Die Kunst der Hypothesenbildung – Objektive Hermeneutik in der ...
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Rubrik<br />
rung von OFA-<strong>Die</strong>nststellen Rechnung getragen.<br />
Ebenfalls denkbar ist <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz<br />
<strong>der</strong>artiger Gruppen unter dem Stichwort<br />
<strong>der</strong> „stellvertretenden Krisenbewältigung“<br />
im Bereich <strong>der</strong> Prävention und des Opferschutzes,<br />
wobei dies sicher e<strong>in</strong>e Aufgabe<br />
von Kooperationspartnerschaftlichen Teams,<br />
ggf. unter Beteiligung <strong>der</strong> Polizei,<br />
wäre. In vielen Fällen benötigt <strong>der</strong> Klient<br />
Hilfe, weil er e<strong>in</strong>e Lebenskrise als nicht<br />
mehr lösbar betrachtet, wodurch e<strong>in</strong> beständiger<br />
Leidensdruck entsteht. <strong>Die</strong> Krise<br />
wird sozusagen manifester Bestandteil<br />
<strong>der</strong> Lebenspraxis. In diesen Fällen werden<br />
rout<strong>in</strong>ehafte Handlungsmuster des Klienten<br />
vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es Krisenkonzeptes,<br />
das über se<strong>in</strong> subjektives Krisenempf<strong>in</strong>den<br />
h<strong>in</strong>ausgeht, problematisiert<br />
und aufgebrochen.<br />
<strong>Die</strong>se Art von Tätigkeit wird jedoch selten<br />
alle<strong>in</strong> polizeiliche Aufgabe se<strong>in</strong>, obwohl<br />
sie, etwa <strong>in</strong> chronischen Fällen häuslicher<br />
Gewalt, regelmäßig <strong>in</strong>volviert ist<br />
und hilfreiches Fachwissen entwickelt.<br />
Gerade vor dem H<strong>in</strong>tergrund, dass die<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong> <strong>in</strong> ihrer Methodik<br />
auf Teams angewiesen ist,<br />
liegt e<strong>in</strong> weiteres Argument dafür,<br />
dass die Etablierung <strong>in</strong>stitutionsübergreifen<strong>der</strong><br />
Strukturen hierzu weiter<br />
verfolgt werden sollte. So sollten <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong>artigen Fällen Vertreter <strong>der</strong> polizeilichen<br />
Prävention e<strong>in</strong>zelfallbezogen mit<br />
Vertretern <strong>der</strong> Familienberatungsstelle,<br />
des Sozialamtes, etc. zusammenarbeiten.<br />
Weitere E<strong>in</strong>satzmöglichkeiten liegen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Analyse von Vernehmungsprotokollen,<br />
unter Berücksichtigung vorhandener Konzepte,<br />
wie <strong>der</strong> „Merkmalsorientierten Aussageanalyse<br />
(MOA)“. Sowohl h<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungen an das Protokoll als<br />
auch bezüglich <strong>der</strong> Relevanz <strong>der</strong> konkreten<br />
Vernehmungssituation sowie <strong>der</strong> sich<br />
äußernden Lebenspraxis im E<strong>in</strong>zelfall lassen<br />
sich deutliche Schnittstellen feststellen.<br />
Es wurde also mit <strong>der</strong> „MOA“ e<strong>in</strong> spezifisches<br />
Wissen entwickelt, das sich <strong>in</strong><br />
Komb<strong>in</strong>ation mit <strong>der</strong> Methodik <strong>der</strong> <strong>Objektive</strong>n<br />
<strong>Hermeneutik</strong> möglicherweise noch<br />
besser entfalten lässt.<br />
<strong>Die</strong>se Überlegung muss ke<strong>in</strong>esfalls lediglich<br />
auf die Analyse von Vernehmungsprotokollen<br />
beschränkt bleiben. Auch im<br />
Bereich <strong>der</strong> Tatortarbeit existieren längst<br />
wertvolle Überlegungen zum Umgang mit<br />
spezifisch krim<strong>in</strong>alistischen Protokollen,<br />
wie etwa das Leitspurenkonzept, die vor<br />
dem erkenntnistheoretischen H<strong>in</strong>tergrund<br />
<strong>der</strong> <strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong> erneut diskutiert<br />
und weiterentwickelt werden könnten.<br />
Ebenfalls ist es denkbar, die OH bei<br />
Methoden zur Erstellung von Gefährdungsanalysen<br />
zu berücksichtigen. So ist<br />
die Polzei zunehmend mit dem Bedürfnis<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung konfrontiert, dass Fälle<br />
des Stalk<strong>in</strong>gs o<strong>der</strong> häuslicher Gewalt auch<br />
im Versuchsstadium fundiert e<strong>in</strong>geschätzt<br />
werden müssen. Gerade hier liegt im objektiven<br />
S<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Handlungen des „Störers“<br />
<strong>der</strong> Schlüssel zur tatsächlichen Motivation<br />
