23.11.2013 Aufrufe

DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

DIE NEUE ORDNUNG - Tuomi

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>DIE</strong> <strong>NEUE</strong><br />

<strong>ORDNUNG</strong><br />

begründet von Laurentius Siemer OP<br />

und Eberhard Welty OP<br />

Nr. 2/2006 April 60. Jahrgang<br />

Editorial<br />

Wolfgang Ockenfels,<br />

Christlich-konservativ<br />

Lothar Roos, Liebe und Gerechtigkeit.<br />

Die Enzyklika Benedikts XVI.<br />

Heinrich Pompey, Die Enzyklika „Deus<br />

Caritas est“. Profilierung für die Caritas?<br />

Norbert Blüm, Die Moderne als Grenzbeseitigung.<br />

Ideologien der Arbeit und Technik<br />

Manfred C. Hettlage, Ist der Streik ein Recht<br />

oder ein Unrecht?<br />

Bericht und Gespräch<br />

Rudolf Uertz, Walberberg und Die Neue<br />

Ordnung. Vor 60 Jahren: Siemer und Welty<br />

Wolfgang Bergsdorf, Die Neue Ordnung als<br />

politische Zeitschrift<br />

Jürgen Liminski, Glaube aus Stein. Juden<br />

und Muslime im Heiligen Land<br />

Fides Krause-Brewer, Die vermaledeite<br />

Maschine<br />

Besprechungen<br />

82<br />

84<br />

96<br />

111<br />

123<br />

133<br />

140<br />

148<br />

152<br />

154<br />

Herausgeber:<br />

Institut für<br />

Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg e.V.<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />

Heinrich Basilius Streithofen OP<br />

Bernd Kettern<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Stefan Heid<br />

Martin Lohmann<br />

Edgar Nawroth OP<br />

Herbert B. Schmidt<br />

Günter Triesch<br />

Rüdiger von Voss<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Andrea und Hildegard Schramm<br />

Druck und Vertrieb:<br />

Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />

53708 Siegburg<br />

Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />

Die Neue Ordnung erscheint alle<br />

2 Monate<br />

Bezug direkt vom Institut<br />

oder durch alle Buchhandlungen<br />

Jahresabonnement: 25,- €<br />

Einzelheft 5,- €<br />

zzgl. Versandkosten<br />

ISSN 09 32 – 76 65<br />

Bankverbindungen:<br />

Sparkasse Bonn<br />

Konto-Nr.: 11704533<br />

(BLZ 380 500 00)<br />

Postbank Köln<br />

Konto-Nr.: 13104 505<br />

(BLZ 370 100 50)<br />

Anschrift der<br />

Redaktion und des Instituts:<br />

Simrockstr. 19<br />

53113 Bonn<br />

Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />

Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />

Fax Institut: 0228/22 02 44<br />

Unverlangt eingesandte Manuskripte und<br />

Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />

Verlag und Redaktion übernehmen keine<br />

Haftung<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />

Vervielfältigung nur mit<br />

Genehmigung der Redaktion<br />

http://www.die-neue-ordnung.de<br />

81


Editorial<br />

Christlich-konservativ<br />

Konservative haben es schwer. Sie sollen sich rechtfertigen, was sie bewahren<br />

wollen - und warum. Hingegen kommt der „progressive“ Anspruch auf Veränderung,<br />

auch wenn er keinerlei Verbesserung erwarten läßt, meist ohne diese<br />

Rechtfertigung durch. Die APO der Achtundsechziger brauchte keine Apologetik,<br />

die Verheißung der Emanzipation genügte. Jetzt erweist sie sich als großer<br />

Schwindel, für den keiner verantwortlich sein will. Manche mußten sich erst<br />

verirren, um das Richtige zu finden. Und wer als „zurückgeblieben“ galt, war oft<br />

seiner Zeit voraus.<br />

Auch progressive Christen müssen heute konservativ sein, sonst sind sie keine<br />

Christen mehr. Was am Christentum unbedingt bewahrenswert ist und also die<br />

chris tliche Grundhaltung konservativ prägt, wird freilich nicht durch irgendeinen<br />

progressiven oder konservativen Zeitgeist, sondern durch biblische Offenbarung,<br />

Tradition und Kirche definiert. Schließlich besteht die konservative Haltung der<br />

Christen in der gläubigen Erwiderung und praktischen Bestätigung jener erlösenden<br />

Liebe und Treue, die in Jesus Christus ihren Ausgang nimmt.<br />

Konservativ zu sein und dabei stets aktuell zu bleiben bedeutet für Christen eben<br />

nicht, eine abgestandene Konserve von Zeit zu Zeit mit einem neuen Et ikett zu<br />

versehen. Es geht ihnen nicht um die Musealisierung eines nostalgischen Andenkens,<br />

nicht um die Mumifizierung der Erinnerung an eine Person, die längst<br />

verblichen ist. Christus lebt und ist in seiner Kirche präsent. Das ist die anhaltend<br />

wirkende Erfahrung und mithin konservative Botschaft des Christentums.<br />

Deshalb ist die Übertragung der typisch politischen und allzu groben Unterscheidung<br />

„konservativ-progressiv“ auf die Kirche unpassend – und für Christen,<br />

die an der überlieferten, stets hoffnungsfrohen Glaubenserfahrung festhalten,<br />

inakzeptabel. Aber schon in der politischen Sphäre deutet sich inzwischen an,<br />

wie strukturreformerisch gerade wertkonservative Politiker sein können. Der<br />

altmoderne Widerspruch zwischen „konservativ“ und „progressiv“ scheint sich<br />

langsam aufzuheben. Wie sehr sich die Fronten verkehrt haben, beweisen die<br />

vormals Progressiven: Sobald eine „Reform der Reform“ droht, erstarren sie in<br />

Abwehrhaltung, um ihre vermeintlichen Errungenschaften zu retten.<br />

Gilt dies auch für die Kirche? Nur sehr eingeschränkt, und dann auf einer anderen<br />

Ebene. Die Kirche mag zwar, soziologisch betrachtet, Teil unserer politischökonomischen<br />

Kultur sein. Aber wer sie lediglich als integriertes Subsystem<br />

unserer demokratischen und marktwirtschaftlichen Gesellschaft wahrnimmt,<br />

übersieht ihren substantiell eigenständigen Charakter als Gemeinschaft religiöser<br />

Art., die sich im Kontrast zur „Welt“ gelegentlich auch quer zur Gesellschaft<br />

stellen muß, um auf eine „ganz andere“ Wirklichkeit hinzuweisen.<br />

82


Diese Wirklichkeit, Reich Gottes genannt, ist eben keine politisch-ökonomische<br />

Größe. Und jeder Versuch, sie „auf Erden“, also säkular und autonom, herstellen<br />

zu wollen, hat stets die Hölle hervorgebracht. Dies haben die ideologischen Konstrukte<br />

und totalitären Systeme des letzten Jahrhunderts deutlich genug bewiesen.<br />

Kritisch konservative Christen waren dagegen immunisiert und wollten<br />

nicht auch noch ihren eigenen Ersatz beerben.<br />

Einstweilen scheint Entwarnung gegeben zu sein, was die vormals progressiven<br />

Großideologien betrifft. Abgesehen vom aggressiv politischen Islamismus tritt<br />

heute nur noch der globale Geist des Marktes als Weltverbesserungsinstanz in<br />

Erscheinung. Und zwar mit dem Wahrheitsanspruch, daß es keine allgemeine<br />

Wahrheit mehr gibt. Diese totalitär anmutende Marktlogik hat auch schon die<br />

Lebenswelt der Christen ergriffen. Da soll jeder seine Sinn- und Wertnachfrage<br />

beliebig befriedigen und nach Kosten und Nutzen sein Glück probieren.<br />

Die entscheidende Stelle in den Briefen des heiligen Paulus (Röm 12,2) lautet:<br />

„Paßt euch nicht dieser Weltzeit an, sondern gestaltet euch um durch die Erneuerung<br />

des Geistes, damit ihr prüft, was der Wille Gottes, das Gute, Wohlgefällige<br />

und Vollkommene ist.“ Dieses „Nolite conformari“ bedeutet zunächst: Christen<br />

sind Nonkonformisten, keine Anpasser, die dem jeweils sich vordrängelnden<br />

Geist der Zeit nachlaufen. Den Grund für diese christliche Unzeitgemäßheit sieht<br />

Paulus in den dunklen Seiten, die diese Welt seit dem Sündenfall kennzeichnen:<br />

Sie ist vergänglich und kurzlebig; böse Mächte bedrücken sie; in ihr wirken<br />

Sünde und Laster, Habgier und Ve rblendung.<br />

Das ist keine Schwarzmalerei des Apostels, sondern eine realistische Wahrnehmung<br />

der Wirklichkeit - und es fällt nicht schwer, passende Beispiele auch für<br />

unsere Gegenwart zu nennen: Etwa die massenhaften Abtreibungen; die Tendenzen<br />

zur aktiven Euthanasie; die Vernutzung embryonaler Stammzellen zu medizinischen<br />

Zwecken; die Entwicklung zur genetischen Selektion und Manipulation;<br />

die staatliche Förderung homosexueller Partnerschaften; die allgegenwärtige<br />

Pornographie; der Kult der Gewalt in den Medien, in Terror und Krieg; der Zerfall<br />

der Familien und der Verlust der Erziehung - und nicht zuletzt Armut, Elend<br />

und Hunger in großen Teilen der Welt.<br />

All das hört die fortschrittsoptimistische Moderne nicht gern. Klar ist, daß Christen<br />

dieses Spiel nicht mitspielen oder sich gemütlich einnisten dürfen. Kein<br />

Anschluß unter dieser Nummer. Die Negativliste der „Zeichen der Zeit“ läßt auf<br />

Erlösungsbedürftigkeit schließen und setzt zugleich positiv die Erfahrbarkeit des<br />

Guten, Wahren und Schönen voraus. Doch viele Christen sind vom „positiven<br />

Denken“ so benebelt, daß sie die Schattenseiten kaum mehr wahrnehmen.<br />

Christen müssen heute in profilierter, kritisch unterscheidender Weise konservativ<br />

sein, indem sie die Aufklärer aufklären, die Emanzipatoren befreien und die<br />

Kritiker kritisieren. An den Früchten ihrer eigenen Lebensweise bezeugen sie die<br />

Wahrheit ihres Glaubens und ihrer moralischen Ansprüche. Und wenn sie sich<br />

missionarisch als „Salz der Erde“ bewähren wollen, sollten sie zunächst einmal<br />

innehalten, umkehren und bei sich selber anfangen.<br />

Wolfgang Ockenfels<br />

83


Lothar Roos<br />

Liebe und Gerechtigkeit<br />

Die Enzyklika Benedikts XVI. über Caritas und Soziallehre<br />

Die „Mitte des christlichen Glaubens“, so beginnt die erste Enzyklika von Papst<br />

Benedikt XVI., ist „das christliche Gottesbild“ und „das daraus folgende Bild des<br />

Menschen“ (1). Wir sind von Gott geliebt und in dieser Liebe untereinander und<br />

mit allen Menschen dieser Erde in Liebe verbunden und zur Liebe verpflichtet.<br />

Mit dieser Wahrheit wendet sich der Papst „an alle Christgläubigen“. Das bedeutet<br />

aber nicht, daß „das Eigentliche des Christentums aus den grundlegenden<br />

Lebenszusammenhängen des Menschseins ausgegliedert und zu einer Sonderwelt“<br />

würde, die „vom Ganzen der menschlichen Existenz abgeschnitten“ (7)<br />

wäre. Im Gegenteil: Weil Gott alle Menschen geschaffen und weil er in Jesus<br />

unser aller Bruder geworden ist, deshalb ist das christliche Go ttes- und Menschenbild<br />

für das Glück aller Menschen bedeutsam. Für die Kirche ergibt sich<br />

daraus ein „dreifacher Auftrag“: „Verkündigung von Gottes Wort (Kerygma –<br />

martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia). Es sind<br />

Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht von einander trennen<br />

lassen“ (25a). Diesem Dienst der Liebe widmet Benedikt XVI. seine erste Enzyklika.<br />

Wer aber über „die christliche Liebe“ schreibt, muß sich auch mit dem Verhältnis<br />

von „Gerechtigkeit und Liebe“ befassen. Unter dieser Überschrift (26-30)<br />

kommt Benedikt XVI. in seiner Enzyklika eingehend auch auf die „Katholische<br />

Soziallehre“ oder „die Soziallehre der Kirche“ zu sprechen (27). Während die<br />

bisherigen Reaktionen auf das Weltrundschreiben des Papstes insgesamt durchweg<br />

zustimmend waren, gab es zu seinen Ausführungen über die Katholische<br />

Soziallehre auch einige kritische Einwände.<br />

Wir wollen im folgenden herausarbeiten, wie Benedikt XVI. die Soziallehre der<br />

Kirche versteht und welche sozialethischen Wegweisungen die Enzyklika enthält.<br />

Dabei werden wir auch auf die erwähnte Kritik eingehen. 1<br />

1. Nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit für die Armen?<br />

Benedikt XVI. beginnt seine Ausführungen über die moderne Katholische Soziallehre<br />

mit einem Rückblick auf deren Entstehungszeit im 19. Jahrhundert. Bekanntlich<br />

antwortete die Kirche auf die Notlage vieler Menschen in der frühindustriellen<br />

Gesellschaft zunächst hauptsächlich mit karitativen Maßnahmen und<br />

Initiativen. Dem hielt damals vor allem die marxistische Kritik entgegen: „Die<br />

Armen bräuchten nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit.“ An diesem Argument,<br />

so sagt der Papst, sei „einiges richtig, aber vieles auch falsch“. Um der<br />

Gerechtigkeit zu dienen, genügten selbstverständlich nicht „Almosen“, vielmehr<br />

84


sei „das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit“. Insbesondere<br />

galt es damals „aufzustehen“ gegen die „Rechtlosigkeit der arbeitenden<br />

Massen“ und die in den Händen weniger liegende Macht, die „Produktionsstrukturen“<br />

zu bestimmen (26).<br />

Da nur der Staat die Rechtsordnung setzen und verändern kann, ist klar, daß er<br />

der erstverantwortliche Adressat sozialpolitischer Forderungen war. Wenn der<br />

Frankfurter Sozialethiker Friedhelm Hengsbach dem Papst vorwirft, er vertrete<br />

ein „vorplurales und vormodernes Politikverständnis“, weil für ihn „nur der Staat<br />

Träger der Politik sei, nicht aber die plurale Zivilgesellschaft“ 2 , dann ist dieser<br />

Vorwurf aus zwei Gründen unzutreffend: Zum einen betont Benedikt XVI. ausdrücklich,<br />

daß der Staat seine Aufgaben „unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips“<br />

(26) wahrnehmen müsse, zum anderen zeigt er auf, wie gerade die<br />

katholisch-soziale und katholische-politische Bewegung als Teil der Zivilgesellschaft<br />

in der frühindustriellen Zeit die sozialen Nöte zu beheben suchten. Benedikt<br />

XVI. stellt den deutschen Katholizismus hier geradezu als Musterbeispiel<br />

heraus, wenn er ausdrücklich „Bischof Ketteler von Mainz“ erwähnt und auf die<br />

„Zirkel, Vereinigungen, Verbände und Föderationen und vor allem neue Ordensgeme<br />

inschaften“ hinweist, die damals „den Kampf gegen Armut, Krankheit und<br />

Bildungsnotstand aufnahmen“. Auch in der ersten Sozialenzyklika Rerum Novarum<br />

(1891) wird zwar nachdrücklich der Staat auf seine sozialrechtliche Verantwortung<br />

verpflichtet, genauso aber stellt Leo XIII. die Verantwortung der „Gesellschaft“<br />

für eine Veränderung der Verhältnisse heraus, indem er z. B. die<br />

Arbeitgeber auf gerechte Löhne verpflichtet (RN 17, 34, 35) und das Koalitionsrecht<br />

der Arbeitervertretungen als „Naturrecht“ (RN 38) hervorhebt.<br />

2. Wo „berühren sich Politik und Glaube“?<br />

Eine wichtige Aufgabe sieht der Papst darin, „genauer zu klären“, worin im<br />

„notwendigen Ringen um Gerechtigkeit und den Dienst der Liebe“ sowohl die je<br />

eigene Aufgabe als auch das Miteinander von Glaube und Politik bestehen: Die<br />

Kirche „kann nicht und darf nicht den politischen Kampf an sich reißen“, sie<br />

muß vielmehr „auf dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft<br />

eintreten, und sie muß die seelischen Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die<br />

immer auch Verzichte verlangt, sich nicht durchsetzen und nicht gedeihen kann“.<br />

Sie soll vor allem „durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse<br />

des Guten“ die ethischen Voraussetzungen für eine „gerechte Gesellschaft“<br />

vermitteln, die dann „von der Politik geschaffen werden“ muß.<br />

Da Politik „mehr als Technik der Gestaltung öffentlicher Ordnungen“ sei, muß<br />

sie sich auch der Frage stellen: „Was ist Gerechtigkeit?“. Diese Frage kann deshalb<br />

nicht rein soziotechnisch beantwortet werden, weil sie „ethischer Natur“ ist.<br />

An dieser Stelle „berühren sich Politik und Glaube“: Die Antwort auf die Frage<br />

nach der Gerechtigkeit sei zunächst „eine Frage der praktischen Vernunft“.<br />

Wenn man darüber nachdenkt, welche problematischen Ziele schon im Verlauf<br />

insbesondere der Neuzeit als Postulate der Vernunft ausgegeben wurden, dann<br />

kann man der Feststellung des Papstes nur Recht geben: „Aber damit die Ve r-<br />

85


nunft recht funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn<br />

ihre ethische Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die<br />

die Vernunft blenden, ist eine nie ganz zu bannende Gefahr.“<br />

Genau hier sei „der Ort der Katholischen Soziallehre anzusetzen“. Sie „argumentiert<br />

von der Ve rnunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen<br />

Menschen wesensgemäß ist.“ Sie will auf dieser Grundlage der „Gewissensbildung<br />

in der Politik dienen und helfen, daß die Hellsichtigkeit für die wahren<br />

Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich auch die Bereitschaft, von<br />

ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen widerspricht.“<br />

Zu dieser „Re inigung“ der Vernunft ist der christliche Glaube dann fähig, wenn<br />

er „sein eigenes Wesen als Begegnung mit dem lebendigen Gott“ begreift und so<br />

„zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst“ darstellt. „Er befreit<br />

sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr<br />

deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk<br />

besser zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen.“ 3 Mit ihrer Soziallehre wolle<br />

sich die Kirche nicht „Macht über den Staat verschaffen; sie will auch nicht<br />

Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen aufdrängen,<br />

die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft<br />

beitragen und dazu helfen, daß das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und<br />

dann auch durchgeführt werden kann.“ (28)<br />

Der Aufbau „gerechter Strukturen“ gehört also „dem Bereich der selbstverantwortlichen<br />

Vernunft“ an und damit unmittelbar „der Ordnung der Politik“. Die<br />

Kirche habe dabei „eine mittelbare Aufgabe insofern, als ihr zukommt, zur Reinigung<br />

der Vernunft und zur Weckung der sittlichen Kräfte beizutragen, ohne die<br />

rechte Strukturen weder gebaut werden noch auf Dauer wirksam sein können.“<br />

Diese Aufgabe kommt „eigens den gläubigen Laien zu“. Sie sollen „das gesellschaftliche<br />

Leben in rechter Weise gestalten, indem sie dessen legitime Eigenständigkeit<br />

respektieren und mit den anderen Bürgern gemäß ihren jeweiligen<br />

Kompetenzen und in eigener Verantwortung zusammenarbeiten“ (29).<br />

Der Tübinger Sozialethiker Dietmar Mieth glaubt in diesen Aussagen eine „gewisse<br />

Schieflage“ zu erkennen. Er nimmt an der „sehr undialektischen Behauptungsweise“<br />

Anstoß, daß der „Aufbau gerechter Strukturen nicht unmittelbar<br />

Aufgabe der Kirche ist.“ Damit würden nicht nur explizit der Marxismus und<br />

ohne Namensnennung die Befreiungstheologie getroffen, sondern auch kirchliche<br />

Bewegungen, wie das Arbeiterpriestertum, die polnische Solidiaritätsbewegung<br />

und die soziale Aktion der Kirche. 4 – Diese Kritik ist insofern nicht nachvollziehbar,<br />

als sie nicht nur die neue Enzyklika, sondern genau das kritisiert,<br />

was das II. Vaticanum hierzu in der Pastoralkonstitution und im Dekret über das<br />

Laienapostolat gesagt hat.<br />

3. Der Sozialstaat ersetzt nicht den „Dienst der Liebe“<br />

In einem kurzen konzentrierten Abschnitt (28b) befaßt sich die Enzyklika mit<br />

dem Verhältnis von sozialstaatlicher Gerechtigkeit und dem karitativen „Dienst<br />

der Liebe“. Die Grundthese lautet: „Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die<br />

86


den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte“. Dies wäre selbst dann nicht<br />

der Fall, wenn der Sozialstaat die Gestalt des „totalen Versorgungsstaats, der<br />

alles an sich zieht“, annehmen würde. Denn als „bürokratische Instanz“ kann er<br />

„das Wesentliche nicht geben, das der leidende Mensch – jeder Mensch -<br />

braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung“.<br />

Daraus zieht der Papst die ordnungspolitische Konsequenz: „Nicht den alles<br />

regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend<br />

dem Subsidiaritätsprinzip großzügig Initiativen anerkennt und unterstützt,<br />

die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und<br />

Spontanität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden.“ Hinter der<br />

Vorstellung, „gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen,<br />

verbirgt (sich) tatsächlich ein materialistisches Menschenbild,“ das „den<br />

Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt.“<br />

Friedhelm Hengsbach meint dazu: „Die Kritik am Sozialstaat klingt so, als hätten<br />

bürgerliche Eliten aus Deutschland sie diktiert.“ Gerne würde man wissen,<br />

wen Hengsbach damit meint. Die hier vom Papst vorgetragenen Befürchtungen,<br />

der Sozialstaat könne zum totalen Versorgungsstaat degenerieren, ist heute in<br />

Deutschland – von wenigen Außenseitern abgesehen – wissenschaftliches Allgemeingut.<br />

5 Im übrigen geht es dem Papst an dieser Stelle nicht um eine aktuelle<br />

Kritik am Zustand des deutschen Sozialstaats, vielmehr darum, daß dieser grundsätzlich<br />

nicht zum anti-subsidiären Versorgungsstaat wird, indem er „die aus den<br />

verschiedenen gesellschaftlichen Kräften“ aufsteigenden sozial-karitativen Initiativen<br />

und Institutionen erstickt.<br />

4. Das „soziale Umfeld“ im „Ringen um Gerechtigkeit und Liebe“<br />

Unter welchen ideologischen und gesellschaftlichen Bedingungen kann der<br />

kirchliche Einsatz für Gerechtigkeit und Liebe heute geleistet werden? Der Papst<br />

sieht hier eine ganze Reihe hilfreicher Faktoren. Zunächst zeichnet er ein positives<br />

Bild der „Massenkommunikationsmittel“, insofern sie „heute unseren Planeten<br />

kleiner werden lassen, indem sie unterschiedlichste Menschen und Kulturen<br />

schnell einander erheblich näher gebracht haben“, so daß man „die Nöte der<br />

Menschen viel direkter erfährt“. Das Leiden, mit dem wir täglich „aufgrund<br />

vielgestaltiger materieller wie auch geistiger Not in der Welt“ über die Medien<br />

konfrontiert werden, kann eine „neue Bereitschaft“ wecken, „dem notleidenden<br />

Nächsten zu helfen“ (30a).<br />

Positiv sieht Benedikt XVI. auch die „zahlreichen Formen der Zusammenarbeit<br />

zwischen staatlichen und kirchlichen Instanzen“, um Menschen in Not weltweit<br />

zu helfen. Aufgabe kirchlicher Initiativen sei es, vor allem in der „treuen Erfüllung<br />

ihrer Pflicht, die Liebe zu bezeugen, auch die zivilen Instanzen mit christlichem<br />

Geist (zu) befruchten und eine wechselseitige Abstimmung (zu) fördern,<br />

die zweifellos der Wirksamkeit des karitativen Dienstes nützlich sein wird“. Die<br />

Enzyklika verweist weiter auf „vielfältige Organis ationen mit karitativen und<br />

philanthropischen Zielen“ und auf „das Entstehen und die Ausbreitung verschiedener<br />

Formen des Volontariats“ und widmet allen diesen Bemühungen „ein<br />

87


esonderes Wort der Anerkennung und Dankbarkeit“. Er erwähnt in diesem<br />

Zusammenhang auch die Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ seines Vorgängers,<br />

in der dieser die Zusammenarbeit mit allen Kirchen und Gemeinschaften gewürdigt<br />

hat, die aus der „gleichen Grundmotivation“ handeln, nämlich einem „wahren<br />

Humanismus, der im Menschen das Ebenbild Gottes erkennt und ihm helfen<br />

will, ein Leben gemäß dieser seiner Würde zu verwirklichen“ (Vgl. SRS 32).<br />

Benedikt XVI. macht aber auch deutlich, mit welchen „Parteien und Ideologien“<br />

die Kirche nicht kooperieren kann. Er spricht von „verschiedenen Varianten<br />

einer Philosophie des Fortschritts, deren radikalste Form der Marxismus darstellt“.<br />

Von daher werde der karitative Einsatz als „systemstabilisierend denunziert<br />

und angegriffen“. Benedikt XVI. nennt dies eine „Philosophie der Unmenschlichkeit“,<br />

durch die der „jetzt lebende Mensch ... dem Moloch Zukunft<br />

geopfert“ wird, und hält dem entgegen: „In Wahrheit kann die Menschlichkeit<br />

der Welt nicht dadurch gefördert werden, daß man sie einstweilen stillegt. Zu<br />

einer besseren Welt trägt man nur bei, indem man selbst jetzt das Gute tut, mit<br />

aller Leidenschaft und wo immer die Möglichkeit besteht“ (31b).<br />

Benedikt XVI. gibt hier in Kurzform das wieder, was sich in entsprechenden<br />

Aussagen der „Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über einige<br />

Aspekte der Theologie der Befreiung“ vom 6. August 1984 und in einem damals<br />

zeitgleich von ihm publizierten Artikel findet. 6 Dort sprach er von der „theokratischen<br />

Gefahr“, die dann auftrete, wenn „die Mesalliance zwischen Christentum<br />

und Marxismus die Vorspiegelung eines politisch schaffbaren Gottesreiches<br />

hervorholt“. Im „Mythos der besseren Welt“ werde „das Ethos vom Menschen<br />

auf die Strukturen verlagert“. Ratzinger sieht darin eine „Flucht aus dem Moralischen<br />

ins Utopische“ und fordert demgegenüber den „Mut zur Unvollkommenheit<br />

und zum Ethos“. Das Ethos aber ist „allzeit gefährdet, nie vollkommen und<br />

muß immer neu errungen werden. Deswegen ist ein vom Ethos, von der Freiheit<br />

getragener Staat nie fertig, nie ganz gerecht, nie gesichert. Er ist unvollkommen<br />

wie der Mensch selbst.“ Der Staat als „societas imperfecta“ brauche „Kräfte von<br />

außerhalb seiner selbst, um als er selbst bestehen zu können“. Diese Kräfte kann<br />

er nirgendwo besser finden als im Christentum. Es hat „von Anfang an darauf<br />

bestanden, das Politische in der Sphäre der Rationalität und des Ethos zu belassen.<br />

Es hat die Annahme des Unvollkommenen gelehrt und ermöglicht. Anders<br />

ausgedrückt: Das Neue Testament kennt politisches Ethos, aber keine politische<br />

Theologie“.<br />

5. Die Eigenart der „Soziallehre der Kirche“<br />

Wie aber ist diese „Sphäre der Rationalität und des Ethos“ genauer zu beschreiben,<br />

und welche Handlungsperspektiven lassen sich hier finden? Damit sind wir<br />

bei der in der Enzyklika nachdrücklich angesprochenen Frage nach dem Selbstverständnis<br />

der „Soziallehre der Kirche“.<br />

In seinem Lehrbuch „Christliche Gesellschaftslehre“, dessen erweiterte Neuausgabe<br />

(1997) 7 inzwischen in zehn Sprachen übersetzt wurde, betont Joseph Kardinal<br />

Höffner den inneren Zusammenhang zwischen sozialtheologischen und<br />

88


sozialphilosophischen Methoden in der Katholischen Soziallehre, weil die<br />

„Grundsätze des Naturrechts und die Offenbarungswahrheiten wie zwei keineswegs<br />

entgegengesetzte, sondern gleichgerichtete Wasserläufe, beide ihre gemeinsame<br />

Quelle in Gott“ haben. 8 Dieser methodische Ansatz wurde in der jüngeren<br />

Vergangenheit innerhalb der Kirche von manchen als „nicht mehr zeitgemäß“<br />

kritisiert. Insofern durfte man gespannt sein, ob und wie Benedikt XVI. in<br />

seiner ersten Enzyklika diese Frage behandeln würde.<br />

a) Die Unverzichtbarkeit der naturrechtlichen Argumentation<br />

Das Ergebnis ist eindeutig: Die Caritas als ein Grundauftrag der Kirche und die<br />

„Soziallehre der Kirche“ sind beide unentbehrlich, um der Liebe Gottes zum<br />

Menschen gerecht zu werden. Das wichtigste erkenntnistheoretische Instrument<br />

dieser Sozia llehre ist gemäß der neuen Enzyklika das, „was allen Menschen<br />

wesensgemäß ist“. Das bedeutet: „Die Soziallehre der Kirche argumentiert von<br />

der Vernunft und vom Naturrecht her“ (28). Der dazu nötige „Imperativ der<br />

Nächstenliebe“ sei „vom Schöpfer in die Natur des Menschen selbst eingeschrieben“<br />

(31). Damit stellt Benedikt XVI. klar: Die naturrechtliche Argumentation<br />

ist für die Soziallehre der Kirche grundlegend und deshalb unverzichtbar.<br />

In einer Anmerkung (22) seiner Enzyklika verweist er auch auf die unter seiner<br />

Verantwortung als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre am 24. November<br />

2002 veröffentliche „Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz<br />

und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben“. 9 Dieses Dokument<br />

spricht an nicht weniger als sieben Stellen vom „natürlichen Sittengesetz“, von<br />

der „Natur des Menschseins“, einer „natürlichen Ethik“, vom „menschlichen<br />

Wesen“ und dessen „natürlicher Erkenntnis“. Schlägt man den Index des kürzlich<br />

auch in deutscher Sprache vorgelegten Kompendiums der Soziallehre der<br />

Kirche auf, dann findet man unter den Begriffen „Natur“, „Naturrecht“ – „natürliches<br />

Recht“ insgesamt 43 Hinweise, in denen auf die naturrechtliche Argumentation<br />

zurückgegriffen wird. 10 Wer also die Sache der Katholischen Soziallehre<br />

begreifen und vertreten will, kommt an der naturrechtlichen Argumentation nicht<br />

vorbei. Dabei ist es freilich unumgänglich, das damit Gemeinte näher zu erläutern<br />

und gegen Mißverständnisse abzuklären.<br />

b) Kritische Reaktionen<br />

Die Selbstverständlichkeit, mit der sowohl die Enzyklika als auch das erwähnte<br />

Kompendium der Soziallehre der Kirche das Wort von der „ewigen Wiederkehr<br />

des Naturrechts“ 11 bestätigen, ist nicht unwidersprochen geblieben. Daniel Deckers<br />

kritisiert in seiner Rezension des Kompendiums: „Der Begriff Naturrecht<br />

etwa wird in den herangezogenen Texten mit einer an Naivität grenzenden<br />

Selbstverständlichkeit gebraucht, die nichts von den schwerwiegenden Anfragen<br />

an die philosophischen Prämissen sowie an Theorie und Praxis der Normbegründung<br />

erahnen läßt, denen die kirchliche Sozialverkündigung seit ihrer Entstehung<br />

im 19. Jahrhundert ausgesetzt ist.“ 12 Auch Christian Geyer rieb sich offensichtlich<br />

etwas verwundert die Augen angesichts der schlichten Aussage der<br />

Enzyklika, die Soziallehre der Kirche „argumentiert von der Vernunft und vom<br />

Naturrecht her“. Er meinte zumindest „haarfeine Risse im scheinbar ehernen<br />

89


Vokabular der überkommenen Lehre“ entdecken zu können, weil Benedikt XVI.<br />

nicht gesagt habe: Die Soziallehre „gründet auf Vernunft und Naturrecht“, sondern<br />

sie „argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her“. 13 Diese Ve r-<br />

wunderung ist insofern teilweise verständlich, als Kardinal Ratzinger in seinem<br />

Disput mit Jürgen Habermas gesagt hatte: „Die Idee des Naturrechts setzte einen<br />

Begriff von Natur voraus, in dem Natur und Vernunft ineinandergreifen, die<br />

Natur selbst vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie<br />

zu Bruch gegangen. Die Natur als solche sei nicht vernünftig, auch<br />

wenn es in ihr vernünftiges Verhalten gibt: Das ist die Diagnose, die uns von<br />

dort gestellt wird und die heute weithin unwidersprechlich scheint.“ 14<br />

Christian Geyer hatte einige Monate vor dem Erscheinen der Enzyklika auch das<br />

Gespräch von Benedikt XVI. mit Hans Küng kommentiert. In der „Erklärung des<br />

Heiligen Stuhls zur Begegnung von Papst Benedikt XVI. mit Theologieprofessor<br />

Hans Küng“ steht: „Der Papst würdigte das Bemühen von Professor Küng, im<br />

Dialog der Religionen wie in der Begegnung mit der säkularen Vernunft zu einer<br />

erneuerten Anerkennung der wesentlichen moralischen Werte der Menschheit<br />

beizutragen“. 15 Geyer meinte dazu: „Der Akzent liegt hier nicht länger darauf,<br />

daß erst der Glaube die Vernunft zu sich selbst bringt – sondern die Vernunft<br />

trägt viele Gesichter ... Wenn es aber nicht mehr den einen höchsten Begriff von<br />

‚Vernunft‘ gibt, dann kann es auch einen solchen von ‚Natur‘ nicht geben, einem<br />

weiteren Klassiker katholischer Argumentationsfiguren.“ Dabei beruft sich der<br />

Autor auch auf die eben zitierten Äußerungen Joseph Ratzingers im Gespräch<br />

mit Jürgen Habermas. 16 Übersehen wird dabei, daß Joseph Ratzinger im Gespräch<br />

mit Habermas in naturrechtlicher Diktion von den „wesentlichen moralischen<br />

Werten der Menschheit“ spricht; sodann, daß er sich „in diesem Gespräch“<br />

nicht auf das Naturrecht „stützen“ wolle. Die christliche Naturrechtsphilosophie<br />

kann ihre letzte Gewißheit nur von ihrem theologischen Vorzeichen her gewinnen,<br />

wonach der Schöpfer den Menschen genügend Vernunft gegeben hat, um<br />

das Gute vom Bösen zu unterscheiden. So kann man gegenüber jemand, der sich<br />

wie Habermas als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, schwer argumentieren.<br />

Sodann hielt es Joseph Ratzinger an dieser Stelle wohl nicht für angebracht, sich<br />

mit der Evolutionstheorie zu befassen. Daß er die Hypothese des evolutionistischen<br />

Zufalls nicht teilt, wird aus der in einer Anmerkung dazu aufgeführten<br />

eigenen und fremden kritischen Literatur zur evolutionistischen Zufallstheorie 17<br />

ebenso deutlich, wie aus dem Satz seiner ersten Predigt als Papst: „Wir sind<br />

nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht<br />

eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht.“ 18<br />

Daß Joseph Ratzinger keineswegs auf die naturrechtliche Argumentation verzichten<br />

will, dies zeigt eben seine erste Enzyklika.<br />

c) Das rationalistische Mißverständnis des Naturrechts<br />

Das Anstößige der naturrechtlichen Argumentation scheint für viele darin zu<br />

liegen, daß sie auf anthropologische Konstanten, also auf das, „was allen Menschen<br />

wesensgemäß“ (28) ist, zurückgreift. „Wesensmäßig“ wäre das, was der<br />

„Natur des Menschen“ entspricht und deshalb als „vernünftig“ anzusehen ist.<br />

Dies könnte man im Sinne eines naturalistischen Rationalismus mißverstehen.<br />

90


Im ersten Teil der Enzyklika wird jedoch das theologische Vorzeichen und die<br />

darin letztlich abgesicherten Postulate des Naturrechts von Benedikt XVI. eingehend<br />

am Verhältnis der „schenkenden Liebe“ (Agape) Gottes und der „begehrenden<br />

Liebe“ (Eros) des Menschen erhellt. Er stellt dabei fest, der Eros sei<br />

„gleichsam wesensmäßig im Menschen selbst verankert“, und fährt fort: „Der<br />

Eros verweist von der Schöpfung her den Menschen auf die Ehe, auf eine Bindung,<br />

zu der Einzigkeit und Endgültigkeit gehören. So, nur so erfüllt sich seine<br />

innere Weisung. Dem monotheistischen Gottesbild entspricht die monogame<br />

Ehe“ (11).<br />

Daß eine solche Schlußfolgerung provoziert, kann man verstehen. So fragte denn<br />

auch Christian Geyer in seinem bereits erwähnten Kommentar: „Der naturrechtliche<br />

Vernunftsbegriff, er ist unhintergehbar monogam. Ist und bleibt also alles<br />

andere unvernünftig?“ Unter indirektem Hinweis auf die faktischen Varianten<br />

des Eros gibt er den Rat, „nicht in einer Enzyklika“, sondern „im Zweifel bei<br />

