.<br />
Weiler, A. Klose, W. Kühnelt, E. Frö h-<br />
lich, G. Dabringer, E. Prat, H.-J. Türk,<br />
H. Pribyl, K.-H. Peschke und Ch.<br />
Wagnsonner zu den im erwähnten Band<br />
6 gesammelten Schriften Messners (mit<br />
Ausnahme von drei Schriften, die nicht<br />
behandelt werden). In einer Einleitung<br />
geht J.-M. Schnarrer auf Messners<br />
Ringen um ein „neues Naturrecht“ ein,<br />
das in gegenwärtiger Zeit eines „Pluralismus<br />
der Werte“ noch plausibel vertreten<br />
werden kann.<br />
Es ist zu hoffen, daß das Grundanliegen<br />
der Naturrechtslehre kritisch gewürdigt<br />
wird ohne Pauschalveru rteilungen ihres<br />
Proponenten als „Neuscholastiker“ und<br />
darum „ewig gestriger Theologe“ oder<br />
auch ohne vorschnelle Brandmarkung<br />
des Begriffs „Naturrecht“ als „Stopfgans“,<br />
in die man alles Beliebige hineintun<br />
kann.<br />
Franz Wundsam<br />
Naturrecht und Evangelisierung<br />
Der Titel dieses äußerst bemerkenswerten<br />
Buches ist programmatisch. Der<br />
Herausgeber und Autor des ersten Beitrags<br />
sieht einen inneren Zusammenhang<br />
zwischen der christlichen Offenbarung<br />
und dem klassischen, philosophischen<br />
Naturrechtsdenken. Ja, nach ihm kann<br />
man sagen: eine Weitergabe des christlichen<br />
Glaubens in heutiger Zeit wird nur<br />
gelingen, wenn sie begleitet ist von einer<br />
naturrechtlich begründeten Lehre vom<br />
Menschen.<br />
Rudolf Weiler (Hg.), Die Wiederkehr<br />
des Naturrechts und die Neuevangelisierung<br />
Europas, Verlag für Geschichte<br />
und Politik – Oldenbourg,<br />
Wien-München 2005<br />
Keine Wissenschaft, davon scheint<br />
Weiler überzeugt zu sein, kann aus sich<br />
heraus einen überzeugenden Beitrag zu<br />
der Frage leisten, was denn überhaupt<br />
„Menschenwürde“ sei, die zu schützen<br />
so oft proklamiert wird. Ohne die traditionelle,<br />
christliche Naturrechtslehre<br />
könne von einer „Würde“, die jedem<br />
Menschen als solchem zukomme, nicht<br />
plausibel gesprochen werden.<br />
Das klassische Naturrechtsdenken ist<br />
zudem für Rudolf Weiler deswegen auch<br />
so relevant für das Programm einer<br />
Neuevangelisierung, weil es in einer<br />
Zeit des „ethisch-religiös-weltanschaulichen<br />
Pluralismus“ den damit verbundenen<br />
„Werteverlust“ sowie der<br />
„Schwäche der christlichen Tradition“<br />
(10) Einhalt gebieten kann. Das Naturrecht<br />
gegenwärtig wieder en vogue zu<br />
machen sei letztendlich nicht nur ein<br />
156
unverzichtbarer Beitrag für die Ne u-<br />
evangelisierung Europas, sondern auch<br />
ein Beitrag von Weltbedeutung. Es gehe<br />
nämlich schlicht um die Besinnung auf<br />
die „Wurzeln im europäischen De nken<br />
und damit in der Menschheit“ (10).<br />
Demnach wäre also das Christentum mit<br />
seiner Tradition, das klassische Naturrecht<br />
zu rezipieren, unverzichtbar, um<br />
allgemein gültige Werte gewinnen zu<br />
können.<br />
Der Anspruch dieses Buches ist sehr<br />
hoch. Das Ansinnen der Autoren mag<br />
edel sein, und ist in seiner Intention<br />
wohl zu würdigen. Ob und wie dieser<br />
Anspruch auch eingelöst werden kann,<br />
ohne Pauschalverurteilungen anderer<br />
Bemühungen um humane Lebensko n-<br />
zepte, wird u.a. auch die weiterführende<br />
Rezeption zeigen. Zu wünschen ist dem<br />
Buch und seinen Autoren eine breit<br />
geführte, kritische Auseinandersetzung<br />
um die immer aktuellen Themen „Menschenrechte<br />
und Menschenwürde“,<br />
„Gerechtigkeit und Frieden“.<br />
