Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe

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140 Kausalität und Freiheit als kosmologisches Problem Seinsverständnis geschieht. Freiheit zeigt sich als Grund. Aber Ursache (causa) selbst ist auch eine Art von Grund. § 15. Vorbemerkung zum Problem der Kausalität in den Wissenschaften a) Kausalität als Ausdruck für die Fragwürdigkeit der leblosen und der lebendigen Natur in den Wissenschaften Wenn wir das Problem der Freiheit im Zusammenhang mit der Kausalität aufnehmen, dann ist es geboten, zunächst einmal bestimmter zu umreißen, was mit Kausalität gemeint ist, welche Probleme sie selbst schon aufgibt. Ich versuche eine solche konkrete Orientierung über die Kausalität am Leitfaden der kantischen Behandlung des Problems, in der sich, was jetzt nicht ausschlaggebend ist, verschiedene geschichtliche Motive kreuzen (Leibniz, Hume). Bevor wir die kantische Auffassung der Kausalität uns näher bringen, bedarf es noch eines Hinweises auf die Tragweite des Kausalitätsproblems, und zwar in einer doppelten Hinsicht. Das Forschen und Fragen, das wir Wissenschaft nennen, geht in zwei Hauptrichtungen: auf die Natur und auf die Geschichte. Natur Geschichte (Mensch und Menschenwerk) Vorgänge Geschehnisse Ursache und Wirkung Ursache und Wirkung Kausalität Kausalität ? ? In diesen bei den Hauptrichtungen der wissenschaftlichen Forschung, der Erforschung der Natur sowohl wie in der Erforschung der Geschichte, ist heute in ganz verschiedener Weise die Kausalität problematisch geworden. Wenn man von außen die Vielfältigkeit der Untersuchungen vor sich hat, die heute auch der einzelne Forscher in seinem Fach nicht mehr übersehen kann, wenn man die Organisation der Wissenschaften in Ge- § 15. Vorbemerkung zum Problem der Kausalität 141 sellschaften, Instituten und Kongressen beobachtet, wenn man das Tempo kennt, mit dem ein Ergebnis das nächste ablöst und in die sogenannte Praxis übergeleitet wird, dann scheint bei uns nichts mehr zu fehlen als die Ausmaße des Riesenbetriebes und seiner Mittel. In der Tat, es fehlt nur noch dieses, um alles dem Ruin entgegenzutreiben, dem inneren Ruin, denn alles, was einmal in die Bahn einer eigenläufigen Technik gebracht ist, erhält sich auch dann noch und gerade dann, wenn die inneren Notwendigkeiten und die einfache Kraft echter Motive abgestorben sind. Trotz diesem fast technischen Fortgang der wissenschaftlichen Forschung, trotz dieser blühenden Industrie, die heute die Wissenschaft darstellt, sind die Wissenschaften der Natur und der Geschichte heute innerlich so fragwürdig geworden wie noch nie. Das Mißverhältnis zwischen täglich herausgebrachten Resultaten und der Unsicherheit und Dunkelheit der fundamentalen und einfachen Begriffe und Fragen ist noch nie so groß gewesen. Noch nie ist für den, der sehen kann, so deutlich geworden wie heute, daß Geistiges gleichzeitig in sich verworren und seiner selbst ohnmächtig und wurzellos werden und doch mit sich überstürzenden Ergebnissen die Welt in Atem und mit ständigen flüchtigen überraschungen in einer Bewunderung halten kann. Ich weiß nicht, wie viele diese Situation heute wirklich begreifen und die Zeichen verstehen. Scheinbar etwas ganz Äußerliches sei angemerkt. In Halle war Ende April der deutsche Historikertag. Man stritt sich darüber, ob Geschichte eine Wissenschaft oder eine Kunst sei. Genauer, man hatte gar keine Mittel, sich darüber wirklich zu streiten. Man sah nicht die Wege, um das verhüllte Problem wirklich zu fassen und auf den Boden zu stellen. Es wurde nur eines deutlich: Die Historiker wissen heute nicht, was Geschichte ist, sie wissen nicht einmal, was erforderlich ist, um zu einem Wissen darüber zu kommen. Es ist nur offensichtlich, daß man nicht einmal weiß, warum es so nicht geht, daß man irgendwelche zufälligen Anleihen macht bei einem Philosophie-