Shakespeare“ nachzulesen, „daß das Projekt, den Menschen zur monogamen<br />

Vernunft zu bringen, so unvernünftig sein könnte, wie die Liebe selbst“. – Diesem<br />

Einwand gegen den „naturrechtlichen Vernunftbegriff“ liegt das „naturalistische“<br />

Mißverständnis zugrunde, als ob man aus dem faktisch feststellbaren<br />

menschlichen Verhalten ohne weiteres Sollensforderungen ableiten könne. Dies<br />

wäre nur unter der Voraussetzung des materialistischen Neo-Darwinismus mö g-<br />

lich. Im Unterschied zum Tier ist aber der Mensch nicht in dem Sinn ein „Naturwesen“,<br />

daß er die für sein Leben und Überleben nötigen Verhaltensweisen<br />

biotopisch vorfindet und instinktgesichert verwirklicht, er muß vielmehr aus der<br />

Fülle seiner Möglichkeiten, wenn er sich nicht selbst verlieren will, auswählen<br />

und dabei zwischen gut und böse unterscheiden. Er ist als o ein sittliches Wesen,<br />

das an Wertenscheidungen nicht vorbeikommt. Das Naturrecht fällt nicht wie ein<br />

Stein vom Himmel. Es verdankt seine Einsichten einem langen kulturellen Reflexionsprozeß,<br />

in dessen Verlauf die allen Menschen zukommende Würde und<br />

deren normative Konsequenzen allmählich bewußt werden.<br />

Karl Jaspers etwa spricht im Blick auf die abendländische Kultur von einem<br />

dreitausendjährigen historischen Optimierungsprozeß. Dabei machen wir anthropologisch<br />

verbindliche Erfahrungen, hinter die wir um des Menschen willen<br />

nicht wieder zurückfallen dürfen, z. B. daß die Einehe der Polygamie vorzuziehen<br />

ist. Die Kultur ist stets „das Unwahrscheinliche“ (Arnold Gehlen). Der<br />

Rückfall in die Barbarei ist jederzeit möglich. Kultur muß jeweils der immer<br />

bedrohlichen Neigung zur Dekadenz abgerungen werden. Daß deshalb naturrechtlich<br />

begründete Postulate „kontrafaktisch-normativen Charakter“ (Geyer)<br />

haben können, ist kein Einwand gegen ihre Richtigkeit. Ethische Verbote sind<br />

immer auch kontrafaktisch, also gegen das gerichtet, was „man so tut“, sonst<br />

wären sie überflüssig. Würden wir die Zehn Gebote halten, bräuchten wir sie<br />

nicht. Wohin eine Gesellschaft abdriftet, wenn das dem Menschen „Wesensgemäße“<br />

gerade im Bereich von Ehe und Familie relativistisch zerfällt, läßt sich<br />

leicht ausmachen. 19<br />

Insofern steht im Kern der naturrechtlichen Argumentation die Einsicht in eine<br />

mit dem Menschsein gegebene Würde und damit verbundene unveräußerliche<br />

91


Rechte und entsprechende Pflichten. In diesem Sinne erklärte Papst Benedikt<br />

XVI. z. B. am 24. Juni 2005 bei der Ansprache anläßlich seines Besuchs beim<br />

italienischen Staatspräsidenten Ciampi: „Die Kirche, die gewohnt ist, den Willen<br />

Gottes zu erforschen, der in die Natur des menschlichen Geschöpfes eingeschrieben<br />

ist, sieht in der Familie einen äußerst wichtigen Wert, der vor jedem<br />

Angriff geschützt werden muß, weil dieser darauf abzielt, ihre Festigkeit zu<br />

unterhöhlen und ihre Existenz in Frage zu stellen.“ Hier und bei ähnlichen Fragen<br />

solle der Gesetzgeber „humane“ Lösungen suchen, welche die „unveräußerlichen<br />

Werte achten, die in ihnen enthalten sind.“ 20 In seinem Gespräch mit Jürgen<br />

Habermas hatte Joseph Ratzinger festgestellt, als „letztes Element des Naturrechtes<br />

... sind die Menschenrechte stehen geblieben. Sie sind nicht verständlich<br />

ohne die Voraussetzung, daß der Mensch als Mensch, einfach durch seine<br />

Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, Subjekt von Rechten ist, daß sein Sein selbst<br />

Werte und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht zu erfinden sind.“ 21<br />

Ähnlich begründet werden die Menschenrechte in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung<br />

von 1776 und im Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes.<br />

d) Die „Korrelationalität“ von Vernunft und Glaube<br />

Ein zweites Mißverständnis hinsichtlich des christlichen Naturrechtsdenkens<br />

besteht in seiner Gleichsetzung mit einem rationalistischen Vernunftoptimismus,<br />

der glaubt, auf Gottes Wort verzichten zu können. Deshalb bedarf es, wie schon<br />

gesagt, stets der „Reinigung der Ve rnunft“ im Lichte der biblisch-christlichen<br />

Offenbarung. Genau darin unterscheidet sich eine christliche Naturrechtsphilosophie<br />

von einem puren Rationalismus. Sie wendet sich aber genauso gegen eine<br />

reine „Glaubensethik“, die ihre Postulate außerhalb der Hörweite der menschlichen<br />

Vernunft formulieren will. Die Wiege des neuzeitlichen naturrechtlichen<br />

Denkens liegt ja in der spanischen Spätscholastik des „Goldenen Zeitalters“.<br />

Franz von Vitoria und Franz Suarez wandten sich damals gegen theologische<br />

Rechtfertigungen der spanischen Conquista in Lateinamerika. Sie betonten das<br />

„natürliche Recht“ der indigenen Kulturen auf Existenz. Joseph Höffner, ein<br />

ausgewiesener Kenner dieser Zeit, machte in diesem Zusammenhang auf die<br />

kritische Kraft der naturrechtlichen Vernunft gegenüber theologischen Grenzüberschreitungen<br />

aufmerksam. 22 Wenn theologische Argumente sich auf den<br />

„Willen Gottes“ stützen, dann gibt es keine vernünftige Basis, sich gegen sie zu<br />

wenden. Das Naturrecht aber beruft sich auf die menschliche Vernunft. Es muß<br />

auf dieser Grundlage argumentieren und kann deshalb auch mit Vernunftargumenten<br />

kritisiert werden.<br />

Auf Ähnliches hat Joseph Ratzinger am Ende seines Gesprächs mit Jürgen Habermas<br />

hingewiesen. Er sprach von „Pathologien in der Religion“ und von<br />

„Pathologien der Vernunft“. Beide können gefährlich und bedrohlich werden.<br />

Ratzingers Fazit: „Ich würde demgemäß von einer notwendigen Korrelationalität<br />

von Vernunft und Glaube, Vernunft und Religion sprechen, die zu gegenseitiger<br />

Reinigung und Heilung berufen sind und die sich gegenseitig brauchen und das<br />

gegenseitig anerkennen müssen.“ 23 Und dem stimmte Jürgen Habermas zur<br />

Überraschung mancher zu.<br />

92


Von daher wird klar: Eine christliche Naturrechtsphilosophie ist etwas anderes<br />

als ein autonomistischer Rationalismus. Ihre gesellschaftliche Notwendigkeit<br />

wird heute zunehmend in dem Maße neu erkannt, wie sich eine Gesellschaft<br />

ohne Gott in die Aporien einer rein technischen Vernunft verfängt. Insofern steht<br />

Benedikt XVI. eher für ein postmodernes als für ein „vormodernes“ Verhältnis<br />

von Vernunft und Glaube, von Glaube und Politik. Er zeigt auf, daß die „Liebestätigkeit“<br />

der Kirche und die Verwirklichung der Katholischen Soziallehre eine<br />

zwar zu unterscheidende, aber theologisch untrennbare Einheit bilden. Der Papst<br />

betont in seinem methodischen Ansatz ähnlich wie Joseph Höffner den inneren<br />

Zusammenhang zwischen sozial-theologischen und sozial-philosophischen Methoden.<br />

Dieser Ansatz findet sich bereits in der von Joseph Höffner 1935 an der<br />

Gregoriana vorgelegten Dissertation. 24 Dies entspricht ganz dem Zweiten Vatikanischen<br />

Konzil, das den Auftrag der Kirche, „den Glauben zu verkünden, ihre<br />

Soziallehre kundzumachen“ in einem Atemzug nennt (vgl. GS 76,5), mit den<br />

Worten der Enzyklika gesagt: „Glaube, Kult und Ethos greifen ineinander als<br />

eine einzige Realität, die in der Begegnung mit Gottes Agape sich bildet“ (14).<br />

6. Die kulturbildende Kraft des Christentums<br />

Mit seiner Enzyklika „Deus Caritas est“ macht Benedikt XVI. auch auf die kulturbildenden<br />

Kraft des christlichen Glaubens, der von ihm ausgehenden Liebe<br />

und dem Streben nach Gerechtigkeit aufmerksam. Daß Gott, der die Liebe ist,<br />

den Menschen als sein „Abbild“ geschaffen hat, daß Jesus Christus, die menschgewordene<br />

Liebe Gottes, sich mit den geringsten seiner und unseren Brüder und<br />

Schwestern identifiziert (vgl. Mt 25), hat zunächst die abendländische Kultur,<br />

dann aber auch alle anderen Kulturen, mit denen das Christentum wesentlich in<br />

Kontakt kam, nachhaltig geprägt. Dies geschah und geschieht durch Tugenden<br />

und Werke der christlichen Caritas, aber auch durch die Bildung spezifischer<br />

normativer Aussagen und Lebensformen im Sinne einer Kultur der Ehe und<br />

Familie, der Wirtschaft, von Staat und Politik, des Erziehungs- und Bildungswesen<br />

usw. Die Enzyklika macht deutlich, daß eine solche Kultur nicht „nebensächlich“<br />

entstehen konnte, sondern ihre Wurzel zutiefst im biblischen Gottes- und<br />

Menschenbild hat. Unter der Überschrift „Das Liebestun als Auftrag der Kirche“<br />

zeigt dies Benedikt XVI. zunächst am Beispiel des Ur- und Frühchristentums auf<br />

(20-24); dann unter der Überschrift „Gerechtigkeit und Liebe“ am Beispiel der<br />

Personen, Bewegungen und Dokumente der kirchlichen Sozialverkündigung,<br />

dank derer sich die Kirche besonders seit dem Beginn der Industriegesellschaft<br />

um Gerechtigkeit und Liebe müht.<br />

Daraus ergibt sich die Frage, wie es derzeit um diese kulturbildende Kraft des<br />

Christentums steht, und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie sich<br />

behaupten muß. Diese Frage stellt sich sowohl im Hinblick auf das zusammenwachsende<br />

Europa als auch auf das weltweite Bemühen um Liebe und Gerechtigkeit<br />

unter den Bedingungen einer globalen Zivilisation. Joseph Ratzinger hat<br />

sich dazu vielfach vor und seit seiner Wahl zum Papst geäußert, kurz davor in<br />

einem Vortrag, den er in Subiaco gehalten hat. 25 Er kritisiert darin vor allem die<br />

Geschichtsvergessenheit, die sich in der Nichterwähnung „der christlichen Wur-<br />

93


zeln Europas“ in der Präambel des europäischen Verfassungsvertrages ausdrückt.<br />

Er zeigt auf, wie eine „konfuse Ideologie der Freiheit“ zu einem „Dogmatismus“<br />

führt, der nur noch den religiösen und ethischen Relativismus als „political correct“<br />

akzeptiert. 26<br />

Die Enzyklika, so kann man zusammenfassend feststellen, ist nicht nur eine<br />

Magna Charta der christlichen Caritas, sondern auch ein Dokument der Soziallehre<br />

der Kirche. Sie bietet eine Fülle von Denkanstößen darüber, wie die kulturbildende<br />

Kraft des Christentums unter heutigen und morgigen Bedingungen als<br />

das „signifikant Andere“ in der Welt, aber eben nicht als eine „Sonderwelt“,<br />

sondern in den „grundlegenden Lebenszusammenhängen des Menschseins“ (7)<br />

heilend und helfend fruchtbar werden könnte.<br />

Anmerkungen<br />

1) Zur spezifisch deutschen Kritik an Johannes Paul II. und seinem Nachfolger siehe<br />

auch: Andreas Püttmann: Päpstliche Ereignisse: Papstbegräbnis – Papstwahl – Papstbesuch,<br />

in: Die Neue Ordnung 59 (2005) 335-348.<br />

2) Theologen zur Enzyklika: „Gewisse Schieflage“, in: KNA-ID Nr. 10/8. März 2006, 5.<br />

3) Nikolaus Monzel hat dafür die prägnante Formel geprägt: „Die Liebe ist die Sehbedingung<br />

der Gerechtigkeit“. Ganz ähnlich sagt dies Johannes Paul II. in der Enzyklika „Dives<br />

in misericordia“ 12,3.<br />

4) Vgl. Theologen zur Enzyklika, a. a. O.<br />

5) Vgl. dazu neuerdings Bernhard Matthias Hillen: Institutionenethik und Tugendethos.<br />

Sozialstaat in aktuellen Konzepten der Wirtschaftsethik und der Katholischen Soziallehre,<br />

Bonn 2005.<br />

6) Joseph Kardinal Ratzinger: Der Mut zur Unvollkommenheit und zum Ethos. Was<br />

gegen eine politische Theologie spricht, in: FAZ vom 4. August 1984 Nr. 171.<br />

7) Joseph Kardinal Höffner: Christliche Gesellschaftslehre, hrsg., bearbeitet und ergänzt<br />

von Lothar Roos, Kevelaer (1997) 22000.<br />

8) Pius XII.: Radiobotschaft an Pfingsten 1. Juni 1941 (UG 498); über die genaue Zuordnung<br />

dieser beiden Quellen vgl. Ursula Nothelle-Wildfeuer: „Duplex ordo cognitionis“.<br />

Zur systematischen Grundlegung einer Katholischen Soziallehre im Anspruch von Philosophie<br />

und Theologie, Paderborn 1991.<br />

9) Verlautbarung des Apostolischen Stuhls 158, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen<br />

Bischofskonferenz, Bonn 2002. Vgl. dazu Lothar Roos: Die politische Verantwortungen<br />

des Christen unter den Bedingungen von Globalismus, Laizismus und Relativismus, in:<br />

Unitas 143 (2003) 183-188, sowie ders.: Wahre und falsche „Laizität“. Zur „politischen<br />

Note“ der päpstlichen Glaubenskongregation, in: Die Neue Ordnung 57 (2003) 223-227.<br />

10) Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden: Kompendium der Soziallehre der<br />

Kirche, Freiburg 2006, 509f.<br />

11) Heinrich Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, Leipzig 1936, München 2 ,<br />

1947.<br />

12) Daniel Deckers: In mehr als hundert Jahren gewachsen, in: FAZ vom 2. Februar 2006,<br />

Nr. 28.<br />

13) Christian Geyer: Ratzingers Erste. Fragmente einer Sprache der Liebe: Die neue<br />

Enzylika, in: FAZ vom 26. Jan. 2006 Nr. 22, S. 39.<br />

94


14) Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und<br />

Religion, Freiburg 2005, 50f.<br />

15) Vom Heiligen Stuhl veröffentlichtes deutsches Original ZG05092604.<br />

16) Christan Geyer: (Küng) Freundliche Einklammerung: Benedikts Weltethos, in: FAZ<br />

vom 28. Sept. 2005 Nr. 226 S. 37.<br />

17) Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, a. a. O., Anm. 2, 59.<br />

18) Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 168, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen<br />

Bischofskonferenz, Bonn 2005, 35.<br />

19) Vgl. z. B. eine französische Untersuchung, die in der bei islamischen Einwanderern<br />

verbreiteten Polygamie eine der Ursachen der französischen Vorstadtkrawalle ausgemacht<br />

hat (Michaela Wiegel, „Verwahrlosung durch Polygamie“, in: FAZ vom 17. November<br />

2005, Nr. 268 S. 3).<br />

20) Osservatore Romano vom 8. Juni 2005 Nr. 27 S. 11.<br />

21) A. a. O. 51.<br />

22) Joseph Höffner: Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen<br />

Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947.<br />

23) A. a. O. 57.<br />

24) Joseph Höffner: Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe, Saarbrücken 1935.<br />

25) Europa in der Krise der Kulturen. Vortrag von Joseph Kardinal Ratzinger, gehalten in<br />

Subiaco, hier zitiert aus: Medizin und Ideologie 3/05, 18-25.<br />

26) Vgl. ebd. 20 und 23.<br />

Prof. em. Dr. Lothar Roos war bis 2000 Lehrstuhlinhaber für „Christliche Gesellschaftslehre<br />

und Pastoralsoziologie“ an der Universität Bonn und lehrt heute<br />

an der privaten Hochschule „Gustav-Siewerth-Akademie“ in Oberbierbronnen.<br />

Er ist Vorsitzender der Joseph-Höffner-Gesellschaft.<br />

95


Heinrich Pompey<br />

Die Enzyklika „Deus Caritas est“<br />

Eine Profilierungschance für die Caritas?<br />

In seiner Ansprache anläßlich einer Audienz für die Teilnehmer der Konferenz<br />

des Päpstlichen Rates Cor Unum – zwei Tage vor der Publikation der Enzyklika<br />

– beschreibt der Papst die Absicht seines Lehrschreibens zur Caritas: „Es war<br />

mein Wunsch, die zentrale Bedeutung des Glaubens an Gott hervorzuheben –<br />

des Glaubens an den Gott, der ein menschliches Antlitz und ein menschliches<br />

Herz annahm. Der Glaube ist keine Theorie, die man übernehmen oder auch<br />

beiseite legen kann.“ „Ich wollte die Menschlichkeit des Glaubens verdeutlichen.“<br />

1<br />

1. Die Einmaligkeit der Enzyklika<br />

Seit Bestehen der Kirche ist die Enzyklika die erste grundlegende Inspiration der<br />

caritativ-diakonischen Sendung der Kirche und in dieser systematischen wie<br />

zugleich praktischen Weise singulär in der lehramtlichen Theologie des Westens.<br />

Benedikt XVI. greift die frühkirchliche programmatische, caritastheologische und<br />

caritaspraktische Reflexionstradition der Väter des Ostens Johannes Chrysostomus<br />

(349-407) wie Basilius d. Gr. (330-379) wieder auf. 2 Unbestritten gab es im<br />

Verlauf der Geschichte katholische und evangelische Theologen, die Abhandlungen<br />

zu Teilaspekten insbesondere zur Theologie der Liebe bzw. zu den theologischen<br />

Grundlagen der caritativen Diakonie der Kirche verfaßten. 3<br />

Mit Recht darf die katholische Kirche stolz sein, seit dem 19. Jahrhundert im<br />

Blick auf die makrosystemischen gesellschaftlichen Bedingungen der vorherrschenden<br />

sozialen Not (z. B. in der Arbeitswelt, in den Familien und im Migrationsschicksal<br />

etc.) jeweils mit einer qualifizierten und richtungweisenden lehramtlichen<br />

Verkündigung reagiert zu haben. Der Papst selbst erinnert an die Sozial-Enzykliken:<br />

Rerum Novarum (1891), Quadragesimo Anno (1931), Mater et<br />

Magistra (1961), Laborem Exercens (1981), Sollicitudo Rei Socialis (1987)<br />

sowie schließlich Centesimus Annus (1991). 4 In diesen lehramtlichen Dokumenten<br />

findet die mikrosystemisch ausgerichtete caritative Diakonie im Sinne der<br />

Barmherzigkeit jedoch nur eine bescheidene Erwähnung und nimmt lediglich<br />

eine komplementäre Funktion zur Gerechtigkeits-Diakonie ein. Auch im Vergleich<br />

zu den kirchlichen Grunddiensten Wortverkündigung und Liturgie fand<br />

die caritative Diakonie in den offiziellen Äußerungen des Lehramtes bisher nur<br />

eine marginale Berücksichtigung.<br />

Trotz caritastheologischer und caritaspraktischer Hinweise des II. Vatikanischen<br />

Konzils z. B. in der Dogmatischen Konstitution über die Kirche und in der Pastoralen<br />

Konstitution über die Kirche in der Welt wie im Dekret über das Laien-<br />

96


apostolat 5 finden sich im neuen nachkonziliaren Katechismus der Katholischen<br />

Kirche von 2005 6 nicht die Stichworte Diakonie oder Caritas. Als göttliches<br />

Gebot ist die Nächstenliebe zwar an verschiedenen Stellen erwähnt, ein Bezug<br />

zur heilenden und helfenden Caritas wird jedoch nicht hergestellt. 7 Ebenfalls ist<br />

im nachkonziliaren Kirchenrecht von 1983 8 die caritative Diakonie nur viermal<br />

mit Namen genannt. Demgegenüber enthält das Kirchenrecht je ein eigenes Buch<br />

(Nr. III) zum Verkündigungsdienst sowie ein eigenes Buch (Nr. IV) zum Heiligungsdienst,<br />

d. h. zur Liturgie. Auch im klassischen, in über 40 Auflagen erschienenen<br />

Enchiridion Symbolorum Definitionum et Declarationum de rebus<br />

fidei et morum 9 von H. Denzinger sucht man vergeblich nach lehramtlichen<br />

Darlegungen zur caritativen Diakonie der Kirche. Im neuen Kompendium der<br />

Soziallehre der Kirche des Päpstlichen Rates Justitia et Pax von 2004 findet die<br />

caritative Diakonie eine – wenn auch bescheidene – Erwähnung, zumindest wird<br />

die helfende Barmherzigkeit viermal, die Brüderlichkeit elfmal und die Zivilis a-<br />

tion der Liebe dreimal thematisiert. Doch die Stichworte Caritas und Diakonie<br />

sucht man vergebens. 10<br />

2. Die Adressaten<br />

Der Papst spricht als Adressaten seiner Botschaft zunächst die Bischöfe an und<br />

erinnert sie an das ihnen durch Weihe übertragene caritativ-soziale Diakonat.<br />

Zugleich macht er ihnen die theologische Tiefe des Liebestuns der Kirche wieder<br />

bewußt. Er mahnt sie, dafür zu sorgen, daß die Kirche als Familie Gottes ein Ort<br />

der gegenseitigen Hilfe und der Dienstbereitschaft für alle Hilfebedürftigen ist<br />

(DCE Nr. 32): „Der bischöflichen Struktur der Kirche entspricht es, daß … in<br />

den Teilkirchen die Bischöfe als Nachfolger der Apostel die erste Verantwortung<br />

dafür tragen, daß das Programm der Apostelgeschichte (vgl. 2, 42-44) auch heute<br />

realisiert wird … Bei der Bischofsweihe gehen dem eigentlichen Weiheakt Fragen<br />

an den Kandidaten voraus, in denen die wesentlichen Elemente seines<br />

Dienstes angesprochen und ihm die Pflichten seines zukünftigen Amtes vorgestellt<br />

werden. In diesem Zusammenhang verspricht der zu Weihende ausdrücklich,<br />

‚um des Herrn willen den Armen und den Heimatlosen und allen Notleidenden<br />

gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein’“ (DCE Nr. 32).<br />

Gemeinsam mit den Bischöfen spricht der Papst alle Gläubigen an – so ist es<br />

ebenfalls der Überschrift zur Enzyklika zu entnehmen –, die in den Pfarreien<br />

ehrenamtlich neben ihren beruflichen und familiären Verpflichtungen liebevoll<br />

Kranken, Armen und Bedrängten jeder Art beistehen, sei es im Lebensraum der<br />

Familie, in der Nachbarschaft, in den Elendsvierteln der Städte oder in Katastrophengebieten.<br />

Ihr Engagement der helfenden Liebe gilt es aus der Kraft und<br />

Weisheit des christlichen Glaubens zu bestärken und zu inspirieren, seien sie als<br />

einzelne, als Gruppen oder im Rahmen einer sozial-caritativen Gemeindeaktion<br />

tätig. Den geistlichen und sozialpädagogischen Animateuren und Fachbegleitern<br />

der gemeindlichen Caritas möchte der Papst die Theologik und Ekklesiologik der<br />

caritativen Diakonie erschließen, damit diese im Lebensraum der Gemeinde oder<br />

im Bistum ihren freiwilligen He lferInnen die Sinn- und Wertoptionen ihres Einsatzes<br />

besser verdeutlichen können.<br />

97


3. Caritastheologische Themen der Enzyklika<br />

a) Die Trias Eros, Philia und Agape – Grundthemen menschlicher Existenz –<br />

bestimmen die caritastheologischen wie caritasanthropologischen Reflexionen<br />

Benedikts XVI. Die leidenschaftliche Beziehung Gottes zu seinem Volk Israel<br />

und die menschliche Urbeziehung von Mann und Frau werden zum Maßstab<br />

einer caritativen Beziehung. Mit einer Option für eine leibhafte caritative Zuwendung,<br />

die im Eros gründet, werden Motivations- und Wärmeströme in den<br />

helfenden Beziehungen freigesetzt. Durch diese Akzentsetzung erhält die caritativ<br />

helfende und heilende Beziehung einen ausdrücklich personalen und zugleich<br />

attraktiven Charakter, der nicht nur vom Verstand, von moralischen Imperativen,<br />

sondern von Herzensgüte geprägt ist. Dies bedeutet eine Weise des Helfens, die<br />

die Worte: „B-arm-herzig-keit“, d. h. den Armen zu herzigen oder der lateinische<br />

Begriff „Misericordia“, für die Elenden ein Herz haben, ebenfalls zum Ausdruck<br />

bringen. Die Agape transformiert den Eros, gibt ihm eine besondere Ausrichtung,<br />

und der Eros transformiert die Agape, d. h. verleiht ihr Herzensdynamik<br />

und Herzenserkenntnis. 11<br />

b) Eine durch tiefe Herzensgüte geprägte helfende Zuwendung ist notwendig z.<br />

B. angesichts des unverhofften herzlosen Hereinbrechens der Arbeitslosigkeit in<br />

ein erfülltes Berufsleben, einer lieblosen Trennung von vertrauten Menschen und<br />

Lebensräumen bzw. von einem glücklichen Familienleben oder anläßlich der<br />

grauenvollen Botschaft einer irreversiblen Erkrankung, die ein psycho-physisch<br />

gesundes und zufriedenes Leben zerstört, etc. Neben den äußeren Ve rletzungen<br />

schlagen solche Ereignisse innere Wunden, die vielfach schwer zu heilen sind;<br />

denn angesichts solch leidvoller Erfahrungen können Menschen nicht mehr an<br />

das Gutsein ihres Lebens glauben, nicht mehr auf eine lebensvolle Zukunft hoffen<br />

und können sich und ihr Leben nicht mehr liebevoll bejahen. Ihr Lebensurvertrauen<br />

ist zerstört. Die caritative Diakonie will Glauben, Hoffen und Lieben in<br />

diesen Situationen revitalisieren (DCE Nr. 39). Es gilt (vgl. DCE Nr. 39, DCE<br />

Nr. 41) in hoffnungslosen und lieblosen Lebenslagen als HelferIn stellvertretend<br />

wider alle Hoffnung für die Betroffenen zu hoffen und sie gegen alle Lieblosigkeit<br />

zu lieben und – trotz aller Bosheit der Lebenssituation – vom tiefen Gutsein<br />

des Betroffenen und seines Lebens überzeugt zu bleiben. Dies kann nur als<br />

Dienst, d. h. demütig i. S. von dien-mutig geschehen (DCE Nr. 39). Es muß ein<br />

Dienen sein, das von Mut getragen ist, das nicht aufgibt, auch wenn bei einem<br />

Leidenden die Revitalisierung des Glaubens an das eigene Gutsein (= Gott-<br />

Geprägtsein) des Lebens und die Hoffnung wie die Liebe in einer Lebenssituation<br />

blockiert sind. Diesen Mut nicht zu verlieren heißt, Geduld zu haben (DCE<br />

Nr. 39). Mit Druck und Gewalt ist das unumgängliche Lebensurvertrauen in<br />

Form von Glauben, Hoffnung und Liebe nicht zu revitalisieren.<br />

Aus diesem Grund entfaltet Benedikt XVI. den Glauben und die daraus resultierende<br />

Liebe als Quelle der „not-wendigen“ Lebenskraft und der Lebensweisheit<br />

und lädt so zu einer vertiefenden caritas-theologischen Reflexion der therapeutischen<br />

Wirkungen von Glaube, Hoffnung und Liebe unter Berücksichtigung von<br />

Demut und Geduld ein. 12 Ferner hebt er hervor, daß die Diakonie des Glaubens,<br />

98


Liebens und Hoffens ihre volle Kraft und Inspiration nur communial entfaltet, d.<br />

h. wenn die helfende Beziehung und der Leidende mitgetragen sind von einer<br />

„Gemeinschaft der Liebe“ (DCE-Überschrift 2. Teil). Wie die Enzyklika versteht<br />

bereits das II. Vatikanische Konzil die Kirche als „Gemeinschaft des Glaubens,<br />

der Hoffnung und der Liebe“. 13<br />

4. Das caritativ-diakonische Selbstverständnis der Kirche<br />

a) Dem Papst ist es ein großes Anliegen, die caritative Hilfe nicht allein als helfende<br />

Praxis des einzelnen Christen darzustellen, sondern als zentrale Aufgabe<br />

der Kirche deutlich zu machen (DCE Nr. 25a). In seinem eigenen Kommentar<br />

hebt er hervor, „daß der völlig persönliche Akt der Agape niemals etwas rein<br />

Individuelles bleiben darf, sondern vielmehr ein wesentlicher Akt der Kirche als<br />

Gemeinschaft werden muß, d. h. er bedarf auch der institutionalisierten Form,<br />

die sich im gemeinschaftlichen Handeln der Kirche äußert. Die kirchliche Organisation<br />

der Caritas ist keine Form der Sozialhilfe, die zufällig der Wirklichkeit<br />

der Kirche hinzugefügt wird, eine Initiative, die man auch anderen überlassen<br />

könnte.“ In der Enzyklika spricht er vom „opus proprium“, das die Kirche nicht<br />

anderen gesellschaftlichen Gruppen oder dem Staat überlassen kann.<br />

b) Kirche als „Gemeinschaft der Liebe“ beschreibt der Papst anhand der Jerusalemer<br />

Urgemeinde (Apg 2, 44-45) (DCE Nr. 20). Daraus zieht er den Schluß:<br />

„Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung<br />

von Gottes Wort (kerygma-martyria ), Feier der Sakramente (leiturgia ),<br />

Dienst der Liebe (diakonia ). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen<br />

und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst … gehört zu ihrem<br />

Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (DCE Nr. 25a). Im<br />

Kontext der Grundwirklichkeiten: Martyria und Leiturgia leistet die Dia konia<br />

einen „wesentlichen“ Beitrag zur Entwicklung der Gemeinschaft (Koinonia)<br />

innerhalb der Kirche und zwischen den Menschen. 14 Wie die Liturgie die Koinonia<br />

mit Gott kultiviert, so die Diakonia die Koinonia der Menschen untereinander<br />

(vgl. DCE Nr. 20-22, 25). Sie sind zugleich Ausdruck der gelebten Martyria<br />

der Caritas Dei, die durch die verdeutlichende Martyria des Wortes bestärkt<br />

wird. 15 In diesen drei Wesensvollzügen der Kirche teilt Gott seine Liebe den<br />

Menschen mit. Sie sind Orte der Erfahrung Gottes. So wie Jesus im Sakrament<br />

und im Wort erfahrbar wird, so auch – gemäß der Endgerichtsrede Jesu (Mt<br />

25,31-46) – im leidenden Menschen. Die Gleichwesentlichkeit der Gotteserfahrung<br />

im leidenden Menschen – analog zur Gotteserfahrung im Wort und im<br />

Sakrament – ist bislang offiziell als Aussage des Lehramtes so klar nicht zu hören<br />

gewesen.<br />

Das Verständnis der Kirche und damit ihrer Gemeinden als „Gemeinschaft der<br />

Liebe“ stellt Fragen an das praktizierte Gemeindeleben: Wie können religiösindividualistisch<br />

geprägte Liturgie-Gemeinden in West- und Mitteleuropa ein<br />

caritativ-communiales Gesicht erhalten? Sie caritativ-communial zu inspirieren,<br />

ist eine große Herausforderung der gegenwärtigen pastoralen Theologie und<br />

Praxis. Ein Blick in die Gemeindepraxis der nordamerikanischen wie der latein-<br />

99


amerikanischen Kirche zeigt, daß dies möglich ist – sowohl unter Bedingungen<br />

einer Wohlstandsgesellschaft wie auch unter Bedingungen einer Mangelgesellschaft.<br />

16 Aus ihrem caritativ-helfenden Miteinander erwächst den amerikanischen<br />

Gemeinden ein beeindruckendes soziales Engagement für andere. 17 Sodann<br />

läßt sich fragen, ob die seit den 70er bis 90er Jahren in Bistümern und Gemeinden<br />

vorherrschende Blickverengung auf Strukturreformen durch eine Option<br />

für eine Gemeindeerneuerung aus dem von Benedikt XVI. beschriebenen<br />

caritativen Geist zu überwinden ist, d. h. durch den Geist, der nach den Worten<br />

Jesu und dem Glauben der Kirche der eigentliche Erhalter der Kirche ist.<br />

5. Die Notwendigkeit eines organisierten Liebestuns der Kirche<br />

Kirche und Gläubige können ihre caritative Christusnachfolge nur realisieren,<br />

wenn sie sich selbst konkret leidenden Mitmenschen zuwenden; so hebt die Enzyklika<br />

im Blick auf die Relativität der organisierten Caritas für das Christsein<br />

des Einzelnen hervor: Den „Gestus der Liebe“, die „Zuwendung“ kann „ich nicht<br />

nur über die dafür zuständigen Organisationen“ umleiten oder nur „als politische<br />

Notwendigkeit“ bejahen (DCE Nr. 18). Ebenfalls wird unterstrichen: „Von der<br />

Übung der Liebestätigkeit als gemeinschaftlich geordneter Aktivität der Gläubigen<br />

kann die Kirche nie dispensiert werden, und es wird andererseits auch nie<br />

eine Situation geben, in der man der praktischen Nächstenliebe jedes einzelnen<br />

Christen nicht bedürfte, weil der Mensch über die Gerechtigkeit hinaus immer<br />

Liebe braucht und brauchen wird.“( DCE Nr. 29) Mit anderen Worten eine Gemeinde<br />

oder ein einzelner Christ kann sich nicht durch die Verbandscaritas von<br />

der konkreten caritativen Zuwendung zu den Leidenden dispensieren. Auch in<br />

der konkreten Pfarrgemeinde ist das Zeugnis der Liebe unumgänglich.<br />

Die organisierte Caritas ist insbesondere für Deutschland typisch. Dank erfreulicher<br />

historischer Bedingungen konnte sich die Verbandscaritas in dieser spezialisierten,<br />

fachlich einmalig qualifizierten und berufsmäßig ausgeübten Weise in<br />

den letzten hundert Jahren entfalten. 18 Allein in Deutschland beschäftigt die<br />

organisierte Caritas fast 500.000 Mitarbeiter hauptamtlich. Demgegenüber ist die<br />

Caritas der Weltkirche vorrangig durch den Einsatz von Freiwilligen geprägt. So<br />

kommen in der Weltkirche im allgemeinen – sei es in den katholischen Ländern<br />

Europas, in den USA, in Lateinamerika, in Afrika und Asien – z. B. auf einen<br />

Hauptamtlichen ca. 15 bis 20 Ehrenamtliche. In Deutschland ist das Verhältnis<br />

1:1. Dennoch ist in allen Ländern eine Organisation der Caritas für die Sendung<br />

der Kirche unverzichtbar.<br />

6. Organisierte Caritas im Auftrag der Kirche<br />

Sehr deutlich focussiert der Papst das caritative Engagement der Kirche als<br />

Communio, so wie es die Überschrift des zweiten Teils der Enzyklika: „Caritas –<br />

Das Liebestun der Kirche als einer ‚Gemeinschaft der Liebe“ zu m Ausdruck<br />

bringt. Die caritativ-individuelle Mitmenschlichkeit des einzelnen Christen beschreibt<br />

er in Verbindung mit der caritativ -communialen Praxis. Die ekklesiologische<br />

Perspektive der organisierten Caritas kann helfen, das Selbstverständnis<br />

100


und die Praxis des gemeindlichen wie verbandlichen Caritas-Zeugnisses der<br />

Kirche in der Gesellschaft tiefer zu verstehen.<br />

Da die Caritas der Kirche Ausdruck ihres gelebten Glaubens ist, kann sie ihre<br />

caritative Sendung nicht delegieren, selbst nicht an einen Privatverein von Katholiken<br />

und schon gar nicht an Andersgläubige, die an eine spezifisch christliche<br />

Gestalt der Caritas nicht glauben: „Die karitativen Organisationen der Kirche<br />

stellen dagegen ihr opus propriu m dar, eine ihr ureigenste Aufgabe, in der sie<br />

nicht mitwirkend zur Seite steht, sondern als unmittelbar verantwortliches Subjekt<br />

selbst handelt und das tut, was ihrem Wesen entspricht“ (DCE Nr. 29).<br />

Wenn die Kirche in der organisierten Caritas das handelnde Subjekt ist, dann<br />

kann die verbandlich organisierte Caritas in Deutschland kirchenrechtlich kein<br />

selbständiger privater kirchlicher Verein (kein Zusammenschluß von einzelnen<br />

Christen oder christlichen Vereinen) sein, der stellvertretend für die Kirche die<br />

organisierte Form ihrer Caritas betreibt. In den Caritasverbänden handelt die<br />

