Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe

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108 Die Leitfrage der Philosophie und ihre Fraglichkeit So haben wir anhand der Textfrage einen Einblick gewonnen in die Grundbedeutung des Wahrseins in der Antike. Auch dieses und gerade dieses im höchsten Sinne bleibt - beständige, reine Anwesenheit. Ich sagte zu Anfang, diese Auffassung der Wahrheit sei nicht nur echt aristotelisch, sondern einfach antik. Wir wissen, die Leitfrage der JtQo:J't'Y\ qlLAooocpta, der Philosophie in erster Linie ist: Was ist das Seiende? Gefragt wird nach dem Sein des Seienden, nach ihm bezüglich seiner Beständigkeit und Anwesenheit, d. h. nach seiner Entborgenheit. Daher kann Aristoteles sagen: öQ'fr&~ ö' Ej(EL xat 1:0 xaAELo'frm 1:ljv CPLAooocplav EmOt~!-L'Y\v tfi~ aA'Y\'frda~.43 Es ist ganz in Ordnung, wenn man die Philosophie die Erkenntnis der Wahrheit nennt, d. h. nicht, Philosophie ist Theorie der Wahrheit als eines Charakters der Erkenntnis, sondern sie ist Erkenntnis der Wahrheit, d. h. des Seienden als solchen in seiner Unverborgenheit als solcher. Daß Wahrheit in der Antike primär ein Charakter des Seienden selbst ist, d. h. daß das Wahrsein das eigentlichste Sein des eigentlichen Seienden ausmacht, wurde klar von uns gezeigt. Wie das möglich ist und was das im Grunde heißt, das wurde nicht gezeigt, weil es bei der Leitfrage blieb, weil die Seinsfrage nicht ausgearbeitet wurde zur Grundfrage. Es ist auch späterhin nicht gezeigt worden, weil später nicht einmal mehr das Problem in der Hand behalten, sondern alles in Scheinfragen und Scheinaporien verpackt wurde. Diese Zusammenhänge verlangen eine viel tiefere Klärung - und zwar aus der Problematik des Seins überhaupt und der Zeit. Es genügt nicht und sagt nichts, Anschauungswahrheit vor Satzwahrheit zustellen, wenn ungeklärt bleibt, was Anschauungswahrheit heißt. Wahrheit muß so geklärt sein, daß auch das Zuordnungsverhältnis von ursprünglicher Wahrheit und Satzwahrheit in seiner Notwendigkeit begreiflich wird. Wir verlassen jetzt diese ergänzende Zwischenbetrachtung und kehren zum Thema zurück. Inwiefern diese Betrachtung uns 43 a.a.O., CI. 1, 993 b 19 f. § 10. Die Wirklichkeit des Geistes bei Hegel 109 noch inhaltlich anderes in den Gesichtskreis brachte, was für die nachkommenden Probleme wichtig ist, wird sich an seinem Ort ergeben. Jetzt sei nur dieses festgehalten: Es ist vollends deutlich geworden, wie selbstverständlich und elementar Sein als Beständigkeit und Anwesenheit gejaßt wird, wie die Helle dieses Seinsverständnisses alle Fragen und Schritte im vorhinein erhellt. Die Quelle dieser Helle aber, das Licht derselben, ist die Zeit. § 10. Die Wirklichkeit des Geistes bei H egel als absolute Gegenwart An eines ist noch zu erinnern: Das Verständnis des Seins als beständige Anwesenheit hat sich nicht nur seit der antiken Philosophie bis zu Kant durchgehalten und die Problematik bestimmt, sondern diese Deutung des Seinsverständnisses kommt gerade da erneut zum deutlichen Ausdruck, wo die abendländische Metaphysik ihre eigentliche Vollendung erreicht hat, d. h. dort, wo der Ansatz der antiken Philosophie ebenso wie die seitdem erreichten wesentlichen Motive philosophischen Fragens zum einheitlichen Austrag und zur vollen Darstellung gebracht sind, bei Hegel. Wir können die metaphysische Grundthese Hegels und seine Metaphysik überhaupt zusammendrängen in den Satz: »Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken. «1 Das wahrhaft Seiende ist nicht nur als Substanz, sondern als Subjekt aufzufassen. Das sagt: Substanzialität ist zwar das Sein des Seienden, aber Substanzialität muß, um das Sein des Seienden ganz zu yerstehen, gefaßt wer- 1 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede. WW (Vol1st. Ausg. durch einen Verein von Freunden des Verewigten). Berlin 1832. Bd. II, S. 14.

