Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe

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288 Der zweite Weg zur Freiheit im kantischen System die vulgäre philosophische Erörterung des Problems, inwiefern der Kategorische Imperativ eine Tatsache sein soll, was es heißen soll, daß diese Tatsache selbst dem gemeinsten Verstand zugänglich sei. Die Probe bestätigt das Gegenteil. Wir finden doch nichts von dieser Tatsache. Allerdings nicht und wir können sie auf diese Weise auch in alle Ewigkeit nie finden. Und zwar deshalb nicht, weil wir - sofern wir in der bezeichneten Weise uns unmittelbar beobachten oder unser Bewußtsein auf das Vorhandensein des Kategorischen Imperativs auch phänomenologisch absuchen -, weil wir so suchend uns von vornherein versehen haben im Tatsächlichkeitscharakter der zu findenden Tatsache. Kant behauptet ja nirgends von dem Faktum des Kategorischen Imperativs, es komme einfach so vor, es sei etwa entsprechend in uns vorhanden wie Nervenstränge und Blutgefäße, nur mit dem Unterschied, daß jenes etwas Materielles, dieses etwas sogenanntes Geistiges sei. Kant sagt vielmehr: Es ist »das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar bewußt werden. so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen«.! Die Erfahrung des Grundgesetzes des reinen Willens steht demnach unter einer Bedingung: »so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen«, und d. h. nichts anderes als: sobald wir wirklich wollen, sobald wir der Motive des Handeins uns bewußt werden, uns über sie zu ihnen so und so entscheiden. Die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung der Tatsache des Grundgesetzes ist keine geringere als die, daß wir uns zuvor überhaupt in den spezifischen Bereich solcher Tatsachen begeben. d. h. daß wir wirklich wollen. Wirklich wollen ist immer hiel und jetzt wollen, das ist nicht wünschen zu wollen, oder sich denken, man wolle. Wirklich wollen, das ist auch nicht so im allgemeinen sich vornehmen, energisch zu sein, sondern wirklich wollen ist: jederzeit, hier und jetzt wollen. Aber was denn wollen? Schon das ist wieder eine eitle und 1 a.a.O., S. 34 (V, 53). § 28. Das Bewußtsein der menschlichen Freiheit 289 verfängliche Frage, die sich vom wirklichen Wollen wegschleicht, die zwar als Frage so aussieht, als sei man einzig bemüht, wirklich zu wollen. Denn man sucht ja etwas, das gewollt werden könnte. Aber so verschließt sich das Wollen gerade wieder dem, daß es im Augenblick wollen soll. Was wollen? Nun, jeder der wirklich will, weiß es, denn jeder, der wirklich will, will nichts anderes als das Sollen seines Da-seins. Erst wenn wir so wollen, ist das wirklich, innerhalb dessen das Faktum des Sittengesetzes wirklich Faktum ist. Diese Wirklichkeit des Sollens steht ganz bei uns, sie ist die Wirklichkeit unseres Willens in einem wesentlich doppelten Sinne: 1. Es ist die Wirklichkeit, die ihr Wirkliches nur gibt in und durch unseren Willen. 2. Sie ist dann und nur dann die Wirklichkeit, die unserem Willen als Willen wahrhaft eignet. Die Tatsächlichkeit dieser Tatsache steht uns nicht gegenuber, sondern steht einzig bei uns selbst, so zwar, daß wir je fur die Möglichkeit dieser Wirklichkeit in Anspruch genommen sind, zwar nicht in diesem oder jenem, sondern in Anspruch genommen sind wir mit dem Einsatz unseres Wesens. Wenn Kant sagt, selbst der gemeinste Verstand vermag sich dieses Faktums des Kategorischen Imperativs zu versichern, so will er damit nicht sagen, jener gemeine Verstand, der im Felde der theoretischen Erörterungen dem Scheine und dem trügerischen Gebrauch der Prinzipien verfällt, sei das geeignete Vermögen der Erfassung des Faktums des Sittengesetzes. Er will vielmehr sagen, es kommt bei dieser Erfassung überhaupt nicht an auf Art und Grad des theoretischen oder gar philosophischen Wissens, sondern entscheidend ist das Wollen. Zum Wollen als einem Wirken nach Vorstellung des Gewollten gehört mit das Wissen um den Bestimmungsgrund des Handeins. Wirkliches Wollen ist in sich immer, sich klar werden und klar geworden sein über die Bestimmungsgründe. Wirkliches Wollen ist eine eigene Art des wirklichen Wissens und Verstehens, die durch nichts, am wenigsten durch Kenntnisse über den Menschen, etwa psychologische usw., ersetzt werden kann.