Kirche selbst. So läßt sich fragen, ob das alle Satzungen der Diözesancaritasverbände<br />

eindeutig zum Ausdruck bringen? Die organisierte Caritas der Kirche<br />

besitzt stets einen öffentlich-rechtlichen Charakter, da die Kirche durch sie öffentlich<br />

handelt. In diesem Zusammenhang könnten sich Fragen zur Ausgliederung<br />

von caritativen Teilbereichen als selbständige gemeinnützige GmbH’s stellen<br />

wie ebenso zur ekklesiologischen Relevanz der diözesanen und überdiözesanen<br />

Fachverbände. Ist in diesen Ausgliederungen die Kirche das handelnde Subjekt?<br />

Vielleicht läßt sich auch dank der Präzisionen der Enzyklika die ausstehende<br />

kirchenrechtliche Definition des Deutschen Caritasverbandes klären. Welche<br />

ekklesiologische Bedeutung kommt dem DCV zu? Kann es genügen, daß die<br />

Caritaskommission der deutschen Bischöfe nur eine Aufsichtsfunktion über den<br />

DCV wahrnimmt, oder müßte die Kommission die Leitungsfunktion des Caritasverbandes<br />

ausüben? Ist es hinreichend und was bedeutet es kirchlich, daß der<br />

DCV eine von den Bischöfen anerkannte „Vertretung der katholischen Caritas in<br />

Deutschland“ ist, wie es die Satzung des Deutschen Caritasverbandes in der<br />

Fassung vom 4. Mai 1993 formuliert: 㤠1 (1) Der Caritasverband ist die von den<br />

deutschen Bischöfen anerkannte institutionelle Zusammenfassung und Vertretung<br />

der katholischen Caritas in Deutschland.“ Nicht von ungefähr betont die<br />

Enzyklika in ihren abschließenden Passagen: „In den bisherigen Überlegungen<br />

ist schon klar geworden, daß das eigentliche Subjekt der verschiedenen katholischen<br />

Organisationen, die einen karitativen Dienst leisten, die Kirche selber ist,<br />

und zwar auf allen Ebenen, angefangen von den Pfarreien über die Teilkirchen<br />

bis zur Universalkirche“ (DCE Nr. 32). Kann es sachlich richtig sein, wenn der<br />

deutsche Caritasverband von einem „gemeinsamen Auftrag“ der Caritas und der<br />

Kirche spricht? 19 Nach der Ekklesiologik der Enzyklika kooperieren nicht zwei<br />

gleiche Partner – wie z. B. zwei unterschiedliche Kirchen oder Sozialverbände –<br />

miteinander, die dann einen „gemeinsamen Auftrag“ formulieren. Der Caritasverband<br />

als Träger des caritativen Zeugnisses der Kirche erfüllt nur den caritativen<br />

Auftrag der Kirche. Er partizipiert an der caritativen Sendung der Kirche und<br />

ist ekklesiologisch nicht selbständiger Träger der Caritas der Kirche. Ferner legt<br />

101


die Feststellung der Satzung des DCV § 1(2) „Er ist Verband der freien Wohlfahrtspflege“<br />

die Frage nahe, inwieweit die Zugehörigkeit zum Verband der<br />

freien Wohlfahrtspflege das caritative „opus proprium“ der Kirche tangiert. 20 Der<br />

Staat kann weder direkt noch indirekt tragendes wie handelndes Mitsubjekt der<br />

Verbandscaritas der Kirche sein.<br />

Neben der konkreten organisatorischen Sicherung des caritativen Helfens der<br />

Kirche hebt die Enzyklika als Aufgabenstellung der organisierten Caritas die<br />

Wahrnehmung sozialpolitischer Verantwortung hervor: „Die karitativen Organisationen<br />

der Kirche – angefangen bei denen der (diözesanen, nationalen und<br />

internationalen) ,,Caritas“ – müssen das ihnen Mögliche tun, damit die Mittel<br />

dafür und vor allem die Menschen bereitstehen, die solche Aufgaben übernehmen“<br />

(DCE Nr. 31a). Diese anwaltschaftliche Funktion wird unbestritten engagiert<br />

vom DCV wahrgenommen, wie ein Blick in die laufenden sozialpolitischen<br />

Stellungnahmen der verbandlichen bzw. fachlichen Caritas zeigt. 21 Eine Frage ist<br />

es, ob die Diözesanen Caritasverbände bzw. der Deutsche Caritasverband im<br />

Namen der Kirche überhaupt sozial-politisch agieren können?<br />

7. Herausforderungen der verbandlich organisierten Caritas<br />

Unbestritten funktionieren Caritas und Diakonie in Deutschland auch ohne<br />

päpstlich spirituellen Impuls fachlich optimal – sowie dies hinsichtlich der fachlichen<br />

Qualität bei anderen Wohlfahrtsverbänden in Deutschland der Fall ist –,<br />

solange die finanziellen Voraussetzungen von Seiten der Öffentlichen Hand in<br />

der bisherigen Form für die Einrichtungen und Dienste des Wohlfahrts- und<br />

Gesundheitssektors garantiert sind. Die ehrenamtlich geprägte Caritas der Weltkirche<br />

ist bei ihren Aktionen vorrangig von einer qualifizierten geistlichen Animation<br />

der Mitarbeiter abhängig. Ihr Engagement beruht vor allem auf dem<br />

Bewußtsein einer gelebten Teilhabe an der Menschenliebe Gottes, d. h. stellvertretend<br />

für Christus aus Liebe den Leidenden beizustehen und die eigene Lebenskraft,<br />

die eigenen Lebenserfahrungen und die eigenen Lebenschancen mit<br />

Ausgegrenzten, Betrübten, Bedrängten, Armen und Kranken zu teilen. Diese<br />

Dienste und Initiativen will der Papst zum Wohl der leidenden Menschen geistlich<br />

stützen. Unabhängig von der materiellen Sicherung ihrer Wohlfahrts- und<br />

Gesundheitsdienste – im Vergleich zu den Möglichkeiten der 2. und 3. Welt –<br />

könnte auch die verbandlich organisierte Caritas der Kirche in Deutschland die<br />

Botschaft der Enzyklika als ein Refreshment und als eine Dynamisierung ihrer<br />

Unternehmensphilosophie aufgreifen, um das eigene Leitbild zu vertiefen bzw.<br />

fortzuschreiben und die spezifische Qualität zum Wohl der leidenden Menschen<br />

zu optimieren.<br />

Mißt die deutsche Kirche ihrer verbandlich organisierten Caritas einen Verkündigungscharakter<br />

und damit eine Zeugniskraft für den Glauben zu, da „die Liebe<br />

in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem<br />

wir glauben und der uns zur Liebe treibt“ (DCE Nr. 31c), dann läßt sich darüber<br />

nachdenken, ob dies durch die Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen<br />

kirchlicher Arbeitsverhältnisse von 1993 genügend gesichert ist, oder ob die<br />

102


dort vertretene organisatorisch-strukturelle Verankerung des christlichen Auftrags<br />

nicht durch eine personale und damit spirituelle Verortung bei den Mitwirkenden<br />

ergänzt werden muß. Die Inspirationen der Enzyklika regen zumindest<br />

zu entsprechenden Anfragen an. Bezüglich der Mitwirkung in der kirchlichen<br />

Caritas wird nach Art. 1 der Grundordnung erwartet, daß die MitarbeiterInnen<br />

„sich an der Glaubens- und Sittenlehre und an die Rechtsordnung der katholischen<br />

Kirche auszurichten haben“. Die Enzyklika macht über die Orientierung<br />

an der Glauben- und Sittenlehre hinaus deutlich, daß die Mitwirkung in der<br />

kirchlichen Caritas voraussetzt, aus dem Glaubensverständnis der Kirche zu<br />

leben.<br />

Das ist ein anderes Verständnis von kirchlich-caritativer Mitarbeiterqualität als<br />

die Grundordnung des kirchlichen Dienstes formuliert. Denn wie kann sich ein<br />

Mitarbeiter – innerlich von Christus und seiner Caritas gedrängt (DCE Nr. 33) –<br />

,leidenden Menschen caritativ zuwenden, wenn Christus ihm fremd ist? Der<br />

Papst optiert für eine caritative Diakonie, die nicht allein dadurch abgedeckt ist,<br />

daß „ein Mitarbeiter die Eigenart des kirchlichen Dienstes“ bejaht (Art. 3 [1])<br />

bzw. der ihm „übertragenen Funktion gerecht“ wird (ebd.) und bei seiner Arbeit<br />

die katholische Glaubens- und Sittenlehre anerkennt und beachtet (Art. 4 [1]).<br />

Dem Papst geht es um mehr als um eine Loyalitätsoption mit dem kirchlichen<br />

Träger einer caritativen Einrichtung (vgl. Art. 4), und zwar um eine existentielle<br />

Verbundenheit mit dem caritativen Auftrag der Kirche. Es erhebt sich somit die<br />

Frage, ob ein nichtkatholischer und schon gar ein nichtchristlicher Mitarbeiter,<br />

dessen Mitarbeit die Grundordnung erlaubt, aus dem in der Enzyklika beschriebenen<br />

Glaubensfundament der Caritas handeln kann, wenn er persönlich von<br />

diesem Glauben gar nicht erfaßt ist und damit nicht über ein entsprechendes<br />

Glaubensengagement – i. S. eines caritativen Eros – verfügt, das nach der Enzyklika<br />

aus der Symbiose von Eucharistia, Diakonia und Martyria entsteht?<br />

Für Benedikt XVI. is t das Zeugnis der Liebe eine Wesensaufgabe der Kirche<br />

(DCE Nr. 20-22), die sich nicht delegieren läßt (DCE Nr. 29, 31-32), schon gar<br />

nicht an nicht-kirchliche Gemeinschaften und Vereine wie logischerweise dann<br />

auch nicht an ungläubige, nicht-kirchliche Einzelpersonen. Selbst bei Kooperationsprojekten<br />

mit nicht-katholischen bzw. nicht-kirchlichen Trägern bittet der<br />

Papst, darauf zu achten, daß die katholischen Mitträger das eigene Profil ihres<br />

caritativen Helfens nicht aufgeben. Caritative Diakonie ist mehr als ein bloßer<br />

Wohlfahrtdienst, der zwar in sich einen hohen Wert darstellt, aber in der caritativen<br />

Diakonie der Kirche christlich optimiert werden muß.<br />

Reicht es für das caritative Zeugnis der Kirche aus, wenn nur die „Chefetage“, d.<br />

h. die Träger und Leiter eines caritativen Dienstes oder einer Einrichtung katholisch<br />

sind bzw. katholisch leben? Kann bei den helfenden und pflegenden MitarbeiterInnen<br />

darauf verzichtet werden, wenn die caritative Diakonie nach Meinung<br />

des Papstes ein „geistlicher Dienst“ ist (DCE Nr. 21)? Die Grundordnung<br />

fordert nur von MitarbeiterInnen im pastoralen, katechetischen und erzieherischen<br />

Diensten „das persönliche Lebenszeugnis“. Kann die deutsche Kirche –<br />

nach dem Caritasverständnis der Enzyklika – die CaritasmitarbeiterInnen ihres<br />

Gesundheits-, Pflege-, Altenbereichs sowie ihrer Beratungsdienste davon dispen-<br />

103


sieren, ohne den Leidenden einen entscheidenden christlich humanen Qualitätsaspekt<br />

vorzuenthalten? Die Enzyklika macht deutlich, daß gerade das Zeugnis<br />

der Liebe für die Kirche der Dienst schlechthin ist (DCE Nr. 19-22, 25).<br />

Da eine Organisation nicht von sich aus, sondern nur durch ihre Mitglieder einen<br />

caritativen Charakter besitzt 22 , stellt sich die Frage, ob das Arbeitsvertragsrecht<br />

vom 1. 5.1980 23 , das die persönliche Identifikation bzw. eine konkrete Verwurzelung<br />

des einzelnen Mitarbeiters in der caritativen Glaubensüberzeugung der<br />

Kirche zum Wohl der leidenden Menschen fordert, nicht wesentlich eher dem<br />

tieferen Caritasverständnis der Enzyklika entspricht? So wie die fachliche Qualifizierung<br />

für die Trägervertreter der verbandlichen Caritas keine Frage ist – übrigens<br />

auch nicht für den Papst (vgl. DCE Nr. 31a) –, so sollte auch die spirituelle<br />

Stärkung der Mitwirkenden keine Frage sein. 24 Leider ist vielerorts zu hören, daß<br />

kirchliche Dienstgeber meinen, auf eine Sensibilisierung für die caritastheologische<br />

Spiritualität im Rahmen ihrer Sparmaßnahmen als erstes verzichten zu<br />

können. Im Sinne der Enzyklika ist das ein Sparen am falschen Ende des Dienstleistungsprofils.<br />

8. Spiritualität eines Mitarbeiters der caritativen Diakonie<br />

Bezüglich einer daraus resultierenden Mitarbeiterauswahl sind die Ausführungen<br />

der Enzyklika zur Ur-Kirche sehr aufschlußreich. Das für die caritative Diakonie<br />

bestimmte Sieben-Männer-Gremium sollte „keinen bloß-technischen Ve r-<br />

teilungsdienst“ leisten, darum mußten es Männer „voll Geist und Weisheit“ sein<br />

(DCE Nr. 21). „Das bedeutet, daß der Sozialdienst, den sie zu leisten hatten, ein<br />

ganz konkreter, aber zugleich durchaus geistlicher Dienst und ihr Amt daher ein<br />

wirklich geistliches Amt war, das einen der Kirche wesentlichen Auftrag – eben<br />

die geordnete Nächstenliebe – wahrnahm“ (DCE Nr. 21). Dieses Auswahlkriterium<br />

macht deutlich, daß MitarbeiterInnen gebraucht werden, die vom caritativen<br />

Geist und von menschlicher Lebensweisheit erfüllt sind, d. h. aus der Sicht<br />

der heutigen Arbeitspsychologie über eine entsprechende Arbeitseinstellung und<br />

eine qualifizierte Fachkompetenz verfügen. Sie sollen „sich von dem Glauben<br />

führen lassen, der in der Liebe wirksam wird (vgl. Gal. 5,6)“ und nicht von Ideologien<br />

der Weltverbesserer leiten lassen (DCE Nr. 33). Die dazu erforderliche<br />

positive Hilfekompetenz nimmt Maß an Christus, an seiner Menschlichkeit.. Die<br />

Mitarbeiter „müssen daher zu allererst Menschen sein, die von der Liebe Christi<br />

berührt sind, deren Herz Christus mit seiner Liebe gewonnen und damit die Liebe<br />

zum Nächsten geweckt hat“ (DCE Nr. 33). Ihr Leitwort sollte der Satz aus<br />

dem 2. Korintherbrief sein: „Die Liebe Christi drängt uns (5,14)“. Ein atheistischer<br />

oder andersgläubiger Mitarbeiter kann dies ehrlichen Herzens kaum von<br />

sich aussagen. Ferner heißt es, da „die Menschen immer mehr brauchen als eine<br />

bloß technische Behandlung“, benötigen Helfer „neben und mit der beruflichen<br />

Bildung vor allem Herzensbildung“ (DCE Nr. 31b), die nicht eine Dienstleistungsforderung<br />

darstellen kann, sondern Ausdruck des Glaubens der Mitarbeiter<br />

und Mitarbeiterinnen sein muß, eines Glaubens, „der in der Liebe wirksam wird<br />

(vgl. Gal.5 ,6)“ (DCE Nr. 31a).<br />

104


Als grundlegend für die helfende Beziehung verdeutlicht der Papst die Christo-<br />

Logik des demütigen, d. h. des dienenden Helfens und macht so für die Mitwirkenden<br />

die innere Verbundenheit mit dem Glauben der Kirche deutlich. Da der<br />

Helfende „letzten Endes nur Werkzeug in der Hand des Herrn ist“, darf der Helfende<br />

die Begrenztheit seines Tuns dem Herrn überlassen und widersteht so am<br />

ehesten der „Versuchung zur Mutlosigkeit“. Der Mensch ist Werkzeug und nicht<br />

der eigentliche Auktor, d. h. Ursprung der Kraft des Helfens. Das bleibt Gott.<br />

Dieses Verständnis schützt die Helfenden vor Überforderung, d. h. vor „burnout“,<br />

der heute zunehmend bei HelferInnen anzutreffen ist. 25 „Er wird in Demut<br />

das tun, was ihm möglich ist und in Demut das andere dem Herrn überlassen“<br />

(DCE Nr. 35). Das caritative Helfen steht unter der Gnade Gottes.<br />

Aus den Überlegungen ergibt sich der nächste Gedanke, durch das Gebet in der<br />

caritativen Diakonie sich stets„neu von Christus Kraft zu holen“ (DCE Nr. 36).<br />

„Frömmigkeit schwächt nicht den Kampf gegen Armut“, sondern sie ist Motor<br />

des Helfers. Es ist dem Papst ein großes Anliegen, „angesichts des Aktivismus<br />

und des drohenden Säkularismus vieler in der caritativen Arbeit beschäftigter<br />

Christen die Bedeutung des Gebetes erneut zu bekräftigen“ (DCE Nr. 36). Dabei<br />

geht er auf das Bittgebet (DCE Nr. 37) und auf das Klagegebet (DCE Nr. 38) ein<br />

und verdeutlicht letzteres mit einem Hinweis auf Ijob und auf die Verlassenheit<br />

Jesu am Kreuz (DCE Nr. 38). Für caritative HelferInnen ist es erleichternd, wenn<br />

sie die Sorgen dem Herrn überlassen dürfen und ihre Enttäuschungen über den<br />

ausbleibenden „Erfolg“ vor Christus selbst mit den Worten: „Mein Gott, mein<br />

Gott warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34) aussprechen können. Diese<br />

Formen der geistlichen Entlastung durch das Gebet deblockieren und revitalisieren<br />

die Lebens- und Arbeitskraft. Sie machen das Denken wieder frei für neue<br />

Lebensinspirationen und Lebensideen. 26<br />

In seinen Darlegungen über den inneren Zusammenhang von Glauben, Hoffnung<br />

und Liebe als Wirkeinheit hebt der Papst die tragende Bedeutung der Tugenden<br />

Geduld und Demut im Blick auf die helfende Begleitung hervor. Ein ungeduldiger<br />

oder manipulierender Glaube, eine entsprechende Hoffnung und Liebe werden<br />

ihre Lebenskraft und Lebensinspiration nicht entfalten. Unbestritten lassen<br />

sich weitere biblisch überlieferte Kriterien der helfenden und heilenden Caritas<br />

benennen, von Benedikt XVI. werden nur die grundlegenden genannt. 27<br />

Im Blick auf die Kirchlichkeit der Mitarbeiter – seien sie freiwillig (DCE Nr.<br />

30b) oder hauptamtlich aktiv – hebt der Papst hervor: „Wer Christus liebt, liebt<br />

die Kirche und will, daß sie immer mehr Ausdruck und Organ seiner Liebe sei.<br />

Der Mitarbeiter jeder katholischen caritativen Organisation will mit der Kirche<br />

und daher mit dem Bischof dafür arbeiten, daß sich die Liebe Gottes in der Welt<br />

ausbreitet.“ (DCE Nr. 33). Ein Mitarbeiter, der die Kirche ablehnt, kann dies<br />

ehrlich nicht optieren. Läßt sich seine Mitarbeit mit der Theorie des anonymen<br />

Christseins rechtfertigen? Die Kirche kann ihre caritative Evangelisation der<br />

Lebenswelten nur mit Mitwirkenden erreichen, die sich mit dem caritativen Auftrag<br />

der Kirche identifizieren, also im Sinne der Enzyklika über ein „s entire cum<br />

ecclesia“ verfügen.<br />

105


Wenn der Papst auch keine „Tempelreinigung“ im Blick auf die caritative Diakonie<br />

der Kirche vornimmt, d. h. diejenigen nicht vor die Tür setzt, die das Haus<br />

Gottes zu ihren eigenen Zwecken, und zwar vorrangig zum Geldverdienen nutzen<br />

– wie Jesus es beim Besuch des Tempels antraf (Jo 2,13-25), so wirbt der<br />

Papst nicht weniger leidenschaftlich für eine caritative Prägung der Kirche, damit<br />

sie Tempel Gottes, d. h. Haus Gottes für die Menschen sein kann; denn Caritasarbeit<br />

der Kirche ist nur aus der Mitte des Gottesglaubens möglich. Dafür<br />

trägt die Kirche die Verantwortung; konsequenterweise spricht die Enzyklika in<br />

diesem Zusammenhang die Bischöfe an (DCE Nr. 32).<br />

Würde die Kirche in Deutschland wie der Papst den Sozialdienst der Caritas als<br />

einen geis tlichen Dienst und das Amt ihrer Mitarbeiter als „wirklich geistliches<br />

Amt…, das einen der Kirche wesentlichen Auftrag“ wahrnimmt, verstehen, dann<br />

müßten die für die Caritas Verantwortlichen dieser Kirche, wenn schon nicht bei<br />

der Auswahl, dann hinsichtlich der Ausbildung ihrer MitarbeiterInnen entsprechende<br />

Konsequenzen ziehen. Angesichts der theologisch unbestritten notwendigen<br />

spirituellen Komp onente der caritativen Diakonie stellt sich die Frage, ob<br />

nicht ein Teil der im allgemeinen nur humanwissenschaftlich ausgebildeten pflegenden<br />

und helfenden MitarbeiterInnen zumindest über eine niederschwellige<br />

spirituelle seelsorgliche Kompetenz verfügen müßte? Und ob außerdem nicht<br />

caritastheologisch wie pastoralpsychologisch geschulte Theologen als Spirituale<br />

die direkt caritativ tätigen MitarbeiterInnen spirituell unterstützend zur Seite<br />

stehen sollen? 28 Wie kann ansonsten die geistliche Ausrichtung des caritativen<br />

Helfens gesichert werden?<br />

Andernfalls verzichtet die Kirche in Deutschland auf die geistliche Qualität ihrer<br />

caritativen Diakonie. Würden also die Kirche und ihre organisierte Caritas aus<br />

der Enzyklika den Schluß ziehen: „Weiter so, wir machen es bereits richtig“,<br />

wäre das zu kurz gegriffen. Die Enzyklika will eine „Rückenstärkung für kirchliche<br />

Sozialarbeit“ sein, so wie es der Präsident des DCV Neher treffend formuliert.<br />

29 Es geht um die Profilierung der Caritas zum Wohl der leidenden Menschen<br />

und nicht um einen Rückzug aus dem caritativen Engagement der Kirche<br />

für die Gesellschaft. Sind zu diesem geistlichen Investment die Kirche und ihre<br />

organisierte Caritas in Deutschland bereit?<br />

8. Verhältnis Kirche und Staat und der Dritte Weg in Deutschland<br />

Im Blick auf die Caritas fordert der Papst ein subsidiäres Verhalten des Staates<br />

gegenüber der sozialen Selbstverantwortung der Gesellschaft und der Mithilfe<br />

der Kirche (DCE Nr. 28b): „Die Kirche ist eine solche lebendige Kraft: In ihr<br />

lebt die Dynamik der vom Geist Christi entfachten Liebe, die den Menschen<br />

nicht nur materielle Hilfe, sondern auch die seelische Stärkung und Heilung<br />

bringt, die oft noch nötiger ist als die materielle Unterstützung“ (DCE Nr. 28).<br />

Dieser Mitwirkungsanspruch ergibt sich aus dem Selbstverständnis ihres eigenen<br />

Wesens: „Liebe zu üben für die Witwen und Waisen, für die Gefangenen, für die<br />

Kranken und Notleidenden welcher Art auch immer, gehört genauso zu ihrem<br />

Wesen wie der Dienst der Sakramente und die Verkündigung des Evangeliums.<br />

106


Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und<br />

Wort“(CDE Nr. 22). 30 In diesem Sinne versteht sich die Kirche als eine zivilgesellschaftliche<br />

Kraft.<br />

In einmaliger Weise gesteht der deutsche Staat der Kirche ihre volle Selbstbestimmung<br />

zu. Rechtsverbindlich garantiert das Bundesverfassungsgericht einen<br />

sog. Dritten Weg (BVerfGE 24 vom 16.10.1968 und BVerfGE 46 vom 11. 10.<br />

1977). Im Vergleich zur AWO, zum Roten Kreuz, zum Paritätischen Wohlfahrtsverband<br />

etc. darf die Kirche das Tarifrecht, Streikrecht etc. selbst bestimmen,<br />

da die caritative Diakonie Ausübung der grundgesetzlich gesicherten Religionsfreiheit<br />

ist.<br />

Voraussetzung für diesen Sonderweg ist jedoch, daß das spezifisch religiöse<br />

Profil der Caritas tatsächlich praktiziert wird. Das Bundesverfassungsgericht<br />

stellt zu Gunsten der Kirche fest: „Christliche Liebestätigkeit ist nach dem<br />

Selbstverständnis der christlichen Kirchen also etwas anderes als ein sozialer<br />

Vorgang, der sich in der Fürsorge für Arme, Elende und Bedürftige aus Mitverantwortung<br />

für den Nächsten im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens im<br />

Staat erschöpft und lediglich aus sozialen Gründen das Existenzminimum des<br />

Nächsten sichert, um die Führung eines Lebens in der Gemeinschaft zu ermöglichen,<br />

die der Würde des Menschen entspricht.“ (BVerfGE 24, 249)<br />

In einem anderen Urteil BVerfGE 46 (11.10.1977) heißt es: „1. Nach Art. 140<br />

GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV sind nicht nur die organisierte<br />

Kirche und die rechtlich selbständigen Teile dieser Organisation, sondern alle<br />

der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf<br />

ihre Rechtsform Objekte, bei deren Ordnung und Verwaltung die Kirche grundsätzlich<br />

frei ist, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder<br />

ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in dieser<br />

Welt wahrzunehmen und zu erfüllen“ (BVerfGE 46,74).<br />

Selten kommt es in der Weltkirche zu einer so großen Übereinstimmung zwischen<br />

Staat und Kirche hinsichtlich der spezifischen caritativen Dia konie der<br />

Kirche. Somit ist die Enzyklika auch ein exzellentes Dokument, die Berechtigung<br />

des Dritten Weges zu begründen und zu beschreiben. Andererseits ergibt<br />

sich aber auch die Frage, inwieweit die Kirche in Deutschland die ihr gewährten<br />

Rechtsvorteile und Möglichkeiten im Rahmen ihrer verbandlich organisierten<br />

Caritas zum Wohl der Menschen in ihrem konkreten Helfen nutzt.<br />

Umgekehrt kann sich die Situation ergeben, daß der verfassungsrechtlich zwar<br />

gesicherte Dritte Weg in Folge einer Überregulation der sozialen, medizinischen<br />

und pflegerischen Dienste durch staatlich-administrative Vorgaben sowie angesichts<br />

gravierender Sparmaßnahmen der Öffentlichen Hand und im Hinblick auf<br />

die zunehmende Verdichtung der Arbeitszeiten etc. noch im Rahmen einer fachlich<br />

spezialisierten Caritas nicht mehr realisierbar ist. Wenn der Staat jedoch in<br />

dieser Weise die Vo raussetzungen für die spezifische caritative Diakonie beschneidet,<br />

dann wird die Kirche ihrer Caritas – trotz ihrer Rechtsstellung – sagen<br />

müssen: „Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“ (Mt<br />

22,21).<br />

107


9. Ausblick auf das Handeln der Kirche<br />

Die caritastheologische Botschaft der Enzyklika wird erst dann zur Quelle für<br />

das Leben der Menschen, insbesondere der leidenden Menschen, wenn die Kirche<br />

mit der Konkretion bei sich selbst beginnt. 31 Somit stellt die Enzyklika zunächst<br />

eine positive „Provokation“ für die Qualifizierung der Gemeinden und<br />

Gemeinschaften dar (Vgl. DCE Überschrift 2. Teil). Diese Option hat eine Nähe<br />

zur Forderung von Paul VI., daß die Zivilisation der Liebe in der Kirche in ihren<br />

Gemeinden und Gemeinschaften beginnen muß. 32 Ebenso stellt die Enzyklika<br />

eine Anfrage an die Orts- und Profilbestimmung der verbandlich organisierten<br />

Fachcaritas dar. „Ecclesia semper reformanda“, das gilt auch für ihre Caritas.<br />

Will die deutsche Fachcaritas eine profilierte Alternative auf dem pflegerischen<br />

und sozialen Dienstleistungssektor in Deutschland sein, dann bietet die Enzyklika<br />

eine Chance, das eigene christlich-humane Profil und damit die Unterscheidbarkeit<br />

zu anderen Leistungsanbietern zu verstärken. Hier sei positiv und exe m-<br />

plarisch auf die eindrucksvolle caritativ-humane Qualitätssicherung der Kindertages<br />

stätten in vielen Diözesen Deutschlands hingewiesen. 33<br />

Mit seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ stellt Benedikt XVI. bedeutende<br />

caritastheologische Reflexionsweichen. Die geöffneten theologischen Leitspuren<br />

verdienen es, zum Wohl der leidenden Menschen weiter und noch vertiefter<br />

verfolgt zu werden.<br />

Anmerkungen<br />

1) Vgl. Benedikt XVI. Ansprache bei der Audienz der Teilnehmer an der vom Päpstlichen<br />

Rat Cor Unum veranstalteten Tagung am 23. 1. 2006 in der Sala Clementina.<br />

2) Die der Papst in seiner Enzyklika nicht eigens erwähnt.<br />

3) Vgl. z. B. Ratzinger, Georg, Geschichte der kirchlichen Armenpflege, Freiburg 2 1884;<br />

Beeking, J., Die Nächstenliebe nach der Lehre der heiligen Schrift, Düsseldorf, 1930.<br />

Hemmerle, K., (Hg), Liebe verwandelt die Welt. Mainz 1979; Järveläinen, M., Gemeinschaft<br />

in der Liebe: Diakonie als Lebens- und Wesensäußerung der Kirche im Verständnis<br />

Paul Philippis. (Diakoniewissenschaftliche Studien.Bd.1) Heidelberg 1993; Pompey,<br />

H.,(Hrsg), Caritas – Das menschliche Gesicht des Glaubens: ökumenische und internationale<br />

Anstöße einer Diakonietheologie, Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Caritas<br />

und Sozialen Pastoral“, Bd. 10, Echter, Würzburg 1997; Päpstlicher Rat Cor Unum<br />

(Hgb), Acts of the World Congress on Charity, Rom 1999; Lazewski, W. / Pompey, H. /<br />

Skorowski, H. (Hrsg.), Caritas Christi urget nos. Caritas w Europie trzecim tysiacleciu,<br />

Caritas in Europe in the third millennium, Caritas in Europa im 3. Jahrtausend, Internationaler<br />

Caritaswissenschaftlicher Kongreß 22.-26.9.1999, Warszawa 2000. Kießling, K.,<br />

„Love greets you“ – on the culture of deacony. (Publications of the Department of<br />

Practical Theology.93) Helsinki 1998 und viele andere.<br />

4) Die im Blick auf eine Soziale Pastoral durch die Enzykliken Evangelii Nuntiandi<br />

(1975), Redemptor Hominis (Joh. Paul II., 4.3.1979), Dives Misericordiae (Joh. Paul II.,<br />

30.11.1980) ergänzt wurden.<br />

5) Vgl. Völkl, R., Kirche und „Caritas“ nach den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen<br />

Konzils, in: Caritas 67. (1966) 73-96; 123-145.<br />

108


6) Vgl. Index des Kompendiums des Katechismus der Katholischen Kirche, München<br />

2005.<br />

7) Nur im Katechismus der Katholischen Kirche, München, Wien 1993 findet sich in der<br />

Abhandlung über die Tugenden (Nr. 1829) ein Bezug der Liebe zur Wohltätigkeit.<br />

8) Vgl. Index des Codex Juris Canonici, Rom 1983, dt. Kevelaer 1983.<br />

9) Vgl. Index, a. a. O. Denzinger, H. (Hrsg.) Freiburg 36 1976.<br />

10) Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden (Hrsg.), Kompendium der Soziallehre<br />

der Kirche, Freiburg 2006, Stichwortverzeichnis.<br />

11) Vgl. Benedikt XVI. Ansprach bei der Audienz der Teilnehmer an der vom Päpstlichen<br />

Rat Cor Unum veranstalteten Tagung am 23.1.2006 in der Sala Clementina. Ebs. „Der<br />

Eros Gottes ist nicht nur eine ursprüngliche kosmische Kraft, sondern ist auch Liebe, die<br />

den Menschen erschuf und die sich über den Menschen neigt, so wie der barmherzige<br />

Samariter sich über den verletzten und ausgeraubten Mann neigt“. Ebd.<br />

12) Vgl. Pompey, H., Religiosität und christlicher Glaube bei der Begleitung von Schwerund<br />

Todkranken, in: Koch, U., Lang, K., Mehnert A., Schmeling-Kludas, Ch. (Hrsg.), Die<br />

Begleitung schwer kranker und sterbender Menschen – Grundlagen und Anwendungshilfen<br />

für Berufsgruppen in der Palliativversorgung. Stuttgart 2006. 146-159.<br />

13) Vgl. II. Vatikanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 8.<br />

14) Vgl. II. Vatikanum, Dogmatische Konstitution über die Kirche, Nr. 1.<br />

15) Vgl. Pompey, H., Theologisches Verständnis von Leben und Leiden, von Solidarität<br />

und Helfen – Ein caritativ-diakonisches Credo, in: Pompey, H. (Hrsg.), Caritas – Das<br />

menschliche Gesicht des Glaubens a. a. O. 1997, 321-357, 349ff.<br />

16) Die wohlfahrtsstaatliche Prägung der Länder Kontinentaleuropas und die damit verbundene<br />

Erwartung einer sozialen und gesundheitlichen Versorgung durch den Staat<br />

erschwert entscheidend die Entwicklung einer Solidaritätskultur der Gegenseitigkeit in<br />

den Lebensorten der Menschen.<br />

17) Vgl. Heidenreich, R., J., Caritatives Selbstverständnis amerikanischer Pfarrgemeinden<br />

– Gemeindeprojekte und Kooperationen mit Staat und Kommunen, in: Pompey, H.(Hrsg),<br />

Caritas – Das menschliche Gesicht des Glaubens; a. a. O. 1997, 248-277; Pompey, H.,<br />

Die Soziale Pastoral der Dritten Welt als Herausforderung für das diakonisch-caritative<br />

Engagement einer Gemeinde, in: Biemer, G., u. a. (Hrsg.), Gemeinsam Kirche sein. Festschrift<br />

der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. für Erzbischof Dr. Oskar<br />

Saier, Freiburg 1992, 410-443; Ders., Solidarität und Hilfeverhalten in den Lebensräumen<br />

der Menschen, in: Lazewski, W. / Pompey, H. / Skorowski, H. (Hrsg.), Caritas Christi<br />

urget nos. Caritas w Europie trzecim tysiacleciu, Caritas in Europe in the third millennium,<br />

Caritas in Europa im 3. Jahrtausend, Internationaler Caritaswissenschaftlicher Kongreß<br />

22.-26.9.1999, Warszawa 2000, 167-187.<br />

18) Vgl. Rauscher, A., Verhältnis von Staat und kirchlicher Caritas – Subsidiarität als<br />

Leitprinzip, in: Glatzel, N., Pompey, H., Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit? Zum Spannungsfeld<br />

von christlicher Sozialarbeit und christlicher Soziallehre. Freiburg, 1991, 84-<br />

98.<br />

19) Vgl. Caritas: Profilierung durch Anwaltschaft, in: KNA – ID Nr. 10/8 März 2006.<br />

20) Ein einsamer Kämpfer für dieses Profil war Anfang der 90iger Jahre der Altjustitiar<br />

des Deutschen Caritasverbandes Dr. Klein, vgl. Klein, F., Das christliche Profil der Verbandscaritas<br />

aus rechtlicher Sicht, in: Pompey, H. (Hrsg.), Caritas im Spannungsfeld von<br />

Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit a. a. O. 1997, 165-175. Seine Meinung wurde<br />

damals ignoriert.<br />

109


21) Vgl. die jüngste Stellungnahme: Caritas: Profilierung durch Anwaltschaft, in: KNA –<br />

ID Nr. 10/8 März 2006.<br />

22) Genügt es – so ist im Sinne der Enzyklika demgegenüber zu fragen –, den caritativtheologischen<br />

Auftrag der Einrichtungen und Dienste der kirchlichen Verbandscaritas<br />

allein über die kirchlich-organisatorische Zuordnung der MitarbeiterInnen zu garantieren,<br />

die die Mitwirkenden der Verbandscaritas lediglich anerkennen müssen.<br />

23) Vgl. Arbeitsvertragsrecht in der Kirche – Regional-Koda in Nordrhein-Westfalen.<br />

Vom 1.5.1980. Arbeitshilfe 16A, (Hrsg.) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz<br />

Bonn 1980, 15.<br />

24) Seit Jahren liegen hierzu erprobte Modelle vor, vgl. z. B. Pompey, H., Caritatives<br />

Engagement – Lernort des Glaubens und der Gemeinschaft, Effizienzuntersuchung eines<br />

Grund- und eines Aufbaukurses zum Kennenlernen theologischer Aspekte des Leitbildes<br />

sozial-diakonischer Hilfe und zur Sensibilisierung der Mitwirkenden für den communialen,<br />

dienstgemeinschaftlichen Charakter kirchlicher Sozialdienste, Würzburg 1994.<br />

25) Vgl. Flosdorf, B., Berufliche Belastung, Religiosität und Bewältigungsformen, 12.<br />

Bd. „Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und der Sozialen Pastoral“, Pompey,<br />

H., Roos, L., (Hrsg.), Würzburg 1998.<br />

26) Vgl. Pompey, H. , Das Gebet in der caritativ-seelsorglichen Begleitung, in: Lebendige<br />

