Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe

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292 Der zweite Weg zur Freiheit im kantischen System doch alle ein Wesentliches und Entscheidendes, was die Faktizität des Faktums Mensch in der Eigentlichkeit seines Wesens angeht. Und nur dieses steht für unser Problem in Frage. Solange man freilich am Buchstaben klebt und die kantische Philosophie ebenso wie jede andere große und echte Philosophie antiquarisch als einen vielleicht beachtenswerten Standpunkt nimmt, den es einmal gegeben hat, solange man nicht in der philosophierenden Auseinandersetzung sich entschlossen in das Geschehen einer Philosophie wagt, bleibt alles verschlossen. Wenn es hoch kommt, findet man dann einige sonderbare Meinungen und Ansichten, von denen man nicht verstehen will, weshalb sie mit so viel Aufwand an begrifflicher Arbeit und Einmaligkeit der Menschheit vorgesetzt werden. Kommt aber eine Auseinandersetzung in Gang, dann ist es auch schon gleichgültig geworden, wie in unserem Fall, ob der Kategorische Imperativ von Kant formuliert ist oder von einem anderen Menschen. Freilich, Auseinandersetzung heißt nicht, wie der gemeine Verstand meint, Kritisieren des anderen und gar Widerlegen, sondern heißt, den anderen und damit sich selbst erst recht zurückbringen auf das Ursprüngliche und Letzte, das als Wesentliches von selbst das Gemeinsame ist und keiner nachträglichen gemeinsamen Verbrüderung beider bedarf. Philosophische Auseinandersetzung ist Interpretation als Destruktion. b) Das Faktum des Sittengesetzes und das Bewußtsein der Freiheit des Willens Um der kantischen Interpretation des Wesens des Sittengesetzes die scheinbare Befremdlichkeit zu nehmen, möchte ich eine Formulierung des Kategorischen Imperativs noch kurz besprechen. Sie findet sich in der» Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« und lautet: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. «3 3 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. S. 54 (IV, 429). § 28. Das Bewußtsein der menschlichen Freiheit 293 Zweck und nur Zweck im menschlichen Handeln sei eigentlich die Menschheit. Was heißt Zweck? Wir wissen es, ohne daß wir eigens bisher den Begriff des Zweckes erörterten. Zweck ist jenes im Willen im vorhinein Vorgestellte, das als solches Bestimmungsgrund ist für die Verwirklichung des in der Vorstellung gemeinten Objekts. Was Zweck ist, hat den Charakter des im vorhinein Bestimmenden. Was nur Zweck und nie Mittel sein soll, ist das Erste Äußerste, was nicht anders sein kann als bestimmend, was selbst nicht mehr bestimmend ist umwillen eines anderen, was so als Zweck den Willen bestimmt: »Die Menschheit in der Person«, d. h. das Wesen des Menschen als Persönlichkeit. Der Kategorische Imperativ besagt also: Sei in deinem Handeln jederzeit zugleich, d. h. zuerst, wesentlich in deinem Wesen. Das Wesen der Person ist diese Selbstverantwortlichkeit: sich an sich selbst, nicht egoistisch und in bezug auf das zufällige Ich, binden. Selbstverantwortlichsein, nur antworten und d. h. zuerst immer nur fragen nach dem Wesen des Selbst. Diesem zuerst und in allem das Wort geben, das Sollen des reinen W ollens wollen. Leicht und allzu schnell schleicht sich hier die Sophistik ein und versucht eine theoretisch spekulative Diskussion zu eröffnen darüber, was das Wesen des Menschen sei und daß wir dieses doch nicht wüßten und jedenfalls nicht so, daß alle Menschen darüber im voraus sich einig wären. Man verschiebt so das wirkliche Wollen und Handeln auf den Zeitpunkt, wo zuvor diese Einstimmigkeit in einem theoretisch gesuchten Wissen theoretisch erzielt sein sollte, auf einen Zeitpunkt, den die Zeitlichkeit des Menschen gerade nie zulassen wird, d. h. man drückt sich vor dem, was allein die Wirklichkeit des Menschen erwirkt und die Wesentlichkeit allein bildet. Anders gewendet, zuerst bemühen wir uns um ein Programm und dann sammeln wir dafür solche, die es vertreten und ihm anhängen, d. h. doch eigentlich wollen sollten, und wundern uns dann, warum so nie Einigkeit und Gemeinschaft und d. h. Schlagkraft des Daseins erzielt wird. Als ob das etwas wäre, was von außen

