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„Das Weib ist schicklich gebohren zu gefallen, zu empfangen, zu ...

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Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kuhurblid der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

<strong>„Das</strong> <strong>Weib</strong> <strong>ist</strong> <strong>schicklich</strong> <strong>gebohren</strong> <strong>zu</strong> <strong>gefallen</strong>, <strong>zu</strong> <strong>empfangen</strong>,<br />

<strong>zu</strong> tragen, <strong>zu</strong> ernähren, <strong>zu</strong> bewahren, <strong>zu</strong> gebähren, und <strong>zu</strong><br />

besorgen."48<br />

In dieser Aussage sind alle Komponenten einer Funktionalisierung<br />

des weiblichen Körpers enthalten: Die direkte Verknüpfung gesellschaftlich<br />

erwünschter Aufgaben (einer bürgerlichen Frau) mit der<br />

vermeintlich biologischen Determination des weiblichen Körpers und<br />

eine gezielt wirkende Absicht der Natur.<br />

Ackermann widmete der Untersuchung der geschlechtsgebundenen<br />

Anatomie auf Anraten Soemmerrings eine eigene Arbeit und<br />

berücksichtigte dabei insbesondere noch nicht bearbeitete Bereiche.<br />

Er sieht, neben anderen Unterschieden wie feineren Nervenfaszikeln,<br />

weicherem, schlafferem Zellgewebe, weniger starken Muskeln und<br />

einem Überfluß an Fett, entsprechend der natürlichen Bestimmung<br />

den auffallendsten Unterschied <strong>zu</strong>m Mann im weiblichen Becken,<br />

weil dies <strong>zu</strong>m „...ganz eigenthümlichen Geschäfte des weiblichen<br />

Geschlechtes unmittelbar von der Natur bestimmt <strong>ist</strong>".49 Dieser<br />

Unterschied findet seine Fortset<strong>zu</strong>ng an der äußeren Form:<br />

Das anatomische Gestaltsmerkmal der gewölbten Männerbrust<br />

beschreibt Soemmerring mit den Worten:<br />

„... der Thorax hingegen beym männlichen (Geschlecht, d. V.)<br />

in gerader Stellung hervorragt, oder in der Horizontallage des<br />

Körpers höher <strong>ist</strong>."51<br />

Diese neutral und sachlich gehaltene Beschreibung wird verständlicher,<br />

wenn sie in den Zusammenhang mit weiteren Aussagen Soemmerrings<br />

gebracht wird:<br />

„Auch finde ich, daß die gemeiniglich bei wohlgebauten männlichen<br />

Personen, welche auf einer horizontalen Fläche ausgestreckt<br />

liegen, die Brust merklich höher, als der Schluß der<br />

Schambeine sich erhebt; bei weiblichen Personen hingegen <strong>ist</strong><br />

die Brust nicht höher, als der Schluß der Schambeine, wohl gar<br />

bisweilen etwas niedriger. Alles dieses wird man auch bei Vergieichung<br />

der schönsten männlichen und weiblichen antiken<br />

Statuen, nicht ohne Vergnügen, bestätigt sehen."52<br />

„Der Hintern <strong>ist</strong> bei dem weiblichen Geschlechte von einem<br />

viel größeren Umfange und verliehrt sich auch in dickere<br />

Schenkel."<br />

Dem typisch weiblichen steht der typisch männliche Habitus gegenüber.<br />

Ein Pendant <strong>zu</strong>m weiblichen Becken bildet der männliche<br />

Brustkorb:<br />

„Die knöcherne Brust <strong>ist</strong> groß, geräumig, und gewölbter ...,<br />

die Schultern sind breit, männlich und stark."50<br />

In der gleichen Schrift, in der er diese Ausführungen über die Größenverhältnisse<br />

des männlichen und weiblichen Brustkorbs <strong>zu</strong> den<br />

Schambeinen macht, gibt er ein Zitat wieder, in dem sein Freund<br />

Heinse die Gestalt der Venus beschreibt. Der folgende Abschnitt aus<br />

diesem Zitat macht ersichtlich, aus welchem Blickwinkel Soemmerring<br />

diese Messung der Größenverhältnisse vorgenommen hat:<br />

„... der Unterleib hat zwei zarte Einwölbungen, bis wo die<br />

Höhen der Freuden sich heben; der Leib <strong>ist</strong> die frischeste kernigste<br />

Wollust."53<br />

48 Albin (wie Anm. 35) S. 198.<br />

49 Ackermann (wie Anm. 26) S. 85, das folgende Zitat S. 10.<br />

50 Soemmerring (wie Anm. 13 u. 11) S. 33. - In einer Aufklärungsschrift (J. F. Albrecht:<br />

Heimlichkeiten der Frauenzimmer. Quedlinburg und Leipzig '1851, S.52) wird heiratswilligen<br />