Katechese, (2001), 87-90.<br />

27) Vgl. Pompey, H., Biblical and theological foundations of charitable works, in: Acts of<br />

the World Congress on Charity, Rom 1999, 106-132.<br />

28) Es fällt auf, daß im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche Deutschlands weit<br />

mehr TheologInnen in den verschiedensten Handlungsfeldern mitarbeiten als in der deutschen<br />

Verbandcaritas.<br />

29) Vgl. KNA/job, Rückenstärkung für kirchliche Sozialarbeit, in: Kirche und Leben, v.<br />

5.2.2006, 7.<br />

30) Der Papst belegt diese Ausrichtung des pastoralen Handelns der Kirche mit der caritativen<br />

Tradition der frühen Kirche, so wie sie von Ignatius von Antiochien († um 117),<br />

Justin dem Martyrer († ca. 155), Tertullian († nach 220) u. a. bezeugt wird (DCE Nr. 22).<br />

31) „Die Kirche, Trägerin der Evangelisation, beginnt damit, sich selbst zu evangelisieren.<br />

Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter und gepredigter Hoffnung,<br />

als Gemeinschaft brüderlicher Liebe muß die Kirche unablässig selbst vernehmen,<br />

was sie glauben muß, welches die Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot<br />

der Liebe ist.“; Evangelii Nuntiandi, n.15.<br />

32) Evangelii Nuntiandi, n.15 und n. 18.<br />

33) Welche Dienstleistungsbereiche ermöglichen in ähnlicher Weise zumindest annähernd<br />

ein so klares christlich-humanes Zeugnis in der Gesellschaft?<br />

Prof . Dr. Heinrich Pompey lehrte Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit<br />

an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg.<br />

110


Norbert Blüm<br />

Die Moderne als Grenzbeseitigung<br />

Über Ideologien der Arbeit, Technik und Selbstherrlichkeit<br />

Arbeit ist das Signum der Neuzeit. Vom Lebensmittel zum Lebenszweck transformiert<br />

sich die Arbeit. Arbeit ist das neuzeitliche Programm der Selbsterschaffung<br />

des Menschen. Mittelalterliche Tradition und Autorität werden zurückgelassen.<br />

An ihre Stelle treten Entdeckung und Experiment. „Innovatio“ ist die<br />

Parole der Modernität.<br />

Wahrheit ist nicht mehr gegeben, sondern wird geschaffen. Die selbstgesetzte<br />

Hypothese muß sich im Versuch bewähren: Die Wahrheit unterwirft sich dieser<br />

neuen „Geisteshaltung“. Sie ist nicht mehr „adäquatio intellectus ad rem“, sondern<br />

Konstrukt. Erkenntnis ist nicht rezeptive Schau, sondern konstruktives Erschaffen.<br />

Theorie weicht der Praxis. Sie wird ihr Diener.<br />

Kolumbus, Bacon und Galilei – zwar durch zeitlichen Abstand getrennt, sind<br />

dennoch Zeitgenossen. Sie setzen Ziele im Unbekannten und suchen den Weg<br />

dorthin. Die Neuzeit ist immer unterwegs zu neuen Zielen. Auf dem Weg finden<br />

sich sogar Ziele, die gar nicht gesucht worden waren (Kolumbus entdeckt Amerika<br />

auf der Suche nach dem Seeweg nach Ost-Indien).<br />

Das Selbst wird zur Instanz der Wahrheit. Am Ende ist nur das Selbstgeschaffene<br />

erkenntnisfähig. Francis Bacon erklärt die „angestellten Versuche“ zur neuen<br />

Erkenntnismethode. Vico komprimiert die neue Weltsicht in den kurzen Satz:<br />

„verum et factum convertuntur.“ Erkenntnisfähig ist nur das Geschaffene. Erkenntnis<br />

ist erarbeitet. Der Imperialismus der Arbeit ist inzwischen weitergekommen.<br />

Selbst so elementare „Erlebnisse“ wie die Liebe geraten neuzeitlich in<br />

den Sog der Arbeit. Liebe wird zur „Beziehungsarbeit“. Barmherzigkeit mendelt<br />

zur „Sozialarbeit“. Trauer ist nicht mehr ohne „Verlustarbeit“ zu haben. Geschichte<br />

vollendet sich in der „Aufarbeitung“ der Vergangenheit. Schritt für<br />

Schritt unterwirft also die Arbeit alle menschlichen Lebensbereiche.<br />

Es ist erstaunlich: Just zu der Zeit, als die Erde die kosmische Position verlor,<br />

um die das Weltall kreiste, setzte sich der Mensch ins Zentrum. Offenbar ko m-<br />

pensierten die Menschen die Degradierung der Erde durch ein gesteigertes<br />

Selbstbewußtsein. Hypertrophe Selbstüberschätzung lindert so die Schmerzen<br />

eines beschädigten Selbstbewußtseins. Gesteigerte Schaffenskraft wurde Trost<br />

für verlorene Transzendenz. Das geozentrische Weltbild wird durch das anthropozentrische<br />

ersetzt.<br />

Dreimal wurde das Selbstbewußtsein des modernen Menschen schwer erschüttert.<br />

Kopernikus setzte ihn auf einen Planeten unter anderen. Darwin machte ihn<br />

zum Nachfolger des Affen, und Freud verstieß ihn aus dem Haus seines<br />

Selbstbewußtseins und degradierte ihn zum Agenten eines unbewußten „Es“. Je<br />

111


größer die Erschütterung, um so verzweifelter klammerte der Mensch sich offenbar<br />

an das, was er kann: arbeiten.<br />

Die Arbeit wird zu einer Art Religionsersatz. Glück ist das Ergebnis der Arbeit.<br />

Im Calvinismus behält die Arbeit allerdings eine letzte Verbindung zur Transzendenz,<br />

insofern der Arbeitserfolg zum Kriterium der Praedestination wird. Je<br />

weniger Heilsgewißheit, umso verzweifelter wird jedoch im Arbeitsergebnis die<br />

Bestätigung der Auserwählung gesucht. Aus dem puritanischen Arbeitsethos,<br />

von innerweltlicher Askese diszipliniert, erhielt der Kapitalismus seinen stärksten<br />

Schub, worauf bereits Max Weber hinwies. Nicht Landbesitz wie für die<br />

Physiokraten, nicht Handel wie für die Merkantilisten: Für Adam Smith, den<br />

Erzvater des Kapitalismus, ist die Arbeit die einzige Quelle des Wohlstandes der<br />

Völker.<br />

Der Marxismus, „Milchbruder des Kapitalismus“ (Oswald von Nell-Breuning<br />

SJ), erklärt schließlich die Arbeit zum alleinigen Prinzip der Selbstwerdung des<br />

Menschen. Arbeit schafft alle Werte. Marx fügt dem ökonomischen Wert, den<br />

Adam Smith durch Arbeit bestimmt, den anthropologischen hinzu. Der prometheisch-faustische<br />

Aufstand gegen eine übergeordnete Ordnung wird zu guter<br />

Letzt durch den Existentialismus auf die Spitze getrieben. Jean Paul Sartre entledigt<br />

sich aller kollektiven Fessel, durch welche Marx die Selbstwerdung des<br />

Menschen noch als Gattungsaufgabe gebändigt hatte, und macht das Individuum<br />

zum Entwurf seiner selbst. „Der Mensch, das ist seine Wahl“, ist das Kurzprogramm<br />

des Sartre’schen Existentialismus.<br />

Der Weg von Smith über Marx zu Sartre beschreibt die Etappen einer Entwicklung,<br />

die zur Hypostasie des „Schaffens“ führte. Diese Entwicklung führt zur<br />

Selbstverherrlichung des Menschen. Der Mensch wird zum Geschöpf seiner<br />

selbst. Die Arbeit ist der Geburtshelfer des neuen Menschen. Der Mensch verwirklicht<br />

sich durch Arbeit.<br />

Frühsozialisten<br />

Die Frühsozialisten entfalten im Gefolge der Französischen Revolution den neuen<br />

Kult der Arbeit. Mit Spott überzieht Henri de Saint Simon die arbeitslosen<br />

Würdenträger seines Zeitalters. „Nehmen wir weiter an, es (Frankreich) verlöre<br />

zur gleichen Zeit alle Großwürdenträger, Staatsminister (mit und ohne Portefeuille),<br />

Staatsräte, die Sachbearbeiter für Petitionen im Staatsrat (maitres des requetes),<br />

Marschälle, Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe, Großvikare und Domherrn,<br />

alle Präfekten und Unterpräfekten, Ministerialangestellten, Richter und dazu<br />

noch die zehntausend reichsten Eigentümer von denen, die vornehm leben. Dieses<br />

Ereignis würde die Franzosen sicher betrüben, weil sie gute Menschen sind<br />

und nicht gleichmütig eine so große Zahl ihrer Mitbürger plötzlich verschwunden<br />

sehen könnte. Doch würde der Verlust von dreißigtausend Personen, die als<br />

die wichtigsten im Staate angesehen werden, nur ihrem Gefühl Schmerzen bereiten,<br />

denn es entstünde hieraus kein politisches Unglück für den Staat.“ (Saint-<br />

Simon, Organisator. In: Der Frühsozialismus S. 26.)<br />

112


Ganz anders wäre es jedoch, wenn Frankreich „seine genialen Männer in Wissenschaft<br />

und Künsten, dem Handwerk und dem Gewerbe“ verlieren würde,<br />

dann wäre Frankreich ruiniert. (Saint Simon: ebd.). Die alte Obrigkeit, das sind<br />

Schmarotzer; die Produzenten sind die neuen Könige. Mit der Inthronisation der<br />

arbeitenden Klasse als die Retter der Gesellschaft nahm Saint Simon Marx vorweg,<br />

ohne allerdings die Erlösung durch Arbeit in einen historischen Prozeß<br />

einzuordnen, der nach Marx zwangsläufig ablaufen muß.<br />

Die marxistische Verehrung der Produktivkräfte<br />

Auch Karl Marx stand im Banne einer Hypostase der Arbeit. Er war von der<br />

Produktivkraft des Kapitalismus fasziniert. Man kann das kommunistische Manifest,<br />

das Karl Marx zusammen mit Friedrich Engels verfaßte und in dem er sein<br />

Programm 1848 in eine agitatorische Form für den Bund der Kommunisten<br />

brachte, auch als einen Hymnus an die kapitalistischen Produktivkräfte verstehen,<br />

die lediglich von den hemmenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen<br />

befreit werden müßten, um ins Reich der klassenlosen Gesellschaft zu führen.<br />

„Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere<br />

und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen<br />

zusammen.“ Geradezu schwärmerisch zählt Marx auf: „Unterjochung<br />

der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau,<br />

Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer<br />

Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden gestampfte<br />

Bevölkerungen – welche frühere Jahrhunderte ahnten, daß solche Produktionskräfte<br />

im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten.“ (Marx - Engels:<br />

Das kommunistische Manifest; in: Frühschriften S. 530.)<br />

Die Arbeit als Erlösung von der Arbeit, das ist der Sinn des dialektischen historischen<br />

Prozesses. Die Überwindung des Kapitalismus ist die letzte Schlacht zwischen<br />

Produktivkraft und Produktionsverhältnissen. Nicht die Philosophen, wie<br />

bei Plato, sollen den Staat führen, nicht der Mensch als Zoon politikon, der sich<br />

von der Arbeit und dem Geschäft freihalten muß, um die Befähigung zur Staatsregierung<br />

zu erhalten, wie bei Aristoteles, auch kein König von Gottes Gnaden,<br />

wie zu Zeiten absolutistischer Herrschaft, bilden den Staat, sondern der Arbeiter<br />

ist die Zentralgestalt der Zukunft. Das ist das gemeinsame Credo von Frühsozialisten<br />

und orthodoxen Marxisten.<br />

Karl Marx freilich verachtete die utopischen Träumereien der Frühsozialisten.<br />

Im Kommunistischen Manifest wirft Marx den Frühsozialisten vor: „Sie erblicken<br />

auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm<br />

eigentümliche politische Bewegung“ (Marx: Kommunistisches Manifest, in<br />

Frühschriften S. 556). Den Frühsozialisten fehlt nach Marx die Philosophie der<br />

Revolution, die nach Gesetzen des dialektischen Materialismus verläuft. An<br />

Stelle der frühsozialistischen Utopie setzt Marx deshalb den wissenschaftlichen<br />

Sozialismus, der eine Kreuzung von Hegel’scher Dialektik und Feuerbach’schem<br />

Materialismus ist.<br />

113


Von Hegel übernahm Marx das Prinzip Dialektik. „Das Große an der Hegelschen<br />

Phänomenologie und ihrem Endresultate – der Dialektik, der Negativität<br />

als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also, einmal daß Hegel die<br />

Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung<br />

als Entgegenständlichung, als Entäußerung, und als Aufhebung dieser Entäußerung;<br />

daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen,<br />

wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit<br />

begreift.“ (Karl Marx „Nationalökonomie und Philosophie“ in Frühschriften S.<br />

269.)<br />

Der Mensch ist das Resultat seiner eigenen Arbeit, das ist die Quintessenz der<br />

Hegel’schen und Marx’schen Anthropologie. Marx stellt freilich diese Philosophie,<br />

wie er selbst behauptet, vom Kopf auf die Füße, indem er den praktischen,<br />

sinnlichen Menschen zum dialektischen Subjekt/Objekt der Selbstfindung des<br />

Menschen macht und nicht das „abstrakte Denken“. Feuerbach hatte bereits<br />

„Anschauung“ gegen Hegel’s Geistphilosophie gesetzt. Von Feuerbach entlieh<br />

Marx den Materialismus. Marx wendet jedoch gegen Feuerbach ein: „Feuerbach<br />

mit dem abstrakten Denken nicht zufrieden, will Anschauung; aber er faßt die<br />

Sinnlichkeit nicht als praktische, menschlich sinnliche Tätigkeit“ (Karl Marx:<br />

Thesen gegen Feuerbach, in Frühschriften S. 340).<br />

Feuerbach sieht die Welt nur als Objekt, „nicht aber als sinnlich praktische Tätigkeit“<br />

(Marx, ebd.). Dialektik überwindet den Gegensatz zwischen Subjekt und<br />

Objekt, indem er diese in einem dynamischen Prozeß „aufhebt“ in dreifachem<br />

Sinne „bewahren, „annullieren“, „emporheben“. Subjekt und Objekt bedingen<br />

sich wechselseitig.<br />

„Indem er (der Mensch) durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm einwirkt<br />

und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur“ (Karl Marx: Das<br />

Kapital Bd. I S. 185 ff.). In der kommunistischen Arbeit fallen das Sichverändern<br />

und Verändern der Welt zusammen. Im vorgeschichtlichen paradiesischen<br />

Zustand versorgte die Natur den Menschen allerdings noch ohne sein Hinzutun.<br />

„Die Erde (worunter ökonomisch auch das Wasser einbegriffen) wie sie den<br />

Menschen ursprünglich mit Proviant versorgte, fertigen Lebensmittel ausrüstet,<br />

findet sich ohne seine Zutun als allgemeinen Gegenstand der Arbeit vor“ (Karl<br />

Marx: Bd I, III Abschnitt 5. Kapitel). „Natura pura“ gibt es aber, wie Karl Marx<br />

ironisch vermerkt, nur noch auf einer entfernten unbewohnten Koralleninsel.<br />

Diese exotische Restgröße wird von der Arbeit eliminiert. Der Mensch umgibt<br />

sich so restlos mit einer zweiten, von ihm produzierten Natur.<br />

Als die Menschwerdung begann, war die Arbeit nur „Stoffwechsel mit der Natur“.<br />

„Die Arbeit ist ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, worin der Mensch<br />

seinen Stoffwechsel mit der Natur durch eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“<br />

(Marx: Das Kapital, Bd. I S. 185 ff.). Der Mensch tritt sodann der Natur<br />

als Naturmacht gegenüber und bringt so den Naturstoff in eine lebensdienliche<br />

Form. Mit der Arbeit wird die Natur zum Gegenstand des Menschen, den der<br />

Mensch hervorbringt und die ihn hervorbringt. Damit wird der Stoffwechsel mit<br />

der Natur, der lediglich das Leben erhält, zu einer Produktion des Menschen, die<br />

ihn in Distanz zur Natur bringt. Arbeit hat die Erde in Rohstoff verwandelt. Roh-<br />

114


stoff ist bearbeitete Natur. „Sobald überhaupt der Arbeitsprozeß einigermaßen<br />

entwickelt ist, bedarf es bereits bearbeiteter Arbeitsmittel“ (Karl Marx, ebd.).<br />

Der Stein wird mit Hilfe der Arbeit aus dem Zusammenhang gerissen und zur<br />

Steinaxt. So verwandelt sich die Natur in ein produziertes Produktionsmittel.<br />

Die Natur wird das „Kunstprodukt“ der Arbeit. Das ist die Transformation der<br />

Natur ins Menschenwerk. Erst mit der Arbeit beginnt die Geschichte des Menschen.<br />

„So z. B. der Samen in der Agrikultur. Tiere und Pflanzen, die man als<br />

Naturprodukte zu betrachten pflegt, sind nicht nur Produkte vielleicht der Arbeit<br />

vom vorigen Jahr, sondern in ihren jetzigen Formen, Produkte einer durch viele<br />

Generationen unter menschlicher Kontrolle, vermittels menschlicher Arbeitskraft,<br />

fortgesetzte Umwandlung!“ (Karl Marx, ebd.)<br />

Gegen Feuerbach wendet Marx ein: „Er sieht nicht, wie die ihn umgebende Welt<br />

nicht ein von Ewigkeit her gegeben sich stets gleich bleibendes Ding ist, sondern<br />

das Produkt der Industrie und des Gesellschaftszustandes.“ (Marx Deutsche<br />

Ideologie, in Frühschriften S. 351.) Der Kirschbaum ist keine platonische Idee,<br />

sondern Werk des Menschen, denn ohne Züchtung gibt es den Kirschbaum nicht<br />

so, wie er ist. In der so bearbeiteten Natur erblickt sich der Mensch im Spiegel<br />

seiner Arbeit. Dialektik ist ein Arbeitsprinzip, in dem nichts feststeht, sondern<br />

alles Moment des Arbeitsprozesses ist. Wirklichkeit ist Wirken. „Wie die Individuen<br />

ihr Leben äußern, so sind sie, was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer<br />

Produktion, sowohl damit, was sie produzieren als auch damit, wie sie produzieren.“<br />

(Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften, S. 347.)<br />

In der 11. These über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden<br />

interpretiert: es kömmt darauf an, sie zu verändern“ (Marx: Thesen über<br />

Feuerbach, in Frühschriften S. 341.) formuliert Karl Marx nicht einen Appell,<br />

der aus Einsichten Aktionen fordert, sondern das Programm einer praktischen<br />

Philosophie, die alle Wirklichkeit in sich enthält, so daß die Trennung von Theorie<br />

und Praxis entfällt. Die Praxis ist nicht Anwendung der Theorie. Praxis ist<br />

vielmehr Handlungs- und Erkenntnisprozeß, die sich beide wechselseitig<br />

bestimmen. Praxis vereinnahmt Theorie.<br />

Entfremdung<br />

Einen bedeutenden Beitrag zur Philosophie der Neuzeit liefert Marx in seiner<br />

Lehre von der Entfremdung, womit er allerdings ungewollt auf der Spur einer<br />

alten christlichen Sündenlehre bleibt. Sünde ist nach scholastischer Definition<br />

„abalienatio“ – Abwendung von Gott. Marx verstrickt sich dabei allerdings in<br />

das Dilemma, das ihm für das Schema „eigentlicher“ und „entfremdeter“<br />

Mensch der Bezugspunkt „Eigentlichkeit“ fehlt, von dem der Entfremdete sich<br />

abwenden könnte. Denn der eigentliche Mensch ist erst das Produkt der Zukunft.<br />

Das Wesen der Entfremdung besteht darin, daß der Mensch sich in seiner Entäußerung<br />

nicht mehr erkennen kann. Der Mensch wird sich fremd, wenn er sich<br />

in der Welt, die er geschaffen hat, nicht widerspiegeln kann. „Die Entäußerung<br />

des Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung nicht nur, daß die Arbeit zu<br />

einem Gegenstand, zu einer äußeren Existenz wird, sondern daß sie außer ihm,<br />

115


unabhängig fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber<br />

wird, daß das Leben, was er dem Gegenstand verliehen hat, ihm feindlich und<br />

fremd gegenübertritt“ (Karl Marx: Das Kapitel, Bd. I S. 83 f.). Der Mensch gerät<br />

in die Rolle des Zauberlehrlings, der die Dinge, die er hervorruft, nicht mehr<br />

beherrscht.<br />

Die elementare Entfremdung setzt mit der Trennung von geistiger und materieller<br />

Arbeit ein. Sie ist die Quelle der Verselbständigung des Bewußtseins. „Die<br />

Teilung der Arbeit wird erst wirkliche Teilung von dem Augenblick an, wo Teilung<br />

in geistige und materielle Arbeit eintritt. Von diesem Augenblick kann sich<br />

das Bewußtsein einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehenden<br />

Praxis zu sein“ (Karl Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften S. 35 J.). Die<br />

abgetrennte Theorie erhebt sich über Praxis und dominiert so die Praxis, womit<br />

sich beide wechselseitig fremd werden.<br />

Die Steigerung der Entfremdung besteht in der Trennung von Arbeit und Genuß,<br />

Produktion und Verbrauch. Indem der Kapitalist den Mehrwert der Arbeit für<br />

sich vereinnahmt, enteignet er den Arbeitnehmer und beraubt ihn der Möglichkeit,<br />

sich im eigenen Produkt wiederzuerkennen. Arbeit schafft Kapital. Der<br />

Kapitalbesitzer überläßt dem Arbeiter nur jenen Teil des Arbeitsergebnisses, den<br />

dieser zur Reproduktion seiner Arbeitskraft benötigt. „Daß ein halber Arbeitstag<br />

nötig ist, um ihn (den Arbeiter) 24 Stunden zu erhalten, hindert den Arbeiter<br />

keineswegs, einen ganzen Tag zu arbeiten.“ (Karl Marx, Das Kapital B I, V.<br />

Abschnitt, 15. Kapitel.)<br />

Eigentum entsteht aus der Differenz zwischen Lohn und Arbeitsergebnis. Der<br />

Mehrwert, die Quelle des Eigentums, ist vorenthaltener Lohn. Privateigentum<br />

entsteht aus der Enteignung des Arbeitnehmers, dem der Gegenwert seiner Arbeit<br />

vorenthalten wird. Entfremdung wächst aus der Teilung zwischen Arbeit<br />

und Privateigentum. „Übrigens sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische<br />

Ausdrücke.“ (Karl Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften S. 354.)<br />

Die „Sünde“ des Kapitalismus besteht darin, daß er dem Arbeiter nicht ermö g-<br />

licht, das entäußerte Produkt zu sich zurückzunehmen, weil er es als Privateigentum<br />

des Kapitalisten dem Arbeiter entwendet wird. Eigentum ist deshalb in einem<br />

weiteren Sinn als es Proudhon gesagt hat, nicht nur ökonomischer, sondern<br />

anthropologischer „Diebstahl“. Zwischen Produzent und Produkt klafft in der<br />

kapitalistischen Gesellschaft eine Distanz, aus der Entfremdung des Menschen<br />

entspringt.<br />

Entfremdung korrumpiert die gesamte Gesellschaft; sowohl die Kapitalistenklasse<br />

wie die Arbeiterklasse: „Aber die erste Klasse fühlt sich in der Selbstentfremdung<br />

wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als die eigene Macht und besitzt<br />

in ihr den Schein der menschlichen Existenz; die Zweite fühlt sich in der Entfremdung<br />

vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer<br />

unmenschlichen Existenz.“ (Karl Marx: Heilige Familie, in Frühschriften S.<br />

317.)<br />

Die Arbeitsteilung unterjocht die Menschen, indem „jeder einen bestimmten<br />

Kreis der Tätigkeit (hat), die ihm aufgedrängt wird; aus dem er nicht heraus<br />

116


kann.“ (Karl Marx: Deutsche Ideologie, in Frühschriften S. 360.) Der Mensch,<br />

der nur Bruchstücke produziert, wird selber Bruchstück. Die Arbeitszerlegung<br />

zerlegt den Menschen. In der kommunistischen Gesellschaft dagegen, „wo jeder<br />

nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen<br />

Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt<br />

und mir eben dadurch möglich macht, heute dies und morgen jenes zu tun, mo r-<br />

gens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das<br />

Essen zu kritisieren ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie<br />

ich gerade Lust habe“ (Karl Marx ebd.), entfaltet sich das Gattungswesen des<br />

Menschen; herrschaftslos und unterdrückungsfrei, gleichsam gottgleich. Das<br />

Programm von Karl Marx kann als Gottwerdung des Menschen beschrieben<br />

werden. Der eigentliche Mensch ist die Existenz, die alle Fesseln abgestreift hat.<br />

Geschichte<br />

Der Klassenkampf, der die Geschichte vorwärts treibt, ist der Konflikt zwischen<br />

dem Stand der Produktivkräfte und den jeweiligen Produktionsverhältnissen. Der<br />

Stand der Produktivkräfte gibt den Stand der Gesellschaft an. Die Zeitalter werden<br />

nach den dominierenden Produktivkräften benannt. Steinzeit, Eisenzeit,<br />

Bronzezeit etc. Die Handmühle charakterisiert das Feudalzeitalter, die Damp f-<br />

maschine die industrielle Epoche. Die Produktivkräfte sind also nicht nur Gradmesser<br />

der Arbeitskraft, sondern auch der Anzeiger der Produktionsverhältnisse,<br />

die freilich im Fortschritt der Produktionskraft überwunden werden. Die Produktionsverhältnisse<br />

sind nur der Überbau der Produktivkräfte. Diese bestimmen<br />

den Fortgang des historischen Prozesses. Ohne Kapitalismus kein Kommunismus,<br />

denn der Kapitalismus ist der unausweichliche Durchgang zum Kommunismus.<br />

Die kommunistische Gesellschaft wird die dreifache Entfremdung überwinden,<br />

die zwischen Theorie und Praxis, die zwischen Arbeit und Privateigentum und<br />

die durch Arbeitszerstückelung. Die kommunistische Gesellschaft ist die Heimholung<br />

des Menschen in sein Gattungswesen. Das Gattungswesen Mensch befreit<br />

sich im Kommunismus aus seiner Vereinzelung in den kapitalistischen<br />

Produktionsverhältnissen. Das Individuum existiert nicht mehr. Der Mensch fügt<br />

sich in den Zusammenhang der Gattung. Die Gattungskräfte entfalten sich nur<br />

im Gesamtwirken der Menschen. Das Gattungswesen des Menschen ist das Resultat<br />

von Geschichte und Gesellschaft.<br />

Jean Paul Sartre: Existentialismus<br />

Sartre hat diesen Gattungszusammenhang wieder aufgelöst. Der Mensch ist nach<br />

Sartre ein einsamer Einze lner. Sozial ist er nur insofern, als er den anderen als<br />

anderen anerkennt und sich in dem anderen und der andere in ihm wie im Spiegel<br />

erkennt. Sartre macht dieses Verhältnis von Für-Sich und Für-andere und<br />

Für-einander am Beispiel der Scham deutlich: In der Reflexion über mich selbst<br />

finde ich das Urteil eines anderen vor. Dies ermöglicht über mich wie einen<br />

Gegenstand zu urteilen, also zum Beispiel sich zu schämen. Das Soziale ist also<br />

117


lediglich die Reflexionsbasis, auf der ich mich definiere. Der andere ist das Vehikel<br />

der Selbsterkenntnis. Es gibt also nicht irgendeine Art von Wesensnatur<br />

wie bei Aristoteles oder ein Gattungswesen wie bei Marx, das den Zusammenhang<br />

schafft, sondern nur der einsame, zur Freiheit verdammte Mensch, der sich<br />

erst noch selbst bestimmen muß.<br />

Das Ich und die anderen sind zunächst nur da. Sie existieren. Vom Dasein zum<br />

Sosein befördert sich der Mensch selbst. Die Essenz, das Wesen des Menschen,<br />

ist sein jeweiliger Entwurf. „Was bedeutet hier, daß die Existenz der Essenz<br />

vorausgeht? Es bedeutet, daß der Mensch erst existiert, auf sich trifft und erst<br />

dann definiert“ (Jean Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus;<br />

Satz 149). Der Mensch ist eine Schöpfung aus dem Nichts. „Der Mensch, wie<br />

ihn der Exentialismus versteht, ist nicht definierbar, weil er zunächst nichts ist“<br />

(Sartre, ebd. S. 149). Es gibt kein vorgegebenes Menschenbild. Der Mensch<br />

erschafft sich nach seinem eigenen Bild. „Der Mensch ist nichts anderes als das,<br />

wozu er sich macht“ (Sartre, ebd. Seite 150).<br />

Kein Gott, keine Idee rettet den Menschen aus der Einsamkeit. Keine Gattung<br />

gewährt ihm Heimat. Niemand hat den Menschen ersonnen, außer er sich selbst.<br />

Marx und Sartre übertreffen die paradiesische Versuchung: Ihr werdet sein wie<br />

Gott. Der Mensch ist sein eigener Gott.<br />

Leszek Kolakowski charakterisiert diesen Prometheismus so: „Es ist der Glaube<br />

an die durch nichts begrenzten Fähigkeiten des Menschen als Schöpfer seiner<br />

selbst und die Erfassung der menschlichen Geschichte als eines Prozesses der<br />

Selbsterzeugung der Gattung durch Arbeit, die Verachtung der Tradition und des<br />

Vergangenheitskults sowie die Überzeugung, daß der Mensch von morgen seine<br />

‚Poesie’ nicht aus der Vergangenheit, sondern allein aus der Zukunft schöpfen<br />

werde.“ (Kolakowski, Die drei Hauptprobleme des Marxismus; in: Narr und<br />

Priester, S. 179 f.) Während Marx den Menschen noch in den Zusammenhang<br />

der Gattung einbindet, läßt ihn Sartre allein. Der Weg von Marx zu Sartre ist der<br />

Weg von der vollendeten Gesellschaft zum vollendeten Individuum.<br />

Grenzen des Menschen<br />

Das Programm der Moderne heißt Grenzbeseitigung. Nichts soll der menschlichen<br />

Arbeit Grenzen setzen. Es gibt keinen verbotenen Baum, von dessen Früchten<br />

wir nicht essen dürfen. „Was wir können, machen wir auch, und was wir<br />

machen können, das dürfen wir auch.“ Das ist die Maxime der Selbstherrlichkeit<br />

des neuen Menschen.<br />

Der Imperialismus der Machbarkeit wird grenzenlos. Selbst die Grenzen der<br />

Erde werden überschritten. Dort, wo die Sterne am Himmel stehen und die Planeten<br />

ihre Bahn ziehen, kreisen jetzt unsere Satelliten. Vom Jubel der Sowjetunion,<br />

als sie die erste bemannte Rakete in den Weltraum schoß, ist allerdings so<br />

wenig übrig geblieben wie vom Sowjetimperium, das – wie Lenin behauptete –<br />

auf „Elektrizität und Sozialismus“ gründete. Gagarin, der erste Kosmonaut,<br />

triu mphierte, als er von seiner Himmelfahrt zur Erde zurückkehrte, er habe dort<br />

oben Gott nicht gesehen. Ist Gott tot, weil Gagarin ihn nicht gesehen hat? Doch<br />

118


die Gottesfrage ist trotz aller technischen Triumphe nicht verstummt. Und „daß<br />

der erste Schritt getan sei, um dem Gefängnis der Erde zu entrinnen“, wie ein<br />

amerikanischer Journalist fortschrittstrunken feststellte, hat das „Gefängnis“<br />

nicht verändert. Immer noch leiden und sterben Menschen, erleiden Schiffbruch<br />

ihres Lebens wie eh und je und bleiben in die Kontingenz ihres Lebens eingespannt.<br />

Offenbar gibt es existentielle Grenzen, die keine Technik sprengen kann.<br />

Mit den Grenzen des Lebens, wie sie durch den Tod gesetzt werden, kommt die<br />

Anthropologie von Marx und Sartre so wenig zurecht wie mit der Kontingenz<br />

unserer Geburt. Der Tod wie die Geburt bilden die vorerst unüberwindbaren<br />

Grenzen des Lebens. Der Tod ist immer noch Grenze des Lebens auf Erden. Mit<br />

der Geburt bleiben wir Kinder von Eltern, und die haben wir uns nicht ausgesucht,<br />

weder erarbeitet noch entworfen. Anfang und Ende des Lebens sind exi -<br />

stentielle Grenzen, die nicht gänzlich in unsere Hand gegeben sind.<br />

Doch der Angriff auf diese letzten Grenzen hat bereits begonnen. Die Grenzen<br />

sollen künstlich ausgeräumt werden. Homunculus ohne Tod ist das ultimative<br />

Projekt der Moderne. Ein Leben ohne Ende könnte vielleicht noch gelingen. Mit<br />

der Selbsterzeugung unserer biologischen Ausstattung freilich verhält es sich<br />

schwieriger. Der Gen-Cocktail, der das Wunschkind auf die Reise schickt, bleibt<br />

fremdbestimmt. Das Wunschkind entspricht den Wünschen, die es nicht selber<br />

setzt, sondern derer, dessen Wunsch es ist, und das kann es nicht selber sein.<br />

Ursache seiner selbst zu sein schafft kein Mensch. Er ist ohne Anfang nicht<br />

denkbar; und wäre ein Leben ohne Ende auf der Erde wünschbar? Wäre ein<br />

Leben ohne Tod erstrebenswert? Nichts mehr wäre einmalig. Kairos: Jetzt oder<br />

nie, Liebe: die oder keine, das alles blieben unbekannte Erlebnisse. Die ewige<br />

Wiederkehr des Gleichen wäre der Preis für ein Leben ohne Tod.<br />

Marx und Sartre scheitern an der Sinnfrage. Die Grenzen des Lebens sind der<br />

letzte Widerstand, vor dem selbst die sich selbst schaffende Arbeit kapitulieren<br />

muß. Das unendliche Sein ist Gott vorbehalten. „Ich bin, der ich bin.“ Jedes<br />

Attribut würde Gott begrenzen. Der Mensch läßt sich jedoch ohne Grenzen nicht<br />

definieren. Verzweifelt versucht der Mensch, Gott gleich zu werden. Diesen<br />

Versuch haben Adam und Eva mit Sterblichkeit bezahlen müssen. Aber selbst<br />

die stärksten „Pioniere der Arbeit“ werden die Gottgleichheit nicht schaffen.<br />

Marx wie Sartre mauern den Menschen in die selbst geschaffene Schöpfung ein.<br />

Den entscheidenden Angriff auf die Freiheit, die ihr Subjekt in der Person des<br />

Menschen hat, führt Karl Marx jedoch, indem er den Menschen zum Funktionär<br />

eines historischen Prozesses macht, der gesetzesmäßig abläuft.<br />

Es ist kein Zufall, daß Karl Marx mit der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung<br />

große Schwierigkeiten hatte. Einerseits kämpfen die Gewerkschaften für die<br />

Verbesserung der Lage des Proletariats, andererseits halten sie gerade mit der<br />

Verbesserung jene Verelendung auf, aus welcher der Funke der Revolution zünden<br />

und der Umschlag in die Vollendung der klassenlosen Gesells chaft bewirkt<br />

werden soll. Der Kompromiß im Lohnsystem behindert nach Marx den Kampf<br />

gegen das Lohnsystem. Revolution oder Evolution, aktives Eingreifen oder passive<br />

Erwartung? Zwischen diesen Alternativen konnte sich Marx nie wirklich<br />

119


entscheiden. Keine Dialektik befreite ihn aus der selbst gestellten Falle. Wer die<br />

Entwicklung verzögert, stört ihre historische Zwangsläufigkeit. Freiheit reduziert<br />

sich so auf die Einsicht in die historische Notwendigkeit. Der Mensch ist so nur<br />

Agent eines historischen Prozesses.<br />

Die Verzögerung oder gar Veränderung der Revolution ist ein „teuflisches<br />

Werk“. Wie die christliche Theologie dem Teufel nur die Macht der Negation<br />

zusprach, so können nach Marx die Conter-Revolutionäre auch nichts Positives<br />

schaffen, sondern lediglich das Positive behindern. Die Freiheit, die bleibt, ist die<br />

Sünde der Abwendung – bei Augustinus von Gott, bei Marx von der Revolution.<br />

Bei Marx jedoch ersetzt keine Gnade Gottes die Defizite der schöpferischen<br />

Freiheit. Es gibt nur die Alternative: Mitmachen (reihe dich ein ...) oder untergehen.<br />

„Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“ (Friedrich Engels).<br />

„Die Revolution frißt ihre Kinder“ ist der Preis für Uneinsichtigkeit in die<br />

Zwangsläufigkeit des historischen Prozesses und das Nachhinken der Produktivverhältnisse<br />

hinter den Produktivkräften. Prometheus, der Freiheitskämpfer,<br />

fesselt sich selbst an die ehernen Gesetze der Revolution. Ist es eine List der<br />

Dialektik, daß die versprochene totale Freiheit in der totalen Unfreiheit landet?<br />

Ausblick<br />

Die neuzeitliche Verherrlichung der Arbeit mündete im Glauben, daß technischer<br />

Fortschritt moralischer Fortschritt sei. Das menschliche Heil wird in der Expansion<br />

von Wissenschaft und Technik gesucht. In den vielfältigen Versuchen, die<br />

Eigenart des Menschen vom Tierreich abzugrenzen, wird die Definition des<br />

Menschen zum homo faber zur dominierenden Wesensbestimmung. Der Werkzeug<br />

benutzende Arbeiter wird zur differentia specifica des menschlichen Lebewesens.<br />

