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Vortrag Dr. Urbaniok 1

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Rechtsdogmatik versus<br />

effektiver Opferschutz: Defizite im<br />

Strafgesetz und im Justizvollzug in<br />

Deutschland<br />

PD <strong>Dr</strong>. med. Frank <strong>Urbaniok</strong> & Dipl.-Psych. Edgar Blawatt<br />

Psychiatrisch-Psychologischer Dienst (PPD)<br />

Amt für Justizvollzug<br />

Kanton Zürich<br />

Schweiz


Schuld- und Präventionsprinzip<br />

Schuldprinzip:<br />

Schwere der Tat in der Vergangenheit = Höhe der Sanktion<br />

Präventionsprinzip:<br />

Höhe des Risikos in der Zukunft = Art der Massnahme<br />

Eine moderne Straf- und Justizvollzugspraxis sollte<br />

das Präventionsprinzip gleichrangig gewichten !!


Moderne Forensische Psychiatrie


Moderne Forensische Psychiatrie<br />

Prävention von Gewalt- und Sexualstraftaten<br />

Risikokalkulationen (Gefährlichkeitseinschätzungen)<br />

Deliktpräventive Therapien


Fachliche Mythen und<br />

Meinungsbilder in der Öffentlichkeit<br />

versus<br />

some inconvenient truths


Jugendkriminalität:<br />

Eine Phase, die vorübergeht?


Junges Alter:<br />

Gegensätzliche prognostische<br />

Implikationen<br />

Veränderbarkeit<br />

Früher Beginn


Jugendkriminalität:<br />

Kein homogenes Phänomen<br />

Risk: (+): Hohes Risiko<br />

Schuld (-): Verminderte Schuldfähigkeit/Entwicklungsrückstand<br />

Veränderbarkeit (+): Hohe präventive Veränderbarkeit<br />

Risiko (+)<br />

Veränderbarkeit (+) Schuld (-)<br />

Früher Beginn


Entwicklungspsychologie:<br />

Eltern und soziale Umstände auf<br />

der Anklagebank


Berufsausbildung:<br />

Straftäter / Normalbevölkerung<br />

Das<br />

Ausbildungsniveau der<br />

untersuchten Straftäter<br />

ist „unauffällig“ und<br />

mit dem in der<br />

Allgemeinbevölkerung<br />

vergleichbar.<br />

Bundesamt für Statistik:<br />

62% der männlichen<br />

Bevölkerung hat im<br />

Mittel eine<br />

abgeschlossene<br />

Berufsausbildung<br />

(schwankt je nach<br />

Jahrgang zwischen<br />

60%-70%)


Familienkonstellation während<br />

Kindheit und Jugend


Viktimisierungserfahrungen<br />

•Gewalt- und<br />

Sexualstraftäter<br />

unterscheiden sich nicht<br />

hinsichtlich der Prävalenz<br />

von Gewalterfahrungen in<br />

der Kindheit.<br />

•Sexualstraftäter erleben<br />

häufiger sexuelle<br />

Übergriffe als<br />

Gewaltstraftäter


Prävalenz von Belastungsfaktoren<br />

37% der Gewalt- und Sexualstraftäter wiesen mind.<br />

1 familiären Belastungsfaktor auf:<br />

Sex. Missbrauch,<br />

Gewalterfahrung in der Kindheit,<br />

Schizophrenie, Suizidalität oder<br />

Alkoholmissbrauch in der Primärfamilie<br />

63% wiesen keinen der genannten<br />

Belastungsfaktoren auf.


Der Krimi-Archetyp …


Der Kommissar löst jeden Fall


Mehr als 90% kommen in jedem<br />

Fall wieder raus !<br />

Im Jahr 2006:<br />

Verurteilungen total 97.911<br />

Verurteilungen nach StGB 30.328<br />

Verurteilungen (Gewalt- oder Sexualtat) 7.722<br />

Haftplätze total: 6.654 (100%)<br />

Belegung 5.715 (87%)<br />

Verwahrte total: 219 (3%)<br />

Herausforderung:<br />

Was tun wir, dass die 97% mit endlichen Strafen weniger<br />

gefährlich rauskommen, als sie hereingekommen sind?


