Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung ... - gesamtausgabe
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12 Vorbetrachtung der Freiheit, etwa als Unabhängigkeit genommen, ebenso auf die Beziehungsglieder eingehen muß? Offenbar, wie sollen wir anders die Unabhängigkeit feststellen, sie ist doch nirgends für sich als freischwebende Beziehung gegeben, sondern eben entsprechend gegeben: im Eingehen auf den Menschen als das eine Beziehungsglied und Welt als das andere finden wir sie. Aber wollen wir denn die Unabhängigkeit (Freiheit) feststellen? Können wir das? Weder das eine noch das andere. Wir handeln nicht so ohnehin von der menschlichen Freiheit, sondern vom Wesen der menschlichen Freiheit. Vom Wesen der Freiheit? Zur Wesenserhellung gehört ein Dreifaches: 1. Wassein, was sie (die Freiheit) als solche ist. 2. Wie dieses Wassein in sich möglich ist. 3. Wo der Grund dieser Möglichkeit liegt. 3 Wir handeln also vom Wesen einer Bf'ziehung. Wir wollen eine solche nicht hier und dort als Tatsache feststellen und beweisen. Selbst wenn das ginge, müßten wir zuvor wissen, was das ist, was da festgestellt werden will und soll. Wenn wir eine Beziehung in ihrem Wesen betrachten, müssen wir dann auch wie bei einer Feststellung auf die Beziehungsglieder eingehen? Wenn wir etwa vom Wesen der >Ungleichheit< handeln, müssen wir dann auf diese Tafel und auf diese Lampe eingehen? Oder müssen wir außer diesen noch andere Ungleichheiten (Haus und Baum, Dreieck und Mond, und dgl.) feststellen? Offenbar nicht. Um das Wesen der Ungleichheit zu erfassen, ist es gleichgültig, welche bestimmte Ungleichheit zwischen welchen bestimmten ungleichen Seienden wir dabei beispielshalber im Auge haben. Andererseits müssen wir doch Beziehungsglieder im Auge haben, wir können nicht davon absehen. Wenn wir also das Wesen einer Beziehung umgrenzen, sind wir zwar nicht wie bei der Feststellung einer bestimmten vorhandenen Beziehung zwischen bestimmten Vorhandenen gezwungen, auf diese bestimmten Beziehungsglieder einzugehen, aber wir müssen gerade die Beziehungsglieder als solche ins Auge § 1. Der scheinbare Widerspruch 13 fassen. Ob sie faktisch gerade so oder anders beschaffen sind, ist beliebig. Beliebigkeit des jeweiligen Sachgehalts der Beziehungsglieder heißt nicht, daß es ins Belieben gestellt ist, sie in der Wesensklärung der Bezogenheit als solcher unbeachtet zu lassen oder nicht. Versuchen wir das, soweit es geht, auf unser Problem anzuwenden. In der Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit fragen wir, solange wir den negativen Begriff zugrunde legen, nach dem Wesen der Unabhängigkeit des Menschen von Welt und Gott. Wir wollen nicht feststellen, ob und daß dieser oder jener Mensch unabhängig sei von dieser oder jener Welt, diesem oder jenem Gott, sondern wir suchen das Wesen der Unabhängigkeit des Menschen als solchen von Welt und Gott als solchen. Gerade wenn wir das Wesen dieser Beziehung, dieser Unabhängigkeit erfassen wollen, müssen wir nach dem Wesen des Menschen ebenso wie nach dem Wesen der Welt und Gottes fragen. Ob und wie ein solches Fragen durchführbar ist, bleibt einer kommenden Erörterung vorbehalten. Wir entnehmen aus der jetzigen Überlegung nur soviel: Daraus, daß die Unabhängigkeit als negative Beziehung gleichsam sich losmacht und weghält von dem, wovon sie Unabhängigkeit ist, folgt nicht, daß die Wesensbetrachtung der Unabhängigkeit gleichfalls sich freimachen kann von der Betrachtung dessen, wovon die Unabhängigkeit eine solche ist. Vielmehr folgt das Umgekehrte: Weil die Unabhängigkeit von ... eine Beziehung ist und zu ihr als solcher die Bezogenheit auf Welt und Gott gehört, gerade deshalb muß auch dieses Wovon der Unabhängigkeit in Betracht gezogen, ins Thema miteingestellt werden. Kurz: was vom Wesensgehalt der Beziehung gilt, ein weg-von ... zu sein, das gilt nicht von der Wesensbetrachtung der Beziehung. 3 V gl. unten S. 178 ff., über Wesensanalyse und Analytik.