Daß in dieser Auseinandersetzung der<br />
katholischen Soziallehre mit ihren<br />
Grundprinzipien „Solidarität“, „Subsidiarität“<br />
und „Gemeinwohl“ eine herausragende<br />
Bedeutung zukommt, die dieses<br />
Buch aufzeigen will, ist ein Verdienst<br />
desselben. Diese Bedeutung möchte ich<br />
einmal mit einem Bild umschreiben:<br />
Diese Grundprinzipien menschlichen<br />
Lebens können wie der „Köö“ beim<br />
Billardspiel die „Kugeln der Menschlichkeit“<br />
zum Rollen bringen – nicht<br />
mehr, aber auch nicht weniger.<br />
Franz Wundsam<br />
Katholisches Staatsdenken<br />
Hat sich das katholische Denken über<br />
Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert<br />
organisch und bruchlos fortentwickelt<br />
- oder hat die kirchliche Lehre<br />
und damit das Denken überzeugter<br />
Katholiken spätestens seit dem Zweiten<br />
Vatikanum eine Wende genommen,<br />
tradierte Lehren verlassen und neue<br />
Ideen geschaffen? Gab es also einen<br />
Bruch im katholischen Staatsdenken<br />
oder nur Entwicklung? Dieser Frage<br />
widmet sich eine ausführliche Schrift,<br />
eine Eichstätter Habilitationsarbeit, die<br />
zum Aufregendsten gehört, was zur angegebenen<br />
Fragestellung sowohl historisch<br />
als auch systematisch gesagt werden<br />
kann:<br />
Rudolf Uertz: Vom Gottesrecht zum<br />
Menschenrecht. Das katholische<br />
Staatsdenken in Deutschland von der<br />
Französischen Revolution bis zum II.<br />
Vatikanischen Konzil (1789-1965).<br />
Politik- und Kommunikationswissenschaftliche<br />
Veröffentlichungen der<br />
Görresgesellschaft Bd. 25. Ferdinand<br />
Schöningh, Paderborn, München,<br />
Wien, Zürich 2005, 525 S.<br />
Die Kontrahenten der genannten unterschiedlichen<br />
Beurteilung waren schon<br />
vor vielen Jahren der Sozialethiker<br />
Arthur F. Utz, dessen Auffassung in<br />
dieser Zeitschrift noch einmal wiederg e-<br />
geben wurde (Heft 3/2005, S. 162ff.)<br />
und der Jurist Ernst-Wolfgang Böckenförde,<br />
der am 25. April in der Frankfurter<br />
Allgemeinen Zeitung eine glänzende<br />
Rezension des Buches veröffentlicht hat,<br />
in der er erneut feststellte, daß es im<br />
katholischen Denken einen dramatischen<br />
Weg von der strikten Ablehnung<br />
aller Grundsätze des modernen säkularen<br />
Staates bis zu deren vollen Anerkennung<br />
gegeben hat. Während Utz vorrangig<br />
theologisch argumentiert und eine<br />
gleichbleibende sozialtheologische Lehre<br />
sieht, die nur unter neuen Bedingungen<br />
graduell angepaßt wird, analysiert<br />
Uertz politikwissenschaftlich, allerdings<br />
mit Rückwirkung auch auf das theologische<br />
Denken. Wegen der Zeitabhängigkeit<br />
einerseits und dem überzeitlichen<br />
157
Anspruch kirchlicher Aussagen andererseits<br />
besteht eine Schnittmenge mit<br />
unübersichtlichen Grenzlinien. Uertz<br />
beschreibt in einem ersten Teil in akribischer<br />
historischer Erarbeitung und luzider<br />
Darstellung die katholische „Antwort<br />
auf die Ideen von 1789“, wobei<br />
besonders die Enzykliken von Gregor<br />
XVI. und Pius IX. auf ihren politischen<br />
und theologischen Gehalt untersucht<br />
werden. Dabei wird dem verurteilten<br />
Liberalkatholizismu s von Lamennais für<br />
den Fortgang des katholischen De nkens<br />
größere Bedeutung als bislang üblich<br />
beigemessen.<br />
Hervorragend ausgearbeitet sind die<br />
Lehren Pius’ IX., bei denen sich bedauerlicherweise<br />
naturrechtliche, theologische<br />
