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Die Kunst der Hypothesenbildung – Objektive Hermeneutik in der ...

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Rubrik<br />

Mit forschungspraktischer <strong>Kunst</strong>lehre<br />

wird dabei ausgedrückt, dass ke<strong>in</strong>e abstrakte<br />

Verfahrensweise <strong>der</strong> S<strong>in</strong>n<strong>in</strong>terpretation<br />

geme<strong>in</strong>t ist, die, e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Schulbank vermittelt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis über<br />

die tatsächlichen Problemstellungen gestülpt<br />

werden kann. Es handelt sich vielmehr<br />

um e<strong>in</strong>e Denk- und Vorgehensweise,<br />

die auch krim<strong>in</strong>alistischem Handeln eigen<br />

ist. Sie wird durch ständige Anwendung,<br />

ähnlich e<strong>in</strong>em handwerklichen Können,<br />

angeeignet, um sich an den jeweiligen<br />

Fall, die Fragestellung, bzw. das Problem<br />

anpassen zu können. Wie <strong>der</strong> <strong>Hermeneutik</strong>er<br />

s<strong>in</strong>d Krim<strong>in</strong>alisten nämlich<br />

bei ihrer Arbeit darauf angewiesen,<br />

zunächst rekonstruktiv vorzugehen<br />

und auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>es Befundes<br />

e<strong>in</strong>e objektiv gültige und nachvollziehbare<br />

S<strong>in</strong>nstruktur bezüglich<br />

<strong>der</strong> Fragestellung, bzw. des Problems<br />

zu erkennen, um geeignete Maßnahmen<br />

zu ergreifen. <strong>Die</strong>s geschieht <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Praxis meist durch Bildung von<br />

Hypothesen zum Fall, die bezogen auf<br />

ihre Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit gewichtet<br />

und dann überprüft und überarbeitet<br />

werden. Aus unterschiedlichen Gründen<br />

kann <strong>der</strong> Krim<strong>in</strong>alist hierbei jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

„Krise“ geraten. So ist denkbar, dass es<br />

schwer fällt, wirklich schlüssige Hypothesen<br />

zum vorliegenden Befund zu entwickeln,<br />

sie zu gewichten, o<strong>der</strong> aber, dass<br />

die Überprüfung e<strong>in</strong>er Hypothese die Verfolgung<br />

weiterer Hypothesen erschweren<br />

würde. Denkbar ist schließlich, dass man<br />

<strong>in</strong> bestimmten Situationen nur „e<strong>in</strong>e<br />

Chance“ hat, den Fall richtig e<strong>in</strong>zuschätzen.<br />

Zu <strong>der</strong>artigen Problematiken behauptet<br />

Oevermann 2 , dass die <strong>Objektive</strong> <strong>Hermeneutik</strong><br />

„sich gerade deshalb dann,<br />

wenn die naturwüchsigen, zum Pol <strong>der</strong> Intuition<br />

h<strong>in</strong>neigenden Operationen des<br />

Fallverstehens, (...) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Krise geraten<br />

s<strong>in</strong>d, zur praktisch folgenreichen Klärung<br />

(eignet). Man nimmt dann sozusagen e<strong>in</strong>e<br />

praktische Auszeit, um handlungsentlastet<br />

<strong>in</strong> detaillierter Sequenzanalyse das<br />

<strong>in</strong>tuitive Fallverstehen aus se<strong>in</strong>er Krise<br />

herauszuführen.“<br />

<strong>Die</strong> Methode<br />

2 Oevermann, 2000, S. 154<br />

Ich möchte nun zunächst methodische<br />

Grundsätze aufzeigen, die im Rahmen <strong>der</strong><br />

<strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong> entwickelt wurden,<br />

um im Anschluss beispielhaft Praxisfel<strong>der</strong><br />

zu nennen, bei denen diese Grundsätze<br />

berücksichtigt und entsprechend<br />

<strong>der</strong> Aufgabenstellung weiterentwickelt<br />

werden können. E<strong>in</strong>e Diskussion über die<br />

h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Methodik stehende Methodologie<br />

würde hier den Rahmen sprengen.<br />

Texte/Protokolle<br />

In <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> <strong>Objektive</strong>n <strong>Hermeneutik</strong><br />

wird soziale Realität, also etwa e<strong>in</strong><br />

Tathergang o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Bedrohungslage, als<br />

textförmig aufgefasst. Wie bei e<strong>in</strong>em<br />

schriftlichen Text wird durch e<strong>in</strong>e vorangegangene<br />

Handlung <strong>der</strong> Spielraum möglicher<br />

s<strong>in</strong>nhafter Anschlüsse (Folgehandlungen)<br />

begrenzt. Somit ist soziale Realität,<br />

auch wenn sie nur bruchstückhaft<br />

protokolliert wurde, grundsätzlich rekonstruierbar.<br />

<strong>Die</strong> Art und Weise, wie e<strong>in</strong> Subjekt<br />

diesen s<strong>in</strong>nhaften Spielraum nutzt,<br />

kann sozusagen als se<strong>in</strong>e Handschrift aufgefasst<br />

werden. Der Verursacher des Lebenssachverhaltes<br />

und damit des „Protokolls“<br />

kann jede soziale E<strong>in</strong>heit se<strong>in</strong>, handeln<br />

kann also sowohl e<strong>in</strong> Individuum als<br />

auch e<strong>in</strong>e Gruppe o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Institution.<br />