294 Der zweite Weg zur Freiheit im kantischen System und nachträglich hergerichtet werden könnte. Wir begreifen nicht, daß wirkliches Wollen, d. h. wesentliches Wollen, von selbst, in sich und von Grund aus schon in das Einverständnis mit den anderen setzt; welche Gemeinschaft ist nur kraft des Geheimnisses, des verschlossenen wirklichen Wollens des Einzelnen. Wenn wir all das recht verstehen, dann wird zugleich klar: Die entscheidende Einsicht im Verstehen des Sittengesetzes liegt nicht darin, daß wir irgendeine Formel zu wissen bekommen oder irgendein Wert uns vorgehalten wird, eine Formel, die, gar noch auf einer Gesetzestafel angebracht, über uns und an sich über allen Menschen schwebt, und die einzelnen Menschen nur die Verwirklicher des Gesetzes wären, wie die einzelnen Tische in ihrer Art das Wesen des Tisches an sich verwirklichen. Nicht eine Formel und Regel bekommen wir zu wissen, sondern wir lernen gerade verstehen den Charakter der einzigartigen Wirklichkeit dessen, was im Handeln und als Handeln wirklich wird und ist. 4 Allerdings, Kant bleibt weit davon entfernt, diese Tatsächlichkeit als solche ausdrücklich zu einem zentralen metaphysischen Problem zu machen und auf diesem Wege die begriffliche Durchdringung derselben ins Dasein des Menschen überzuführen, um damit an die Schwelle einer grundsätzlich anderen Problematik zu gelangen. Das ist mit ein Grund , weshalb Kants Einsichten im Entscheidenden für die philosophische Problematik als solche wirkungslos geblieben sind. Trotz alldem muß aber festgehalten werden: Kant hat die Eigenart des willentlichen Wirklichen als Tatsache zentral erfahren und aus dieser Erfahrung die Problematik der praktischen Vernunft wesentlich bestimmt, in den Grenzen, die er für möglich und notwendig hielt. Die Tatsächlichkeit der Tatsache einer reinen praktischen Vernunft steht jederzeit bei uns selbst und je nur bei uns selbst. Dieses in der Weise, daß wir 4 V gl. das Verhältnis des ,Guten< und des Sittengesetzes. Jenes bestimmt sich durch dieses, nicht umgekehrt. § 28. Das Bewußtsein der menschlichen Freiheit 295 uns für das gesollte reine Wollen entscheiden, d. h. wirklich wollen, oder gegen es, d. h. nicht wollen, oder in Verwirrung und Unentschiedenheit Wollen und Nichtwollen vermischen. Diese Tatsächlichkeit des Wollens ist selbst je nur zugänglich in einem Erfahren und Wissen, das aus solchem Wollen und Nichtwollen erwächst, besser, in solchem gerade schon besteht. Die Wirklichkeit des reinen Willens umgrenzt nicht einen Bereich eines zunächst gleichgültig uns gegenüber Vorhandenen, in den wir uns dann hineinbegeben oder nicht, im Wollen oder Nichtwollen, sondern dieses Wollen oder Nichtwollen läßt dieses Wirkliche erst geschehen und in seiner Weise sein. Dieses reine Wollen ist die Praxis, durch die und in der das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft allein Wirklichkeit hat. Der reine Wille ist nicht ein seelisches Vorkommnis das sich nach einer sogenannten Schau des Werts eines an sich seienden Gesetzes diesem gemäß benimmt, sondern der reine Wille macht allein die Tatsächlichkeit des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft aus. Nur sofern und weil er will ist das Gesetz. ' Nunmehr verstehen wir die Tatsächlichkeit einer reinen praktischen Vernunft und ihres Gesetzes. Wir verstehen, es ist ein und dasselbe, wann und wie hier Tatsachen sind und anzutreffen sind, und wann und wie die Tatsache der reinen praktischen Vernunft und ihres Gesetzes erweisbar und erwiesen ist. Jetzt erst sind wir hinreichend vorbereitet für die in der Leitthese beschlossene Aufgabe: Die objektive Realität, d. h. die praktische Realität, die spezifische Tatsächlichkeit der Freiheit läßt sich nur dartun durch die Tatsächlichkeit des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft. Welchen Gang muß die Beweisführung nehmen? Wenn wir so fragen, verstehen wir das Problem nicht. Dürfen wir uns denmach überhaupt nicht weitläufig um die Art der Beweisführung kümmern? Sollen wir uns einfach anschicken, den Beweis der Tatsächlichkeit der Freiheit wirklich zu führen? Auch das ist ein Mißverständnis des Problems. Denn der Beweis ist schon

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doch alle ein <strong>Wesen</strong>tliches und Entscheidendes, was die Faktizität<br />

des Faktums Mensch in <strong>der</strong> Eigentlichkeit seines <strong>Wesen</strong>s<br />

angeht. Und nur dieses steht für unser Problem in Frage.<br />

Solange man freilich am Buchstaben klebt und die kantische<br />

Philosophie ebenso wie jede an<strong>der</strong>e große und echte Philosophie<br />

antiquarisch als einen vielleicht beachtenswerten Standpunkt<br />

nimmt, den es einmal gegeben hat, solange man nicht in<br />

<strong>der</strong> philosophierenden Auseinan<strong>der</strong>setzung sich entschlossen in<br />

das Geschehen einer Philosophie wagt, bleibt alles verschlossen.<br />

Wenn es hoch kommt, findet man dann einige son<strong>der</strong>bare Meinungen<br />

und Ansichten, von denen man nicht verstehen will,<br />

weshalb sie mit so viel Aufwand an begrifflicher Arbeit und<br />

Einmaligkeit <strong>der</strong> Menschheit vorgesetzt werden. Kommt aber<br />

eine Auseinan<strong>der</strong>setzung in Gang, dann ist es auch schon<br />

gleichgültig geworden, wie in unserem Fall, ob <strong>der</strong> Kategorische<br />