und konkrete politische Ziele vermischen.<br />
Mit profunder Kenntnis der<br />
historischen Details wird das Changieren<br />
Kettelers zwischen org anisch-historischen<br />
und pragmatisch-liberalen<br />
Ordnungsgrundsätzen ausgebreitet und<br />
verständlich gemacht, wie zögerlich sich<br />
individuelle Freiheitsrechte und ein<br />
konkretes Naturrechtsdenken anbahnten.<br />
Der zweite Teil widmet sich einer umfassenden<br />
Darlegung der neuscholastischen<br />
Naturrechtslehre, die bei allen<br />
Verdiensten um die Legitimierung der<br />
natürlichen Vernunft in abstrakten Normen<br />
erstarrte und Mora l und Recht<br />
identifizierte. Das Verdienst von Uertz<br />
liegt darin, daß er die von Theodor Meyer<br />
initiierte Neuscholastik auf ihre politischen<br />
und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen<br />
zurückführt und<br />
damit ihre behauptete überzeitliche Allgemeingültigkeit<br />
relativiert. Die heute<br />
weitgehend mißachtete Neuscholastik<br />
wird hier in ihrer Entwicklung von Leo<br />
XIII. über Pesch, Hertling, Tischleder,<br />
Mausbach, Gundlach und in ihrer Unterschiedlichkeit<br />
aus den Zeitumständen<br />
verständlich gemacht. Es ist spannend<br />
zu sehen, wie sich gegenüber dem legitimistischen<br />
Staatsdenken im katholischen<br />
Raum Schritt für Schritt die<br />
Volkssouveränität, die Demokratie und<br />
die Individualrechte von den traditionellen<br />
Vorgaben freimachen konnten.<br />
Profunde Kenntnis der Autoren und<br />
sorgfältige Interpretation auf dem geschichtlichen<br />
Hintergrund zeichnen die<br />
Darstellung aus. Besondere Aufmerksamkeit<br />
verdienen die ausführliche<br />
Würdigungen Hertlings, der Moral und<br />
Recht zu unterscheiden wußte, und des<br />
weithin unbekannten Freisinger Moraltheologen<br />
Robert Linhardt, dessen Sozialethik<br />
eine Wende zu individualisierten<br />
Grundrechten markierte.<br />
In einem dritten Teil entfaltet Uertz<br />
ausführlich die Staatslehre Pius’ XII.,<br />
der als erster 1944 kirchenamtlich die<br />
Demokratie bejahte und die allmählich<br />
Hinwendung der katholischen politischen<br />
Ethik zu einem säkularen Staat<br />
und zu den bisher gewöhnlich als liberal<br />
abqualifizierten Grundrechten, die von<br />
einem theologischen und ethischen<br />
Personalismus legitimiert wurden, woran<br />
Moraltheologen wie Congar und<br />
Auer einen bedeutenden Anteil hatten.<br />
Diese Hinwendung vollzieht sich entschieden<br />
in der Enzyklika „Pacem in<br />
terris“, in den Konzilstexten „Gaudium<br />
et spes“ und „Dignitatis humanae“. Der<br />
Verfasser ist sich durchaus bewußt, daß<br />
diese Entwicklung, zugespitzt betitelt:<br />
vom Gottesrecht zum Menschenrecht,<br />
nicht ohne Einsprüche und Abweichungen<br />
stattgefunden hat, wohl aber, daß sie<br />
politisch und auch theologisch nicht nur<br />
berechtigt, sondern notwendig war. Ob<br />
der einzige Einwand, den der Laudator<br />
Böckenförde erhebt, überzeugt, bezweifelt<br />
der Rezensent. Böckenförde sieht<br />
den qualitativen Sprung nur darin, daß<br />
früher das, was moraltheologisch galt,<br />
auf die öffentliche Rechtssphäre nahtlos<br />
übertragen wurde und heute die Unterscheidung<br />
der Bereiche selbstverständ-<br />
158
lich ist, scheint aber den von Uertz beschriebenen<br />
Einfluß des personalethischen<br />
Denkens in der Theologie nicht<br />
genügend einzuschätzen. Ein angenehm<br />
lesbarer Stil, eine klare Gliederung, ein<br />