Alles, was durch die Handlungen materiell<br />

zurückbleibt, kann als Protokoll dieser<br />

sozialen Realität e<strong>in</strong>er Analyse unterzogen<br />

werden. Aus diesem, hier nur grob umrissenen<br />

Textbegriff resultiert, dass er sehr<br />

umfangreich ist. So lassen sich die methodischen<br />

Grundsätze beispielsweise auf<br />

Schriftstücke, Tatorte, Gemälde, Landschaftsverän<strong>der</strong>ungen,<br />

o<strong>der</strong> aber e<strong>in</strong> Tatgeschehen,<br />

soweit es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ablauf rekonstruiert<br />

werden konnte, anwenden.<br />

<strong>Die</strong> Anwendung auf zuvor rekonstruierte<br />

Abläufe stellt allerd<strong>in</strong>gs schon e<strong>in</strong>e, spezifisch<br />

krim<strong>in</strong>alistische, Weiterentwicklung<br />

<strong>der</strong> Methodik dar, bei <strong>der</strong> gewisse Problematiken<br />

zu beachten s<strong>in</strong>d. Der hier genutzte<br />

S<strong>in</strong>nbegriff geht dabei weit über<br />

Begriffe wie Norm, Wert, Moral, etc. h<strong>in</strong>aus.<br />

Auch e<strong>in</strong> Verhalten, das, normativ betrachtet,<br />

lediglich als abweichend beschrieben<br />

werden kann, hat e<strong>in</strong>en objektiven<br />

S<strong>in</strong>n, <strong>der</strong> Rückschlüsse auf das Subjekt<br />

erlaubt.<br />

Aufgrund <strong>der</strong> Vielzahl von Handlungsverpflichtungen<br />

und -entscheidungen<br />

kann das Subjekt diesen S<strong>in</strong>n <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozialen<br />

Praxis nur sehr begrenzt reflektieren<br />

und nachvollziehen, sofern es sich überhaupt<br />

<strong>der</strong> entsprechenden Handlungen<br />

bewusst ist. <strong>Die</strong>s bedeutet, dass es zunächst<br />

gerade nicht darum geht, sich „<strong>in</strong><br />

den Täter“ h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zu versetzen. Es geht<br />

mith<strong>in</strong> nicht um e<strong>in</strong>e Nachvollzugshermeneutik.<br />

Wenn gerade krim<strong>in</strong>elles Verhalten<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen durch<br />

überdurchschnittlich reflektiertes<br />

Handeln äußert, lassen sich aus den<br />

Wi<strong>der</strong>sprüchen zwischen Protokollteilen,<br />

die e<strong>in</strong>er Reflektion unterlagen,<br />

und solchen, die nicht reflektiert<br />

o<strong>der</strong> gar unbewusst nie<strong>der</strong>gelegt<br />

wurden, wertvolle Informationen erheben.<br />

<strong>Die</strong> subjektive Repräsentation<br />

des Handelns beim „Produzenten“,<br />

die Ebene <strong>der</strong> Motive und Eigenschaften,<br />

wird somit erst auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

<strong>der</strong> rekonstruierten objektiven S<strong>in</strong>nstruktur<br />

erschlossen.<br />

Grundsätzlich wird gerade bei <strong>der</strong> Arbeit<br />

mit <strong>der</strong> OH deutlich, dass beim Lösen des<br />

Protokolls aus se<strong>in</strong>er ursprünglichen Umgebung,<br />

etwa <strong>der</strong> Dokumentation e<strong>in</strong>es<br />

Tatortes, technische Aufzeichnungen und<br />

damit apparatevermittelte Aufzeichnungen<br />

untechnischen vorzuziehen s<strong>in</strong>d, da<br />

sich Selektivität und subjektive Verzerrungen<br />

des letzteren Protokolltyps schwerer<br />

nachzuvollziehen lassen. In <strong>der</strong> Praxis<br />

wird diesem Umstand im Rahmen <strong>der</strong> Protokollierung<br />

des Tatortes bei Kapitaldelikten<br />

beispielsweise rout<strong>in</strong>emäßig Rechnung<br />

getragen. <strong>Objektive</strong> Befun<strong>der</strong>hebungen<br />

könnten jedoch <strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong>er<br />

H<strong>in</strong>sicht daraufh<strong>in</strong> beurteilt werden, <strong>in</strong><br />

welchen Fällen weniger Schrift und mehr<br />

technische Aufzeichnung geboten ist.<br />

Gleiches gilt für die Protokollierung von<br />

Vernehmungen.<br />

Unterstellt man, dass die Protokollierung<br />

des Krim<strong>in</strong>alisten e<strong>in</strong>e Kommunikations-,<br />

Registrier- und Kontrollfunktion<br />

hat, ist m. E. sogar e<strong>in</strong>e problematische<br />

Tendenz erkennbar. Im Vor<strong>der</strong>grund des<br />

so genannten objektiven Befundes sche<strong>in</strong>t<br />

zunehmend die Kontrollfunktion als Legitimation<br />

des eigenen Verhaltens zu stehen.<br />

Er dient oftmals nur noch dazu, dass<br />

die Schlussfolgerungen, die zuweilen<br />

schon an den Ereignisort herangetragen<br />

wurden, möglichst nachvollziehbar „objektiviert“<br />

werden. Der Aufbau e<strong>in</strong>es Tatortbefundes,<br />

<strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Praxis als<br />

zweckmäßig entwickelt hat, wird so jedoch<br />

unterlaufen und hat vorwiegend Ali-<br />

Bund Deutscher Krim<strong>in</strong>albeamter <strong>der</strong> krim<strong>in</strong>alist 05/2006 Seite | 2

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