Archäologische Funde werden zur Stützung dieser Hypothese herangezogen.<br />

Vielleicht ist dies nur eine archäologische Falle. Grabkammern bewahren zwar<br />

Steinäxte, Pfeile und andere Gerätschaften auf, nicht aber Träume, Tänze, Gesten<br />

und Rituale. Vielleicht ist jedoch der homo faber sogar nur Nachzügler der technischen<br />

Intelligenz, wie sie sich in erstaunlicher Baukunst von Vögeln, Bienen,<br />

Bibern, Ameisen und Termiten offenbart. Vielleicht hat der Mensch geträumt,<br />

bevor er die Arbeit erfand. Träume jedoch scheinen auch im Schlaf von Tieren<br />

zu sein. Aber nicht der Versuch, Träume ins Wachsein zu befördern. Es ist kein<br />

Hund bekannt, den sein Vogeltraum zum Bau eines Flugzeuges inspirierte. Vielleicht<br />

ist der Mensch jenes einzigartige Tier, das mit einem Überschuß von Emotionen<br />

und Phantasien zurechtkommen mußte und deshalb Sprachen erfand, die<br />

nicht lediglich – wie beim Tier – Schmerz oder Spaß signalisiert, sondern sogar<br />

Erinnerung und Erwartung aufbewahren und ausdrücken konnte. Vielleicht geben<br />

die frühen Höhlenmalereien mehr Auskunft über Träume und Phantasien des<br />

Menschen als alle Steinäxte zusammen. Vielleicht war der Mensch eher „homo<br />

religiosus“ und „homo ludens“ und „homo ridens“, bevor er „homo faber“ wurde.<br />

120


Die Sprache des Menschen drückt jedenfalls mehr aus als materielle Bedürfnisse<br />

und setzt eine kompliziertere biologische Ausstattung voraus als alle anderen<br />

instrumentellen Begabungen und jedwede Technik. Sprache bedarf einer vielfältigeren<br />

organischen Abstimmung als die Handhabung einer Steinaxt. Sprache ist<br />

nicht lediglich ein zielgerichtetes Signalsystem, sondern das Ventil, das dem<br />

ungeheuren Überdruck psychischer Energien des Menschen Ausdruck verschaffte<br />

und sie kanalisierte, indem sie Kommunikation zur Bildung von Gemeinschaften<br />

und Geschichte einsetzte, was kein Tier je zustande brachte.<br />

Vielleicht war der Mensch erst Künstler, bevor er Arbeiter wurde. Die australischen<br />

Buschmänner, die zur frühen Menschheitsgeschichte zählten, besaßen<br />

zwar nur eine rudimentäre Technik, aber hochentwickelte religiöse Zeremonien,<br />

komplizierte Sippenorganisationen und eine differenzierte Sprache. In Ägypten<br />

und Mesopotamien benutzten die Menschen noch primitive Grabstöcke und<br />

Steinäxte, als sie bereits schreiben konnten. Nicht die Kultur folgt der Technik,<br />

sondern umgekehrt: Die Technik ist eine Reaktion auf kulturelle Fragen. Vielleicht<br />

wurde die Ablösung des Menschen vom Tier eher im Spiel als durch Arbeit<br />

„bewerkstelligt“.<br />

Die Geschichte nach dem Stand der Produktivkräfte einzuteilen, verengt den<br />

Blick auf die materielle Entwicklung. Die Erfindung der Dampfmaschine sagt<br />

über die Kultur der Goethezeit weniger aus als die Gedichte Goethes. Bevor der<br />

Mensch seine Umwelt verändert, veränderte es sich. Sprache, Musik, Religion<br />

sind ein stärkerer Ausdruck seiner Einmaligkeit als seine Arbeitskraft. Vielleicht<br />

ist der Arbeiter nicht der erste Mensch, sondern der letzte, und zwar derjenige,<br />

der es schaffte, sich selber abzuschaffen.<br />

Im Gestus des Propheten beschwor Ernst Jünger den Arbeiter als Herold einer<br />

neuen Zeit: „Der Vorgang, in dem sich eine neue Gestalt, die Gestalt des Arbeiters,<br />

in einem besonderen Menschentum zum Ausdruck bringt, stellt sich in bezug<br />

auf die Meisterung der Welt dar als das Auftreten eines neuen Prinzips, das<br />

als Arbeit bezeichnet werden soll. Durch dieses Prinzip werden die in unserer<br />

Zeit einzig möglichen Formen der Auseinandersetzung bestimmt; es unterstellt<br />

die Plattform, auf der allein man sich sinnvoll begegnen kann, wenn man sich<br />

überhaupt zu begegnen gedenkt. Hier liegt das Arsenal der Mittel und Methoden,<br />

an deren überlegener Handhabung man die Repräsentanten einer werdenden<br />

Macht erkennt.“ (Ernst Jünger: Der Arbeiter, S. 89.)<br />

Von dieser Heilslehre der Arbeit zehrte schließlich noch die „Nationalsozialistische<br />

Deutsche Arbeiter-Partei“. Auschwitz, die Offenbarungsstätte ihrer Unmenschlichkeit,<br />

trägt am Tor die Überschrift: „Arbeit macht frei“. Das ist die<br />

Offenbarung der finsteren Allmacht der Arbeit. Arbeit kennt kein Halten mehr.<br />

Arbeit, welche die Würde des Menschen begründen sollte, vernichtet sie in<br />

Auschwitz „arbeitsam“. Das ist die Pointe des losgelassenen Fleißes der Moderne.<br />

Am Ende dieser Epoche, die alles Heil von der Arbeit erwartete, steht ein Großteil<br />

der Menschheit ohne Arbeit da. Arbeitslos – einst das Privileg der Reichen<br />

und Mächtigen, um das sie von den Massen beneidet worden waren, ist zum<br />

121


Makel der Massen geworden. Die Produktivitätsrekorde haben das Elend der<br />

Welt nicht beseitigt, sondern eher vergrößert. In den entwickelten Ländern gerät<br />

unter das Diktat der Arbeit auch die arbeitsfreie Zeit. Sie ist die Fortsetzung der<br />

Arbeitsgewohnheiten mit anderen Mitteln. Freizeit ist nur noch die abhängige<br />

Variable der Arbeit, innerhalb derer sich Arbeitskraft regeneriert. Arbeitsfreie<br />

Zeit ist so lediglich entweder Not oder Streß. Die vita activa hat die vita contemplativa<br />

aufgefressen. Muse und Schönheit sind unbekannt verzogen.<br />

Doch das Lebensmuster der modernen Arbeit taugt nicht zum globalen Rezept.<br />

Die Erde hält den Verbrauch an Ressourcen nicht aus. Wenn alle so arbeiten, wie<br />

in der westlichen Arbeitsgesellschaft gearbeitet wird, bricht Mutter Erde zusammen.<br />

Vom Sinn der polaren Spannung zwischen Arbeit und Muße (vita aktiva /<br />

vita contemplativa; ora et labora) – bet’ und arbeit’ – sind nur versprengte Relikte<br />

übrig. Die „Pioniere der Arbeit“ sind in einer Gesellschaft gelandet, deren<br />

Fortschritt den Bewegungen der Ratte in der Trommel gleicht. Sie strampelt und<br />

kommt nicht vorwärts. Fortschritt – wohin?<br />

Literatur<br />

Fetscher: „Der Marxismus“, Bd. I, München 1962.<br />

Die Frühsozialisten, hg Thilo Ramm, Stuttgart 1956.<br />

Ernst Jünger: Der Arbeiter, Stuttgart 1982.<br />

Leszek Kolakowski: „Narr und Priester“, Frankfurt 1987.<br />

Karl Marx: „Die Frühschriften“, Stuttgart 1953.<br />

Karl Marx: „Das Kapital“, Berlin 1947.<br />

Marx-Engels: „Gesamtausgabe“ Berlin 1956 ff.<br />

L. Mumford „Der Mythos der Maschine – 4001“.<br />

Jean-Paul Sartre: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“, 2. Aufl., Hamburg 2002.<br />

Dr. Norbert Blüm, langjähriger Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung,<br />

lebt in Bonn.<br />

122


Manfred C. Hettlage<br />

Ist der Streik ein Recht oder ein Unrecht?<br />

Die sozialethische Rolle der Urabstimmung<br />

„Du sollst nicht streiken!“ – nach einem solchen Satz wird man unter den Zehn<br />

Geboten vergeblich suchen. Umgekehrt kann aus dem Fehlen eines solchen Ve r-<br />

bots nicht abgeleitet werden, der Streik sei aus der Sicht der Hl. Schrift erlaubt.<br />

Die Bibel will kein Handbuch für die Lösung sozialer Konflikte dieser Welt sein.<br />

In ihren Augen ist der Streik eher „ein weltlich Ding“. Und „daß der Mensch<br />

nicht vom Brot alleine lebt“, weiß man schon aus dem fünften Buch Moses (8,3).<br />

1. Die katholischen Hausgehilfinnen wollten nicht streiken<br />

Die Antwort darauf, ob der Streik verboten oder erlaubt sei, mag aus der Sicht<br />

der Bibel zweitrangig sein, die Sozialethik kann sie nicht einfach unbeantwortet<br />

lassen. Als Schulbeispiel mag der konkrete Fall des Verbandes der Katholischen<br />

Hausgehilfinnen und Hausangestellten e.V. dienen. Sie waren dadurch aufgefallen,<br />

daß sie in ihren Vereinsstatuten mit Arbeitskämpfen nichts im Sinn hatten<br />

und keinen Wert auf den Streik legten. Darin sah man eine religiöse Abweichung<br />

von der Normalität – um nicht zu sagen „Opium für das Volk“.<br />

Prompt wurde der Verband der Katholischen Hausgehilfinnen von der DGB -<br />

Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten mit dem Argument angegriffen, wer<br />

den Kampf mit den Arbeitgebern scheue und im Zweifel nicht streiken wolle, sei<br />

überhaupt keine Gewerkschaft im rechtlichen Sinne und könne mit den Arbeitgebern<br />

keine kollektiven Tarifabkommen vereinbaren, die als Mindestarbeitsbedingungen<br />

Gültigkeit haben. Der Rechtsstreit ging durch alle Instanzen und landete<br />

zuletzt sogar vor dem Bundesverfassungsgericht. 1<br />

Die Verfassungshüter in Karlsruhe hatten ein Einsehen. Denn sie waren sich<br />

darüber sehr wohl im Klaren, daß man die friedlich gesinnten Katholikinnen<br />

nicht gut zu einem Bekenntnis für den Arbeitskampf nötigen, genau genommen<br />

sogar zu tatsächlichen Streiks drängen konnte, nur um den Beweis zu erbringen,<br />

daß der Verband tariffähig sei. Denn das hätte noch gefehlt, um die Klage auf die<br />

Spitze zu treiben, wenn die Verfassungsrichter im Sinne eines kategorischen<br />

Imperativs geurteilt hätten: „Du sollst streiken!“<br />

Nein, die Richter in den roten Roben umschifften diese tückische Klippe der<br />

Juristerei. Sie nahmen die Katholischen Hausgehilfinnen gegen die Klage der<br />

Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten in Schutz. Anders als alle drei Vorinstanzen<br />

bekräftigte das Höchste Gericht in Karlsruhe, das sinnvolle Funktionieren<br />

der Tarifautonomie hänge nicht von Arbeitskämpfen ab. Friedlichen Methoden<br />

müsse man von Staats wegen den Vorzug geben, zumal ein Streik auch das<br />

Gemeinwohl schädige, für das der Staat Verantwortung trage. 2<br />

123


Welche Antwort haben wir damit in der Hand? Eine Verpflichtung zum Streik,<br />

das gibt es nicht und das kann es auch gar nicht geben. Mehr noch: Man darf auf<br />

den Streik verzichten und mit friedlichen Mitteln die Mindestarbeitsbedingungen<br />

zu regeln suchen. Das weltberühmten schweizerischen Friedensabkommen aus<br />

dem Jahre 1937, mit dem die Eidgenossen ihre Tarifangelegenheiten nun schon<br />

seit sieben Jahrzehnten unter beiderseitigem Verzicht auf Arbeitskämpfe regeln,<br />

zeigt es: Der gegenseitige Verzicht auf Arbeitskämpfe ist sinnvoll, ist möglich<br />

und keineswegs eine Abweichung von der Normalität.<br />

Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen und sagen, es sei besser, auf<br />

friedlichem Wege zu eine kollektiven Regelung der Mindestarbeitsbedingungen<br />

zu kommen als durch Streiks. Das aber ist gar nicht die eigentliche Frage. Denn<br />

hier geht es um etwas anderes. Das berühmte Hausgehilfinnen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

besagt, daß man auf den Streik verzichten darf, aber bei<br />

der Beurteilung der Frage, ob und unter welchen Bedingungen man streiken darf,<br />

hilft der Richterspruch aus Karlsruhe nicht allzu viel weiter.<br />

2. „Wer aussperrt, gehört eingesperrt“<br />

Das Gegenstück zum Streik – die Aussperrung – ist eigentlich nur die Kehrseite<br />

der gleichen Medaille. Auch sie beschäftigte die Oberste Gerichtsbarkeit. Das<br />

berühmte Aussperrungsurteil des Bundesarbeitsgericht 3 rief den Nestor der Katholischen<br />

Soziallehre Prof. Oswald von Nell-Breuning S.J. auf den Plan, der<br />

insbesondere bei den DGB-Gewerkschaften als hochangesehene Autorität galt<br />

und in diesen Kreisen in einen geradezu legendären Ruf stand.<br />

Zum Thema Aussperrung ließen die „Stimmen der Zeit“ 4 sogar einen Sonderdruck<br />

mit einem Aufsatz von Nell-Breuning erscheinen, der über die normale<br />

Auflage hinaus eine weite Verbreitung nicht nur in Gewerkschaftskreisen fand.<br />

Im Ergebnis trat v. Nell-Breuning dem Ansinnen der DGB-Gewerkschaften<br />

entgegen, die Aussperrung unter Berufung auf ein Verbot, das in Art. 29 Abs. 5<br />

der Hessischen Landesverfassung ausgesprochen wurde, für unzulässig zu erklären.<br />

Dem Slogan: „Wer aussperrt, gehört eingesperrt!“ konnte der Jesuitenpater<br />

jedenfalls nicht allzu viel abgewinnen.<br />

„Arbeitskämpfe sind ein Übel“, schreibt Nell-Breuning klar und unmißverständlich<br />

und meint damit Streik und Aussperrung gleichermaßen. 5 Auch das Bundesarbeitsgericht<br />

habe Arbeitskämpfe als „unerwünscht“ bezeichnet. Es sei daher<br />

anzustreben, daß der Arbeitskampf auf beiden Seiten „domestiziert“ werde, so<br />

der Sozialethiker, der allerdings dem Streik weniger Bedenken entgegenstellen<br />

wollte als der Aussperrung mit ihren größeren „menschlichen Härten“.<br />

Zum Schluß seines Beitrags in den „Stimmen der Zeit“ kommt v. Nell-Breuning<br />

zu dem Ergebnis: „Völlig aus der Welt schaffen lassen sich Streik und Aussperrung<br />

wohl nur beide zusammen, sei es durch staatlichen Hoheitsakt, sei es durch<br />

ein Friedensabkommen, wie es die schweizerische Maschinenbau- und Uhrenindustrie<br />

seit Jahrzehnten hat. Darin sollten die Sozialpartner eine ehrenvolle und<br />

lohnende Aufgabe sehen ...“ 6 – Freilich verhallte dieser Appell ungehört. Immer-<br />

124


hin hätten wir damit eine klare Antwort in der Hand: Arbeitskämpfe, also Streik<br />

und Aussperrung, sind in den Augen v. Nell-Breunings „ein Übel“.<br />

3. Das Recht zur Notwehr<br />

In diesen Tagen stattete Bundesarbeitsminister Franz Müntefering dem AEG-<br />

Werk in Nürnberg einen Besuch ab. 7 Das Werk soll geschlossen, die Arbeitnehmer<br />

entlassen werden. Wie man weiß, hat die IG Metall dagegen zum Streik<br />

aufgerufen. Die Zustimmung, die sich die Gewerkschaft in einer Urabstimmung<br />

bestätigen ließ, ist überwältigend. Der Minister sprach vor den von der Entlassung<br />

bedrohten Arbeitnehmern von „Notwehr“, die ihnen niemand streitig machen<br />

könne. Das Notwehrrecht als „Übel“ zu bezeichnen, wäre verwegen. Notwehr<br />

ist kein Übel, sondern dessen Gegenteil, die Abwehr eines Übels, dem<br />

anders nicht mehr beizukommen ist. Bricht also das Unwerturteil, das sich v.<br />

Nell-Breuning gestützt auf das Bundesarbeitsgericht zueigen gemacht hat, in sich<br />

zusammen?<br />

Prof. Arthur F. Utz O.P., ein namhafter Sozialethiker, der wie v. Nell-Breuning<br />

ebenfalls fest auf dem Boden der Katholischen Soziallehre steht, schreibt: „Vom<br />

Standpunkt der Sozialethik aus betrachtet waren und sind Streik und Aussperrung<br />

von allem Anfang an als Notstands- und Notwehrrechte zu verstehen. Aus<br />

diesem Blickwinkel – und nur aus diesem Blickwinkel – hat auch die Katholische<br />

Soziallehre die naturrechtliche Legitimation von Arbeitskämpfen beurteilt<br />

und bis in die Gegenwart hinein immer wieder grundsätzlich anerkannt.“ 8 Seit<br />

der ersten industriellen Revolution habe sich jedoch die Lage der Arbeiter in den<br />

entwickelten Industrienationen ganz entscheidend verbessert, so Utz.<br />

Weiter führt der Pater des Dominikanerordens dazu aus: „Breite Schichten der<br />

Bevölkerung vor allem der Arbeitnehmer genießen den Schutz der Renten-,<br />

Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie der Sozialhilfe. Die Kassen der<br />

Gewerkschaften sind gefüllt, es können sogar Streikgelder ausbezahlt werden.<br />

Vom Kampf um das bloße Existenzminimu m, von krassem Unrecht, das für<br />

jeden einsichtig und rechtschaffen denkenden Bürger erkennbar wäre, kann hier<br />

und heute nicht mehr gesprochen werden. Eine Situation, die zur Notwehr berechtigt,<br />

liegt in aller Regel nicht vor.“ 9<br />

Als Ge genbeispiel nennt Utz den Streik der Bergleute in den Zechen und der<br />

Facharbeiter in den Atomkraftwerken wie in der Öl- und Gasförderung Rußlands<br />

vom April 1994. In der damals noch jungen Russischen Föderation, die nach<br />

dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand, war es zu einer bedrohlichen<br />

Wirtschaftskrise gekommen. Den Streikenden war mehr als drei Monate lang<br />

kein Lohn mehr ausbezahlt worden. Inwieweit bei Arbeitsverweigerungen im<br />

Fall rückständiger Löhne schon ein Streik vorliegt oder aber nur ein bestehender<br />

Rechtsanspruch auf Zurückhaltung der Leistung ausgeübt wird, den schon das<br />

allgemeine Schuldrecht kennt, soll hier nur am Rande erwähnt werden. 10<br />

Immerhin hatte sogar die Internationale Atomenergiekommission IEAO in Wien<br />

vor der schlechten und unregelmäßigen Bezahlung der Facharbeiter in den russischen<br />

Kernkraftwerken gewarnt. Sie gefährde die Sicherheit dieser Anlagen. Im<br />

125


Februar 1995 kam es erneut zu Demonstrationen und Streikaktionen in Moskau,<br />

in den Kohle-Revieren des Kussbass-Beckens wie in Rostow am Don und anderen<br />

Fördergebieten. Sie beschäftigten auch die Staatsduma, also das russische<br />

Parlament, das sich beeilte, die monatlichen Mindestlöhne der Arbeitnehmerschaft<br />

auf 50.000 Rubel (etwa 11,04 Euro) nochmals zu verdoppeln, nachdem sie<br />

kaum ein halbes Jahr zuvor schon auf 20.500 Rubel angehoben worden waren.<br />

Zu allem kam erschwerend hinzu, daß damals in Rußland das Existenzminimum<br />

amtlich mit 146.000 Rubel beziffert war. 11<br />

Das Urteil von Utz zu den russischen Hungerlöhnen Mitte der 90er Jahre ließ<br />

keinen Zweifel aufkommen. „Mit vollem Recht und Zustimmung der Sozialethik<br />

bricht sich hier das elementare Naturrecht Bahn: Keine Macht der Welt, kein<br />

Gesetz und keine Verfassung kann und darf es verhindern, wenn es in einer solchen<br />

Situation zu Arbeitsniederlegungen oder gar zu Aufständen kommt.“ 12<br />

Ist der Streik ein Recht oder ein Unrecht? Die klassische Antwort würde demnach<br />

lauten: Es kommt darauf an. Im Fall der berechtigten Notwehr kann es<br />

keinen Zweifel geben. Umgekehrt schlußfolgert Utz: „Liegen die Voraussetzungen<br />

für einen naturrechtlich und damit sozialethischen Streik nicht vor, wie das<br />

in den entwickelten Staaten sicher der Fall ist, dann treten andere Werte in den<br />

Vordergrund.“ 13 4. Ein „amorpher Anerkennungsprozeß“<br />

Es werden aber noch andere Erinnerungen wach, wenn es um den „amorphen<br />

Anerkennungsprozeß“ 14 in der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Streiks<br />

geht. Im Mai 1889 wurde ein Streik der Bergarbeiter in 127 Zechen des Ruhrgebietes<br />

mit Hilfe von Polizei und Militär niedergeschlagen. Zahlreiche Verletzte<br />

und sogar Tote waren zu beklagen. Die öffentliche Sympathie war auf der Seite<br />

der Streikenden. Auch hatte der Deutsche Kaiser, Wilhelm II., eine Delegation<br />

der Bergarbeiter zur Audienz empfangen. Doch lehnte der Monarch jede Ve r-<br />

mittlung ab. Mehr noch drohte er in seinem jugendlich barschen Ton, „alle über<br />

den Haufen schießen zu lassen“, die sich nicht fügen wollten. 15 Damals jedenfalls<br />

wurde der Streik noch mit Aufruhr und Landfriedensbruch gleichgesetzt.<br />

Diese staatspolitische Bewertung hat sich nur langsam und in einer sich<br />

schmerzhaft in die Länge ziehenden historischen Entwicklung gewandelt.<br />

Zu einem historischen Schlüsselerlebnis mu ßte 16 Jahre später der Aufstand von<br />

1905 in Rußland werden. Er war nach den Worten Lenins nur die „eine Generalprobe“<br />

für die Russische Revolution von 1917, die den Anfang für eine neue<br />

Epoche in der Weltgeschichte markierte. „Der 22. Januar 1905 ist in die russische<br />

Geschichte als ‚Blutsonntag’ eingegangen. Zar Nikolaj II. ließ in der Hauptstadt<br />

St. Petersburg auf demonstrierende Arbeiter schießen. Mindestens 130<br />

Menschen starben, fast 300 wurden verletzt. (...) Kirchliche und patriotische<br />

Lieder singend zog eine riesige Menschenmenge – zwischen 50.000 und 100.000<br />

Personen – aus allen Teilen der Stadt mit Zaren-Bildern und Ikonen zum Winterpalast.<br />

Sie wurden von dem Popen Gabon geführt, der dem Zaren eine Petiti-<br />

126


on überreichen wollte. Nikolaj II. und seine Regierung lehnten ein Gespräch mit<br />

den streikenden Arbeitern jedoch ab.“ 16<br />

Nur wenige Wochen zuvor, im Dezember 1904, war es zum Generalstreik auf<br />

den russischen Ölfeldern von Baku gekommen. Die Streiks sprangen Anfang<br />

Januar 1905 auf St. Petersburg über. Streik und Revolution vermischten sich in<br />

tragischer Weise. Revolutionäre Kräfte, die das Regime des Zaren schon lange<br />

zu Fall bringen wollten, schürten die Streiks mit allen Kräften und wollten damit<br />

einen Flächenbrand entfachen. Die für jeden Herrscher unterläßliche Unterscheidung<br />

der Geister war Zar Nikolaj nicht gegeben. In der Absicht, sich der Revolutionäre<br />

zu erwehren, ließ er in völliger Verkennung der Situation auf unbewaffnete<br />

Demonstranten schießen – und ihr Blut floß in Strömen.<br />

Nach dem Massaker am „Blutsonntag“ geriet das Land dann endgültig in Aufruhr.<br />

Landesweit breiteten sich wie Lauffeuer immer neue Streiks aus, schon<br />

kurze Zeit später waren eine halbe Million Arbeiter im Ausstand. Trotz aller eilig<br />

eingeleiteten Reformschritte konnte sich das Zaren-Regime von der Bluttat des<br />

22. Februar nicht wieder reinwaschen. Um die Akzeptanz des Regimes in der<br />

Bevölkerung war es endgültige geschehen. Zwölf Jahre später wurde nicht nur<br />

der Zar und seine Regierung, sondern die gesamte Monarchie in einem Aufstand<br />

hinweggefegt, der als die Oktoberrevolution von 1917, die Russische Revolution,<br />

in die Geschichte einging.<br />

Auch vor der Revolution von 1917 zog ein Sturm von Streiks über das russische<br />

Land hinweg, doch weigerten sich, anders als 1905, die in Petrograd stationierten<br />

Regimenter Pawlowski, Preobrashenski und Wolynski auf das Volk zu schießen.<br />

– Die Revolutionäre in den Reihen der Streikenden sahen ihre Stunde gekommen.<br />

Und diesmal gelang es ihnen, den Streik in Rebellion umschlagen zu lassen<br />

und die Monarchie zu Fall zu bringen.<br />

Doch ist die Geschichte immer für eine Überraschung gut. Wer geglaubt hatte,<br />

nach der Russischen Revolution von 1917 sei der Streik in den kommunistischen<br />

Volksrepubliken nun endlich anerkannt worden, der mußte sich eines anderen<br />

belehren lassen. Unter der „Diktatur des Proletariats“ wollten die kommunistischen<br />

Machthaber einen Streik, der sich nach ihrem Verständnis ja nicht mehr<br />

gegen den verhaßten Monarchen, sondern gegen das Volk richten würde, keineswegs<br />

zulassen. Die Gewerkschaften wurden von Lenin zum „Transmissionsriemen“<br />

der kommunistischen Partei erklärt und gleichgeschaltet, Streiks mit den<br />

Mitteln der geheimen Staatspolizei unterdrückt. 17 Es mag merkwürdig klingen,<br />

aber die rechtlich zwar eingeschränkte Anerkennung des Streiks – besser gesagt<br />

die bedingte Duldung – vollzog sich, historisch betrachtet, durchaus nicht in den<br />

Ländern des Kommunismus, sondern des Kapitalismus.<br />

5. Im Grundgesetz wurde nur die Koalitionsfreiheit verankert<br />

Das Hin und Her im Ringen um die Anerkennung des Streiks spiegelt sich auch<br />

in der deutsche Verfassungsgeschichte wider. Das Bonner Grundgesetz von 1949<br />

stellte die Koalitionsfreiheit – das Recht also, zur Verbesserung der Arbeits- und<br />

Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden und mit vereinten Kräften<br />

127


Tarifabkommen für ein Kollektiv von Arbeitnehmern auszuhandeln – wieder<br />

her. Damit setzten die Urheber der Verfassung die Tradition der Weimarer Republik<br />

fort, die durch das Verbot der Gewerkschaften während der Diktatur des<br />

Nationals ozialismus unterbrochen worden war.<br />

Allerdings konnte sich die verfassungsgebende Versammlung 1949 nicht darauf<br />

verständigen, über die Garantie der Koalitionsfreiheit hinaus auch das Recht zu<br />

garantieren, Arbeitgeber durch Streiks unter Druck zu setzen. Und weil man sich<br />

nicht einigen konnte, klammerte man die Frage aus. Dem Wortlaut des Art. 9<br />

Abs. 3 GG, der die Tarifhoheit normiert, ist deshalb ein Recht auf Streik nicht zu<br />

entnehmen. Aus dem Schweigen des Gesetzgebers kann aber auch nicht auf das<br />

Gegenteil geschlossen und der Streik als Form von Nötigung oder sogar von<br />

Landfriedensbruch verworfen werden.<br />

Die Verfassungsgarantie Koalitionsfreiheit schließt das Streikrecht weder ein<br />

noch aus. – „Der Rest ist Schweigen.“ Freilich hat die sog. Verfassungswirklichkeit<br />

diese Position längst hinweggespült. Der Streik gehört im Wirtschaftsleben<br />

durchaus zur Normalität. Verfassung hin, Grundgesetz her, das „Streikrecht“ gilt<br />

allgemein als eine ausgemachte Sache. 18 Auch wenn sich aus dem Wortlaut des<br />

Art. 9 Abs. 3 GG ein Streikrecht nicht ergibt, würde kein Richter die Konsequenz<br />

ziehen, den Streik im Grundsatz für unzulässig zu erklären.<br />

Unter der Lupe der Rechtsdogmatik betrachtet, bleibt es dennoch eine unzulässige<br />

Simplifikation, von einem „Streikrecht“ zu sprechen. Denn durch den Streik<br />

werden geltende Arbeitsverträge massenweise außer Kraft gesetzt und Arbeitgeber<br />

wie Allgemeinheit zu Schaden gebracht. Wenn auch nur vorübergehend wird<br />

gleichwohl der eherne Grundsatz des gesamten Vertragsrechts „suspendiert“, 19<br />

daß geschlossene Verträge eingehalten werden müssen. Das Prinzip „pacta sunt<br />

servanda“ läßt sich bis ins römische Recht zurückverfolgen. Diese tragende Säule<br />

des Privatrechts wird für die Dauer des Streiks umgeworfen, weil und solange<br />

das Volk innerhalb des Tarifgebietes es so haben will. Ist der Streik beendet,<br />

werden die Gesetzbücher, die man zuvor bis auf weiteres zugeklappt hat, wieder<br />

aufgeschlagen, und die Arbeitsverträge müssen dann wieder so wie Miet-, Kredit-<br />

und Versicherungsverträge etc. eingehalten werden.<br />

Hier liegt der springende Punkt. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, der<br />

Volkssouverän ist daher befugt, geltende Arbeitsverträge außer Kraft zu setzen,<br />

sofern, soweit und solange er das will. Wie jedem Souverän – sei es dem Kaiser,<br />

sei es dem Zaren – sind aber auch dem Volkssouverän Schranken gesetzt. Auch<br />

er kann nicht willkürlich tun und lassen, was er gerade will. Das Grundgesetz<br />

schränkt die vom Volke ausgehende Staatsgewalt, die in Wahlen und Abstimmungen<br />

ausgeübt wird, verfahrensrechtlich durch das Demokratiegebot ein.<br />

Ohne die Legitimation der Abstimmung kann es keinen zulässigen Streik geben.<br />

Ein Streik gegen den Willen der Mehrheit ist ungesetzlich, mehr noch, er ist ein<br />

Angriff auf die Verfassung. Die Urabstimmung ist also eine Bedingung, ohne die<br />

es keinen legalen Streik gibt. Wir können also sagen: Ohne Zustimmung der<br />

Mehrheit in einer Urabstimmung is t der Streik kein Recht, sondern ein Unrecht.<br />

Und noch etwas: Die verbindliche Rechtsprechung der Obersten Gerichte hat für<br />

die Zulässigkeit des Streiks den Grundsatz der ultima ratio errichtet. Wegen<br />

128


seiner Bedeutung für das Gemeinwohl darf der Streik immer nur der letzte Ausweg<br />

sein. Solange verhandelt wird, muß gleichsam „Waffenstillstand“ gehalten<br />

werden und es darf nicht gestreikt werden. Das Prinzip der ultima ratio schließt<br />

zumindest den verhandlungsbegleitenden Warnstreik aus. – Doch die Wirklichkeit<br />

ist eine andere: In der Praxis schert das niemand.<br />

Wegen der Schäden für das Gemeinwohl wie für die bestreikten Arbeitgeber ist<br />

der Streik im Normalfall weit eher ein malum als ein bonum. Nach dem Prinzip<br />

der ultima ratio im Grundsatz verboten, ist er deshalb nur ausnahmsweise erlaubt,<br />

und das nur dann, wenn alle Mittel der friedlichen Verständigung ausgeschöpft<br />

sind und sich eine Mehrheit in der Urabstimmung für den Streik ausgesprochen<br />

hat. Mag der Streik also ein Ausnahmefall sein, der zu dulden ist, ein<br />

grundsätzlich positiv zu bewertendes Rechtsgut ist er nicht, es sei denn, es liegt<br />

der Extremfall einer unverkennbaren Notwehrsituation vor.<br />

6. Durch die Urabstimmung wird der Streik „domestiziert“<br />

Wie gezeigt hat schon v. Nell-Breuning verlangt, den Streik zu „domestizieren“.<br />

Mit dieser Forderung steht er keineswegs allein. Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts<br />

sah in seiner Grundsatzentscheidung vom 28.1.1955 die Rechtsprechung<br />

in der Pflicht, den Zugang zum Streik nicht zu erleichtern. Daher bietet<br />

sich das Demokratiegebot in Art. 20 GG als Instrument in besonderer Weise an,<br />

um die Zulässigkeit eines Streiks von der Mehrheit in einer Urwahl abhängig zu<br />

machen. Hinzu kommt die Akzeptanz der Urabstimmung in den Reihen der<br />

führenden Gewerkschaften, die darin einen anerkannten Bestandteil ihrer Geschichte<br />

sehen.<br />

Denn bis 1974 mußte niemand die Abhaltung von Urabstimmungen verlangen,<br />

sie war eine Selbstverständlichkeit und in den Streikrichtlinien der DGB-<br />

Gewerkschaften ja auch vorgeschrieben. 20 Allerdings kam die Pflicht zur Abstimmung<br />

1974 zu Fall, weil man sich dieser selbstgeschmiedeten Fußfessel<br />

entledigen wollte, um für die Streiktaktik der „neuen Beweglichkeit“ freie Bahn<br />

zu schaffen, also den traditionellen Flächenstreik mit Urabstimmung und mit<br />

Streikgeld durch ein wellenartiges System kurzfristiger Warnstreiks ohne vorherige<br />

Urabstimmung und ohne Streikgeld zu ersetzen. Doch haben sich die DGB -<br />

Gewerkschaften damit keineswegs grundsätzlich von der Urabstimmung verabschiedet.<br />

Vielmehr halten sie daran – wenn auch nach ihrem eigenen Belieben –<br />

weiterhin freiwillig fest.<br />

In seinem Handbuch „Über das Naturrecht“ hat sich Prof. Johannes Messner<br />

intensiv mit den „fast unüberwindlichen Schwierigkeiten einer Streikgesetzgebung“<br />

auseinandergesetzt. 21 Wie Utz und v. Nell-Breuning gehört auch er mit zu<br />

den „klassischen“, inzwischen verstorbenen Vertretern der katholischen Soziallehre.<br />

Doch verkennt auch Messner, daß eine solche Streikgesetzgebung nicht<br />

neu geschaffen werden muß. Sie ist schon da! Dabei geht es nicht nur um das<br />

grundsätzliche Streikverbot, wie es in dem durch höchstrichterliche Rechtsprechung<br />

aufgestellten Prinzip der ultima ratio Niederschlag fand. Auch das staatsrechtliche<br />

Demokratiegebot des Art. 20 GG war Messner ja keineswegs fremd.<br />

129


Im Gegenteil. Anders als v. Nell-Breuning und anders als Utz ist es allein Messner,<br />

der für die gewerkschaftliche Urabstimmung vor dem Streik ausdrücklich<br />

die Frage stellt: „Wer ist zur Abstimmung berechtigt? Nur Gewerkschaftsmitglieder?<br />

Warum nicht auch die Nichtmitglieder? Die Gewerkschaftsmitglieder<br />

können möglicherweise nur einen Teil der Belegschaft ausmachen.“ 22 Dieser<br />

Vorschlag werde jedoch von den Gewerkschaftsführern mit dem Hinweis abgelehnt,<br />

bedauert Messner, bei einer solchen Abstimmung könnte eine Mehrheit<br />

von Streikwilligen die Gewerkschaften gegen ihr besseres Urteil zum Ausrufen<br />

eines Streiks zwingen. Messner verkennt, daß zum Streik überhaupt niemand<br />

gezwungen werden kann und bei der Auszahlung von Streikgeld alle Gewerkschaftsvorstände<br />

eine vereinsrechtlich ausreichend gesicherte Veto-Position<br />

haben.<br />

Schließlich hinterfragt Messner auch die Richtigkeitsgewähr von Urabstimmu n-<br />

gen. Man habe nicht zuletzt auch zu bedenken, „wieweit eine Abstimmung, um<br />

unbeeinflußt zu sein, unter Aufsicht staatlicher Organe erfolgen müßte und damit<br />

für den Staat die Gefahr des Eingriffes in die Vereinigungs- und Handlungsfreiheit<br />

der Arbeiterschaft bestehen würde.“ 23 – Völlig überraschend läßt Messner<br />

jedoch den Faden an dieser Stelle fallen. Zu Ende gedacht, würde seine Überlegung<br />

darauf hinauslaufen, daß der Staat eine falsche oder sogar gefälschte Urabstimmung<br />

tatenlos hinzunehmen und das Demokratiegebot in Art. 20 GG hintanzusetzen<br />

habe.<br />

Doch es ist anders. Die Urabstimmung kommt einem historisch gewachsenen<br />

Bürgerentscheid innerhalb frei bestimmbarer Tarifgebiete zumindest sehr nahe,<br />

um nicht zu sagen gleich. 24 Wird mit qualifizierten Drei-Viertel-Mehrheiten<br />

abgestimmt, wie das durchgängig so gehandhabt wird, dann ergibt sich bei einem<br />