reichhaltiges Register und Literaturverzeichnis<br />
machen die Lektüre zu ein em<br />
intellektuellen Vergnügen. Man kann<br />
Böckenförde nur zustimmen: Dieses<br />
Buch war überfällig.<br />
Hans Joachim Türk<br />
Demographische Falle<br />
Es gibt Bücher, die gehören an die Spitze<br />
der Bestsellerlisten, weil ihre Autoren<br />
nicht nur weitsichtig und kompetent ein<br />
wichtiges Thema aufgreifen, sondern<br />
auch noch gut schreiben können. Zu<br />
diesen Büchern gehört:<br />
Stephan Baier, Kinderlos. Europa in<br />
der demographischen Falle, MM-<br />
Verlag, Aachen 2004, 276 S.<br />
Der Österreichkorrespondent der Tagespost<br />
analysiert in diesem leicht lesbaren<br />
Werk die demographische Entwicklung<br />
Europas, insbesondere Deutschlands,<br />
und ihre Folgen für die sozialstaatlichen<br />
Leistungssysteme einerseits, die wirtschaftliche,<br />
politische und kulturelle<br />
Entwicklung andererseits. Zu den gravierenden<br />
Folgen dieser Entwicklung<br />
gab es in jüngster Zeit zwar eine Menge<br />
Literatur (u. a. Birg, Schirrmacher,<br />
Vaupel), aber Stephan Baier versteht es,<br />
diese Entwicklung aus der Perspektive<br />
der katholischen Soziallehre zu erörtern.<br />
Die der globalen Überbevölkerung angelasteten<br />
Probleme seien größtenteils<br />
politischer, ökonomischer und ethischer<br />
Natur. Für Menschen, die an einen<br />
Schöpfergott glauben, wie Juden, Christen<br />
und Muslime, sei es denkunmöglich,<br />
daß Gott mehr Menschen ins Leben ruft,<br />
als seine Schöpfung verkraften kann.<br />
Unser Problem sei schon lange nicht<br />
mehr die Überbevölkerung der Erde,<br />
zumal das Wachstum der Weltbevölkerung<br />
etwa 2040 zum Stillstand kommen<br />
wird, sondern die absehbare Schrumpfung<br />
der westlichen Industrieländer<br />
Europas auf Grund des seit mehr als 30<br />
Jahren anhaltenden Geburtendefizits.<br />
In Deutschland werden Mitte des Jahrhunderts<br />
doppelt so viele Menschen<br />
sterben wie geboren werden. Deutschland<br />
wird ein Altersheim werden, dessen<br />
Pflegerinnen und Pfleger aus Afrika und<br />
Asien eingeflogen werden. Die steigenden<br />
Pflegekosten werden die Euthanasie<br />
als Beitrag zur Generationengerechtigkeit<br />
hoffähig machen: „In wenig intakten<br />
Familien werden die Angehörigkeiten<br />
den alten Großvater und die kranke<br />
Großmutter zur Euthanasie drängen. In<br />
den perfekt harmonis chen Familien<br />
werden die Alten und Kranken ihr Dahinscheiden<br />
möglicherweise als moralische<br />
Pflicht gegenüber den schwer arbeitenden<br />
und vielfach belasteten Kindern<br />
und Enkelkindern verstehen.“<br />
Baiers Analysen gehen aber weit über<br />
die demographischen Probleme hinaus.<br />
Er liefert eine umfassende Zeitansage,<br />
die jedem Politiker in Deutschland und<br />
Österreich als Reiselektüre zu empfehlen<br />
ist. Mit einem von der Christlichen<br />
Gesellschaftslehre geschärften Blick für<br />
das Wesentliche erörtert er die gegenwärtigen<br />
Probleme der Rechtsethik, der<br />
Bioethik und der Globalisierung. Die<br />
seit Anfang der 70er Jahre zugelassene,<br />
ja staatlich organisierte Abtreibung sei<br />
„ein Skandal gegen die Gerechtigkeit“;<br />
jede Abtreibung sei „ein Abschied vom<br />
Rechtsstaat“.<br />
Das Argument, man müsse die Kluft<br />
zwischen dem Recht und der rechtswidrigen<br />
Praxis schließen, wird in der<br />
Abtreibungs- und in der Euthanasiediskussion<br />
immer dazu mißbraucht, das<br />