Therapie mit Straftätern<br />

=<br />

Geldverschwendung und<br />

Verhätschelung?


Paul Gendreau, University of New<br />

Brunswick (1996)<br />

Lange Haft + 1-6%<br />

Bedingt ausgesprochene Strafe & Auflagen -1 - +2%<br />

Schutzaufsicht -1 - +2%<br />

Kurze Haft +1%<br />

Wiedergutmachung +10%<br />

Boot-Camps +1%<br />

Elektronische Überwachung +3%<br />

Durchschnitt + 3-5%


Paul Gendreau, University of New<br />

Brunswick (1996)<br />

Durchschnitt + 3-5%<br />

+ Therapie - 11%<br />

Therapie - 13%<br />

Intensivtherapie - 29%<br />

Intensiv-Hoch-Risiko - 47%


Erfolgreiche Therapie =<br />

Heilung des Täters ?!


Therapieziel: „Risikomanagement“<br />

70% Rückfallrisiko<br />

zu Beginn der Therapie<br />

Zwischenstand:<br />

40% Rückfallrisiko<br />

10-15% Rückfallrisiko<br />

als Ziel der Therapie


Rückfallraten


Risikokalkulationen


State of the art<br />

der Risikobeurteilung


State of the art


Risikobeurteilung und Diagnosen


Keine Diagnose<br />

Diagnose<br />

Gefährlich Gefährlich & Gesund Gefährlich & Krank<br />

Ungefährlich Ungefährlich & Gesund Ungefährlich & Krank


Ein methodischer Fehler


Rechtspolitische Diskussion<br />

Prognose<br />

Gefährlich<br />

Ungefährli<br />

ch<br />

Legalbewährung<br />

Rückfall<br />

46%<br />

35%<br />

7%<br />

8%<br />

Kein Rückfall<br />

54%<br />

65%<br />

93%<br />

92%<br />

Carney et al. 1974<br />

Kozol et al. 1973


Der methodische Irrtum<br />

Prognose<br />

(200 Personen)<br />

Gefährlich<br />

70% Individual-<br />

Risiko<br />

Legalbewährung<br />

Rückfall Kein Rückfall<br />

70 30<br />

Ungefährlich<br />

5% Indiviualrisiko<br />

5 95


Unbehandelbarkeit


Entlassungen nicht therapierbarer<br />

Insassen<br />

Jahr Anlassdelikte Vorstrafen<br />

1997 5 Vergewaltigungen, 1 Sexualmord Ersttäter<br />

1997 1 Tötung, mehrfacher Raub Raub, Eigentum etc.<br />

1998 1 Mord, Sex. Handlungen etc.<br />

1999 1 Vergewaltigung, andere Sexuald. Mord, Vergewaltigung etc.<br />

2000 Mehrfache sexuelle Handlungen KV, sexuelle Hand., Eigent.<br />

2000 Vergewaltigung 4 Vergewaltigungen etc.<br />

2001<br />

2001<br />

1 versuchte Tötung, Raub, schwere<br />

KV etc.<br />

2 Mordversuche, 2x<br />

Lebensgefährdung, Raub etc.<br />

2002 Raub,schwere KV,sex. Nötigung etc. Ersttäter<br />

KV., Raub, Erpressung etc.<br />

Eigentum, Waffentr. etc.