290 Der zweite Weg zur Freiheit im kantischen System Sobald wir wirklich wollen, können wir dabei erfahren, daß, wie Kant sagt, die menschliche Vernunft >>unbestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich selbst, indem sie sich als apriori praktisch betrachtet«.2 Im wirklichen Wollen erfahren wir, daß das Wesen des Wollens, das Wollen um des Willens selbst willen, fordert, gewollt zu sein. Ob die Ausführung des so Gewollten faktisch gelingt oder nicht, ist sekundär; genug, daß im wirklichen Wollen das Faktum des Sollens sich bekundet. Im wirklichen Wollen bringen wir uns selbst in die Lage, uns so oder so bezüglich des Bestimmungsgrundes unseres Handelns entscheiden zu müssen. Aber, wird man sagen, nun verschiebt sich alles auf das wirkliche Wollen. Nur wenn dieses wirklich ist, besteht die Wirklichkeit der reinen praktischen Vernunft, wenn wir nicht wirklich wollen, dann besteht diese Wirklichkeit nicht. So wie wenn ein Stuhl nicht hergestellt wird, er auch nie vorhanden sein kann. Doch schon verfallen wir wieder der Irrmeinung, die die Wirklichkeit des Willens an der Wirklichkeit eines vorhandenen Dinges mißt. Auch wenn wir uns nicht entscheiden, sondern uns etwa drücken, oder Scheinmotive unseres HandeIns uns ein- und vorreden, haben wir uns entschieden, nämlich zur Abkehr vom Sollen. In dieser Abkehr vom Sollen liegt gerade die stärkste Erfahrung, daß es als Sollen Faktum ist. In diesem Nichtwollen als einer bestimmten Art von Wollen liegt ein bestimmtes Wissen um dieses, daß wir eigentlich und was wir eigentlich sollten. Die Wirklichkeit des Wollens fängt nicht dort an, wo ein Willensakt vorhanden ist, und hört erst recht nicht auf, wo wir nicht ernsthaft wollen. Dieses Nicht-ernsthaft-wollen, d. h. Sichtreiben- und es darauf Ankommen-lassen ist gerade ein ausgezeichneter und vielleicht sogar der häufigste Modus der Wirklichkeit des Wollens, weshalb wir diese so gründlich und meist übersehen, uns darin versehen. 2 a.a.O., S. 37 (V, 56). § 28. Das Bewußtsein der menschlichen Freiheit 291 Nun dürfte klar geworden sein: Solange wir uns nur so vorhanden dahintreibend beobachten und analysieren, werden wir nie das Faktum des Sollens antreffen, selbst wenn wir sogar unser Handeln und Wollen beobachten in der Weise, daß wir es als physische Vorkommnisse nehmen. Die Wirklichkeit des W ollens ist nur im Wollen dieser Wirklichkeit. Darin erfahren wir das Faktum, daß reine Vernunft für sich allein praktisch ist, d. h. daß der reine Wille als Wesen des Willens als Bestimmungsgrund desselben sich meldet. Gewiß, möchte man sagen, dieses Faktum einer unbedingten Verpflichtung mag bestehen, und offensichtlich hängt es mit dem zusammen, was wir das Gewissen nennen. Noch mehr sei zugegeben, daß offenbar hier eine ganz eigentümliche Tatsächlichkeit von Tatsachen vorliegt, die mit der der vorhandenen Dinge nicht zusammengebracht werden kann, weshalb es auch sinnlos ist, etwa durch Fragebogen feststellen zu wollen, ob dergleichen wie Gewissen vorhanden ist oder nicht. Oder durch ethnologische, völkerpsychologische Forschungen beweisen zu wollen, daß gewisse Völkerstämme kein Gewissen haben bzw. kein Wort dafür und dergleichen. Als ob Ethnologie so etwas beweisen könnte, als ob es etwas für oder gegen die Tatsächlichkeit des Gewissens besagte, wenn festgestellt wird: Gewissen gibt es nicht überall und zu jeder Zeit. Doch wenn wir uns all dergleichen Mißdeutungen fernhalten, so folgt daraus doch nicht, daß das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft auf die Formel des kantischen Kategorischen Imperativs gebracht werden muß. Allerdings, an der Formel liegt es gewiß nicht. Es ist auch gar nicht gemeint, daß der sittlich Handelnde, um sittlich zu handeln, gleichsam an die Formel sich halten und sie ausdrücklich bereit haben müßte. Die Formel ist immer eine philosophische Interpretation und deren sind verschiedene möglich, wie wir denn auch bei Kant selbst eine Reihe verschiedener Interpretationen antreffen. Aber unbeschadet der möglichen Verschiedenheit der Formulierungen und Richtungen der Interpretation, so meinen sie