Recht der Praxis anzupassen, und das<br />
159
heißt nichts anderes als es aufzugeben.<br />
Demgegenüber plädiert Baier für den<br />
einzig gangbaren Weg, nämlich das<br />
Recht, das die Tötung Unschuldiger<br />
verbietet, konsequent anzuwenden.<br />
Auch bei Mord, Diebstahl, Vergewaltigung,<br />
Straßenraub, Drogenhandel, Steuerhinterziehung<br />
usw. komme niemand<br />
auf die Idee, die Kluft zwischen Recht<br />
und Praxis dadurch aufzulösen, daß das<br />
Recht abgeschafft wird.<br />
Baier verteidigt die Ablehnung der In-<br />
Vitro-Fertilisation seitens der katholischen<br />
Kirche, die mit dieser Ablehnung<br />
die Sexualität gegen die technokratische<br />
Ideologie der Reproduktionsmedizin in<br />
Schutz nimmt. Er geht auf die sittlichen<br />
Probleme der embryonalen Stammzellforschung<br />
und die diesbezüglichen Ko n-<br />
troversen in der österreichischen Bioethikkommission<br />
ein. Mit dem Wiener<br />
Philosophen Günther Pöltner erklärt er,<br />
daß sich aus der Hochrangigkeit eines<br />
Forschungsprojekts „keine ethische<br />
Rechtfertigung für die Zerstörung von<br />
Embryonen“ ergebe.<br />
Baier analysiert die Motive, die hinter<br />
der Pränataldiagnostik und der Präimplantationsdiagnostik<br />
stehen und die<br />
auf eine „Endlösung der Behindertenfrage“<br />
abzielen. Er liefert Argumente<br />
gegen die Gleichstellung homosexueller<br />
Partnerschaften mit der Ehe. Er stellt<br />
sich im Streit um die Globalisierung auf<br />
die Seite der Globalisierungsbefürworter,<br />
weil die Globalisierung im Ergebnis<br />
den Wohlstand aller fördert und Länder,<br />
die sich der Globalisierung verweigern,<br />
in extremer Armut leben. Allerdings<br />
bedürfe die ökonomische Globalisierung<br />
der Ergänzung durch eine „ethische<br />
Globalisierung“. Er träumt davon, daß<br />
Ethik der „Exportschlager des alten<br />
Kontinents“ werden könnte, „wenn sich<br />
Europa auf seine 2000 Jahre alten Ressourcen<br />
besänne“.<br />
Zum Schluß drei kleine Anmerkungen:<br />
Nicht zustimmen kann der Rezensent<br />
zwei nebenbei hingeworfenen Bemerkungen<br />
zum Irak-Krieg 2003, den Baier<br />
einmal auf die amerikanischen Wirtschaftsinteressen<br />
zurückführt und dessen<br />
Gründe er am Ende seines Buches als<br />
„erfunden und erlogen“ bezeichnet. Hier<br />
übersieht Baier die 1990 beginnende<br />
Vorgeschichte dieses Krieges und die<br />
Waffenstillstandsresolution 687 des UN-<br />
Sicherheitsrates vom 3. April 1991,<br />
deren Bedingungen für den Waffenstillstand<br />
auch 2003 noch nicht erfüllt waren.<br />
Daß Deutschland und Frankreich von<br />
der EU-Kommission keine Blauen Briefe<br />
wegen Überschreitens der Neuverschuldungsgrenze<br />
erhalten, ist weniger<br />
auf „politische Intrigen“ als auf die<br />
Konstruktion des Stabilitätspaktes zurückzuführen,<br />
der die Zusendung des<br />
Blauen Briefes der Kommission vom<br />
zustimmenden Votum des Ministerrates<br />
abhängig macht. Welcher Finanzminister<br />
wird schon zustimmen, wenn er<br />
selbst eine kostenpflichtige Verwarnung<br />
erhalten soll?<br />
Das holländische Euthanasie-Gesetz<br />
schließlich trat nicht 2001, sondern am<br />
1.4.2002 in Kraft und die Meldepflicht<br />
gegenüber den Regionalen Kontrollkommissionen<br />
nicht 1999, sondern am<br />
1.11.1998. Aber diese kritischen Bemerkungen<br />
sind Petitessen, die den<br />
Gesamteindruck, einen Bestseller gelesen<br />
zu haben, nicht schmälern können.<br />
Manfred Spieker<br />
160
161