Organisationsgrad von über 70 Prozent der Beschäftigten des Tarifgebietes automatisch<br />

die absolute Mehrheit aller Mitglieder in den betroffenen Belegschaften.<br />

Die Abstimmung allein unter Gewerkschaftsmitgliedern ist also bei entsprechend<br />

hoher Organisationsdichte und gleichzeitiger Drei-Viertel-Mehrheit für<br />

die Gesamtheit repräsentativ, und man kann das historisch gewachsene Verfahren<br />

zur Not weiterhin akzeptieren. 25<br />

Ganz anders ist das, wenn der Organisationsgrad unter die kritische Schwelle<br />

sinkt und deshalb die Drei-Viertel-Mehrheit nicht mehr absolute Mehrheit aller<br />

Beschäftigten ergeben kann. Hier kann sich der Streik sehr wohl gegen den Willen<br />

der schweigenden Mehrheit richten, die von niemandem nach ihrer Entscheidung<br />

gefragt wurde. Folgt man dem Grundgesetz, geht die Staatsgewalt, die in<br />

Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird, durchaus nicht von den Gewerkschaften,<br />

sondern vom Volk aus. Als Zulassungsbedingung für den Streik ist<br />

Abstimmung allein unter Gewerkschaftsmitgliedern daher staatsrechtlich nicht<br />

zu begründen.<br />

7. Das Fazit<br />

Wird dem höchstrichterlichen Prinzip der ultima ratio Genüge getan, daß alle<br />

Möglichkeiten zu einer friedlichen Lösung ausgeschöpft wurden, und ist außer-<br />

130


dem der Wille des Volkes innerhalb des Tarifgebietes, die Arbeit kollektiv niederzulegen,<br />

durch Urabstimmung im Sinne des Art. 20 GG legitimiert, ist der<br />

Streik ein vorübergehend zu duldender Ausnahmenzustand. Wird aber gegen den<br />

Grundsatz der ultima ratio verstoßen oder wird das in der Verfassung verankerte<br />

Demokratiegebot mißachtet, ist der Streik ein „wilder“ Streik, und „wilde“<br />

Streiks sind ebenso verwerflich wie ungesetzlich. Wer dennoch dazu aufruft,<br />

kann auf Unterlassung verklagt werden und muß den entstandenen Schaden<br />

ersetzen. Im Extremfall der Abwehr einer für jedermann erkennbaren Notwehrsituation<br />

ist der Streik jedoch an keine der beiden Vorbedingungen gebunden.<br />

Anmerkungen<br />

1) BVerfG vom 6.5.1964, 1 BvR 79/62; BVerfGE 18,18.<br />

2) Vgl. BVerfGE, a. a. O. (Fn. 1), S. 30.<br />

3) Vgl. BAG 10.6.1980, BAGE 33, 140 (Archiv f. civilistische Praxis, GG Art. 9 Arbeitskampf<br />

Nr. 43).<br />

4) v. Nell-Breuning, Stimmen der Zeit, Heft 1, Januar 1980, S. 3 ff.<br />

5) v.. Nell-Breuning, a. a. O. (Fn. 4), S. 3 ff. So auch Kissel, Arbeitskampfrecht, Ein<br />

Leitfaden, München 2002, S. 847, § 60, Rdnr. 1: Das Charakteristikum eines Arbeitskampfs<br />

„besteht in der bewußten Störung der vertragsgemäßen Durchführung des Arbeitsverhältnisses<br />

als kollektive Druckausübung mit Schadenseffekt“.<br />

6) v. Nell-Breuning, a. a. O. (Fn. 4), S. 15. Kursiv geschriebene Hervorhebung bei v.<br />

Nell-Breuning.<br />

7) Vgl. SüddZ vom 3.2.2006, „Müntefering: Der Streik ist Notwehr“. – Inwieweit bei<br />

AEG Nürnberg ein Fall tatsächlich von Notwehr vorliegt, soll hier nicht entschieden<br />

werden.<br />

8) Utz, Schlichten statt streiken, Das schweizerische Friedensabkommen als Modell für<br />

Deutschland? Hrsg. Manfred Hettlage/Robert Hettlage, Bonn 1997, S. 27.<br />

9) Utz, a. a. O. (Fn. 8), S. 28.<br />

10) Vgl. §§ 273 BGB (Zurückbehaltungsrecht) und 320 BGB (Einrede des nicht erfüllten<br />

Vertrags).<br />

11) Vgl. Utz, a. a. O. (Fn 8), S. 28, gestützt auf die Berichte in der Tagespresse vom April<br />

1994 und vom Februar 1995 über die Russische Föderation.<br />

12) Utz, a. a. O. (Fn. 7), S. 28.<br />

13) Utz, a. a. O. (Fn. 7) S. 29.<br />

14) So Zacher vor dem Ausschuß für Arbeits- und Sozialordnung des Deutschen Bundestags<br />

in der 62. Sitzung am 19.12.1974 in Bonn, Stenographisches Protokoll Nr. 62, S. 55.<br />

15) Vgl. Jürgensen, H., FAZ v. 18.1.1990. Ferner Kissel, a. a. O. (Fn. 5), § 2, Rdnr. 21.<br />

16) Vgl. Dittmar Dahlmann, SüddZ Nr. 17, vom 22.1.2005, S. 14, „Keine Feinde auf der<br />

Linken / Generalprobe für 1917 – Die russische Revolution von 1905“.<br />

17) Fischer, Louis, Das Leben Lenins, Köln/Berlin 1964, S. 162 f., 546, 565 ff., 684.<br />

(Titel der amerikanischen Originalausgabe: The life of Lenin; übersetzt von Irmgard<br />

Kutscher.) Über die Rolle und Aufgaben der Gewerkschaften, vgl. ferner Lenin Werke,<br />

Bd. 33, S. 169-181.<br />

131


18) Vgl. Jonas Viering in SüddZ vom 3.2.2006, „Ungerecht aber richtig“ . Viering: „Streiken,<br />

daran muß erinnert werden, ist ein Recht.“<br />

19) Vgl. Entscheidung des Großen Senats BAG 15.1.1955, BAGE 1, 258 (unter II, 3 der<br />

Entscheidungsgründe); Archiv für civilistische Praxis GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 1.<br />

20) Zu den Streikrichtlinien des DGB vgl. Vorderwühlbecke, BB 1987, S. 750 ff. (750).<br />

21) Messner, Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik,<br />

6. Aufl. Innsbruck/München/Wien, 1966, S. 626 ff (635).<br />

22) Messner, a. a. O. (Fn 21), S. 635.<br />

23) Messner, a. a. O. (Fn 21), S. 635.<br />

24) Aus staatsrechtlicher Sicht de lege lata vgl. Hettlage, NJW 2004, 3299 ff. „Sind<br />

Streiks ohne Urabstimmung wilde Streiks?“<br />

25) De lege ferenda vgl. Hettlage BB 2004, 714 ff., „Keine Arbeitskämpfe gegen den<br />

Willen der Mehrheit!“ Außerdem Dieter Hundt, Michael Sommer und Manfred C. Hettlage<br />

in: ifo-Schnelldienst 9/2004, „Zur Diskussion gestellt: Obligatorische Urabstimmung<br />

unter Kont rolle des Staates?“ Ferner Hettlage, ZRP 2003, 366 ff., „Demokratisierung des<br />

Streikrechts“; ders., ifo-Schnelldienst, 15/2003, „Die heimlichen Lohnerhöhungen“; ders.,<br />

BB 1985, 2252 ff., „Arbeitskämpfe im rechtlichen Niemandsland?“<br />

Dr. Manfred C. Hettlage ist Wirtschaftswissenschaftler und wirkt als freier Publizist<br />

in München.<br />

132


Bericht und Gespräch<br />

Rudolf Uertz<br />

Walberberg und Die Neue Ordnung<br />

Vor 60 Jahren: Laurentius Siemer und Eberhard Welty<br />

Die Geschichte der Walberberger Bewegung, die ich anläßlich des 60jährigen<br />

Bestehens der Zeitschrift Die Neue Ordnung vortragen möchte,* ist schon oft<br />

erzählt worden. Und doch ist es von Nutzen, diese Historie wieder und wieder zu<br />

erinnern und weiterzugeben. Jede Generation schreibt die Geschichte, die ja ihre<br />

Geschichte ist, neu. Oft werden dabei unbekannte Quellen und neue Sachverhalte<br />

bekannt, so daß spätere Generationen oft mehr wissen, als frühere.<br />

Im Falle von Walberberg scheint das aber nicht der Fall zu sein. Denn es wird<br />

offenbar mehr und mehr Mode, bei der „Neuvermessung“ (Axel Schildt) der<br />

frühen Epoche der Bundesrepublik Deutschland die Strickmuster älterer Untersuchungen<br />

aufzulösen und die Fäden neu zu verknoten. Bei einer solchen Neuvermessung,<br />

wie sie derzeit in der Zeitgeschichte im Gange ist, fallen mit der<br />

Abwendung von den ideologischen Kontroversen der Frühzeit der Bundesrepublik<br />

jedoch auch die Motive der Gründergeneration, wie z.B. ihre entschiedene<br />

Abwehrhaltung gegenüber dem Totalitarismus, Kollektivismus und Kommunismus,<br />

flach.<br />

Diese ideologische Problemstellung der Frühzeit, so meint Damian van Melis in<br />

einem Artikel über „Die Dominikanerzeitschrift Neue Ordnung in den ersten<br />

Jahrzehnten der BRD“ aus dem Jahre 2000, sei „heute in der allgemeinpolitischen<br />

und in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit nur noch von nachgeordnetem<br />

Interesse“. Nach dieser Lesart sind also die Werte und Normen, für die<br />

Frauen und Männer einst ins Gefängnis gingen und gar geköpft wurden, auch für<br />

die wissenschaftliche Betrachtung nicht mehr interessant. Das Ende der kommunistischen<br />

Staatenordnung in Europa wird hier zum Anlaß genommen, die Auseinandersetzung<br />

zwischen den werteorientierten Haltungen wie den christlichdemokratis<br />

chen und christlich-sozialen Positionen einerseits und den Spielarten<br />

des Totalitarismus, Kommunismus und Sozialismus nach 1945 systematisch zu<br />

ignorieren.<br />

Ich möchte bei meiner kurzen Darstellung der Walberberger Bewegung von<br />

einer solchen eingeengten Perspektive, die nicht zuletzt auch Folge der Verflachung<br />

des akademischen Lehr- und Forschungsbetriebs ist, absehen.<br />

133


Man wird der Rolle von Walberberg und seinen Leistungen für den religiösen,<br />

kulturellen und gesellschaftlichen Wiederaufbau nur gerecht, wenn man den<br />

Stellenwert von Religion und Kirche in den 1940er und 1950er Jahren genügend<br />

in Anrechnung stellt. Die Kirche war in den späten 1930er und den 1940er Jahren<br />

in eine Oppositionsrolle gegen das Naziregime hineingewachsen. Ihre eherne<br />

Ordnung war nach dem Zusammenbruch 1945 der einzige intakte institutionelle<br />

Rahmen. Die deutsche Staats- und Rechtsordnung hatte zu existieren aufgehört;<br />

alle Macht und Gewalt lag bei den Alliierten. Säkulare Ideologien wie der Nationalsozialismus,<br />

der Nationalismus, der Kommunismus, aber auch der Liberalismus<br />

waren verbraucht und diskreditiert.<br />

Angesichts der erlebten Verbrechen, der Greuel des NS-Unrechtssystems und<br />

der Kriegsfolgen besann man sich wieder verstärkt auf die christlichen Rechts -<br />

und Ordnungsgrundsätze, d. h. auf naturrechtliche Ideen, die weit über den kirchlichen<br />

Raum hinaus wieder an Bedeutung gewannen. Kirche, Theologie und<br />

christliche Ethik sind so nach den Säkularisierungsschüben des 19. und des frühen<br />

20. Jahrhunderts – gewissermaßen subsidiär – in eine Rolle hineingewachsen,<br />

die ihnen im pluralistischen Gemeinwesen normalerweise nicht mehr zufällt.<br />

Von hierher erklärt sich die besondere Bedeutung, die den Walberberger Dominikanern<br />

wie auch anderen kirchlichen Persönlichkeiten und Kreisen in den<br />

späten 1940er und den 1950er Jahren zugewachsen ist. Ihre soziale Predigt und<br />

Lehre ist aus dem Christentum und dem abendländischen Gedankengut erwachsen.<br />

Der Gedanke des Abendlandes wurde dabei keineswegs – jedenfalls nicht in<br />

den hier zur Rede stehenden Kreis en – rückwärtsgewandt betrachtet, wie das<br />

schon früh die Parteiagitation linker Kreise (u. a. Walter Dirks) behauptet hat<br />

und auch gegenwärtig in der Zeitgeschichte wieder verbreitet wird. Vielmehr<br />

stand der Begriff Abendland zum einen für die religiösen und sittlichen Grundlagen,<br />

auf denen die Neuordnung aufbauen sollte, zum anderen wurde er synonym<br />

für den Europagedanken gesetzt und zur Kennzeichnung der gemeinsamen europäischen<br />

Kultur und der politischen und wirtschaftlichen Integration verwandt.<br />

Die Geistlichen wurden in besonderer Weise wieder zu Lehrern des Kirchenvolkes<br />

– eine Konstellation, die man zeitversetzt und in etwas anderem Kontext,<br />

wenngleich mit auffälligen Parallelen, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten<br />

auch in Polen, und dort vor allem auch in der Gewerkschaft Solidarnosc,<br />

sehen konnte.<br />

Doch zurück nach Walberberg: Dorthin wenden sich ehemalige christliche Arbeiterführer<br />

und Gewerkschafter aus dem Kölner Kettelerhaus im Jahre 1941.<br />

Sie bitten Pater Siemer, daß er ihnen Seminare über die christliche Soziallehre<br />

halte. Über kurz oder lang, so ist man sich sicher, wird das Dritte Reich zugrunde<br />

gehen. Man will sich daher Gedanken darüber machen, welche Ordnung man<br />

beim politischen Neuanfang anstreben soll. Pater Siemer sagt den Arbeiterführern<br />

zu, bittet aber Pater Welty, den sozialethischen Fachmann, die Konferenzen<br />

inhaltlich zu betreuen. Welty arbeitet das Ganze zu einem Konzept aus.<br />

Das Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler bringt das jähe Ende des Kreises, der<br />

Kontakte zu anderen Widerstandsgruppen unterhält. Viele ihrer Mitglieder wer-<br />

134


den vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, andere kommen mit Zuchthausstrafen<br />

davon oder tauchen – wie Pater Siemer und Jakob Kaiser – unter. Andere<br />

überleben, weil das Todesurteil nicht mehr vollstreckt wird. Die Mitarbeit von<br />

Pater Welty bleibt durch ein gnädiges Geschick unentdeckt.<br />

Unmittelbar nach Kriegsende läßt Welty seine Aufzeichnungen im benachbarten<br />

Brühl unter dem Titel drucken: „Was nun? Grundsätze und Hinweise zur Neuordnung<br />

im deutschen Lebensraum“. Weltys Schrift und ihre Erweiterung von<br />

1946, „Die Entscheidung in die Zukunft“, gehören zusammen mit den Arbeiten<br />

Oswald von Nell-Breunings zu den wichtigsten Publikationen der christlichen<br />

Soziallehre im Nachkriegsdeutschland.<br />

Gründung und Urprogramm der CDU<br />

Weltys Programmschriften handeln von der Personwürde des Menschen, den<br />

Themen Rechtsordnung und Rechtssicherheit, Staatsgemeinschaft, Familie, der<br />

Auseinandersetzung mit den Irrmeinungen zum „lebensunwerten Leben“; sie<br />

beschäftigen sich ferner mit der persönlichen und gesellschaftlichen Freiheit und<br />

– in ihrem größten Teil – mit der Eigentums - und Sozialordnung.<br />

Wie in vielen anderen Gründerkreisen entsteht auch im Kölner Kreis unter der<br />

Initiative von Leo Schwering im Juni 1945 spontan die Idee der Gründung einer<br />

Christlich-Demokratischen Partei. Man ist sich im klaren: Diese soll gemäß den<br />

Erfahrungen mit der katholischen Zentrumspartei vor 1933, der Konfessionsspaltung<br />

in Deutschland und den gesellschaftlich-politischen Problemen der Weimarer<br />

Republik – eine interkonfessionelle Volkspartei, eine Union für alle Schichten<br />

sein.<br />

Die Mitwirkung von Welty bei der Ausarbeitung des ersten Programms der CDU<br />

im Westen Deutschlands, den Kölner Leitsätzen vom Juni 1945, ist selbstverständlich.<br />

Und selbstverständlich ist es auch für Pater Siemer, die Einladung an<br />

den Kreis auszusprechen, künftig in Walberberg zu tagen, das für die folgenden<br />

Jahre zur wichtigsten Anlaufstätte und zum Schulungsort für kirchliche, politische,<br />

gewerkschaftliche und gesellschaftliche Gruppierungen wird. Im „Institut<br />

für Gesellschaftswissenschaften Walberberg e.V“ erhält es ab 1951 einen neuen<br />

institutionellen Rahmen. In Walberberg werden auch die Kölner Leitsätze beraten.<br />

Aber schon bei der erst Sitzung kommt es zum Eklat: Pater Siemer gehen die<br />

sozialen und eigentumspolitischen Grundsätze der Versammlungsrunde, zu der<br />

nunmehr auch Protestanten gehören, nicht weit genug. Er will, daß die neue<br />

Partei „Christlich-Sozialistische Gemeinschaft“ heißt. Das finden aber Teile des<br />

Kreises als nicht tragfähig. Also tagt man nach dem Rauswurf durch Siemer für<br />

die nächsten Wochen wieder in Köln.<br />

Es ist unzweifelhaft: „die Union entsteht links“, wie es der französische Politikwissenschaftler<br />

Alfred Grosser in seiner Geschichte Deutschlands nach 1945<br />

formuliert. Und wichtige Paten dieser Partei-Gründung sind eben die Walberberger<br />

Dominikaner. Der von Welty verwendete Begriff des „Christlichen Sozialismus“<br />

ist allerdings nicht der marxistische, sondern der vor Marx gebräuchliche<br />

135


Sozialismusbegriff, der die sozialen Dimensionen menschlicher Gemeinschaft<br />

und Gesellschaft markiert. In der Sache handelt es sich hierbei um nichts anderes<br />

als um klassische Ideen der katholischen Soziallehre, wie sie auch in den päpstlichen<br />

Enzykliken Rerum novarum (Über die Arbeiterfrage) von 1891 und Quadragesimo<br />

anno (Über die gesellschaftliche Ordnung) von 1931 enthalten sind.<br />

Konrad Adenauer, der ab 1946 die Führung der CDU übernimmt, verwirft entschieden<br />

den Begriff „christlicher Sozialismus“, weil er mißverständlich ist und<br />

die Abgrenzung der Partei zum linken und extrem linken Parteienspektrum erschwert.<br />

Und doch vermögen Pater Welty und Mitglieder des Walberberger Kreises,<br />

zu denen Johannes Albers und andere Unionspolitiker gehören, in beträchtlichem<br />

Maße die CDU-Programmatik zu beeinflussen, wie es insbesondere im<br />

Ahlener Programm der CDU der britischen Zone vom Februar 1947 der Fall ist.<br />

Aber dieses wohl bekannteste deutsche Manifest des 20. Jahrhunderts ist schon<br />

ein Jahr später in wichtigen Teilen überholt – durch die Wirtschaftspolitik Ludwig<br />

Erhards und folglich durch das Programm der CDU für die Wahlen zum<br />

Ersten Deutschen Bundestag, die Düsseldorfer Leitsätze vom Juni 1949. In diesen<br />

Leitsätzen zur Sozialen Marktwirtschaft wird jedoch der Gegensatz zwischen<br />

christlicher Soziallehre und dem Ordoliberalismus deutlich – ein Gegensatz, der<br />

letztlich nur „überbrückt“, nicht aber wirklich gelöst werden kann, wie es Kurt<br />

Biedenkopf in einer grundsatzprogrammatischen Analyse 1973 formuliert hat.<br />

Das Kloster Walberberg beschränkt sich in seiner christlich-sozialen Arbeit keineswegs<br />

bloß auf die CDU und auch nicht bloß auf kirchliche Kreise. Auch<br />

SPD-Politiker und Vertreter anderer Parteien suchen Kontakt zu den Patres. Die<br />

SPD interessiert vor allem die kulturpolitis che Haltung des deutschen Katholizismus.<br />

Walberberg wird zu einem „Haus der offenen Tür“, das für Angehörige<br />

aller Parteien, Schichten, Berufe und Konfessionen offensteht. Es wären viele<br />

Namen von Dominikanern und anderen Persönlichkeiten zu nennen, die in der<br />

sozialen und religiösen Bildungsarbeit, wie auch in der philosophischtheologischen<br />

Forschung und Lehre mitwirken. Ein Produkt dieser Arbeit ist die<br />

Edition der Lateinisch-deutschen Thomas-Ausgabe.<br />

Aber Walberberg gewinnt in der Frühzeit seinen besonderen Glanz und seine<br />

Anziehungskraft durch zwei große Persönlichkeiten, die gegensätzlicher kaum<br />

hätten sein können: Einerseits Pater Laurentius Siemer, eine imposante Gestalt<br />

und eine rhetorische Begabung. Er liebt die Außendarstellung und ist ein glänzender<br />

Kommunikator; er verfügt über hervorragende Kontakte zu unterschiedlichsten<br />

Persönlichkeiten in Kirche, Politik, Gesellschaft und Kultur. Im Jahre<br />

1948 organisiert er in Walberberg den ersten internationalen katholischen Journalistenkongreß<br />

im Nachkriegsdeutschland. Wegen seiner repräsentativen Ge s-<br />

talt und seinen vielfältigen Aktivitäten nennt man ihn ehrfurchtsvoll den „geheimen<br />

Bischof von Köln“ und den „weißen Kardinal“.<br />

An seiner Seite der eher zurückhaltende Wissenschaftler, der tief in der thomistisch-scholastischen<br />

Philosophie und Theologie verwurzelte Eberhard Welty,<br />

der in besonderer Weise das schriftliche Wort beherrscht und der unermüdlich<br />

Bücher, Artikel, Manifeste, Protokolle und wissenschaftliche Abhandlungen<br />

136


schreibt. Sein besonderes Talent: Er vermag das Gehörte und Gelesene auch in<br />

Diskussionsrunden sogleich umzusetzen, wobei er mit Geschick Positionen und<br />

Gegenpositionen zu einer neuen Synthese zu formulieren vermag, wenn er dies<br />

für nötig hält. Bei Programmberatungen fungiert Welty imme r wieder als Brückenbauer.<br />

Für den Kölner Kardinal, Joseph Frings, ist er ein wichtiger sozialethischer<br />

Ratgeber und Ideenspender. Seine „Grundsätze christlicher Soziallehre<br />

und zeitnahe Folgerungen“ (1947) wurden von dem Dominikaner redigiert.<br />

Es liegt nahe, daß Welty und Siemer ein weiteres Forum schaffen, um ihre sozialen<br />

Ideen einem breiteren Publikum zu erschließen, um das intellektuelle Klima<br />

im Nachkriegsdeutschland anzuregen und das Vakuum zu füllen, das die nationalsozialistische<br />

Unkultur hinterlassen hat. Im Dezember 1946 erscheint im<br />

Kerle-Verlag Heidelberg das erste Heft der Zweimonatsschrift „Die Neue Ordnung“.<br />

Herausgeber ist Laurentius Siemer, damals auch Provinzial der norddeutschen<br />

Dominikanerprovinz Teutonia. Die Schriftleitung übernimmt Eberhard<br />

Welty, der zugleich das Amt des Studienregens bekleidet.<br />

Herausgeber und Schriftleiter wissen, daß sie mit einer Vielzahl von wieder- und<br />

neugegründeten katholischen Zeitschriften konkurrieren. Hören wir, was Welty<br />

gleich in den ersten Zeilen des ersten Hefts seiner Zeitschrift als deren „Ziel und<br />

Art“ ausführt:<br />

„Unter dem Titel: ‚Die neue Ordnung‘ stellt sich diese Zeitschrift heute der Öffentlichkeit.<br />

(...) Es geht nicht darum, die bereits vorhandenen oder noch zu erwartenden<br />

Zeitschriften um eine weitere zu vermehren. (...) Es geht in vollem<br />

Ernst darum, der Gegenwart bzw. dem Menschen von heute, der um Klarheit<br />

ringt oder am Werk des Wiederaufbaues mittätig ist, auf die vielen drängenden,<br />

letzte Entscheidungen abfordernden Fragen die grundsätzlich richtige und damit<br />

die wegweisende Antwort zu geben. (...) Die christliche Kultur des Abendlandes<br />

vor dem Untergang bewahren bzw. sie erneuern und fördern zu helfen, und zwar<br />

dadurch, daß das Ordnungsbild dieser Kultur nicht nur in seinem geschichtlichen<br />

Werdegang und seiner geschichtlichen Bedeutung, sondern vorab in seiner tiefsten<br />

Verankerung und unbedingten Geltung, in seinen zeitgemäßen Ansprüchen<br />

und Verwirklichungsmöglichkeiten aufgezeigt wird.“<br />

Die Neue Ordnung füllt zweifellos eine Marktlücke: Sie ist die einzige sozialethische<br />

Fachzeitschrift in Deutschland. Sozialethik wird dabei nicht im engeren<br />

Sinne verstanden, sondern umfassend bezogen auf die Bereiche Religion, Kultur,<br />

Gesellschaft, wie es die Zeitschrift im Untertitel programmatisch ankündigt. Ihre<br />

Beiträge widmen sich vor allem den Grundsatzfragen der politischen, rechtlichen,<br />

sozialen und kulturellen Ordnung.<br />

Die Sozialethik will und kann nicht, wie es einmal der evangelische Sozialethiker<br />

Trutz Rendtorff salopp formuliert hat, Blaupausen für die Wirtschaft und<br />

Politik zeichnen. So einfach kann Ordnung nicht generiert werden, so simpel<br />

funktionieren gesellschaftliche Institutionen nicht. Die Neue Ordnung will vielmehr<br />

den sittlich-religiösen und kulturellen Boden bereiten, auf dem die konkrete<br />

Ordnung von Mensch, Gesellschaft und Staat in ihrer Heterogenität aufruht.<br />

Das ist ein kompliziertes und komplexes Geschäft, vor allem in einem pluralisti-<br />

137


schen Gemeinwesen, in dem viele Interessen und Interessengegensätze zum<br />

Ausgleich gebracht werden müssen, wie es Welty zwischen 1948 und 1950 als<br />

ordnungspolitischer Berater der Sozialausschüsse hautnah erfährt. Die Wirtschafts<br />

- und Gesellschaftsordnung ist jedoch keineswegs nur das Geschäft von<br />

Volkswirten und Technikern. Klassiker der Ökonomie wie Walter Eucken wußten<br />

noch um die Ordnungspotenzen, die dem katholischen Sozialdenken innewohnen.<br />

Zu diesen zählen in hohem Maße auch anthropologische, psychologische<br />

und kulturelle Faktoren. Wenn man den Beitrag des politischen Katholizismus<br />

und insbesondere von Walberberg zur Neuordnung nach 1945 wissenschaftlich-zeitgeschichtlich<br />

analysiert, muß man sich redlicherweise auf die Spezifika<br />

christlich-sozialer Theorie und Programmatik einlassen. Offenbar fällt diese<br />

ideengeschichtlich-systematische Analyse heute den jüngeren Autoren besonders<br />

schwer.<br />

Die Zeitschrift Die Neue Ordnung und die zahlreichen Autoren, unter ihnen viele<br />

namhafte Wissenschaftler, Publizisten und Praktiker, beobachten das politische,<br />

soziale und kulturelle Geschehen der aufstrebenden Bundesrepublik; sie kommentieren<br />

kritisch deren Entwicklungen und bemühen sich, das neue Gemeinwesen<br />

nicht zuletzt auch von der religiös-sittlichen Wertebasis her zu fundieren.<br />

Dies ist das Markenzeichen der Zeitschrift unter Welty, und es ist es auch geblieben<br />

unter den ihm folgenden Schriftleitern, Edgar Nawroth und seinen beiden<br />

Nachfolgern Basilius Streithofen und Wolfgang Ockenfels, – ein Grund, nach<br />

sechzig Jahren die Ursprünge der Neuen Ordnung wieder in Erinnerung zu rufen.<br />

Anmerkung<br />

*Vortrag vom 10. Februar 2006 anläßlich der Feier zum 60. Jahrestag der Gründung der<br />

Zeitschrift Die Neue Ordnung im Hotel Königshof, Bonn.<br />

Literatur<br />

Becker, Winfried / Buchstab, Günter / Anselm Doering-Manteuffel / Morsey, Rudolf<br />

(Hg.): Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn 2002.<br />

Brelie-Lewien, Doris von der: Katholische Zeitschriften in den Westzonen 1945-1949.<br />

Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Göttingen 1986.<br />

Melis, Damian van: Europapolitik oder Abendlandideologie? Die Dominikanerzeitschrift<br />

Neue Ordnung in den ersten Jahrzehnten der BRD, in: Thomas Sauer (Hg.): Katholiken<br />

und Protestanten in den Aufbaujahren der Bundesrepublik, Kohlhammer 2000, S. 170-<br />

186.<br />

Nawroth, Edgar: Walberberg: „Kloster der offenen Tür“. Die „Walberberger Bewegung“<br />

im Wiederaufbau der Nachkriegszeit, in: Thomas Eggensperger / Ulrich Engel (Hg.):<br />

Wahrheit. Recherchen zwischen Hochscholastik und Postmoderne, Mainz 1995, S. 365 ff.<br />

Ockenfels, Wolfgang: Eberhard Welty, in: Jürgen Aretz / Rudolf Morsey / Anton Rauscher<br />

(Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 19.<br />

und 20. Jahrhunderts, Bd. 4, Mainz 1980, S. 240 ff.<br />

Ockenfels, Wolfgang: Laurentius Siemer, in: ebd., Bd. 5, Mainz 1982, S. 147 ff.<br />

138


Streithofen, Heinrich Basilius: Das Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg.<br />

Eberhard Welty – Arthur F. Utz. Versuch einer Würdigung, in: Arthur F. Utz, Ethik und<br />

Politik. Aktuelle Fragen der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtsphilosophie. Gesammelte<br />

Aufsätze, Stuttgart 1970, S. 13-31.<br />

Uertz, Rudolf: Christentum und Sozialismus in der frühen CDU. Grundlagen und Wirkungen<br />

der christlich-sozialen Ideen in der Union 1945-1949, Stuttgart 1981.<br />

Uertz, Rudolf: Von den Gründungsaufrufen 1945 bis zu den Grundsatzprogrammen 1978<br />

und 1994. Zur Programmgeschichte der CDU, in: Brücke in eine Neue Zeit. 60 Jahre<br />

CDU, hg. von Günter Buchstab, Freiburg i. Br. 2005, S. 94.138.<br />

Welty, Eberhard, Was nun? Brühl (1945); Nachdruck und Informationen hierzu in: Was<br />

nun? Was tun? Zur Lage der nordrhein-westfälischen CDU, Sondernummer Die Neue<br />

Ordnung, September 1985.<br />

Welty, Eberhard: Die Entscheidung in die Zukunft. Grundsätze und Hinweise zur Neuordnung<br />

im deutschen Lebensraum, Köln und Heidelberg 1946.<br />

Prof. Dr. Rudolf Uertz ist Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Augustin.<br />

139


Wolfgang Bergsdorf<br />

Die Neue Ordnung als politische Zeitschrift<br />

Bemerkungen zum 60. Geburtstag*<br />

Vor 60 Jahren erschien im Kerle -Verlag Heidelberg die erste Ausgabe der<br />

Zweimonats-Zeitschrift „Die Neue Ordnung“ mit dem Untertitel: Zeitschrift für<br />

Religion, Kultur, Gesellschaft. Das Einzelheft kostete stolze zwei Reichsmark.<br />

Herausgeber war Laurentius Siemer OP, Provinzial der Dominikaner-Provinz<br />

Teutonia und Spiritus Rektor der Albertus Magnus Akademie in Walberberg. Als<br />

Schriftleiter fungierte Eberhard Welty OP, ebendort Studienregens. Im ersten<br />

Editorial, das mit dem Titel „Unser Ziel und unsere Art“ versehen war, war zu<br />

lesen: „Es mag beinahe verwegen und überheblich klingen. Aber dies ist das Ziel<br />

unserer Zeitschrift: Die christliche Kultur des Abendlandes vor dem Untergang<br />

bewahren bzw. sie erneuern und fördern zu helfen, und zwar dadurch, daß das<br />

Ordnungsbild dieser Kultur nicht nur in seinem geschichtlichen Werdegang und<br />

seiner geschichtlichen Bedeutung, sondern vorab in seiner tiefsten Verantwortung<br />

und unbedingten Geltung, in seinen zeitgemäßen Ansprüchen und Verwirklichungsmöglichkeiten<br />

aufgezeigt wird. Dabei sei ausdrücklich betont: Die Zeitschrift<br />

soll ihre Aufgabe nicht damit erfüllt haben, daß sie unterrichtet, daß sie an<br />

Gewesenes und Verlorenes erinnert, daß sie ein Ordnungsbild entwirft und geistig<br />

neu entstehen läßt. Sie soll zugleich bewegen, die Antriebe wecken, zur wirksamen<br />

und schöpferisch-gestaltenden Tat aufrufen und erziehen. Sie soll ausrichten,<br />

die Erneuerungsbewegungen in die rechte Bahn lenken, vor Fehlleistung<br />

bewahren“. 1<br />

Wenige Seiten später machen die Initiatoren der neuen Zeitschrift auf eine Nebenabsicht<br />

aufmerksam: „In dieser Zeitschrift soll u. a. das Wahrheitsgut gehoben<br />

und der Gegenwert entboten werden, das die beiden großen Denker des<br />

christlichen Abendlandes Albert der Große und Thomas von Aquin ihrer und<br />

jener nachfolgenden Zeit erarbeitet haben.“ 2 Schließlich machen sich die Zeitschriftengründer<br />

Gedanken über ihre potentiellen Leser. „Die Zeitschrift wendet<br />

sich nicht nur und nicht zunächst an einen Leserkreis, der aus fachwissenschaftlichem<br />

Interesse den Fragen nachspürt und die Abhandlungen durcharbeitet. Sie<br />

will vielmehr all jenen dienen, die genügend geschult sind und vor allem genügend<br />

regsam sind, Gedankengängen grundsätzlicher Art zu folgen… Das bedeutet,<br />

daß die Beiträge dieser Zeitschrift wissenschaftlich bestens unterbaut sein<br />

müssen.“ 3<br />

Dies war ein höchst anspruchsvolles Redaktionsprogramm, das ich als damals<br />

Fünfjähriger natürlich nicht zur Kenntnis genommen habe, obwohl ich es hätte<br />

tun können, denn ich wuchs in Brühl, im Hause meines Großvaters, wenige Kilometer<br />

von Walberberg, auf und mein Großvater gehörte zu den Abonnenten.<br />

Den Namen Eberhard Welty habe ich damals nicht zum ersten Mal gehört, denn<br />

140


mein Großvater, früherer Provinzial-Landtagsabgeordneter des Zentrum, davor<br />

eine zeitlang Assistent bei Adam Stegerwald in Berlin, gehörte zu den Männern,<br />

die in den Monaten vor und nach Kriegsende immer wieder nach Walberberg<br />

kamen, um dort mit dem Provinzial und Eberhard Welty über die Neuordnung zu<br />

diskutieren.<br />

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einige Bemerkungen zur Rolle der politischen<br />

Zeitschrift in unserer Medienlandschaft anzubieten, einige kurze Blicke<br />

auf die Wettbewerbssituation der politischen Zeitschriften damals zu werfen und<br />

abschließend den Versuch einer Würdigung der Neuen Ordnung zu wagen.<br />

I. Zur Entwicklung der Massenmedien<br />

Die deutschen Medien haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen sehr dramatischen<br />

Veränderungsprozeß hinter sich bringen müssen. Der Entmonopolisierung<br />

der elektronischen Medien folgte die Digitalisierung der gedruckten Presse und<br />

die Internet-Revolution. Alle Veränderungen bewirkten nicht nur eine Beschleunigung<br />

der journalistischen Arbeit und einen Abbau von internen Qualitätskontrollen,<br />

sondern auch eine ungeheure Steigerung des Wettbewerbsdrucks der<br />

Medien untereinander und ein wachsender Druck auf die Politik.<br />

Medien nehmen – so erscheint es aus der Perspektive der Politik – die Politik zur<br />

Beute, personalisieren politische Sachthemen, setzen sie unter Visualisierungszwang<br />

und unterwerfen alles dem Diktat der Unterhaltung. Dies gilt natürlich<br />

vor allem für das heute einflußreichste Medium, für das Fernsehen. Unter den<br />

Marktbedingungen moderner Massenkommunikation entsteht so „das große<br />

Palaver“, das eher von Verlautbarungen als durch einen Austausch von Argumenten,<br />

eher durch Polemik als durch Diskurs bestimmt ist. Von dem Habermas’schen<br />

Ideal der Medien als Forum des Diskurses freier Bürger, allein dem<br />

Gebot politischer Vernünftigkeit verpflichtet, scheint sich unser allgemeiner<br />

