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Der Weltenverbummler - Udo Taubitz

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p28_089_schneider_MaliPop 08.07.2005 20:36 Uhr Seite 1<br />

<strong>Der</strong> <strong>Weltenverbummler</strong><br />

Literatur. Die Spaßgesellschaft ist erledigt, nur Helge Schneider lacht noch immer: <strong>Der</strong><br />

Multi-Entertainer hat kurz vor seinem 50. Geburtstag einen neuen Reiseroman geschrieben.<br />

Von <strong>Udo</strong> <strong>Taubitz</strong><br />

Kann ich einen anderen<br />

Stuhl haben? Ich sitz<br />

nicht gern bequem“, nuschelt<br />

die berühmte Witzfigur – und<br />

man fragt sich: Meint er das<br />

jetzt ernst? Wenig später hievt<br />

sich Helge Schneider stöhnend<br />

aus dem Plüschsessel und verdrückt<br />

sich mit einem Holzhocker<br />

unsichtbar hinter die<br />

Leinwand. Das kommt einer<br />

Erlösung gleich, denn sein bunt<br />

gestreiftes Hemd und der blaugrün-gelb<br />

karierte Schal über<br />

dem Parka mit Kunstfellkragen<br />

verursachen Augenflimmern.<br />

Vor der Leinwand sitzt ein Dutzend<br />

Journalisten, auf der Leinwand<br />

läuft „Jazzclub – <strong>Der</strong><br />

frühe Vogel fängt den Wurm“.<br />

Bei dieser Pressepräsentation<br />

vor eineinhalb Jahren überraschte<br />

Bizarrkomiker Helge<br />

Schneider mit düsteren Bildern<br />

und (fast) ernsten Statements<br />

zur Lage der Nation. <strong>Der</strong> Film<br />

handelte zwar von Randexistenzen,<br />

aber am Lagerfeuer der<br />

Obdachlosen ging es gemütlicher<br />

zu als im Rest der Welt.<br />

„Es ist eine Beäugung des täglichen<br />

Lebens“, sagte Schneider<br />

damals trocken. Die kleinbürgerliche<br />

Idylle in Mülheim<br />

stellte er als Vorhölle dar. Seiner<br />

Ruhrpottheimat hat sich<br />

Schneider zwischenzeitlich entzogen<br />

und ist einmal um die<br />

ganze Welt marschiert – im<br />

Geiste. „Reisen bildet. Zuhausebleiben<br />

bildet auch“, sagt<br />

Schneider nun im profil-Gespräch<br />

in seinem Büro, wo es<br />

wegen der Fischimbissbude im<br />

Erdgeschoss ein wenig nach<br />

Meer riecht. Dem graubärtigen<br />

Mann fallen lange Haarsträhnen<br />

ins Gesicht, während er über<br />

seinen neuen Reiseroman „Globus<br />

Dei“ redet (siehe Kasten).<br />

Seine Reise um den Globus<br />

habe ihm Erleuchtung gebracht,<br />

beteuert er, „dank der<br />

WWW.VIENNAREPORT.AT<br />

Die Welt im Sucher Bizarrkomiker Helge Schneider<br />

15-Watt-Birne im Innern“. Wie<br />

bereitet man sich auf eine solche<br />

Expedition vor? Da müsse<br />

man sich, gluckst Schneider,<br />

„eben abhärten. Zum Beispiel<br />

mal einen Nachmittag in einer<br />

Tiefkühltruhe verbringen. Und<br />

dabei heißen Tee trinken, damit<br />

der Temperaturunterschied<br />

noch größer ist zwischen Magen<br />

und Außentemperatur.“ Auf<br />

richtiges Reisen habe er zwar<br />

Lust, sagt er, am liebsten überallhin<br />

– „aufs Meer, nach Singapur,<br />

Tibet, in den Keller“ –,<br />

aber es mangle ihm dafür an der<br />

Zeit. Kein Wunder, wenn man<br />

komische Krimis wie am Fließband<br />

schreibt, Arztfilmparodien<br />

dreht, Musik komponiert<br />

und ständig mit neuen Bühnenshows<br />

auf Achse ist.<br />

„Ich bin einer, der Sinn<br />