110 Die Leitfrage der Philosophie und ihre Fraglichkeit den als Subjektivität. Mit dem letzteren Titel ist zwar im neuzeitlichen Sinne des Begriffes an das Ichliche gedacht. Aber Subjektivität ist hier nicht die Ichheit des unmittelbar bekannten empirischen Ich der einzelnen endlichen Personen, sondern das absolute Subjekt, das schlechthinnige Sichselbstbegreifen des Ganzen des Seienden, das an sich und für sich die ganze Mannigfaltigkeit des Seienden als solche begreift, d. h. alles Anderssein des Seienden von sich aus vermittelnd begreifen kann als Vermittlung des Sichanderswerdens. 2 »Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subjekt ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, - der erhabenste Begriff, ... «3. »Das Geistige allein ist das Wirkliche.«4 Hegel will sagen: das eigentliche Seiende. Demnach muß das Sein dieses Seienden - Seiendes als Geist - zugleich Aufschluß geben, wie Sein überhaupt und eigentlich verstanden wird. Wie faßt nun Hegel das Sein des Seienden qua Geist, oder die Wirklichkeit dieses Wirklichen? »Der Geist ... ist ewig«5, die Seinsart des Geistes ist die Ewigkeit. »Die Ewigkeit wird nicht sein, noch war sie, sondern sie ist«6, »dasEwige [ist] ... absolute Gegenwart. «7 Diese Gegenwart ist nicht die des momentanen Jetzt, das alsbald verfließt und verflossen ist, auch nicht bloß die dauernde Gegenwart im gewöhnlichen Sinn des weiter fort Währenden, sondern jene Gegenwart, die bei sich selbst und durch sich selbst steht, in sich reflektierte Dauer; eine Anwesenheit von der höchsten Beständigkeit, die nur die Ichheit, das Beisichselbstsein, zu geben vennag. Wir entnehmen dieser knappen Erwähnung hegelscher Sätze ein Doppeltes: 1. Auch bei Hegel, der die Problematik der 2 Vgl. a.a.O., II, 15. a a.a.O., II, 19. 4 Ebd. 5 G. W. F. Hegel, Encyclopädie. WW (Verein von Freunden des Verewigten), Berlin 1842. Bd. VII, S. 54. 6 a.a.O., S. 55. 7 Ebd. § 10. Die Wirklichkeit des Geistes bei Hegel 111 abendländischen Metaphysik in eine neue Dimension hinaufhebt, indem er Sein als Substanz radikaler begreift - im Sinne des Subjekts -, auch hier und gerade hier in einem absoluten Sinne bedeutet Sein >beständige Anwesenheit< (absolute Gegenwart). 2. Gerade darin, daß sich die Auslegung der Wirklichkeit des Wirklichen ausspricht als Aufhebung der Auslegung des Seins qua Substanz, bekundet sich der bewußt festgehaltene innere Zusammenhang der hegeischen Metaphysik mit der antiken und ihrem Ansatz. Fassen wir die ganze Betrachtung über die Grundbedeutung von OUcrLU, Sein, zusammen, dann können wir erfahren, daß auch schon ein flüchtiger Blick in die Welt der Großen ein Faktum in seiner ganzen Einfachheit und Wucht vor uns stellt: Das Seinsverständnis hält sich nicht nur im alltäglichen Dasein des Menschen, nicht nur im Ansatz der antiken Metaphysik, sondern im ganzen Geschehen der abendländischen Metaphysik in der Richtung, daß Sein verstanden wird als Anwesenheit und Beständigkeit. Das Verständnis hat seine Klarheit in der Helle, die das unmittelbar und schon unausgesprochen vorausliegende Verstehen von Anwesenheit und Beständigkeit ausbreitet. Damit haben wir die Antwort gewonnen auf die Frage, als was Sein verstanden wird, dort nämlich, wo nach ihm die Frage ist. Gefragt wird eigentlich nach dem Sein des Seienden in der Leitfrage der Metaphysik: tL tb ov. Diese Leitfrage galt es wirklich zu fragen. Wir versuchten es dadurch, daß wir ein doppeltes, in ihr selbst Fragwürdiges in die Frage stellten: 1. Wonach wird gefragt? (Sein). 2. Als was wird Sein verstanden? (beständige Anwesenheit). Es ergab sich bisher folgende Reihung der Fragen: tL tb ov, was ist das Seiende? Was ist das Seiende als solches? Was ist das Seiende hinsichtlich seines Seins? Was ist das Sein?1 Als was wird Sein überhaupt verstanden? So haben wir uns in den Fragegehalt der Leitfrage immer mehr eingegraben und dabei ursprünglichere Fragen gleichsam ausgegraben. All das sollte geschehen, um die Leitfrage wirklich zu fragen; und dieses wieder,

108 Die Leitfrage <strong>der</strong> Philosophie und ihre Fraglichkeit<br />

So haben wir anhand <strong>der</strong> Textfrage einen Einblick gewonnen<br />

in die Grundbedeutung des Wahrseins in <strong>der</strong> Antike. Auch dieses<br />

und gerade dieses im höchsten Sinne bleibt - beständige, reine<br />

Anwesenheit. Ich sagte zu Anfang, diese Auffassung <strong>der</strong> Wahrheit<br />

sei nicht nur echt aristotelisch, son<strong>der</strong>n einfach antik. Wir<br />

wissen, die Leitfrage <strong>der</strong> JtQo:J't'Y\ qlLAooocpta, <strong>der</strong> Philosophie in<br />