Entlassungen nicht therapierbarer<br />

Insassen<br />

Jahr Vollzug Rückfall Status<br />

1997 Ablauf 4 Vergewaltigungen Verwahrung<br />

1997 Ablauf 1 x Mord, 1 x v. Mord etc. Verwahrung<br />

1998 Ablauf Sexuelle Handlungen (>10) Suizid<br />

1999 Ablauf Vergewaltigung, Erpressung etc. Verwahrung<br />

2000 Prob. Entl. Mehrfache sexuelle Handlungen Verwahrung<br />

2000 Ablauf Vergewaltigung Verwahrung<br />

2001 Ablauf Nötigungsversuch, ????? Ausschaffung<br />

2001 Ablauf Mehr. sex. Hand., mehr. Verg.,etc. Verwahrung<br />

2002 Ablauf KV, Erpressung Verwahrung


Bilanz der Zürcher Studie<br />

8 Täter<br />

24 Opfer schwerer<br />

Gewalt- und Sexualstraftaten


Strafregisterauszüge:<br />

Ein trügerisches Mass


Kriminelle Vorgeschichte<br />

80%<br />

70%<br />

60%<br />

50%<br />

40%<br />

30%<br />

20%<br />

10%<br />

0%<br />

67.7%<br />

Vorbestraft<br />

34.6%<br />

Alle<br />

Einschlägig vorbestraft<br />

• 2/3 der Täter sind vorbestraft<br />

• 1/3 der Täter sind mit einem Gewalt- und Sexualdelikt vorbestraft


Essentials


Essentials 1<br />

Spezifische Therapien können Rückfallquoten senken<br />

Ł nicht therapierte Täter = mehr Opfer<br />

Gefährlichkeitsbeurteilungen sind die Basis jeder<br />

Prävention<br />

Ł fehlende Risikobeurteilungen = höhere Risiken<br />

Es gibt unbehandelbare Täter<br />

Ł langfristige Sicherung hoch gefährlicher + untherapierbarer Täter<br />

Es gibt gefährliche jugendliche Straftäter<br />

Ł wichtig ist die Gefährlichkeit eines Täters und nicht sein Alter


Krank ≠ Risiko ≠ Veränderbarkeit<br />

Ł Entscheidend für Massnahmen: Risiko + Beeinflussbarkeit statt<br />

Schuldfähigkeit<br />

Die Justiz ist traditionell schuld - und täterorientiert<br />

Ł Gleicher Stellenwert der Prävention + Stärkung der Rechte<br />

von Opfern<br />

Studien anhand von Strafregisterauszügen<br />

unterschätzen die Rückfälligkeit<br />

Ł Bessere wissenschaftliche Untersuchungen


Primat des Schuldprinzips<br />

bei erwachsenen Straftätern


Primat des Schuldprinzips in<br />

Deutschland<br />

Unterbringung von Tätern<br />

Trennung zwischen krank und gesund<br />

Trennung verschiedener Institutionen, z.B.: Sozialtherapie,<br />

Strafvollzug, Massregelvollzug<br />

Ł Hohe Kosten<br />

Ł eklatante Versorgungslücken im Strafvollzug (Böhm 2007: 56%<br />

der Sexualstraftäter ohne Behandlung) und der Nachbetreuung,<br />

Ł Fehlplatzierungen und Überlastung der Kliniken


Zürcher PPD Modell<br />

Unterbringung von Tätern<br />

Differenzierter Justizvollzug mit breiter therapeutischer<br />

Angebotspalette (institutionell und extramural), konsequent<br />

deliktpräventiv ausgerichtet, langfristiges Risikomanagement<br />

Forensische Klinik nur für psychiatrisch stationär<br />

behandlungsbedürftige Täter<br />

Durchlässigkeit der Systeme


Primat des Schuldprinzips in<br />

Deutschland<br />

Risikobeurteilungen<br />

Keine standardmässige Risikobeurteilung zum Urteilszeitpunkt bei<br />

schuldfähigen Tätern (z.B. Bosinski 2009 12% und 33%)<br />

Keine flächendeckende Verfügbarkeit von Risikobeurteilungen<br />

im Justizvollzug oder bei Entlassungen aus U-Haft<br />