290 Der zweite Weg zur <strong>Freiheit</strong> im kantischen System<br />

Sobald wir wirklich wollen, können wir dabei erfahren, daß,<br />

wie Kant sagt, die menschliche Vernunft >>unbestechlich und<br />

durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer<br />

Handlung je<strong>der</strong>zeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich<br />

selbst, indem sie sich als apriori praktisch betrachtet«.2 Im<br />

wirklichen Wollen erfahren wir, daß das <strong>Wesen</strong> des Wollens,<br />

das Wollen um des Willens selbst willen, for<strong>der</strong>t, gewollt zu<br />

sein. Ob die Ausführung des so Gewollten faktisch gelingt o<strong>der</strong><br />

nicht, ist sekundär; genug, daß im wirklichen Wollen das Faktum<br />

des Sollens sich bekundet. Im wirklichen Wollen bringen<br />

wir uns selbst in die Lage, uns so o<strong>der</strong> so bezüglich des Bestimmungsgrundes<br />

unseres Handelns entscheiden zu müssen. Aber,<br />

wird man sagen, nun verschiebt sich alles auf das wirkliche<br />

Wollen. Nur wenn dieses wirklich ist, besteht die Wirklichkeit<br />

<strong>der</strong> reinen praktischen Vernunft, wenn wir nicht wirklich wollen,<br />

dann besteht diese Wirklichkeit nicht. So wie wenn ein<br />

Stuhl nicht hergestellt wird, er auch nie vorhanden sein kann.<br />

Doch schon verfallen wir wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Irrmeinung, die die Wirklichkeit<br />

des Willens an <strong>der</strong> Wirklichkeit eines vorhandenen<br />

Dinges mißt.<br />

Auch wenn wir uns nicht entscheiden, son<strong>der</strong>n uns etwa<br />

drücken, o<strong>der</strong> Scheinmotive unseres HandeIns uns ein- und vorreden,<br />