142 Kausalität und Freiheit als kosmologisches Problem professor, den man zufällig trifft oder den man als Kollegen hat. Wo liegt der Grund für diese katastrophale Situation, die dadurch nichts an ihrer Furchtbarkeit verliert, daß alle diese Ratlosen am anderen Tag sicher und ruhig mit aller Exaktheit ihre Arbeit fortsetzen? Der Grund liegt nicht darin, daß wir nicht imstande sind, das Wesen der Geschichtswissenschaften zu definieren, sondern darin, daß das geschichtliche Geschehen als solches, trotz der Vielzahl der Begebenheiten, keine einheitliche Kraft der Bekundung hat und daher in seinem wesentlichen Charakter verborgen bleibt und höchstens durch fadenscheinige Theorien über Geschichtswissenschaft noch mehr verdeckt und mißdeutet wird. Das geschichtliche Geschehen als solches kann sich nicht bekunden, wenn es nicht auf ein Erfahren stößt, das in sich die Helligkeit mitbringt, mit der die Geschichtlichkeit der Geschichte durchleuchtet werden kann. Hierbei muß sich entscheiden, ob Geschichte nur und zuerst und überhaupt ein Geschiebe von ursächlich verknüpften Tatsachen und Einflüssen ist oder ob die Kausalität des geschichtlichen Geschehens ganz anders begriffen werden muß. Sie sehen, daß das Problem der Kausalität keine abgelegene, irgendwie in der Philosophie ausgedachte Frage ist. Es ist die innerste Not unseres Verhältnisses zum Geschichtlichen überhaupt und demzufolge auch der Wissenschaft von der Geschichte (Philologie im weiteren Sinne). Aber das gleiche gilt von der anderen Richtung wissenschaftlichen Fragens, der Wissenschaft von der Natur, sei es der leblosen (Physik, Chemie) oder sei es von der lebendigen Natur (Biologie). Man geht so weit zu sagen, daß auf Grund der neuen physikalischen Theorien, der elektrischen Theorie der Materie (Atombau), der Relativitätstheorie und der Quantentheorie, das bisher geltende Gesetz der Kausalität seine ausnahmslose Gültigkeit verloren habe. Darin kommt zunächst zum Ausdruck, daß die Auffassung des Vorgangscharakters der materiellen Vorgänge fraglich geworden ist. Es fehlt an der Möglichkeit, die Natur positiv § 15. Vorbemerkung zum Problem der Kausalität 143 neu zu begreifen und zu bestimmen, derart, daß die neuen Fragen und Erkenntnisse ihren echten Boden und die Begründung erhalten. Insgleichen ist es mit der Frage nach dem Wesen des Organismus, mit der Frage nach dem Wesen der Lebendigkeit des Lebendigen, nach der Grundverfassung der Seinsart des Seienden, von dem wir sagen, daß es ist, lebt und stirbt. Ich wiederhole. Kausalität ist kein abgezogener, freischwebender Begriff, dem eine rechte Definition verschafft werden soll, sondern Ausdruck für die innerste Fragwürdigkeit der Verfassung der leblosen und lebendigen Natur. Der Mensch selbst aber, inmitten der Natur und verhaftet dem Geschehen seiner Geschichte, wankt und sucht in dieser Fragwürdigkeit und Not. Und die Philosophie weiß zugleich um die Perspektive, in die das konkret verstandene Problem der Kausalität der Geschichte und der Natur hinweist. Aber gerade diese von allen Seiten sich auftürmende Ratlosigkeit, dieses, daß alles wankt und Brüchiges an den Tag kommt, das ist die rechte Zeit der Philosophie. Es wäre naiv, auch nur einen Augenblick es anders zu wünschen. Es wäre aber ebenso kurzsichtig zu meinen, diese Zeit mit Hilfe eines Systems der Philosophie retten zu wollen. Im Gegenteil, es geht allein darum, die wahre und echt erfahrene und erfahrbare Not zu erhalten. Es geht allein darum, darüber zu wachen, daß uns die anbrechende Fragwürdigkeit, die Vorläuferschaft für die Größe, nicht entrissen wird durch billige Antworten und Aberglauben. So wird es erst recht überflüssig, Ihnen noch weitläufig zu versichern, daß das Thema dieser Einleitung in die Philosophie zugleich hinauswächst und zurückgreift in die großen Richtungen des Forschens über Natur und Geschichte, in welchen Richtungen Sie durch die Zugehörigkeit zu einzelnen Fakultäten der Universität unmittelbar stehen. Das Philosophieren hier ist kein Nebenbei als Zuflucht für private Nöte und zur Erbauung, sondern es steht inmitten der Not der Arbeit, der Sie sich verschrieben haben oder verschrieben zu haben den Anspruch machen, wenn Sie sich in diesem Raum bewegen.