Medienzustand weit entfernt zu haben. Wir erleben täglich eine lärmende Geräuschentwicklung<br />

der Medien, die kleine und große Themen mit der ihnen eigenen<br />

Flüchtigkeit behandeln, in der Regel kontrovers, oft genug schrill, üblicherweise<br />

ohne Nachhaltigkeit, auch im Blick auf Skandale, vermeintliche oder<br />

tatsächliche.<br />

Dies erinnert an die beiläufige Bemerkung des französis chen Amerika-<br />

Beobachters Alexis de Tocqueville, der vor 130 Jahren notierte: „Ich gestehe, für<br />

die Pressefreiheit keineswegs die uneingeschränkte und unwillkürliche Liebe zu<br />

empfinden, die man für Dinge hegt, die unbestreitbar gut sind. Ich schätze sie<br />

weit mehr in Erwägung der Übel, die sie verhindert als wegen des Guten, das sie<br />

leistet.“ 5 Mit Übel meinte er vor allem Konformismus, Konsonanz und Kumulation<br />

der Medieninhalte, die die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts zur Perfektion<br />

entwickelt haben.<br />

Das ist unser Problem nicht. Die Medien fungieren heute zweifelsfrei nicht mehr<br />

als Mägde der Politik. Sie haben sich von staatlicher Bevormundung so gründlich<br />

emanzipiert und sind mittlerweile selbst zu einem so bedeutsamen Faktor<br />

der Politik geworden, daß immer mehr Kommunikationswissenschaftler und<br />

141


Politikwissenschaftler von den Medien als „Vierte Gewalt“ 6 oder von der „Mediodemokratie“<br />

7 sprechen.<br />

Medien favorisieren Aktualität. Nachrichten definieren sich durch ihren Neuigkeitswert.<br />

Im Konkurrenzkampf der Medien steigert sich die Jagd nach Neuem.<br />

Und oft wird, wenn Neues nicht zu melden ist, bereits Bekanntem ein neues<br />

Kleid übergezogen, indem ein weiterer Politiker dazu Stellung nimmt und eine<br />

neue Nuancierung findet. So kommt es auf der politischen Agenda zu hektischen<br />

Themenkonjunkturen und in der politischen Praxis zu einer drastischen Ve r-<br />

schärfung des Tempos – angetrieben von Wahlterminen. Der Planungs- und<br />

Deliberationshorizont von Politik verkürzt sich dramatisch, Politik droht sich<br />

immer stärker in Rhetorik zu erschöpfen, der Wettbewerb von Politikern und<br />

Parteien gerät in das semantische Umfeld von Querelen und Wadenbeißerei. 8<br />

Die Organisation des „Gesprächs der Gesellschaft mit sich selbst“ haben in<br />

Deutschland 70 öffentlich-rechtliche und private, in - und ausländische Fernsehprogramme<br />

übernommen, 150 öffentlich-rechtliche Hörfunk-Programme, 381<br />

Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 27 Mill. Exemplaren, 27 Wochenzeitungen<br />

mit einer Gesamtauflage von 2,0 Mill. Hinzu kommen 828 Publikumszeitschriften<br />

mit einer Gesamtauflage von 125 Mill. und 1084 Fachzeitschriften<br />

unterschiedlichster Art mit einer Gesamtauflage von 16.7 Mill. Medien<br />

werden unterschiedlich genutzt. Der durchschnittliche Fernsehkonsum ist in den<br />

letzten 30 Jahren von 113 auf 185 Minuten gewachsen, gleichzeitig ist die Dauer<br />

der durchschnittlichen Zeitungslektüre von 35 auf 29 Minuten gesunken. 9<br />

Für den öffentlichen Diskurs über Politik eignen sich die Medien in unterschiedlicher<br />

Weise. Fernsehen und Hörfunk sind in erster Linie Unterhaltungsmedien,<br />

denen sich der Konsument passiv aussetzt. Dies bedeutet keineswegs ihre politische<br />

Irrelevanz, aber ihre frühere, das heißt vor der Programmexplosion nach<br />

Einführung privater Rundfunkveranstalter ab 1984 prägende Bedeutung für die<br />

politische Meinungsbildung ist abgesenkt worden, ihre politische Thematisierungskraft<br />

geschwächt. Dem gegenüber erfordert die Auseinandersetzung mit<br />

dem gedruckten Wort in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern eine aktive Rolle<br />

des Rezipienten. Fernsehen ist ein emotionales Medium, das von den Bildern<br />

lebt, die Texte haben nachgeordnete Bedeutung und verblassen schnell im Gedächtnis<br />

des Rezipienten. Zeitungen hingegen, das gilt vor allem für Wochenzeitungen<br />

als Zweitzeitungen, liefern vertiefende und nachhaltige Informationen<br />

und Argumentationen und setzen auf rationale Kommunikation über komplexe<br />

Sachverhalte. Wer sich am politischen Diskurs beteiligen will, kann die Printmedien<br />

nicht außer acht lassen.<br />

II. Politische Zeitschriften für Multiplikatoren<br />

Für die politische Zeitschrift gilt dies in ganz besonderer Weise. Ihre Gesamtzahl<br />

ist begrenzt, das gleiche gilt für ihre Gesamtauflage, die 100.000 Exemplare<br />

nicht überschreitet. Aber für die vertiefte Information, für eine möglichst rationale<br />

Auseinandersetzung über Politik sind sie unverzichtbar. Denn sie bieten Texte<br />

zum politischen Diskurs an, die deutlich ausführlicher sind als die Kommentare<br />

142


der aktuellen Presse, dabei kürzer als Monographien. Die politischen Zeitschriften<br />

sind das Medium der hochkarätigen Multiplikatoren. Ihr Publikum ist jener<br />

winzige Anteil der Bevölkerung, der sich für Politik interessiert und für Politik<br />

engagiert. Quantitativ ist ihr Einfluß nicht zu messen, qualitativ nicht zu überschätzen.<br />

Heinrich Scholler rechnet deshalb die politische Zeitschrift zur „elitären Presse“.<br />

Deutlicher und intensiver als andere Medien richten sich ihre Argumente jenseits<br />

der Tagesaktualität auf Entwicklungen und Zusammenhänge. Es sind die politischen<br />

Zeitschriften, die die wichtige publizistische Funktion erfüllen, den Ansturm<br />

der Informationsflut dadurch zu bewältigen, in dem sie das Belangvolle<br />

vom Belanglosen unterscheiden. Das wichtigste Format der politischen Zeitschrift<br />

ist deshalb der Essay. Im Vergleich zum kürzeren Zeitungsartikel und zur<br />

umfangreichen Monographie bietet der Essay die Chance, einen Gegenstand auf<br />

einigen Druckseiten ohne systematische Gliederung argumentativ und assoziativ<br />

auszuleuchten. Er leistet dies idealerweise in einem Sprachstil, der vom Jargon<br />

ebenso weit entfernt ist wie von der wissenschaftlichen Fachsprache.<br />

Politische Zeitschriften haben in Deutschland eine lange und reiche Tradition.<br />

Schon 1665 wurde in Paris das „Journal de Savants “ gegründet, die damit den<br />

Anspruch erheben kann, erste Zeitschrift der Welt zu sein. Übrigens erreichte<br />

dieses Journal ein sehr hohes Alter. Die bisher letzte Ausgabe – nach einer Phase<br />

unregelmäßigen Erscheinens – wurde im Mai 2000 veröffentlicht und enthielt<br />

ein Editorial von Bernhard Henri Levy gegen die in Frankreich sich ausbreitenden<br />

antiamerikanischen Ressentiments.<br />

Angeregt durch dieses Pariser Vorbild entstand in Deutschland in den letzten<br />

drei Jahrhunderten eine reichhaltige und sich immer wieder verändernde Zeitschriftenlandschaft,<br />

deren Studium noch aufschlußreicher als das der Tagespresse<br />

Aufschluß über die Leitgedanken, zentralen Fragestellungen und geistigen<br />

Profile einer Epoche geben kann.<br />

Für die Geschichte der politischen Zeitschriften Deutschlands hatten Wilmont<br />

Haacke und Günter Pötter ihre Standardwerke vorgelegt. In ihnen wird der<br />

Stand der Zeitschriftenforschung rekapituliert und systematisiert und definitorisch<br />

aufgearbeitet, die Geschichte der politischen Zeitschriften anhand von<br />

zahlreichen Beispielen erörtert, die führenden Kommunikatoren der letzten dreihundert<br />

Jahre biographisch vorgestellt. Das Werk bietet eine zuverlässige, mittlerweile<br />

aktualisierungsbedürftige Grundlage für jede Beschäftigung mit dem<br />

Medium „Politische Zeitschrift“, ohne das ein rationaler Diskurs über Politik<br />

nicht gedacht werden kann.<br />

Die unmittelbare Nachkriegszeit ist die Gründungsphase und Hoch-Zeit der<br />

politischen Monatszeitschrift. Der nationalsozialistische Totalitarismus, der von<br />

ihm entfesselte Weltkrieg und die totale Niederlage Deutschlands haben bei den<br />

Überlebenden im zerstörten Deutschland einen ungeheuren Neuorientierungsbedarf<br />

entstehen lassen, den die lizenzierte Presse nicht zu erfüllen vermochte.<br />

Vertiefte Informationen und ausführlichere Deliberation waren gefragt. Sie wurden<br />

von den Monatszeitschriften geleistet.<br />

143


Wie Pilze auf einem nassen Waldboden schossen Zeitschriftenneugründungen<br />

aus der Erde. Die Rekordauflagenhöhen zeigten den Wissensdurst der Bevölkerung.<br />

Noch 1945 erscheint die erste Ausgabe der Monatszeitschrift „Wandlung“,<br />

dessen Herausgeber Dolf Sternberger war. Als Redakteure waren angegeben:<br />

Karl Jaspers, Marie Luise Kaschnitz und Alfred Weber. Sie erreichte eine Auflagenhöhe<br />

von bald 35.000, die nach der Währungsreform auf 14.000 zusammenschmolz.<br />

Das letzte Heft erschien im April 1949.<br />

1947 gründete Hans Paeschke die Monatszeitschrift „Merkur“ in Baden-Baden<br />

mit Unterstützung der französischen Besatzungsbehörden. Die Auflage schwankte<br />

um die 30.000 Exemplare, abhängig von der jeweiligen Papierzuteilung. Sie<br />

war dem europäischen Denken verpflichtet. Nach der Währungsreform sank die<br />

Auflage auf 4-6.000 Exemplare und hat sich bis heute auf dieser Größenordnung<br />

gehalten. Zu ihren Autoren zählten Gottfried Benn, Thomas Mann, Theodor<br />

Adorno, Martin Heidegger, André Gide, T.S. Eliot, Hannah Arendt, Margret<br />

Bovary und Ernst Jünger. Hans Schwab Felisch übernahm in den 70er Jahren die<br />

Herausgeberschaft, gefolgt von Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel, die heute<br />

dafür sorgen, daß der „Merkur“ die Balance hält zwischen einem anspruchsvollen<br />

politischen und kulturellen Essayismus.<br />

In Ostberlin gab Alfred Kantorowicz 1947 die Zeitschrift „Ost und West“ heraus;<br />

sie trug den Untertitel „Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit“.<br />

Kantorowicz gelang es , prominente Autoren aus Ost und West zu gewinnen wie<br />

Wolf Weyrauch, Heinrich Mann, Theodor Dreiser, Virginia Woolf und Boris<br />

Pasternak . Er erreichte die stolze Auflage von 100.000 Exemplaren. Nach der<br />

Währungsreform schmolz die Auflage auf 7.500 Exemplare. Die letzte Ausgabe<br />

erschien im Februar 1949.<br />

In Westberlin startete 1948 der „Monat“, zunächst mit amerikanischen Geldern<br />

finanziert. Als Herausgeber und Chefredakteur fungierte Melvin J. Lasky, er war<br />

Anfang der 40er Jahre Literaturredakteur von „The New Leader“ (New York)<br />

und später 1944-1945 US-Kriegsberichterstatter in Deutschland. Zur Redaktion<br />

gehörte von Anfang an Hellmut Jaesrich, Literat und brillanter Übersetzer. 1960<br />

trat an Laskys Stelle der Schweizer Publizist Fritz René Allemann, der später von<br />

dem Lyriker Peter Härtling abgelöst wurde. Letzter Herausgeber war Klaus<br />

Harpprecht. Aufgrund von Geldmangel wurde die Zeitschrift 1971 eingestellt.<br />

Eine Wiederbelebung des Titels als Vierteljahresschrift mißlang 1978. An die<br />

frühere Resonanz vermochte der neue „Monat“ nicht anzuknüpfen.<br />

1954 erschien in Bielefeld die „Neue Gesellschaft“. Sie verstand sich „als theoretisches<br />

Organ der SPD“ und wurde zunächst von Willi Eichler, Erich Potthoff,<br />

Fritz Bauer und Otto Stammer herausgegeben. Später traten Otto Brenner, Fritz<br />

Erler, Waldemar von Knoeringen und Carlo Schmid dem Herausgeberkreis bei.<br />

Seit 1972 wird die Zeitschrift „für die Friedrich-Ebert-Stiftung“ herausgegeben.<br />

Chefredakteure waren Leo Bauer, Ulrich Lohmar, Herbert Wehner und Peter<br />

Glotz, der Mitte der 80er Jahre eine Fusion mit den vom Aus bedrohten „Frankfurter<br />

Heften“ zustande brachte. Heute wird die Monatszeitschrift herausgegeben<br />

von Holger Börner, Klaus Harpprecht und Hans-Jochen Vogel. Langjähriger<br />

Chefredakteur war der im letzten Jahr verstorbene Erfurter Universitäts-<br />

144


Gründungsrektor Peter Glotz, sein Nachfolger wurde Thomas Meyer, verantwortlicher<br />

Redakteur ist Norbert Seitz.<br />

1956 erschien das erste Heft der „Politischen Meinung“. Am Schluß fand sich<br />

der Hinweis, die neue Zeitschrift wolle „alle brennenden Probleme der Zeit ansprechen<br />

und sie über die Polemik und schneller Beantwortung des Tages hinaus<br />

zu grundsätzlicher Analyse und Stellungnahme heben“. Politisch denken heißt<br />

Stellung nehmen, heißt einen Standpunkt haben. Das Impressum des ersten Heftes<br />

zeigte keine Gründer, keine Herausgeber an, nur Karl Willy Beer (1909-1979)<br />

als verantwortlichen Redakteur.<br />

Durch das hundertste Heft erfuhren die Leser, daß Otto Lenz und Erich Peter<br />

Neumann die Gründung der neuen Zeitschrift betrieben hatten und sich die Unterstützung<br />

Konrad Adenauers versichern konnten.<br />

Nachdem Herausgeber Erich Peter Neumann 1967 starb, übernahm die Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung die Finanzierung der Zeitschrift und ihr geschäftsführender<br />

Vorsitzender Bruno Heck übernahm die Herausgeberschaft. Nach dessen Tod<br />

1989 folgte ihm sein Nachfolger als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung,<br />

Bernhard Vogel.<br />

Von Karl Willy Beer übernahmen 1979 Ludolf Herrmann und nach dessen Tod<br />

Peter Hopen 1986 die Chefredaktion der Zeitschrift. Seit 1998 redigiere ich<br />

diese Zeitschrift. Es hat erheblicher Anstrengungen bedurft, damit die „Politische<br />

Meinung“ in den letzten Jahren nicht nur ihre Leserschaft hat verjüngen können,<br />

vor allem Studierende greifen immer häufiger nach Recherchen im Internet auf<br />

„Die Politische Meinung“ zurück. Mit 5.500 Exemplaren erreicht „Die Politische<br />

Meinung“ als einflußreiches Forum bürgerlicher Politik rund 20.000 Multiplikatoren,<br />

die sich am öffentlichen Gespräch über Politik und Kultur in Deutschland<br />

beteiligen.<br />

III. „Die Neue Ordnung“ als sozialethisches Forum<br />

Wer 60 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges auf die Zeitschriften-<br />

Landschaft in Deutschland blickt, dem fällt als erstes auf, daß „Die Neue Ordnung“<br />

mit dem Gründungsjahr 1946 mittlerweile die älteste politische Zeitschrift<br />

von Rang ist. Die im gleichen Jahr gegründeten „Frankfurter Hefte“ sind mittlerweile<br />

in der „Neuen Gesellschaft“ aufgegangen. Ihr Gründer Walter Dirks<br />

gehörte übrigens zu den Autoren der „Neuen Ordnung“. Weiter besticht die<br />

bemerkenswerte personelle Kontinuität der „Neuen Ordnung“. Nur vier Chefredakteure<br />

in 60 Jahren, das ist schon eine besondere Leistung, die der Verbindung<br />

dieser Zeitschrift mit dem Dominikaner-Orden und dem Prinzip der Selbstverantwortung<br />

geschuldet ist. Die Redaktionsarbeit wird nebenamtlich geschultert,<br />

hauptamtliche Mitarbeiter gab es und gibt es nicht. Eberhard Welty redigierte<br />

die Zeitschrift 19 Jahre, Edgar Nawroth trug 18 Jahre die redaktionelle Ve r-<br />

antwortung, Basilius Streithofen leitete sie neun Jahre lang und Wolfgang Ockenfels<br />

dirigiert sie seit 14 Jahren durch die Stürme der Zeiten, die für das Lebenslicht<br />

gerade von politischen Zeitschriften so gefährlich sind.<br />

145


Die Neue Ordnung hat es in den vergangenen sechs Jahrzehnten geschafft, zum<br />

Diskussionsforum der Katholischen Soziallehre zu werden, das in einer immer<br />

verständlichen Sprache die jeweils aktuellen Probleme der Sozialethik aufbereitet<br />

und Lösungsvorschläge postuliert. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten,<br />

die Leistung einer Zeitschrift über Jahrzehnte zu würdigen. Man kann eine Inhaltsanalyse<br />

machen, man kann auch anekdotisch an diese Aufgabe herangehen,<br />

man kann herausragende Aufsätze und ihre Öffentlichkeitswirksamkeit untersuchen.<br />

All das erfordert Zeit, viel mehr als mir jetzt zur Verfügung steht. Deshalb<br />

benutze ich eine andere Methode der Qualitätsevaluierung, nämlich die der Präsentation<br />

der über das jeweilige Fachgebiet hinausgehenden Prominenz ihrer<br />

Autoren.<br />

Das Autorenverzeichnis der letzten 60 Jahre weist die crème de la crème der<br />

Katholischen Sozialethiker aus: Johannes Messner, Oswald von Nell-Breuning<br />

SJ, Edgar Nawroth OP, Wolfgang Ockenfels OP, Anton Rauscher SJ, Basilius<br />

Streithofen OP, Manfred Spieker, Arthur Fridolin Utz OP, Eberhard Welty OP.<br />

Auch wenn die Zeitschrift immer wieder auf aussagestarke Autoren wie Willehard<br />

Paul Eckert, Paulus Engelhardt, Ambrosius Esser aus dem Orden zurückgreifen<br />

konnte, so hat sie sich nie als Zeitschrift der Dominikaner verstanden.<br />

Für Autoren anderer Orden und für Weltgeistliche und Bischöfe und Kardinäle<br />

wie Josef Homeyer, Julius Kardinal Döpfner, Josef Kardinal Höffner und Leo<br />

Kardinal Scheffczyk oder Prälat Bernard Hanssler war sie ebenso offen für evangelische<br />

Autoren wie Erwin Wilkens.<br />

Diese Offenheit zeigt sich auch bei den Politikern, die von der Neuen Ordnung<br />

zur Mitarbeit in den vergangenen 60 Jahren eingeladen wurden. Natürlich dominieren<br />

Wirtschaft- und Sozialpolitiker wie Norbert Blüm, Hans Katzer, Dieter<br />

Julius Cronenberg, Fritz Hellwig, Thomas Ruff, Hermann-Josef Russe, Josef<br />

Stingl, Hans Tietmeyer. Aber auch Christoph Böhr, Bruno Heck, Helmut Kohl,<br />

Norbert Lammert, Rupert Scholz, Edmund Stoiber, Erwin Teufel und viele andere<br />

haben für „Die Neue Ordnung“ zur Feder gegriffen. Daß die Zeitschrift auch<br />

den Dialog mit den Sozialdemokraten gesucht hat, zeigen Beiträge von Peter<br />

Glotz, Georg Leber und Hans Jochen Vogel. Die gleiche Offenheit leitete die<br />

Einladungen an Publizisten. Konrad Adam gehört ebenso zu den Autoren der<br />

Neuen Ordnung wie Reinhard Appel, Franz Barsig, Anton Böhm, Hermann Boventer,<br />

Peter Coulmas, Dettmar Cramer, Friedrich Karl Fromme, Fides Krause-<br />

Brewer, Herbert Kremp, Alois Schardt oder Dieter Stolte.<br />

Besonders beeindruckend ist die lange Liste hochkarätiger Wissenschaftler,<br />

jenseits der Sozialethik, die in den vergangenen 60 Jahren für „Die Neue Ordnung“<br />

schrieben. Dazu gehören Staatsrechts lehrer wie Josef Isensee, Franz<br />

Klein, Otto Kimminich, Martin Kriele, Paul Mikat, Carl Schmitt (der aus Plettenberg),<br />

Herbert Schambeck und Bernd Rüthers; Soziologen wie Meinolf Dierkes,<br />

Franz Xaver Kaufmann, Erwin Scheuch, Ökonomen wie Fritz Burgbacher,<br />

André Habisch Philipp Herder-Dorneich, Meinhard Miegel, Bruno Molitor,<br />

Wilfried Schreiber, Christian Watrin. Philosophen wie Hanna-Barbara Gerl,<br />

Norbert Hinske, Walter Warnach, Historiker und Politikwissenschaftler wie Karl<br />

Buchheim, Paul Kevenhörster, Nikolaus Lobkowicz, Wolfgang Mantl, Hans<br />

146


Maier, Anton Pelinka, Peter Steinbach, Bernhard Sutor, Paul Weihnacht und<br />

Manfred Wilke, Kommunikationswissenschaftler wie Hans Braun, Otto B. Roegele,<br />

Ulrich Saxer, Hans Wagner. Das alles sind Namen, die weit über ihren<br />

Wirkungsbereich hinaus Gewicht in der Öffentlichkeit haben. Jede politische<br />

Zeitschrift lebt von der Qualität ihrer Beiträge und dem Gewicht ihrer Autoren.<br />

„Die Neue Ordnung“ hat von den ersten 60 Jahren ihres Erscheinens eine überaus<br />

glückliche Hand bei der Auswahl der Themen und Autoren bewiesen, weil<br />

sie nie ideologisch, sondern immer offen für andere Ansichten war. Dazu kann<br />

ich die Redaktion nur herzlich beglückwünschen und ihr die gleiche Geschicklichkeit<br />

auch für die kommenden 60 Jahre wünschen.<br />

Anmerkungen<br />

*Vortrag vom 10. Februar 2006 anläßlich der Feier zum 60. Jahrestag der Gründung der<br />

Zeitschrift Die Neue Ordnung im Hotel Königshof, Bonn.<br />

1) Neue Ordnung, Heft 1, 1946/47, 1. Jahrgang, S. 3.<br />

2) a. a. O. S. 6.<br />

3) a. a. O. S. 7.<br />

4) Neidhardt, F. (2002). Das Große Palaver, in: Tagesspiegel 3.9.p.19.<br />

5) de Tocqueville, A. (1956). Die Demokratie in Amerika. Frankfurt a.M. p. 204 f.<br />

6) Bergsdorf, W. (1982). Die Vierte Gewalt, Einführung in die politische Massenkommunikation,<br />

Mainz.<br />

7) Meyer, T. (2001) Mediokratie, Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt<br />

a. M.<br />

8) Neidhardt, a. o. O.<br />

9) Mediaperspektiven, P. (ed.) (2003), Basisdaten zu Mediensituation in Deutschland<br />

2003, Frankfurt a. M., p. 41.<br />

10) Haake, Wilmont - Pötter, Günter, Die politische Zeitschrift I, 1965-1960, Stuttgart<br />

1968, sowie diess., Die politische Zeitschrift II, 1900-1980, Stuttgart 1982.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf, Ministerialdirektor a. D., ist Präsident der Universität<br />

Erfurt und Chefredakteur der „Politischen Meinung“.<br />

147


Jürgen Liminski<br />

Glaube aus Stein<br />

Juden und Muslime im Heiligen Land<br />

Um 1750 lebte in Toulouse ein wohlhabender Kaufmann mit Namen Jean Calas.<br />

Seine Vorfahren waren Juden, er selbst Protestant. Unter der anonymen Anklage,<br />

einen seiner Söhne erdolcht zu haben, weil dieser zum Katholizismus konvertieren<br />

wollte, wurde Calas ein rascher Prozeß gemacht. Aber nur eine Minderheit<br />

johlte, als er vor das Schafott gezerrt wurde. Die meisten ahnten schon, daß der<br />

Sohn tatsächlich Selbstmord begangen und keineswegs die Absicht gehabt hatte<br />

zu konvertieren.<br />

Das Ereignis wurde zum Anlaß einer Schrift. 1763 schrieb Voltaire sein „Tra ktat<br />

über die Toleranz“. Der französische Denker verabscheute religiöses Engagement.<br />

Seine Vorstellung von Toleranz deckt sich inhaltlich weitgehend mit<br />

Gleichgültigkeit und ist insofern recht modern. Ihr entspricht auch die Gleichsetzung<br />

von Intoleranz und Fanatismus. Aufklärung und Rationalismus trugen diese<br />

Sicht religiösen Fühlens und Denkens bis in unsere Tage hinein. Die heutige<br />

Gleichgültigkeit gegenüber der Religion hat hier tiefe Wurzeln. Das Unverständnis<br />

gegenüber religiösen Gefühlen ebenfalls. Zwar ist man vom Kult der Vernunft<br />

eines Robespierre wieder abgerückt. Dafür betet man das goldene Kalb<br />

Karriere an und leidet für „das höchste Gut Gesundheit“, vor allem in Fitness-<br />

Centern. Das mit der Gleichgültigkeit einhergehende Unverständnis gegenüber<br />

der lebensspendenden und lebensformenden Kraft des Glaubens aber ist dem<br />

modernen Abendland zu eigen geblieben. Mehr noch: Es hat die Kluft zum Orient<br />

vertieft. In diesem von Religiosität durchdrungenen und erfüllten Raum hätte<br />

Voltaire keine Chance gehabt. Seine Spötteleien über betende Menschen wären<br />

versandet.<br />

Jerusalem und das Heilige Land liegen im Orient. Der jüdis ch-christliche Kulturkreis,<br />

der Westen, hat zum genius loci seines Ursprungsortes jedoch nur<br />

schmale Brücken erhalten. Die Verbindungen zu Jerusalem sind trotz aller Beteuerungen<br />

der Politiker vorwiegend geistiger Natur, von der besonderen Beziehung<br />

der Deutschen zu den Juden einmal abgesehen. Jerusalem, die Stadt Gottes,<br />

Oase des Friedens und des Gebetes, Stätte der Begegnung – so sah es Papst Paul<br />

VI. bei seinem Besuch auf dem Berg Zion im Jahre 1964. „Freue Dich Zion, du<br />

heilige, du Mutter der Kirchen, du Wohnstätte Gottes. Du hast als erste empfangen<br />

Ve rgebung der Sünden durch die Auferstehung“. So lautet die Inschrift über<br />

dem Bogen des griechisch-orthodoxen Altarraumes in der Grabeskirche. Jerusalem<br />

ist für die Christen vor allem das himmlische, das geistige Jerusalem und als<br />

solches Urbild der Kirche.<br />

Der Altarraum liegt gegenüber dem Kouvouklion, so heißt das Kapellchen, das<br />

das heilige Grab umschließt. Sechs verschiedene Bekenntnisse feiern hier sechs<br />

148


verschiedene Liturgien – eine tägliche Demonstration dafür, daß in Jerusalem<br />

niemand und keine Religion einen Monopolanspruch erheben kann.<br />

Das Verhältnis der anderen beiden monotheistischen Religionen zu Jerusalem ist<br />

entsprechend ihrem Staats- und Weltverständnis grundlegend von dem christlichen<br />

verschieden. Für die Christen sind nicht die historischen Tatsachen – Geburt,<br />

Leben und Tod Christi – , nicht die heilige Stadt oder das heilige Land<br />

schon der Mittelpunkt, sondern Christus selbst. Historische Tatsachen sind nur<br />

Beiwerk, nur Grundfolie zur Stiftung des Glaubens in den Herzen der Gläubigen.<br />

Im Islam dagegen haben religiöse Überzeugungen historische Fakten geschaffen,<br />

entsprechend der gewollten Identifikation zwischen Glaube und Staat (din wa<br />

daula). Das weltweite Kalifat, der universale Gottesstaat ist das Ideal des Islam.<br />

Der Felsen als Zentrum der Welt<br />

Die meisten Islamkenner sind der Ansicht, daß Mohammed nie in Jerusalem war.<br />

Jerusalem wird im Koran auch nicht genannt, in den jüdischen Schriften dagegen<br />

634 mal. Dennoch ist eine Stelle im Koran (Sure 17,9) für das Verhältnis der<br />

Muslime zu Jerusalem entscheidend: „Preis sei Allah, der seinen Diener bei<br />

Nacht von der Heiligen Moschee zur Entfernten Moschee brachte, deren Vorhöfe<br />

gesegnet seien“. Schon seit der Frühzeit des Islam gilt die Interpretation, wonach<br />

Mohammed in einer Nacht auf wunderbare Weise von Mekka nach Jerusalem<br />

kam, dort von einem Felsen in den Himmel aufstieg und in derselben Nacht<br />

wieder nach Mekka zurückkehrte. Der Glaube an diese nächtliche Reise (isra´)<br />

und der Aufstieg ist seit Jahrhunderten eine Quelle muslimischer Dogmatik,<br />

Frö mmigkeit und Andacht.<br />

Jerusalem hat natürlich nie die Bedeutung Mekkas oder auch nur Medinas erlangen<br />

können. Seine Aufwertung durch den Bau der Al-Aksa-Moschee (die Entfernte<br />

Moschee) gegen Ende des siebten Jahrhunderts, war auf pragmatische<br />

Erwägungen der Omajaden-Politik zurückzuführen. Der Kalif Malik ibn Marwan<br />

wollte damit den Einfluß des rebellischen Gegenkalifen Subair in Mekka neutralisieren.<br />

Die Instrumentalisierung der Religion für politische Ziele ist mit den<br />

Jahrhunderten zum Dogma mutiert. Jerusalems religiöse Bedeutung wuchs immer<br />

besonders in Zeiten politischer Konfrontation. Der Streit um den jahrtausendealten<br />

Tunnel am Tempelberg lieferte vor ein paar Jahren noch ein anschauliches<br />

Beispiel. In der Urzeit des Islam, noch vor der Eroberung im Jahre 638, soll<br />

die Ge betsrichtung (qibla) der Muslime nach Jerusalem orientiert gewesen sein,<br />

angeblich um die ebenfalls monotheistischen Juden zur Bekehrung zu bewegen.<br />

Die Weigerung der Juden, Mohammed als Prophet und Höhepunkt der prophetischen<br />

Tradition anzuerkennen, empfanden die Muslime als Verrat. Jerusalem<br />

wurde ein umso begehrteres Missionsziel – bis heute. Der Felsendom, die Omar-<br />

Moschee steht auf dem Platz des alten jüdischen Tempels, gleichsam als islamische<br />

Überwölbung des ehemaligen Sanktuariums. Und der Verdacht liegt nahe,<br />

daß die isra´ die jüdische Überlieferung überdecken soll, wonach auf dem Felsen,<br />

von dem Mohammed aufstieg, Abraham einst seinen Sohn Isaak Gott opfern<br />

wollte. Der Felsen, der der Moschee den Namen gab, galt im Mittelalter als<br />

149


Zentrum der Welt. Wie ein Pol zog er die Geister an, die Welt und Religion nicht<br />

zu trennen vermochten. Sei es unter der der Fahne des Kreuzes oder des Propheten.<br />

Noch heute ist in arabischen Schulbüchern nichts über die Bedeutung Jerusalems<br />

und der Stätten dort für die Juden zu lesen. Andererseits ist der Koran den Juden<br />

so unbekannt wie die Thora den Arabern. Israel und Ismael, die Söhne Abrahams,<br />

wissen nur wenig voneinander. Mangelnde Bildung behindert bekanntlich<br />

differenziertes Denken und fördert die Neigung zu Pauschalurteilen. Sie ist,<br />

gepaart mit einem hitzigen Temperament, wie man es im Nahen Osten oft antrifft,<br />

ein denkbar guter Nährboden für Demagogie. Hinzu kommt, daß das islamische<br />

Denken grosso modo abgeschlossen ist, zumindest bei den radikalreligiösen<br />

Muslimen.<br />

Der französische Orientalist Ernest Renan sprach in diesem Zusammenhang gern<br />

von dem „eisernen Ring“ um den Geist des islamischen Menschen. Mit diesem<br />

Bild umschrieb er die verschlossene Radikalität vor alle m des arabischen Gläubigen.<br />

Die Entwicklungen in Nahost zeigen indes, daß auch der eiserne Ring um<br />

den Geist der radikalen Juden rostfrei ist. Die Psychologie der Massen spielt in<br />

Nahost, wo Staat und Religion kaum voneinander zu trennen sind, eben eine<br />

aktive Rolle in der Politik. Das mag gerade deutschen Beobachtern unheimlich<br />

sein. Aber westliche Maßstäbe von Demokratie und Konsens- und Kompromißsuche<br />

sind hier jedenfalls fehl am Platz.<br />

Nur, wie kann eine Kompromißformel unter Radikalen aussehen? Auch hier<br />

wäre es zu kurz gegriffen, wollte man alle Gegner eines Kompromisses in einen<br />

Topf werfen und - mit dem westlichen Deckelchen des Begriffs jüdischer oder<br />

islamischer Fanatismus versehen - kopfschüttelnd beiseite schieben. Israel ist für<br />

die Juden mehr als ein Staat. Im Judentum verdichtet sich, wie der deutsche<br />

Dichter und Emigrant Karl Wolfskehl schrieb, die Metaphysik in ein Stück Land.<br />

Das Judentum sei „ganz Historie und ganz Metaphysik“. Und der amerikanische<br />

Orientalist Krister Stendhal hält fest: „Für Christen und Muslime ist der Begriff<br />

‚heilige Stätte’ ein adäquater Ausdruck. In Jerusalem gibt es heilige Stätten,<br />

geweiht durch die heiligsten Ereignisse, hier gibt es Pilgerstätten, die den Anziehungspunkt<br />

für tiefste Frömmigkeit darstellen. Die dem Judentum heiligen Stätten<br />

aber haben keine Schreine. Seine Religion ist auch nicht an Stätten, sondern<br />

an das Land gebunden, nicht daran, was in Jerusalem geschah, sondern an Jerusalem<br />

selbst.“<br />

Dieses Land, diese Stadt ist materialisierte Identität, die Steine sind jüdisch, die<br />

Früchte des Bodens in Judäa und Samaria (der sogenannten Wes tbank) atmen<br />

den Hauch Abrahams. Und seit König David ist Jerusalem der Eckpfeiler der<br />

religiösen, kultischen und nationalen Einigung des jüdischen Volkes. Jerusalem<br />

war immer nur die Hauptstadt der Juden, nie eines anderen Volkes. In keiner<br />

anderen der großen Religionen ist das Land und eine Stadt so mit der Identitätsgeschichte<br />

des Volkes verschmolzen, es ist der Kern ihrer Existenz. Deshalb ist<br />

für viele Siedler und Religiöse in Israel das Leben nur sekundär, was zählt ist<br />

Eretz Israel, das Land der Väter.<br />

150


Das ist bei den säkularisierten Juden anders. Für sie ist das Land sekundär, zuerst<br />

kommt der Friede jetzt, nicht die Metaphysik von immer, nicht die Geschichte<br />

von gestern. Deshalb waren und sind sie auch bereit, Land für Frieden zu geben.<br />

Für ihre Haltung trifft zu, was Uri Avneri mit beißender Ironie sagte: „Die<br />

Mehrheit der Bevölkerung in Israel glaubt nicht an Gott, aber alle Israelis glauben,<br />

daß Gott ihnen dieses Land gegeben hat.“<br />

Die Renaissance des Islam hat auch in Israel zu einer Renaissance des religiösen<br />

Bewußtseins geführt. Sie berührt Herz und Verstand gleichermaßen, sie rührt an<br />

das existentielle Empfinden der Israelis, sie macht die religiösen Juden anfällig<br />

für Worte und Leidenschaften, für die Dynamik, Wirbel und Strudel existentiellen<br />

Denkens, das zum Handeln drängt. So werden sie den muslimischen Monotheisten,<br />

den Nachkommen Ismaels ähnlich.<br />

Jerusalem steht zwischen den Leidenschaften der Kinder Abrahams auf beiden<br />

Seiten. Den Stein der Weisen hat gewiß niemand. Aber der israelische Premier<br />

hätte es in der Hand, die erhitzten Gemüter zu beruhigen, wenn er den Mut aufbrächte,<br />

auch mal auf die gemeinsamen Wurzeln hinzuweisen und – ähnlich wie<br />

es am Beginn des Friedensprozesses vor dreißig Jahren Begin und Sadat taten –<br />

mit diesem geschichtlichen Rückgriff das religiöse Grundbuchdenken zu überwinden.<br />

Es wäre, ohne über den Schatten des Judentums zu springen, auch eine geistige<br />

Annäherung an die jüngeren Geschwister, an die Christen. Es wäre ein Zeichen<br />

des Verständnisses und der Toleranz. Dann würde das Heilige Land zur Chance<br />

der Versöhnung, Jerusalem zur Stätte des Ausgleichs. Wie immer der Status der<br />