sucht und findet durch<br />

Zufall. Alles, was ich<br />

mache, kann ich mir<br />

nachher so zurechtreden“<br />

Helge Schneider<br />

Alleinunterhalter. Ehe er zum<br />

fahrenden Allround-Genie wurde,<br />

hatte Schneider schon eine<br />

Ochsentour hinter sich: das<br />

Gymnasium nach der neunten<br />

Klasse abgebrochen, die Bauzeichnerlehre<br />

nach dem ersten<br />

Jahr – für ein Sonderbegabtenstudium<br />

am Duisburger Konservatorium.<br />

Musik war Schneiders<br />

erste Liebe. Schon als<br />

Fünfjähriger spielte er Klavier,<br />

mit zwölf kam das Cello dazu.<br />

Parallel zum Klassik-Studium<br />

jobbte er als Straßenkehrer,<br />

Fließbandarbeiter, Tierpfleger.<br />

Das Studium schmiss er hin,<br />

begann eine Ausbildung zum<br />

Landschaftsgärtner, brach auch<br />

diese ab. Und tingelte fortan als<br />

Jazzpianist, Trompeter, Sänger<br />

und Akkordeonspieler durch die<br />

westfälische Provinz. Ungezählte<br />

Auftritte als Alleinunterhalter<br />

und ein paar Förderpreise<br />

markierten den Weg einer Karriere,<br />

die bald, so die deutsche<br />

Wochenzeitung „Die Zeit“,<br />

zum Aufstieg „vom Mülheimer<br />

Quatschmatador zum bundesdeutschen<br />

Gaga-Champion“<br />

führte und ihn zum „Meister<br />

der versandenden Pointe“ werden<br />

ließ. Auf der Bühne gibt<br />

der schmächtige Typ verschrobene<br />

Alltagsgeschichten zum<br />

Besten. Er philosophiert über<br />

Pubertätspickel und die Evolution<br />

des Schachtelhalms. Aber<br />

wie geht das, in einer sinnentleerten<br />

Welt als Sinnzertrümmerer<br />

zu existieren? „Tu ich ja<br />

gar nicht“, sagt er: „Ich bin einer,<br />

der Sinn sucht und findet,<br />

durch Zufall. Alles, was ich mache,<br />

kann ich mir nachher so<br />

zurechtreden, dass es doch einen<br />

Sinn hat. Deshalb ist auch<br />

der Begriff Blödsinn nicht richtig.<br />

Unsinn finde ich gut, denn<br />

ich produziere Sinn jenseits der<br />

DIN-Norm.“<br />

„Katzeklo“. Sein mit musikalischer<br />

Virtuosität gepaartes Dilettantentum,<br />

insbesondere der<br />

Schlager „Katzeklo“, brach- <br />

11. Juli 2005 • profil 28 89


p28_089_schneider_MaliPop 08.07.2005 20:36 Uhr Seite 2<br />

kultur<br />

te Schneider in den neunziger<br />

Jahren jähen Erfolg. Heute ist<br />

die Spaßgesellschaft ein Witz<br />

von gestern. Zu der habe er,<br />

meint er, aber nie gehört, „auch<br />

wenn ich als ihr Entdecker<br />

missverstanden wurde“ – seine<br />

Augen wandern dabei flink und<br />

freundlich durch das billig<br />

möblierte Büro. Schneiders Witz<br />

ist weder billig noch kindisch,<br />

vielmehr kindlich-subversiv.<br />

„Ich habe keine Lust, erwachsen<br />

zu werden“, gibt der vierfache<br />

Vater zu. „Ich finde es wichtig,<br />

„Ich habe keine Lust,<br />

erwachsen zu werden. Ich<br />

finde es wichtig, dass<br />

man seine Kindheit auch<br />

irgendwo behält“<br />

Helge Schneider<br />

dass man seine Kindheit auch irgendwo<br />

behält. Von mir aus wie<br />

Michael Jackson, mit dem vielen<br />

Spielzeug und so. Ich vergnüge<br />

mich ganz viel mit der Holzeisenbahn<br />

meines Dreijährigen.“<br />

Ende August wird Schneider 50.<br />

Angeblich freut er sich auf den<br />

Lebensabend: „Ich wollte schon<br />