von Handlungen. Mit <strong>der</strong> Veröffentlichung<br />
von Heike Würstl 5 liegt weiterh<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong> Beispiel für den Umgang mit schriftlichen<br />
Protokolltypen, hier e<strong>in</strong>em Erpresserschreiben,<br />
vor. In ihrem, anlässlich <strong>der</strong><br />
15. Arbeitstagung <strong>der</strong> Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong>, gehaltenem<br />
unveröffentlichten Vortrag von 2005<br />
zeigt sie auf, dass die Anwendung <strong>der</strong> Methodik<br />
ebenso vielversprechend auf Drohbriefe<br />
angewendet werden kann. In ähnlicher<br />
Weise werden me<strong>in</strong>es Erachtens<br />
<strong>der</strong>artige Protokolltypen bereits durch das<br />
BKA analysiert.<br />
Schlummerndes Wissen pflegen?<br />
Oevermann spricht darüber h<strong>in</strong>aus auch<br />
von e<strong>in</strong>er Reflektionsgrundlage. Dem Begriff<br />
kann me<strong>in</strong>es Erachtens auch <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Identifikationsgrundlage beigefügt werden.<br />
Gerade im Bereich des Ersten Angriffs<br />
bei Todesermittlungen ist es<br />
durchaus hilfreich, e<strong>in</strong>en mentalen<br />
Rückzug vorzunehmen, alle Vorvermutungen<br />
e<strong>in</strong>mal zurückzustellen<br />
und sich darum zu bemühen, den S<strong>in</strong>n<br />
5 Analyse e<strong>in</strong>es Erpresserschreibens, 2004<br />
je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Auffälligkeit zu<br />
h<strong>in</strong>terfragen bzw. diese konzentriert<br />
zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fortlaufenden Sequenz<br />
zu vere<strong>in</strong>igen. Es ist durchaus<br />
motivierend, wenn sich Schlüsse e<strong>in</strong>stellen,<br />
die viele „E<strong>in</strong>zelheiten“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
Verhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> setzen und erklären.<br />
Es fehlt hier e<strong>in</strong> wenig an e<strong>in</strong>er bewussten<br />
Profession, die gezielt weiterentwickelt<br />
werden kann. <strong>Die</strong>se Professionalität<br />
vermittelt dem Ermittler wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
Selbstbild, e<strong>in</strong>en Bezugspunkt se<strong>in</strong>er<br />
Kompetenz und Fähigkeit sowie e<strong>in</strong>e<br />
Grundlage, an <strong>der</strong> er se<strong>in</strong>e Ergebnisse und<br />
<strong>der</strong>en Zustandekommen messen kann.<br />
<strong>Die</strong> sich ständig ausdifferenzierenden<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen aus dem Arbeitsumfeld<br />
bergen ansonsten die Gefahr, dass sich<br />
das Berufs- und Selbstbild des Ermittlers<br />
<strong>in</strong> das e<strong>in</strong>es verwaltenden Bürokraten<br />
wandelt, <strong>der</strong> lediglich die Vorgangsabwicklung<br />
zu organisieren hat. Nun soll die<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong> nicht als „Allheilmittel“<br />
angepriesen und ,über den Klee‘<br />
gelobt werden. Sie wird auch <strong>in</strong>nerhalb<br />
<strong>der</strong> Sozialwissenschaften durchaus kontrovers<br />
diskutiert. Auch ist zu beachten,<br />
dass rekonstruktionslogische Tätigkeiten<br />
lediglich e<strong>in</strong>en Teilbereich krim<strong>in</strong>alistischen<br />
Handelns wie<strong>der</strong>spiegeln, <strong>in</strong> dem<br />
viele Aufgaben auch aus e<strong>in</strong>er sich selbstständig<br />
entwickelnden Profession heraus<br />
erledigt werden können. Dennoch ist die<br />
<strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong> nach me<strong>in</strong>er Überzeugung<br />
als Grundlage unserer Entscheidungen<br />
elementar genug, um <strong>in</strong>nerhalb<br />
<strong>der</strong> Polizei reflektiert und diskutiert zu<br />
werden.<br />
Krim<strong>in</strong>alisten werden umso erfolgreicher<br />
se<strong>in</strong>, je mehr sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage<br />
s<strong>in</strong>d, objektive Fakten am Tatort mit<br />
ihrem aus vielen Wissensbereichen<br />
begründeten Expertenwissen auch<br />
über mögliches und wahrsche<strong>in</strong>liches<br />
Täterverhalten zu Hypothesen zu entwickeln,<br />
die zunächst die Grundlage<br />
für weitere Ermittlungen bilden und<br />
von denen die richtige zum Täter führen<br />
wird.<br />
Bund Deutscher Krim<strong>in</strong>albeamter <strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alist 05/2006 Seite | 4