Stadt sein mag, es muß eine Begegnung jenseits des religiösen Grundbuchdenkens<br />

gefunden werden, sonst ist der Friede im Sinne der Eintracht und der Gerechtigkeit<br />

nicht vorstellbar.<br />

Jürgen Liminski, Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, lebt in St. Augustin.<br />

151


Fides Krause-Brewer<br />

Die vermaledeite Maschine<br />

Einen T-Punkt der neuesten Generation für alle Bonner Bürger, eine Ladenzeile,<br />

ein Café, Reinigung, Friseur und noch mehr – dies alles wird der bisher so publikumsscheue<br />

Telekommunikations-Riese Telekom in seiner Bonner Zentrale<br />

bieten. Hat also die Telekom die Absicht, menschlich zu werden? Oder bleibt es<br />

so, wie es der Komiker Carrey ausdrückte: „Irgendwie scheinen wir alle nur<br />

noch Eigentum von weltweiten Konzernen zu sein.“<br />

In der Tat: Computer, Internet, E-mail, SMS, Call-Center, Sprachcomputer und<br />

andere Wunderwerke der Technik schneiden uns immer mehr vom Kontakt mit<br />

„richtigen Menschen“ ab. Wie oft stößt der Kunde, der eine Auskunft braucht,<br />

auf die bekannte Computeransage „Zur Zeit sind alle Plätze belegt. Haben Sie<br />

noch etwas Geduld, Sie werden gleich mit dem nächsten freien Platz verbunden.“<br />

Welch ein Glück, wenn sich nach geraumer Zeit und entnervender elektronischer<br />

Musik-Darbietung endlich eine menschliche Stimme meldet!<br />

Nicht so bei der Telekom. Ich wollte mich telefonisch wecken lassen, weil mein<br />

alter Küchenwecker – der mit der lauten Glocke oben drauf – kaputt war. Im<br />

Telefonbuch steht: Kosten eines Weckrufes 1,18 Euro. Die angerufene Telefonnummer<br />

ist besetzt – ohne Ansage. Beim dritten Wählversuch meldet sich eine<br />

Stimme: „Hallo – hier spricht der Sprachcomputer des automatischen Weckrufs<br />

der Telekom. Bitte sprechen Sie laut und deutlich, damit ich (wer? der Comp u-<br />

ter?) Sie verstehen kann.“ Ich soll sagen, wann ich geweckt werden will. „Morgen<br />

früh um sieben Uhr“ – sage ich arglos. Der Computer prompt: „Sie möchten<br />

am fünfundzwanzigsten zwölften zweitausend sieben geweckt werden, ist das<br />

korrekt?“ „Nein“ rufe ich entsetzt. Der Computer wird ärgerlich. „Ich habe Sie<br />

nicht verstanden“ und dann: „Leider sind Weckrufe nur bis 48 Stunden im Vo r-<br />

aus möglich.“<br />

Bis zum Jahre 2007 reicht meine Bestellung allerdings wirklich nicht. Also wiederhole<br />

ich meine Bitte. Der Computer: „Sie wollen am Samstag geweckt werden?“<br />

Ich wütend: „Nein, das ist falsch! Ich will am Freitag den fünfundzwanzigsten<br />

zwölften um sieben Uhr geweckt werden!“ Der Computer versteht wieder<br />

nicht. Er versucht was anderes: „Sie möchten am zwanzigsten sechsten geweckt<br />

werden, ist das korrekt?“ Auf meinen verzweifelten Protest versucht es die<br />

vermaledeite Maschine mit dem 17. April. Ich lege entmutigt auf und starte nach<br />

einer Erholungspause einen neuen Anruf. Das Spiel wiederholt sich. Diesmal<br />

bietet der Computer „Sechsuhr vierundvierzig.“ Wieder verneine ich, so laut wie<br />

ich kann. Jetzt fällt ihm was Neues ein: „Geben Sie die gewünschte Uhrzeit<br />

vierstellig ein.“ Wie macht man das?<br />

Ich gebe es auf. Das Ende vom Lied: die Telekom kassiert rund zweieinhalb<br />

Euro, aber geweckt wurde ich nicht.<br />

152


Ein Angehöriger des Weltunternehmens, von dem ich wissen wollte, ob die angekündigte<br />

Kürzung der Call-Center um fast die Hälfte nicht zu einer Minderung<br />

des Kunden-Service des Konzerns führen könnte, und dem ich zur Illustration<br />

meine Erlebnisse mit dem Weckruf berichtete, war nicht amüsiert. „Das kommt<br />

davon, daß Sie Ihren Wunsch nicht mit Zahlen auf Ihrem Telefon-Hörer eingegeben<br />

haben.“ Mein Einwand, daß ich eben gern noch meine eigene Stimme<br />

gebrauche, fand er schlicht hinterwäldlerisch. Im übrigen werde die Qualität des<br />

Kundenservice der Telekom durch die erwähnten Kürzungen in keiner Weise<br />

leiden. Wie das erreicht werden soll, sagte er mir nicht.<br />

Mein Erlebnis ist nur ein Beispiel für die „Entmenschlichung“, mit der uns die<br />

Technik mit immer neuen Erfindungen beglückt. Liebespaare kommunizieren<br />

mit Vorliebe nur noch mittels SMS, die sie allerdings mit erstaunlicher Behendigkeit<br />

in ihre Handys tippen. Zum Einkauf geht die moderne Hausfrau nicht<br />

mehr in den Laden um die Ecke, wo man früher auch mal ein Schwätzchen halten<br />

konnte. Der Laden ist längst wegrationalisiert und der Supermarkt ist weit.<br />

Also mailt sie ganz solo ihre Bestellung in den seelenlosen Computer.<br />

Will man wissen, wann ein Zug von A nach B fährt, muß man sich den Sprachcomputer<br />

der Bahn vom Morgengrauen bis zum späten Abend anhören, bis die<br />

gewünschte Verbindung vorbeikommt. Es sei denn, man hat einen Internetanschluß,<br />

aber mit dem bleibt man eben auch allein.<br />

Nota bene: Durch Zufall bin ich an eine Telefonnummer der Bahn gekommen,<br />

auf der sich tatsächlich eine freundliche Dame meldet und Auskunft gibt. Aber<br />

die verrate ich nicht, sonst wird sie auch noch wegrationalisiert.<br />

Fides Krause-Brewer, langjährige ZDF-Redakteurin, lebt in Bonn.<br />

153


Besprechungen<br />

Jesus<br />

Klaus Berger, der wohl meistgelesene<br />

Bibelexeget und Bibelvermittler im<br />

deutschen Sprachraum, Professor für<br />

Neues Testament an der Evangelisch-<br />

Theologischen Fakultät Heidelberg und<br />

zusammen mit seiner Frau Christiane<br />

Nord vielbeachteter Übersetzer („Neues<br />

Testamentes und frühchristliche Schriften“,<br />

1. Aufl. Insel Verlag 1999), hat als<br />

„Summa“ seines wissenschaftlich-publizistischen<br />

Wirkens nun das 700-Seiten-<br />

Werk „Jesus“ vorgelegt.<br />

Klaus Berger, Jesus. Pattloch-Verlag,<br />

München 2004, 704 S.<br />

Die Bibel als Primärquelle für die Wahrnehmung<br />

Jesu soll fortan wieder „fremd<br />

erscheinen“, „Salz“ und „Licht“ für die<br />

Welt sein, obwohl kein anderes Buch so<br />

heftig „von den Leuten zertreten“ und<br />

verdunkelt wurde. Das, was andere einen<br />

„Paradigmenwechsel“ nennen, wird<br />

bei Bergers unorthodoxer und dennoch<br />

wissenschaftlich abges icherten Sicht der<br />

Bibelauslegung Wirklichkeit. Manche<br />

vermuten, schon vom Titel her, einen<br />

Anti-Bultmann, aber durch den Ansatz<br />

bei der „Postmoderne“ läßt der Autor<br />

solche einfachen polemischen Antithesen<br />

weit hinter sich. Im Gegenteil: Ein<br />

Satz aus Rudolf Bultmanns noch vor der<br />

Entmythologisierungsdebatte verfaßten<br />

gleichnamigem Buch „Jesus“ (1926),<br />

könnte heute auch von Klaus Berger<br />

stammen: „Jesus ist weder dämonisch<br />

noch faszinierend. Es ist auch nicht von<br />

dem ewigen Wert in seiner Botschaft,<br />

den zeitlosen Tiefen der Menschenseele<br />

oder dergleichen die Rede.“<br />

Was für den dialektischen Theologen<br />

Bultmann die Jesusbilder der liberalen<br />

protestantischen Theologie waren, die er<br />

in den zwanziger Jahren des letzten<br />

Jahrhunderts zusammen mit Karl Barth<br />

und Erik Peterson auszuhebeln berufen<br />

war – leider bei ihm unter Absehen der<br />

historischen Verankerung des Offenbarungsgeschehens<br />

–, das ist heute für<br />

Berger der Jesuanismus der (angeblich!)<br />

„historisch-kritischen“ mainstream-<br />

Exegese des theologischen Establis h-<br />

ment, das sich dann populär sowohl bei<br />

Rudolf Augstein, als auch (während<br />

Protestanten meist ein höheres Niveau<br />

der Bibelauslegung behalten) bei dissidenten<br />

Katholiken artikuliert.<br />

Berger hält sich an keine „theological<br />

correctness“, die zur spirituellen Langeweile<br />

und zur Entleerung von Kirchen<br />

und Fakultäten führte. Weihrauch gehört<br />

nach einem Berger-Diktum in die Liturgie,<br />

Durchzug und Entrümpelung dagegen<br />

in die Seminarien der Wissenschaft.<br />

In der Realität herrscht leider das Umgekehrte,<br />

was ja schon den Indienmissionar<br />

Franz Xaver zu seinen bekannten<br />

Aussprüchen über die Wissenseitelkeit<br />

europäischer Akademien brachte.<br />

Bergers mit streitbarem Temperament,<br />

biographischen „Verschränkungen“ und<br />

zugleich liebevollem Einfühlungsvermögen<br />

verfaßtes neues Buch, das sich<br />

jeder Fachgelehrsamkeit und des üblichen<br />

Anmerkungsgepränges enthält, ist<br />

ein solcher „Durchzug“ im gängigen<br />

Theologie- und Bibel-Betrieb. Hier wird<br />

mit Karl Rahners Wort vom „Christen<br />

als Mystiker“ ernst gemacht, hier werden<br />

endlich „mystische Fakten“, die<br />

appellative Apokalyptik und die jesuanischen<br />

Zeichen und Wunder so wahrg e-<br />

nommen, wie sie immer gemeint sind,<br />

hier bleibt aber auch die Autorität der<br />

Sprache und des Textes bestehen vor<br />

aller relativierenden Hermeneutik.<br />

Dabei is t Bergers vielfach belegte exegetische<br />

Kompetenz und sprachliche<br />

Souveränität frei von Fundamentalismusverdacht.<br />

Wer solches argwöhnt,<br />

154


wird wahrscheinlich das Buch kaum<br />

gelesen, geschweige denn verstanden<br />

haben. Wie über aktuelle Fragestellungen<br />

wie Jesu Göttlichkeit, sein Verhältnis<br />

zum menschlichen Glück, zu den<br />

Frauen und zum menschlichen Leid<br />

geschrieben wird ist einfach glaubhaft,<br />

überzeugend und „von Geist und Kraft“.<br />

Auch politische Fragen, das Verhältnis<br />

zum Judentum, zur Kirche und zur Ö-<br />

kumene werden unter das Licht und<br />

Gericht des Nazareners gestellt. Viele<br />

geistliche Einsichten auch für die ko n-<br />

krete Lebensgestaltung kann die äußerst<br />

anregende Lektüre vermitteln. Sprühende<br />

Vergleiche und überraschende<br />

Schlußfolgerungen in einer überzeugenden<br />

Sprachform bieten sich in einer<br />

unerschöpflichen Fülle dar.<br />

Am Schluß finden sich faszinierende<br />

Kapitel über Jesus als Begleiter in Sterben<br />

und Tod, ein „Dialog über irdisches<br />

und ewiges Leben“ und die Liebe zu<br />

Jesus: „Gegen große Vorzüge eines<br />

Andern gibt es kein Rettungsmittel als<br />

Liebe“ (Goethe). Berger, der sein der<br />

Äbtissin Maria Assumpta Schenkl OCist<br />

in Helfta bei Eisleben gewidmetes Buch<br />

nur aus einer tiefen Betrachtung seines<br />

Gegenstandes schreiben konnte, „rettet“<br />

sich als Zisterzienserspirituale am Ende<br />

in einen liturgischen Lobpreis: „O rex<br />

gloriae Christe, veni nobis cum pace! –<br />

Christus, herrlicher König, komm und<br />

bring uns Frieden!“ Sein „Jesus“ ist<br />

schon vielen ein „Lieblingstitel“, in<br />

jedem Fall ein Buchereignis, das bereits<br />

mehrere Auflagen erreichte und im<br />

Feuilleton großer Zeitungen kontroverse<br />

Aufmerksamkeit fand.<br />

Evangelische und katholische wissenschaftliche<br />

Theologie und Exegese sind<br />

nach ihm nicht mehr dasselbe, was sie<br />

vorher in ihrem beruhigten „mainstream“<br />

waren. Auch darin besteht Bergers<br />

Parallele zu Bultmann. Möge der<br />

entstandene „Durchzug“ nicht nur Staub<br />

aufwirbeln, sondern vielen Jungen und<br />

Nachkommenden Mut machen, ihre<br />

Segel zu spannen.<br />

Stefan Hartmann<br />

Naturrecht<br />

Der vorliegende Band vereinigt Vorträge,<br />

die auf einem Symposium der „Johannes<br />

Messner Gesellschaft “ im April<br />

2004 gehalten wurden:<br />

W. Freistetter / A. Klose / R. Weiler<br />

(Hg.), Naturrecht als Herausforderung<br />

– Menschenrechte und Me n-<br />

schenwürde, NWV, Wien-Graz 2005<br />

Auf diesem Symposium sollte die Herausgabe<br />

des 6. Bandes ausgewählter<br />

Werke Messners (Johannes Messner,<br />

Menschenwürde und Menschenrecht.<br />

Ausgewählte Artikel, Verlag für Geschichte<br />

und Politik Oldenbourg, Wien-<br />

München 2004) vorbereitet werden.<br />

Dem katholischen Priester und Sozialphilosophen<br />

Johannes Messner ging es<br />

in seinem Denken stets um eine angemessene<br />

Begründung der Rede von<br />

einer Würde, die allen Menschen ohne<br />

Ausnahme zukomme und Grundrechte<br />

enthalte, die von allen Gesellschaftsformen<br />

gewährleistet werden müssen, so<br />

sie sich nicht den Vorwurf der Inhumanität<br />

gefallen lassen wollen. Er versucht<br />

dabei die alte Tradition der Naturrechtslehre,<br />

wie sie sich von den griechischen<br />

Anfängen über die christliche Lehre<br />

entwickelt hat, in die Gegenwart hinein<br />

neu zu übersetzen.<br />

Das „Naturrecht“ ist schon lange in eine<br />

Legitimationskrise gelangt. Doch das<br />

Anliegen Johannes Messners – und der<br />

Befürworter eines „Naturrechts“ – ist<br />

keineswegs obsolet geworden. Das zeigt<br />

das nun vorliegende Buch deutlich. Es<br />

ist zudem eine gute Einführung in die<br />

katholische Soziallehre, wie sie Messner<br />

155


vorschwebte: nicht sich auf sich selbst<br />

zurückziehen und andere – gegnerische<br />

– Positionen von vorneherein abwerten;<br />

vielmehr den eigenen Standpunkt im<br />

Dialog mit anderen stets zu revidieren.<br />

Die Aktualität dieses Bemühens, eine<br />

tragfähige humanitäre Basis für unser<br />

Leben in der einen Welt zu gewinnen,<br />

erscheint heute notwendiger denn je.<br />

Nicht erst seit dem 11. September 2001<br />

sind die Schattenseiten der Globalisierung<br />

deutlich geworden. Alle Menschen<br />

stehen auf demselben Boden. Doch<br />

leider haben nicht alle dieselben Lebensvoraussetzungen.<br />

Zu vielen Menschen<br />

wird tagtäglich der Boden unter<br />

den Füßen weggezogen. Und Andere<br />

profitieren davon.<br />

Wenn ein Weltfrieden möglich sein soll,<br />

braucht es (1) die Besinnung auf einen<br />

gemeinsamen Boden, der für alle da ist,<br />

und (2) die Besinnung auf tragfähige<br />

Wände und ein Dach, die unser gemeinsames<br />

Lebenshaus erst vervollständigen.<br />

Der Grundsatz, um den Johannes Messners<br />

Denken kreist, lautet gemäß den<br />

Herausgebern: „Alles gesellschaftliche<br />

Sein hängt am Menschen.“ (5) Bei den<br />

Beiträgen in diesem Sammelband handelt<br />

es sich um Kommentare von R.<br />

Weiler, A. Klose, W. Kühnelt, E. Frö h-<br />

lich, G. Dabringer, E. Prat, H.-J. Türk,<br />

H. Pribyl, K.-H. Peschke und Ch.<br />

Wagnsonner zu den im erwähnten Band<br />

6 gesammelten Schriften Messners (mit<br />

Ausnahme von drei Schriften, die nicht<br />

behandelt werden). In einer Einleitung<br />

geht J.-M. Schnarrer auf Messners<br />

Ringen um ein „neues Naturrecht“ ein,<br />

das in gegenwärtiger Zeit eines „Pluralismus<br />

der Werte“ noch plausibel vertreten<br />

werden kann.<br />

Es ist zu hoffen, daß das Grundanliegen<br />

der Naturrechtslehre kritisch gewürdigt<br />

wird ohne Pauschalveru rteilungen ihres<br />

Proponenten als „Neuscholastiker“ und<br />

darum „ewig gestriger Theologe“ oder<br />

auch ohne vorschnelle Brandmarkung<br />

des Begriffs „Naturrecht“ als „Stopfgans“,<br />

in die man alles Beliebige hineintun<br />

kann.<br />

Franz Wundsam<br />

Naturrecht und Evangelisierung<br />

Der Titel dieses äußerst bemerkenswerten<br />

Buches ist programmatisch. Der<br />

Herausgeber und Autor des ersten Beitrags<br />

sieht einen inneren Zusammenhang<br />

zwischen der christlichen Offenbarung<br />

und dem klassischen, philosophischen<br />

Naturrechtsdenken. Ja, nach ihm kann<br />

man sagen: eine Weitergabe des christlichen<br />

Glaubens in heutiger Zeit wird nur<br />

gelingen, wenn sie begleitet ist von einer<br />

naturrechtlich begründeten Lehre vom<br />

Menschen.<br />

Rudolf Weiler (Hg.), Die Wiederkehr<br />

des Naturrechts und die Neuevangelisierung<br />

Europas, Verlag für Geschichte<br />

und Politik – Oldenbourg,<br />

Wien-München 2005<br />

Keine Wissenschaft, davon scheint<br />

Weiler überzeugt zu sein, kann aus sich<br />

heraus einen überzeugenden Beitrag zu<br />

der Frage leisten, was denn überhaupt<br />

„Menschenwürde“ sei, die zu schützen<br />

so oft proklamiert wird. Ohne die traditionelle,<br />

christliche Naturrechtslehre<br />

könne von einer „Würde“, die jedem<br />

Menschen als solchem zukomme, nicht<br />

plausibel gesprochen werden.<br />

Das klassische Naturrechtsdenken ist<br />

zudem für Rudolf Weiler deswegen auch<br />

so relevant für das Programm einer<br />

Neuevangelisierung, weil es in einer<br />

Zeit des „ethisch-religiös-weltanschaulichen<br />

Pluralismus“ den damit verbundenen<br />

„Werteverlust“ sowie der<br />

„Schwäche der christlichen Tradition“<br />

(10) Einhalt gebieten kann. Das Naturrecht<br />

gegenwärtig wieder en vogue zu<br />

machen sei letztendlich nicht nur ein<br />

156


unverzichtbarer Beitrag für die Ne u-<br />

evangelisierung Europas, sondern auch<br />

ein Beitrag von Weltbedeutung. Es gehe<br />

nämlich schlicht um die Besinnung auf<br />

die „Wurzeln im europäischen De nken<br />

und damit in der Menschheit“ (10).<br />

Demnach wäre also das Christentum mit<br />

seiner Tradition, das klassische Naturrecht<br />

zu rezipieren, unverzichtbar, um<br />

allgemein gültige Werte gewinnen zu<br />

können.<br />

Der Anspruch dieses Buches ist sehr<br />

hoch. Das Ansinnen der Autoren mag<br />

edel sein, und ist in seiner Intention<br />

wohl zu würdigen. Ob und wie dieser<br />

Anspruch auch eingelöst werden kann,<br />

ohne Pauschalverurteilungen anderer<br />

Bemühungen um humane Lebensko n-<br />

zepte, wird u.a. auch die weiterführende<br />

Rezeption zeigen. Zu wünschen ist dem<br />

Buch und seinen Autoren eine breit<br />

geführte, kritische Auseinandersetzung<br />

um die immer aktuellen Themen „Menschenrechte<br />

und Menschenwürde“,<br />

„Gerechtigkeit und Frieden“.<br />

Daß in dieser Auseinandersetzung der<br />

katholischen Soziallehre mit ihren<br />

Grundprinzipien „Solidarität“, „Subsidiarität“<br />

und „Gemeinwohl“ eine herausragende<br />

Bedeutung zukommt, die dieses<br />

Buch aufzeigen will, ist ein Verdienst<br />

desselben. Diese Bedeutung möchte ich<br />

einmal mit einem Bild umschreiben:<br />

Diese Grundprinzipien menschlichen<br />

Lebens können wie der „Köö“ beim<br />

Billardspiel die „Kugeln der Menschlichkeit“<br />

zum Rollen bringen – nicht<br />

mehr, aber auch nicht weniger.<br />

Franz Wundsam<br />

Katholisches Staatsdenken<br />

Hat sich das katholische Denken über<br />

Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert<br />

organisch und bruchlos fortentwickelt<br />

- oder hat die kirchliche Lehre<br />

und damit das Denken überzeugter<br />

Katholiken spätestens seit dem Zweiten<br />

Vatikanum eine Wende genommen,<br />

tradierte Lehren verlassen und neue<br />

Ideen geschaffen? Gab es also einen<br />

Bruch im katholischen Staatsdenken<br />

oder nur Entwicklung? Dieser Frage<br />

widmet sich eine ausführliche Schrift,<br />

eine Eichstätter Habilitationsarbeit, die<br />

zum Aufregendsten gehört, was zur angegebenen<br />

Fragestellung sowohl historisch<br />

als auch systematisch gesagt werden<br />

kann:<br />

Rudolf Uertz: Vom Gottesrecht zum<br />

Menschenrecht. Das katholische<br />

Staatsdenken in Deutschland von der<br />

Französischen Revolution bis zum II.<br />

Vatikanischen Konzil (1789-1965).<br />

Politik- und Kommunikationswissenschaftliche<br />

Veröffentlichungen der<br />

Görresgesellschaft Bd. 25. Ferdinand<br />

Schöningh, Paderborn, München,<br />

Wien, Zürich 2005, 525 S.<br />

Die Kontrahenten der genannten unterschiedlichen<br />

Beurteilung waren schon<br />

vor vielen Jahren der Sozialethiker<br />

Arthur F. Utz, dessen Auffassung in<br />

dieser Zeitschrift noch einmal wiederg e-<br />

geben wurde (Heft 3/2005, S. 162ff.)<br />

und der Jurist Ernst-Wolfgang Böckenförde,<br />

der am 25. April in der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung eine glänzende<br />

Rezension des Buches veröffentlicht hat,<br />

in der er erneut feststellte, daß es im<br />

katholischen Denken einen dramatischen<br />

Weg von der strikten Ablehnung<br />

aller Grundsätze des modernen säkularen<br />

Staates bis zu deren vollen Anerkennung<br />

gegeben hat. Während Utz vorrangig<br />

theologisch argumentiert und eine<br />

gleichbleibende sozialtheologische Lehre<br />

sieht, die nur unter neuen Bedingungen<br />

graduell angepaßt wird, analysiert<br />

Uertz politikwissenschaftlich, allerdings<br />

mit Rückwirkung auch auf das theologische<br />

Denken. Wegen der Zeitabhängigkeit<br />

einerseits und dem überzeitlichen<br />

157


Anspruch kirchlicher Aussagen andererseits<br />

besteht eine Schnittmenge mit<br />

unübersichtlichen Grenzlinien. Uertz<br />

beschreibt in einem ersten Teil in akribischer<br />

historischer Erarbeitung und luzider<br />

Darstellung die katholische „Antwort<br />

auf die Ideen von 1789“, wobei<br />

besonders die Enzykliken von Gregor<br />

XVI. und Pius IX. auf ihren politischen<br />

und theologischen Gehalt untersucht<br />

werden. Dabei wird dem verurteilten<br />

Liberalkatholizismu s von Lamennais für<br />

den Fortgang des katholischen De nkens<br />

größere Bedeutung als bislang üblich<br />

beigemessen.<br />

Hervorragend ausgearbeitet sind die<br />

Lehren Pius’ IX., bei denen sich bedauerlicherweise<br />

naturrechtliche, theologische<br />

und konkrete politische Ziele vermischen.<br />

Mit profunder Kenntnis der<br />

historischen Details wird das Changieren<br />

Kettelers zwischen org anisch-historischen<br />

und pragmatisch-liberalen<br />

Ordnungsgrundsätzen ausgebreitet und<br />

verständlich gemacht, wie zögerlich sich<br />

individuelle Freiheitsrechte und ein<br />

konkretes Naturrechtsdenken anbahnten.<br />

Der zweite Teil widmet sich einer umfassenden<br />

Darlegung der neuscholastischen<br />

Naturrechtslehre, die bei allen<br />

Verdiensten um die Legitimierung der<br />

natürlichen Vernunft in abstrakten Normen<br />

erstarrte und Mora l und Recht<br />

identifizierte. Das Verdienst von Uertz<br />

liegt darin, daß er die von Theodor Meyer<br />

initiierte Neuscholastik auf ihre politischen<br />

und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen<br />

zurückführt und<br />

damit ihre behauptete überzeitliche Allgemeingültigkeit<br />

relativiert. Die heute<br />

weitgehend mißachtete Neuscholastik<br />

wird hier in ihrer Entwicklung von Leo<br />

XIII. über Pesch, Hertling, Tischleder,<br />

Mausbach, Gundlach und in ihrer Unterschiedlichkeit<br />

aus den Zeitumständen<br />

verständlich gemacht. Es ist spannend<br />

zu sehen, wie sich gegenüber dem legitimistischen<br />

Staatsdenken im katholischen<br />

Raum Schritt für Schritt die<br />

Volkssouveränität, die Demokratie und<br />

die Individualrechte von den traditionellen<br />

Vorgaben freimachen konnten.<br />

Profunde Kenntnis der Autoren und<br />

sorgfältige Interpretation auf dem geschichtlichen<br />

Hintergrund zeichnen die<br />

Darstellung aus. Besondere Aufmerksamkeit<br />

verdienen die ausführliche<br />

Würdigungen Hertlings, der Moral und<br />

Recht zu unterscheiden wußte, und des<br />

weithin unbekannten Freisinger Moraltheologen<br />

Robert Linhardt, dessen Sozialethik<br />

eine Wende zu individualisierten<br />

Grundrechten markierte.<br />

In einem dritten Teil entfaltet Uertz<br />

ausführlich die Staatslehre Pius’ XII.,<br />

der als erster 1944 kirchenamtlich die<br />

Demokratie bejahte und die allmählich<br />

Hinwendung der katholischen politischen<br />

Ethik zu einem säkularen Staat<br />

und zu den bisher gewöhnlich als liberal<br />

abqualifizierten Grundrechten, die von<br />

einem theologischen und ethischen<br />

Personalismus legitimiert wurden, woran<br />

Moraltheologen wie Congar und<br />

Auer einen bedeutenden Anteil hatten.<br />

Diese Hinwendung vollzieht sich entschieden<br />

in der Enzyklika „Pacem in<br />

terris“, in den Konzilstexten „Gaudium<br />

et spes“ und „Dignitatis humanae“. Der<br />

Verfasser ist sich durchaus bewußt, daß<br />

diese Entwicklung, zugespitzt betitelt:<br />

vom Gottesrecht zum Menschenrecht,<br />

nicht ohne Einsprüche und Abweichungen<br />

stattgefunden hat, wohl aber, daß sie<br />

politisch und auch theologisch nicht nur<br />

berechtigt, sondern notwendig war. Ob<br />

der einzige Einwand, den der Laudator<br />

Böckenförde erhebt, überzeugt, bezweifelt<br />

der Rezensent. Böckenförde sieht<br />

den qualitativen Sprung nur darin, daß<br />

früher das, was moraltheologisch galt,<br />

auf die öffentliche Rechtssphäre nahtlos<br />

übertragen wurde und heute die Unterscheidung<br />

der Bereiche selbstverständ-<br />

158


lich ist, scheint aber den von Uertz beschriebenen<br />

Einfluß des personalethischen<br />

Denkens in der Theologie nicht<br />

genügend einzuschätzen. Ein angenehm<br />

lesbarer Stil, eine klare Gliederung, ein<br />

reichhaltiges Register und Literaturverzeichnis<br />

machen die Lektüre zu ein em<br />

intellektuellen Vergnügen. Man kann<br />

Böckenförde nur zustimmen: Dieses<br />

Buch war überfällig.<br />

Hans Joachim Türk<br />

Demographische Falle<br />

Es gibt Bücher, die gehören an die Spitze<br />

der Bestsellerlisten, weil ihre Autoren<br />

nicht nur weitsichtig und kompetent ein<br />

wichtiges Thema aufgreifen, sondern<br />

auch noch gut schreiben können. Zu<br />

diesen Büchern gehört:<br />

Stephan Baier, Kinderlos. Europa in<br />

der demographischen Falle, MM-<br />

Verlag, Aachen 2004, 276 S.<br />

Der Österreichkorrespondent der Tagespost<br />

analysiert in diesem leicht lesbaren<br />

Werk die demographische Entwicklung<br />

Europas, insbesondere Deutschlands,<br />

und ihre Folgen für die sozialstaatlichen<br />

Leistungssysteme einerseits, die wirtschaftliche,<br />

politische und kulturelle<br />

Entwicklung andererseits. Zu den gravierenden<br />

Folgen dieser Entwicklung<br />

gab es in jüngster Zeit zwar eine Menge<br />

Literatur (u. a. Birg, Schirrmacher,<br />

Vaupel), aber Stephan Baier versteht es,<br />

diese Entwicklung aus der Perspektive<br />

der katholischen Soziallehre zu erörtern.<br />

Die der globalen Überbevölkerung angelasteten<br />

Probleme seien größtenteils<br />

politischer, ökonomischer und ethischer<br />

Natur. Für Menschen, die an einen<br />

Schöpfergott glauben, wie Juden, Christen<br />

und Muslime, sei es denkunmöglich,<br />

daß Gott mehr Menschen ins Leben ruft,<br />

als seine Schöpfung verkraften kann.<br />

Unser Problem sei schon lange nicht<br />

mehr die Überbevölkerung der Erde,<br />

zumal das Wachstum der Weltbevölkerung<br />

etwa 2040 zum Stillstand kommen<br />

wird, sondern die absehbare Schrumpfung<br />

der westlichen Industrieländer<br />

Europas auf Grund des seit mehr als 30<br />

Jahren anhaltenden Geburtendefizits.<br />

In Deutschland werden Mitte des Jahrhunderts<br />

doppelt so viele Menschen<br />

sterben wie geboren werden. Deutschland<br />

wird ein Altersheim werden, dessen<br />

Pflegerinnen und Pfleger aus Afrika und<br />

Asien eingeflogen werden. Die steigenden<br />

Pflegekosten werden die Euthanasie<br />

als Beitrag zur Generationengerechtigkeit<br />

hoffähig machen: „In wenig intakten<br />

Familien werden die Angehörigkeiten<br />

den alten Großvater und die kranke<br />

Großmutter zur Euthanasie drängen. In<br />

den perfekt harmonis chen Familien<br />

werden die Alten und Kranken ihr Dahinscheiden<br />

möglicherweise als moralische<br />

Pflicht gegenüber den schwer arbeitenden<br />

und vielfach belasteten Kindern<br />

und Enkelkindern verstehen.“<br />

Baiers Analysen gehen aber weit über<br />

die demographischen Probleme hinaus.<br />

Er liefert eine umfassende Zeitansage,<br />

die jedem Politiker in Deutschland und<br />

Österreich als Reiselektüre zu empfehlen<br />

ist. Mit einem von der Christlichen<br />

Gesellschaftslehre geschärften Blick für<br />

das Wesentliche erörtert er die gegenwärtigen<br />

Probleme der Rechtsethik, der<br />

Bioethik und der Globalisierung. Die<br />

seit Anfang der 70er Jahre zugelassene,<br />

ja staatlich organisierte Abtreibung sei<br />

„ein Skandal gegen die Gerechtigkeit“;<br />

jede Abtreibung sei „ein Abschied vom<br />

Rechtsstaat“.<br />

Das Argument, man müsse die Kluft<br />

zwischen dem Recht und der rechtswidrigen<br />

Praxis schließen, wird in der<br />

Abtreibungs- und in der Euthanasiediskussion<br />

immer dazu mißbraucht, das<br />

Recht der Praxis anzupassen, und das<br />

159


heißt nichts anderes als es aufzugeben.<br />

Demgegenüber plädiert Baier für den<br />

einzig gangbaren Weg, nämlich das<br />

Recht, das die Tötung Unschuldiger<br />

verbietet, konsequent anzuwenden.<br />

Auch bei Mord, Diebstahl, Vergewaltigung,<br />

Straßenraub, Drogenhandel, Steuerhinterziehung<br />

usw. komme niemand<br />

auf die Idee, die Kluft zwischen Recht<br />

und Praxis dadurch aufzulösen, daß das<br />

Recht abgeschafft wird.<br />

Baier verteidigt die Ablehnung der In-<br />

Vitro-Fertilisation seitens der katholischen<br />

Kirche, die mit dieser Ablehnung<br />

die Sexualität gegen die technokratische<br />

Ideologie der Reproduktionsmedizin in<br />

Schutz nimmt. Er geht auf die sittlichen<br />

Probleme der embryonalen Stammzellforschung<br />

und die diesbezüglichen Ko n-<br />

troversen in der österreichischen Bioethikkommission<br />

ein. Mit dem Wiener<br />

Philosophen Günther Pöltner erklärt er,<br />

daß sich aus der Hochrangigkeit eines<br />

Forschungsprojekts „keine ethische<br />

Rechtfertigung für die Zerstörung von<br />

Embryonen“ ergebe.<br />

Baier analysiert die Motive, die hinter<br />

der Pränataldiagnostik und der Präimplantationsdiagnostik<br />

stehen und die<br />

auf eine „Endlösung der Behindertenfrage“<br />

abzielen. Er liefert Argumente<br />

gegen die Gleichstellung homosexueller<br />

Partnerschaften mit der Ehe. Er stellt<br />

sich im Streit um die Globalisierung auf<br />

die Seite der Globalisierungsbefürworter,<br />

weil die Globalisierung im Ergebnis<br />

den Wohlstand aller fördert und Länder,<br />

die sich der Globalisierung verweigern,<br />

in extremer Armut leben. Allerdings<br />

bedürfe die ökonomische Globalisierung<br />

der Ergänzung durch eine „ethische<br />

Globalisierung“. Er träumt davon, daß<br />

Ethik der „Exportschlager des alten<br />

Kontinents“ werden könnte, „wenn sich<br />

Europa auf seine 2000 Jahre alten Ressourcen<br />

besänne“.<br />

Zum Schluß drei kleine Anmerkungen:<br />

Nicht zustimmen kann der Rezensent<br />

zwei nebenbei hingeworfenen Bemerkungen<br />

zum Irak-Krieg 2003, den Baier<br />

einmal auf die amerikanischen Wirtschaftsinteressen<br />

zurückführt und dessen<br />

Gründe er am Ende seines Buches als<br />

„erfunden und erlogen“ bezeichnet. Hier<br />

übersieht Baier die 1990 beginnende<br />

Vorgeschichte dieses Krieges und die<br />

Waffenstillstandsresolution 687 des UN-<br />

Sicherheitsrates vom 3. April 1991,<br />

deren Bedingungen für den Waffenstillstand<br />

auch 2003 noch nicht erfüllt waren.<br />

Daß Deutschland und Frankreich von<br />

der EU-Kommission keine Blauen Briefe<br />

wegen Überschreitens der Neuverschuldungsgrenze<br />

erhalten, ist weniger<br />

auf „politische Intrigen“ als auf die<br />

Konstruktion des Stabilitätspaktes zurückzuführen,<br />

der die Zusendung des<br />

Blauen Briefes der Kommission vom<br />

zustimmenden Votum des Ministerrates<br />

abhängig macht. Welcher Finanzminister<br />

wird schon zustimmen, wenn er<br />

selbst eine kostenpflichtige Verwarnung<br />

erhalten soll?<br />

Das holländische Euthanasie-Gesetz<br />

schließlich trat nicht 2001, sondern am<br />

1.4.2002 in Kraft und die Meldepflicht<br />

gegenüber den Regionalen Kontrollkommissionen<br />

nicht 1999, sondern am<br />

1.11.1998. Aber diese kritischen Bemerkungen<br />

sind Petitessen, die den<br />

Gesamteindruck, einen Bestseller gelesen<br />

zu haben, nicht schmälern können.<br />

Manfred Spieker<br />

160


161

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!