immer ganz alt sein, um meine<br />

Arbeit machen zu können auf<br />

der Bühne. Je älter, desto besser<br />

wirkt das ja bei Männern.“<br />

Tiefsinn-Titan. Über die Güte<br />

von Helge Schneiders Schlagern,<br />

Jazzimprovisationen, Büchern<br />

und Filmen kann man<br />

streiten. <strong>Der</strong> Mann mit den<br />

schlecht sitzenden Anzügen und<br />

hochtoupierten Perücken spaltet<br />

die Kritik. Wo die einen genervt<br />

den Untergang der Kultur<br />

nahen sehen, huldigen die anderen<br />

dem „Titan des Tiefsinns im<br />

Trivialen“ („Süddeutsche Zeitung“).<br />

Vor Kurzem debütierte<br />

er im ehrwürdigen Schauspielhaus<br />

Bochum mit dem Musiktheaterkracher<br />

„Mendy. Das<br />

Wusical“, der von einem Pferde<br />

liebenden Mädchen erzählt, „als<br />

hätte Freud einen ‚Bravo‘-Fotoroman<br />

nach Motiven der Brüder<br />

Grimm verfasst“ („Die Welt“).<br />

„Meine spaßigen Shows“, sagt<br />

er noch, „sind aus Verzweiflung<br />

entstanden. Ich wollte immer<br />

Musiker sein. Aber die Leute<br />

haben nicht zugehört.“ ■<br />

90 profil 28 • 11. Juli 2005<br />

Buchkritik<br />

Fantasieketten<br />

Eingebildete Expedition<br />

rund um die<br />

Welt: „Globus Dei“.<br />

Helge Schneiders<br />

achtes Buch, ein<br />

Reiseroman, wird dem<br />

fragwürdigen Ruf seines<br />

Autors mehr als<br />

gerecht. In „Globus<br />

Dei“ erzählt dieser in<br />

frei ausgelegten Fantasieketten<br />

von seiner<br />

Expedition um die<br />

Welt – vom Nordpol<br />

nach Patagonien, mit<br />

etlichen Zwischenstopps,<br />

nur in Österreich<br />

macht Schneider<br />

nicht Halt.<br />

<strong>Der</strong> Leser wird Zeuge<br />

unheimlicher Begegnungen<br />

mit Eisbären,<br />

Wölfen, Zivilisationsmüll<br />

und Krankheiten:<br />

„Dieses miese<br />

Husten, ich gab eine<br />

denkbar schlechte Figur<br />

für einen Abenteurer<br />

ab.“ Mit der<br />

gefährlichen Frage<br />

„Warum sind wir?“<br />

lässt er sein Publikum<br />

ratlos zurück.<br />

Zwei Frauen muss<br />

Schneider, der sich gegen<br />

vorehelichen Verkehr<br />

ausspricht, widerstehen<br />

– einer St. Petersburgerin<br />

und einer<br />

Flämin: „Dieser verdammte<br />

Moralaspekt<br />

wirft mir immer wieder<br />

einen Knüppel<br />

zwischen die Beine.“<br />

Schneiders authentisch<br />

erfundene Reiseberichte<br />

sind mit wundersamen<br />

Grau-Weiß-Fotos<br />

illustriert. Dieses Buch<br />

macht definitiv Lust<br />

aufs Zuhausebleiben.<br />

Helge<br />

Schneider:<br />

„Globus Dei.<br />

Vom Nordpol<br />

bis Patagonien.<br />

Ein Expeditionsroman“<br />

Kiepenheuer &<br />

Witsch, 125 S.,<br />

EUR 7,10<br />

Gezeitenmusik<br />

Pop. Während Live 8 für Afrika ohne afrikanische<br />

Musiker kämpft, feiern die Großmeister Ali „Farka“<br />

Touré und Toumani Diabaté aus Mali Triumphe.<br />

Von Thomas Mießgang<br />

Pirogen ziehen in erhabener<br />

Trägheit vorbei: lange<br />

Holzschiffe, die an venezianische<br />

Gondeln erinnern. Am<br />

Ufer drängen sich Lehmhütten,<br />

das fröhliche Kreischen von<br />

Kindern mischt sich mit dem<br />

Hämmern der Schmiede und<br />

dem Chor der Transistorradios.<br />

<strong>Der</strong> heiße trockene Wüstenwind<br />