haben wir uns entschieden, nämlich zur Abkehr vom<br />

Sollen. In dieser Abkehr vom Sollen liegt gerade die stärkste<br />

Erfahrung, daß es als Sollen Faktum ist. In diesem Nichtwollen<br />

als einer bestimmten Art von Wollen liegt ein bestimmtes<br />

Wissen um dieses, daß wir eigentlich und was wir eigentlich<br />

sollten. Die Wirklichkeit des Wollens fängt nicht dort an, wo<br />

ein Willensakt vorhanden ist, und hört erst recht nicht auf, wo<br />

wir nicht ernsthaft wollen. Dieses Nicht-ernsthaft-wollen,<br />

d. h. Sichtreiben- und es darauf Ankommen-lassen ist gerade<br />

ein ausgezeichneter und vielleicht sogar <strong>der</strong> häufigste Modus<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit des Wollens, weshalb wir diese so gründlich<br />

und meist übersehen, uns darin versehen.<br />

2 a.a.O., S. 37 (V, 56).<br />

§ 28. Das Bewußtsein <strong>der</strong> <strong>menschlichen</strong> <strong>Freiheit</strong> 291<br />

Nun dürfte klar geworden sein: Solange wir uns nur so<br />

vorhanden dahintreibend beobachten und analysieren, werden<br />

wir nie das Faktum des Sollens antreffen, selbst wenn wir sogar<br />

unser Handeln und Wollen beobachten in <strong>der</strong> Weise, daß<br />

wir es als physische Vorkommnisse nehmen. Die Wirklichkeit<br />

des W ollens ist nur im Wollen dieser Wirklichkeit. Darin erfahren<br />

wir das Faktum, daß reine Vernunft für sich allein<br />

praktisch ist, d. h. daß <strong>der</strong> reine Wille als <strong>Wesen</strong> des Willens<br />

als Bestimmungsgrund desselben sich meldet. Gewiß, möchte<br />

man sagen, dieses Faktum einer unbedingten Verpflichtung<br />

mag bestehen, und offensichtlich hängt es mit dem zusammen,<br />

was wir das Gewissen nennen. Noch mehr sei zugegeben, daß<br />

offenbar hier eine ganz eigentümliche Tatsächlichkeit von Tatsachen<br />

vorliegt, die mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> vorhandenen Dinge nicht zusammengebracht<br />

werden kann, weshalb es auch sinnlos ist, etwa<br />

durch Fragebogen feststellen zu wollen, ob <strong>der</strong>gleichen wie Gewissen<br />

vorhanden ist o<strong>der</strong> nicht. O<strong>der</strong> durch ethnologische,<br />

völkerpsychologische Forschungen beweisen zu wollen, daß gewisse<br />

Völkerstämme kein Gewissen haben bzw. kein Wort dafür<br />

und <strong>der</strong>gleichen. Als ob Ethnologie so etwas beweisen<br />

könnte, als ob es etwas für o<strong>der</strong> gegen die Tatsächlichkeit des<br />

Gewissens besagte, wenn festgestellt wird: Gewissen gibt es<br />

nicht überall und zu je<strong>der</strong> Zeit.<br />

Doch wenn wir uns all <strong>der</strong>gleichen Mißdeutungen fernhalten,<br />

so folgt daraus doch nicht, daß das Grundgesetz <strong>der</strong> reinen<br />

praktischen Vernunft auf die Formel des kantischen Kategorischen<br />

Imperativs gebracht werden muß. Allerdings, an <strong>der</strong><br />

Formel liegt es gewiß nicht. Es ist auch gar nicht gemeint, daß<br />

<strong>der</strong> sittlich Handelnde, um sittlich zu handeln, gleichsam an die<br />

Formel sich halten und sie ausdrücklich bereit haben müßte.<br />

Die Formel ist immer eine philosophische Interpretation und<br />

<strong>der</strong>en sind verschiedene möglich, wie wir denn auch bei Kant<br />

selbst eine Reihe verschiedener Interpretationen antreffen.<br />

Aber unbeschadet <strong>der</strong> möglichen Verschiedenheit <strong>der</strong> Formulierungen<br />

und Richtungen <strong>der</strong> Interpretation, so meinen sie

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