Imperativ von Kant formuliert ist o<strong>der</strong> von einem an<strong>der</strong>en<br />

Menschen. Freilich, Auseinan<strong>der</strong>setzung heißt nicht, wie <strong>der</strong><br />

gemeine Verstand meint, Kritisieren des an<strong>der</strong>en und gar Wi<strong>der</strong>legen,<br />

son<strong>der</strong>n heißt, den an<strong>der</strong>en und damit sich selbst erst<br />

recht zurückbringen auf das Ursprüngliche und Letzte, das als<br />

<strong>Wesen</strong>tliches von selbst das Gemeinsame ist und keiner nachträglichen<br />

gemeinsamen Verbrü<strong>der</strong>ung bei<strong>der</strong> bedarf. Philosophische<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung ist Interpretation als Destruktion.<br />

b) Das Faktum des Sittengesetzes und das Bewußtsein<br />

<strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> des Willens<br />

Um <strong>der</strong> kantischen Interpretation des <strong>Wesen</strong>s des Sittengesetzes<br />

die scheinbare Befremdlichkeit zu nehmen, möchte ich eine<br />

Formulierung des Kategorischen Imperativs noch kurz besprechen.<br />

Sie findet sich in <strong>der</strong>» Grundlegung zur Metaphysik <strong>der</strong><br />

Sitten« und lautet: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl<br />

in deiner Person als in <strong>der</strong> Person eines jeden an<strong>der</strong>en,<br />

je<strong>der</strong>zeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst. «3<br />

3 Kant, Grundlegung zur Metaphysik <strong>der</strong> Sitten. S. 54 (IV, 429).<br />

§ 28. Das Bewußtsein <strong>der</strong> <strong>menschlichen</strong> <strong>Freiheit</strong> 293<br />

Zweck und nur Zweck im <strong>menschlichen</strong> Handeln sei eigentlich<br />

die Menschheit. Was heißt Zweck? Wir wissen es, ohne daß wir<br />

eigens bisher den Begriff des Zweckes erörterten. Zweck ist<br />

jenes im Willen im vorhinein Vorgestellte, das als solches Bestimmungsgrund<br />

ist für die Verwirklichung des in <strong>der</strong> Vorstellung<br />

gemeinten Objekts. Was Zweck ist, hat den Charakter des<br />

im vorhinein Bestimmenden. Was nur Zweck und nie Mittel<br />

sein soll, ist das Erste Äußerste, was nicht an<strong>der</strong>s sein kann als<br />

bestimmend, was selbst nicht mehr bestimmend ist umwillen<br />

eines an<strong>der</strong>en, was so als Zweck den Willen bestimmt: »Die<br />

Menschheit in <strong>der</strong> Person«, d. h. das <strong>Wesen</strong> des Menschen als<br />

Persönlichkeit. Der Kategorische Imperativ besagt also: Sei in<br />

deinem Handeln je<strong>der</strong>zeit zugleich, d. h. zuerst, wesentlich in<br />

deinem <strong>Wesen</strong>. Das <strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> Person ist diese Selbstverantwortlichkeit:<br />

sich an sich selbst, nicht egoistisch und in bezug<br />

auf das zufällige Ich, binden. Selbstverantwortlichsein, nur<br />

antworten und d. h. zuerst immer nur fragen nach dem <strong>Wesen</strong><br />

des Selbst. Diesem zuerst und in allem das Wort geben, das<br />

Sollen des reinen W ollens wollen.<br />

Leicht und allzu schnell schleicht sich hier die Sophistik ein<br />

und versucht eine theoretisch spekulative Diskussion zu eröffnen<br />

darüber, was das <strong>Wesen</strong> des Menschen sei und daß wir dieses<br />

doch nicht wüßten und jedenfalls nicht so, daß alle Menschen<br />

darüber im voraus sich einig wären. Man verschiebt so<br />

das wirkliche Wollen und Handeln auf den Zeitpunkt, wo zuvor<br />

diese Einstimmigkeit in einem theoretisch gesuchten Wissen<br />

theoretisch erzielt sein sollte, auf einen Zeitpunkt, den die<br />

Zeitlichkeit des Menschen gerade nie zulassen wird, d. h. man<br />

drückt sich vor dem, was allein die Wirklichkeit des Menschen<br />

erwirkt und die <strong>Wesen</strong>tlichkeit allein bildet. An<strong>der</strong>s gewendet,<br />

zuerst bemühen wir uns um ein Programm und dann sammeln<br />

wir dafür solche, die es vertreten und ihm anhängen, d. h. doch<br />

eigentlich wollen sollten, und wun<strong>der</strong>n uns dann, warum so<br />

nie Einigkeit und Gemeinschaft und d. h. Schlagkraft des Daseins<br />

erzielt wird. Als ob das etwas wäre, was von außen

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