peitscht Sandwolken vor<br />

sich her, eine Fata Morgana<br />

pflanzt eine blühende Oase in<br />

die monotone Sanddünenlandschaft.<br />

Als der Abend hereinbricht,<br />

beginnen im Schlick am<br />

Flussufer die Dschinns zu wispern<br />

und zu raunen – Wassergeister,<br />

die vom Unsagbaren<br />

und vom großen Licht jenseits<br />

der Dunkelheit künden.<br />

Dämonen. <strong>Der</strong> Niger ist Lebensader<br />

und Handelsweg, spirituelle<br />

Ressource und symbolisches<br />

Bindeglied in Mali, einem der<br />

ärmsten Länder der Welt. <strong>Der</strong><br />

große Strom verknüpft die Vielzahl<br />

von Völkern und Kulturen<br />

in dieser von kolonialer Willkür<br />

zusammengefügten Nation: Im<br />

Ghimbala-Kult der mysteriösen<br />

Dämonen begegnen die Völker<br />

aus dem Norden, die Sonrai und<br />

Haussa, der Mandinge-Kultur<br />

im Süden. Denn wer in der Lage<br />

ist, mit den Dschinns zu<br />

kommunizieren, der gilt als auserwähltes<br />

„Kind des Flusses“,<br />

ganz egal, woher er stammt.<br />

Es ist deshalb kein Zufall,<br />

dass unlängst ein musikalischer<br />

Nord-Süd-Gipfel in der Hauptstadt<br />

Bamako, im Mande Hotel<br />

mit Blick auf den Niger, stattgefunden<br />

hat. Hier spielten der<br />

Ein kammermusikalisches<br />

Klanggespinst, das so gemächlich<br />

im Zeitstrom dahin treibt<br />

wie der majestätische Wasserweg,<br />

der es inspiriert hat.<br />

Gitarrist und Sänger Ali „Farka“<br />

Touré aus dem Städtchen<br />

Niafunke am Rand der Sahara<br />

und der Kora-Virtuose Toumani<br />

Diabaté aus Bamako in einem<br />

improvisierten Studio das Album<br />

„In the Heart of the<br />

Moon“ ein: ein kammermusikalisches<br />

Klanggespinst, das so<br />

gemächlich im Zeitstrom dahintreibt<br />

wie der majestätische<br />

Wasserweg, der es inspiriert hat.<br />

Ein Gerüst aus kargen Gitarrenharmonien,<br />

umringelt und<br />

umschlungen von den dekorativen<br />

Arpeggien des harfenähnlichen<br />

21-saitigen Kora-Instrumentes.<br />

Herz des Mondes: Gezeitenmusik,<br />

die sich rhythmisch<br />

ausdehnt und zusammenzieht.<br />

Gleichförmig anbrandende<br />

Klangwellen, die nicht auf<br />

sensationelle Höhepunkte zielen,<br />

sondern auf organische<br />

Entwicklung. Diese Töne gehen<br />

so glatt ins Ohr, dass sie in<br />

den kommenden Monaten vermutlich<br />

Kaffeehäuser und Gastgärten<br />

in aller Welt beschallen<br />

werden. Doch genaueres Hinhören<br />

offenbart die tiefe Traditionsverbundenheit<br />

und spirituelle<br />

Tiefe, die die attraktive<br />

Oberflächenwirkung transzendiert.<br />

Geisterstimmen. Ali „Farka“<br />

Touré und Toumani Diabaté<br />

zählen zu den großen Musikmeistern<br />

ihres Landes und<br />

könnten doch unterschiedlicher<br />

nicht sein: Ali, der 65-jährige<br />

Prinz vom Stamm der Sonrai,<br />

der „Löwe aus der Wüste“, gilt<br />

als Miterfinder des elektrischen<br />

Sahara-Blues. Seine Musik ist<br />

kaum mehr als ein Skelett: Jeder<br />

Ton scheint der hitzegedörrten<br />

Landschaft abgerungen wie ein<br />

Flecken fruchtbarer Erde. Keine<br />

Schnörkel, keine Ornamente<br />

– nur das Klappern der Jahrtausende<br />

und das Wispern der

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