erster Linie ist: Was ist das Seiende? Gefragt wird nach dem Sein<br />

des Seienden, nach ihm bezüglich seiner Beständigkeit und Anwesenheit,<br />

d. h. nach seiner Entborgenheit. Daher kann Aristoteles<br />

sagen: öQ'fr&~ ö' Ej(EL xat 1:0 xaAELo'frm 1:ljv CPLAooocplav EmOt~!-L'Y\v<br />

tfi~ aA'Y\'frda~.43 Es ist ganz in Ordnung, wenn man die Philosophie<br />

die Erkenntnis <strong>der</strong> Wahrheit nennt, d. h. nicht, Philosophie<br />

ist Theorie <strong>der</strong> Wahrheit als eines Charakters <strong>der</strong> Erkenntnis,<br />

son<strong>der</strong>n sie ist Erkenntnis <strong>der</strong> Wahrheit, d. h. des Seienden<br />

als solchen in seiner Unverborgenheit als solcher.<br />

Daß Wahrheit in <strong>der</strong> Antike primär ein Charakter des Seienden<br />

selbst ist, d. h. daß das Wahrsein das eigentlichste Sein des<br />

eigentlichen Seienden ausmacht, wurde klar von uns gezeigt. Wie<br />

das möglich ist und was das im Grunde heißt, das wurde nicht<br />

gezeigt, weil es bei <strong>der</strong> Leitfrage blieb, weil die Seinsfrage nicht<br />

ausgearbeitet wurde zur Grundfrage. Es ist auch späterhin nicht<br />

gezeigt worden, weil später nicht einmal mehr das Problem in<br />

<strong>der</strong> Hand behalten, son<strong>der</strong>n alles in Scheinfragen und Scheinaporien<br />

verpackt wurde. Diese Zusammenhänge verlangen eine<br />

viel tiefere Klärung - und zwar aus <strong>der</strong> Problematik des Seins<br />

überhaupt und <strong>der</strong> Zeit. Es genügt nicht und sagt nichts, Anschauungswahrheit<br />

vor Satzwahrheit zustellen, wenn ungeklärt<br />

bleibt, was Anschauungswahrheit heißt. Wahrheit muß so geklärt<br />

sein, daß auch das Zuordnungsverhältnis von ursprünglicher<br />

Wahrheit und Satzwahrheit in seiner Notwendigkeit begreiflich<br />

wird.<br />

Wir verlassen jetzt diese ergänzende Zwischenbetrachtung<br />

und kehren zum Thema zurück. Inwiefern diese Betrachtung uns<br />

43 a.a.O., CI. 1, 993 b 19 f.<br />

§ 10. Die Wirklichkeit des Geistes bei Hegel 109<br />

noch inhaltlich an<strong>der</strong>es in den Gesichtskreis brachte, was für die<br />

nachkommenden Probleme wichtig ist, wird sich an seinem Ort<br />

ergeben. Jetzt sei nur dieses festgehalten: Es ist vollends deutlich<br />

geworden, wie selbstverständlich und elementar Sein als Beständigkeit<br />

und Anwesenheit gejaßt wird, wie die Helle dieses<br />

Seinsverständnisses alle Fragen und Schritte im vorhinein erhellt.<br />

Die Quelle dieser Helle aber, das Licht <strong>der</strong>selben, ist die<br />

Zeit.<br />

§ 10. Die Wirklichkeit des Geistes bei H egel<br />

als absolute Gegenwart<br />

An eines ist noch zu erinnern: Das Verständnis des Seins als beständige<br />

Anwesenheit hat sich nicht nur seit <strong>der</strong> antiken Philosophie<br />

bis zu Kant durchgehalten und die Problematik bestimmt,<br />

son<strong>der</strong>n diese Deutung des Seinsverständnisses kommt gerade<br />

da erneut zum deutlichen Ausdruck, wo die abendländische Metaphysik<br />

ihre eigentliche Vollendung erreicht hat, d. h. dort,<br />

wo <strong>der</strong> Ansatz <strong>der</strong> antiken Philosophie ebenso wie die seitdem<br />

erreichten wesentlichen Motive philosophischen Fragens zum<br />

einheitlichen Austrag und zur vollen Darstellung gebracht sind,<br />

bei Hegel.<br />

Wir können die metaphysische Grundthese Hegels und seine<br />

Metaphysik überhaupt zusammendrängen in den Satz: »Es<br />

kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung<br />

des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das<br />

Wahre nicht als Substanz, son<strong>der</strong>n ebenso sehr als Subjekt aufzufassen<br />

und auszudrücken. «1 Das wahrhaft Seiende ist nicht nur<br />

als Substanz, son<strong>der</strong>n als Subjekt aufzufassen. Das sagt: Substanzialität<br />

ist zwar das Sein des Seienden, aber Substanzialität<br />

muß, um das Sein des Seienden ganz zu yerstehen, gefaßt wer-<br />

1 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede. WW (Vol1st.<br />

Ausg. durch einen Verein von Freunden des Verewigten). Berlin 1832.<br />

Bd. II, S. 14.

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