Junge Gewalt- und Sexualstraftäter mit hoher Gefährlichkeit<br />

häufig unzureichend untergebracht


Zürcher Praxis<br />

Risikobeurteilungen<br />

Häufige Risikobeurteilung von Gewalt- und Sexualstraftätern zum<br />

Urteilszeitpunkt<br />

Weitgehend flächendeckende Verfügbarkeit von<br />

Risikobeurteilungen im Justizvollzug oder bei Entlassungen aus U-<br />

Haft<br />

Risikobeurteilungen auch junger Gewalt- und Sexualstraftäter als<br />

Entscheidgrundlage für zu treffende Massnahmen


Primat des Schuldprinzips<br />

bei jugendlichen Straftätern


Primat des Schuldprinzips<br />

Interventionen<br />

Fokussierung auf - vermeintliche -Entwicklungsaspekte und<br />

„Schuldfähigkeit“<br />

Schwere Gewalt- und Sexualstraftaten: mehr als 90% nach §105<br />

JGG<br />

Vorrang unspezifischer, pädagogischer Massnahmen gegenüber<br />

spezifisch deliktorientierten Interventionen<br />

Junge Gewalt- und Sexualstraftäter mit hoher Gefährlichkeit<br />

häufig unzureichend untergebracht<br />

Keine langfristigen ambulanten Nachbetreuungsangebote


Primat des Schuldprinzips<br />

Risikobeurteilungen<br />

Keine standardmässige Risikobeurteilung zum Urteilszeitpunkt<br />

auch bei schweren Gewalt- und Sexualstraftaten<br />

Keine flächendeckende Verfügbarkeit von Risikobeurteilungen<br />

im Justizvollzug oder bei Entlassungen aus der U-Haft


Fall 1<br />

5. Jahre: Erhebliche Auffälligkeit<br />

ab 14 Jahren: Delinquenzbeginn mit Raub, häufiger Messereinsatz,<br />

Sexualdelikt, sehr gewalttätiger (Raub-)Überfall auf ein Pärchen im Park<br />

mit ca. 18 Jahren<br />

Bis dahin: > 10 Bewährungsstrafen, nun offene Entzugsbehandlung<br />

(Cannabis)<br />

Rückfall: neue Entzugsbehandlung mit unspezifischen Therapieansätzen<br />

Zu keinem Zeitpunkt: deliktorientierte Interventionen oder ein forensisch<br />

psychiatrisches Gutachten, aber immer Minderung der Schuldfähigkeit<br />

25. Jahre: 6 schwere Sexualdelikte


Fall 2<br />

16 Jahre: als Prostituierter Tötungsdelikt an Freier plus Brandstiftung als<br />

Notwehr qualifiziert<br />

Vergewaltigung einer 15 Jährigen => unbestimmte Jugendstrafe bis<br />

max. 3 J. 9 Monate<br />

17 Jahre: Raub, mit Knüppel auf Kopf des Opfers eingeschlagen<br />

=> 9 Monate (Ausbildung im Vollzug).<br />

26 Jahre: Fährt junge Radfahrerin mit dem Auto an, schleppt sie in Wald,<br />

sexuelle Nötigung, Würgen, Opfer kann fliehen => 4 J.<br />

30 Jahre: Tötung Ehefrau, Tritte, Würgen, Schläge, vergräbt unbekleidete<br />

Leiche => Entlassung nach 6 Wochen U-Haft<br />

31 Jahre: (15 Mon. später): Tötung Mitbewohner mit Hammer, Messer,<br />

Leiche bleibt 5 Tage in gemeinsamer Wohnung Totschlag in 2 Fällen, 13.<br />

Jahre


Literatur<br />

Allgemein:<br />

<strong>Urbaniok</strong> F (2003): Was sind das für Menschen – was<br />

können wir tun. Bern: Zytglogge<br />

Zürcher Forensik Studie:<br />

Endrass J, Rossegger A, <strong>Urbaniok</strong> F (2007) Die<br />

Zürcher Forensik Studie.<br />

http://www.zurichforensic.org


Weitere Informationen<br />

www.z-o-c.org<br />

www.zurichforensic.org<br />

info-ppd@ji.zh.ch

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