14 Vorbetrachtung d) Philosophie als Offenbarmachen des Ganzen im Durchgang durch wirklich gefaßte einzelne Probleme Mit der Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit wird also von vornherein ständig das Ganze des Seienden Thema, Welt und Gott, und nicht nur die Grenze. Wohl ist die Frage nach dem Wesen der Freiheit eine andere als die nach dem Wesen der Wahrheit, und doch ist sie keine Sonderfrage, sondern geht ins Ganze. Und vielleicht gilt das auch von der Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Das sagt aber: Jede philosophische Frage fragt ins Ganze. Und so dürfen wir, ja müssen wir am Leitfaden der Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit eine wirkliche Einleitung in die Philosophie als Ganzes wagen. Allerdings, ein Mangel bleibt auch so zurück. Wenngleich das Problem der Freiheit das Ganze der Philosophie vor Augen legen wird, so geschieht es doch in einer besonderen Perspektive, eben der der Freiheit und nicht z. B. der Wahrheit. Das Ganze der Philosophie zeigt sich in unserer Einleitung gleichsam in einer ganz bestimmten Verlagerung. Wählten wir etwa das Problem der Wahrheit, wie das in einer früheren Einleitung geschehen ist4, dann zeigt sich das Ganze der Philosophie in einer anderen Lagerung und Verwobenheit der Probleme. Das wirkliche Ganze der Philosophie wäre also erst gefaßt, wenn wir das mögliche Ganze aller möglichen Fragen und ihrer Perspektiven behandeln würden und könnten. Wie wir uns auch drehen und wenden, das eine können wir doch nicht abschütteln, daß die Einleitung in die Philosophie am Leitfaden des Freiheitsproblems eine besondere und vereinzelte Orientierung nimmt. Am Ende ist dies kein Mangel und bedarf noch weniger einer Entschuldigung durch die Zuflucht zur Gebrechlichkeit alles menschlichen Tuns. Vielleicht beruht darin gerade die Stärke und Schlagkraft des Philosophierens, daß es das Ganze nur im wirklich gefaßten einzelnen Problem offenbar 4 Einleitung in die Philosophie, Freiburger Vorlesung WS 1928/29. § 1. Der scheinbare Widerspruch 15 macht. Vielleicht ist jenes beliebte Verfahren, das alles, was es an philosophischen Fragen gibt, in irgend einen Rahmen zusammenpackt und dementsprechend von allem und jedem redet, ohne wirklich zu fragen, das Gegenteil einer Einleitung in die Philosophie, d. h. ein Schein von Philosophie, Sophistik. 5 ;; Vgl. Aristoteles, Metaphysik (Christ). Leipzig 1886. r 2, 1004 b 17 f. und b 26.
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14 Vorbetrachtung<br />
d) Philosophie als Offenbarmachen des Ganzen im<br />
Durchgang durch wirklich gefaßte einzelne Probleme<br />
Mit <strong>der</strong> Frage nach dem <strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> <strong>menschlichen</strong> <strong>Freiheit</strong> wird<br />
also von vornherein ständig das Ganze des Seienden Thema,<br />
Welt und Gott, und nicht nur die Grenze. Wohl ist die Frage<br />
nach dem <strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> eine an<strong>der</strong>e als die nach dem <strong>Wesen</strong><br />
<strong>der</strong> Wahrheit, und doch ist sie keine Son<strong>der</strong>frage, son<strong>der</strong>n geht<br />
ins Ganze. Und vielleicht gilt das auch von <strong>der</strong> Frage nach dem<br />
<strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> Wahrheit. Das sagt aber: Jede philosophische Frage<br />
fragt ins Ganze. Und so dürfen wir, ja müssen wir am Leitfaden<br />
<strong>der</strong> Frage nach dem <strong>Wesen</strong> <strong>der</strong> <strong>menschlichen</strong> <strong>Freiheit</strong> eine wirkliche<br />
<strong>Einleitung</strong> in die Philosophie als Ganzes wagen.<br />
Allerdings, ein Mangel bleibt auch so zurück. Wenngleich das<br />
Problem <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> das Ganze <strong>der</strong> Philosophie vor Augen legen<br />
wird, so geschieht es doch in einer beson<strong>der</strong>en Perspektive,<br />
eben <strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Freiheit</strong> und nicht z. B. <strong>der</strong> Wahrheit. Das Ganze<br />
<strong>der</strong> Philosophie zeigt sich in unserer <strong>Einleitung</strong> gleichsam in einer<br />
ganz bestimmten Verlagerung. Wählten wir etwa das Problem<br />
<strong>der</strong> Wahrheit, wie das in einer früheren <strong>Einleitung</strong> geschehen<br />
ist4, dann zeigt sich das Ganze <strong>der</strong> Philosophie in einer<br />
an<strong>der</strong>en Lagerung und Verwobenheit <strong>der</strong> Probleme. Das wirkliche<br />
Ganze <strong>der</strong> Philosophie wäre also erst gefaßt, wenn wir das<br />
mögliche Ganze aller möglichen Fragen und ihrer Perspektiven<br />
behandeln würden und könnten.<br />
Wie wir uns auch drehen und wenden, das eine können wir<br />
doch nicht abschütteln, daß die <strong>Einleitung</strong> in die Philosophie am<br />
Leitfaden des <strong>Freiheit</strong>sproblems eine beson<strong>der</strong>e und vereinzelte<br />
Orientierung nimmt. Am Ende ist dies kein Mangel und bedarf<br />
noch weniger einer Entschuldigung durch die Zuflucht zur Gebrechlichkeit<br />
alles <strong>menschlichen</strong> Tuns. Vielleicht beruht darin gerade<br />
die Stärke und Schlagkraft des Philosophierens, daß es das<br />
Ganze nur im wirklich gefaßten einzelnen Problem offenbar<br />
4 <strong>Einleitung</strong> in die Philosophie, Freiburger Vorlesung WS 1928/29.<br />
§ 1. Der scheinbare Wi<strong>der</strong>spruch 15<br />
macht. Vielleicht ist jenes beliebte Verfahren, das alles, was es<br />
an philosophischen Fragen gibt, in irgend einen Rahmen zusammenpackt<br />
und dementsprechend von allem und jedem redet,<br />
ohne wirklich zu fragen, das Gegenteil einer <strong>Einleitung</strong> in die<br />
Philosophie, d. h. ein Schein von Philosophie, Sophistik. 5<br />
;; Vgl. Aristoteles, Metaphysik (Christ). Leipzig 1886. r 2, 1004 b 17 f.<br />
und b 26.