140 Kausalität und <strong>Freiheit</strong> als kosmologisches Problem<br />

Seinsverständnis geschieht. <strong>Freiheit</strong> zeigt sich als Grund. Aber<br />

Ursache (causa) selbst ist auch eine Art von Grund.<br />

§ 15. Vorbemerkung zum Problem <strong>der</strong> Kausalität in den<br />

Wissenschaften<br />

a) Kausalität als Ausdruck für die Fragwürdigkeit <strong>der</strong><br />

leblosen und <strong>der</strong> lebendigen Natur in den Wissenschaften<br />

Wenn wir das Problem <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />

Kausalität aufnehmen, dann ist es geboten, zunächst einmal bestimmter<br />

zu umreißen, was mit Kausalität gemeint ist, welche<br />

Probleme sie selbst schon aufgibt. Ich versuche eine solche konkrete<br />

Orientierung über die Kausalität am Leitfaden <strong>der</strong> kantischen<br />

Behandlung des Problems, in <strong>der</strong> sich, was jetzt nicht<br />

ausschlaggebend ist, verschiedene geschichtliche Motive kreuzen<br />

(Leibniz, Hume). Bevor wir die kantische Auffassung <strong>der</strong><br />

Kausalität uns näher bringen, bedarf es noch eines Hinweises<br />

auf die Tragweite des Kausalitätsproblems, und zwar in einer<br />

doppelten Hinsicht. Das Forschen und Fragen, das wir Wissenschaft<br />

nennen, geht in zwei Hauptrichtungen: auf die Natur<br />

und auf die Geschichte.<br />

Natur<br />

Geschichte (Mensch und Menschenwerk)<br />

Vorgänge<br />

Geschehnisse<br />

Ursache und Wirkung Ursache und Wirkung<br />

Kausalität<br />

Kausalität<br />

? ?<br />

In diesen bei den Hauptrichtungen <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Forschung, <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Natur sowohl wie in <strong>der</strong> Erforschung<br />

<strong>der</strong> Geschichte, ist heute in ganz verschiedener Weise<br />

die Kausalität problematisch geworden. Wenn man von außen<br />

die Vielfältigkeit <strong>der</strong> Untersuchungen vor sich hat, die heute<br />

auch <strong>der</strong> einzelne Forscher in seinem Fach nicht mehr übersehen<br />

kann, wenn man die Organisation <strong>der</strong> Wissenschaften in Ge-<br />

§ 15. Vorbemerkung zum Problem <strong>der</strong> Kausalität 141<br />

sellschaften, Instituten und Kongressen beobachtet, wenn man<br />

das Tempo kennt, mit dem ein Ergebnis das nächste ablöst und<br />

in die sogenannte Praxis übergeleitet wird, dann scheint bei<br />

uns nichts mehr zu fehlen als die Ausmaße des Riesenbetriebes<br />

und seiner Mittel. In <strong>der</strong> Tat, es fehlt nur noch dieses, um alles<br />

dem Ruin entgegenzutreiben, dem inneren Ruin, denn alles,<br />

was einmal in die Bahn einer eigenläufigen Technik gebracht<br />

ist, erhält sich auch dann noch und gerade dann, wenn die inneren<br />

Notwendigkeiten und die einfache Kraft echter Motive<br />

abgestorben sind.<br />

Trotz diesem fast technischen Fortgang <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

Forschung, trotz dieser blühenden Industrie, die heute<br />

die Wissenschaft darstellt, sind die Wissenschaften <strong>der</strong> Natur<br />

und <strong>der</strong> Geschichte heute innerlich so fragwürdig geworden<br />

wie noch nie. Das Mißverhältnis zwischen täglich herausgebrachten<br />

Resultaten und <strong>der</strong> Unsicherheit und Dunkelheit <strong>der</strong><br />

fundamentalen und einfachen Begriffe und Fragen ist noch nie<br />

so groß gewesen. Noch nie ist für den, <strong>der</strong> sehen kann, so deutlich<br />

geworden wie heute, daß Geistiges gleichzeitig in sich verworren<br />

und seiner selbst ohnmächtig und wurzellos werden<br />

und doch mit sich überstürzenden Ergebnissen die Welt in Atem<br />

und mit ständigen flüchtigen überraschungen in einer Bewun<strong>der</strong>ung<br />

halten kann. Ich weiß nicht, wie viele diese Situation<br />

heute wirklich begreifen und die Zeichen verstehen.<br />

Scheinbar etwas ganz Äußerliches sei angemerkt. In Halle<br />

war Ende April <strong>der</strong> deutsche Historikertag. Man stritt sich<br />

darüber, ob Geschichte eine Wissenschaft o<strong>der</strong> eine Kunst sei.<br />

Genauer, man hatte gar keine Mittel, sich darüber wirklich zu<br />

streiten. Man sah nicht die Wege, um das verhüllte Problem<br />

wirklich zu fassen und auf den Boden zu stellen. Es wurde nur<br />

eines deutlich: Die Historiker wissen heute nicht, was Geschichte<br />

ist, sie wissen nicht einmal, was erfor<strong>der</strong>lich ist, um zu einem<br />

Wissen darüber zu kommen. Es ist nur offensichtlich, daß man<br />

nicht einmal weiß, warum es so nicht geht, daß man irgendwelche<br />

zufälligen Anleihen macht bei einem Philosophie-

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