Damen geraten, bei der Gattenwahl u. a. auch auf eine gewölbte Brust und<br />

breite Schultern <strong>zu</strong> achten, um damit günstige Vorausset<strong>zu</strong>ngen für gesunde Nachkommen<br />

<strong>zu</strong> schaffen.<br />

Die gewölbte Männerbrust, das weibliche Becken und im geschilderten<br />

Fall auch die den weiblichen Unterleib formenden Schambeine<br />

sind Funktionsmerkmale, die das Kennzeichen männlich oder weib-<br />

51 Soemmerring (wie Anm. 19) Th. 1, Knochenlehre, S. 83.<br />

52 Soemmerring (wie Anm. 41) S. 45.<br />

55 Ehd.S.9.<br />

772<br />

773


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

lieh tragen. So kann es nicht als ein Zufall angesehen werden, wenn<br />

Soemmerring die Höhe der weiblichen Schambeine am liegenden<br />

Körper ins Verhältnis <strong>zu</strong> den entsprechenden Maßen des Mannes<br />

setzt. Auch wenn die folgende Interpretation nur eine mögliche unter<br />

anderen <strong>ist</strong>, liegt doch die Vermutung nahe, daß Soemmerrings<br />

Betrachtungsweise im Fall dieser Proportionsuntersuchungen von<br />

dem Prinzip geleitet war, nach dem djer_F^dzweckjJyer_dji;^rjy^kkung<br />

der (männlichen),,Wo//Kst~durund~mehr noch die Eignung desselben für die<br />

Geburtstunktion im Vordergrund der Darstellungen. Entsprechend<br />

direkt oder indirekt werden diese Körperteile mit den vermeintlich<br />

typisch weiblichen Funktionen in Verbindung gebracht und im Hinblick<br />

auf diese Bestimmung ausgewählt und beschrieben. Analog dieser<br />

Funktionalisierung des weiblichen Körpers handelt es sich bei der<br />

Verwendung der Begriffe <strong>zu</strong>r Merkmalsbeschreibung auch nicht um<br />

wertfreie Bezeichnungen. Sie müssen, um den Endzweck (der ja<br />

bereits feststeht) <strong>zu</strong> repräsentieren, dessen Wesensart aus<strong>zu</strong>drücken<br />

geeignet sein.<br />

Es erscheint bemerkenswert, daß <strong>zu</strong>r Beschreibung des <strong>Weib</strong>lichen<br />

einige immer wiederkehrende Eigenschaften dargestellt und benannt<br />

werden, daß aber das <strong>Weib</strong>liche mehr <strong>ist</strong> als die Summe dieser Eigenschaften.<br />

Die folgenden Aussagen von Soemmerring und Ackermann<br />

zeigen, daß in der Vorstellung der Anatomen noch etwas vorhanden<br />

<strong>ist</strong>, das sie selbst nicht aus<strong>zu</strong>drücken in der Lage sind, weil es nur als<br />

Empfindung ex<strong>ist</strong>ent <strong>ist</strong>: Die weiblichen Knochen hätten überhaupt<br />

so „etwas weibliches, was sich schwer beschreiben läßt".54 Für Ackermann<br />

birgt der Begriff weiblich so viel eigenständige Aussagekraft,<br />

daß er in stiller Übereinkunft mit seinen Lesern voraussetzt, diesen<br />

sei bekannt, was der Inhalt des <strong>Weib</strong>lichen <strong>ist</strong>:<br />

54 Soemmerring (wie Anm. 19) Th. 1, S. 85.<br />

774<br />

„Man trifft sie (die Unterschiede <strong>zu</strong>m weibl. Becken, d. V.)<br />

nämlich in denjenigen Körper vereint an, welche in allen ihren<br />

Theilen ganz weiblich gebaut sind."55<br />

Neben diesen, dem Bedürfnis der Funktions<strong>zu</strong>weisung<br />

entspringenden<br />

Motiven, <strong>ist</strong> die Auswahl der Attribute auch in arbeitstechnischen<br />

Vorgängen begründet.<br />

Soemmerring war in seinen Abbildungen und seinen Arbeiten<br />

immer bemüht, seine Objekte nach der Natur und lebenden Vorbildern56<br />

wieder<strong>zu</strong>geben. Er hatte dabei mit der Schwierigkeit <strong>zu</strong> kämpfen,<br />

daß eine Vielzahl seiner Objekte durch die Konservierung bzw.<br />

durch die Präparation u. a. Arbeitsprozesse ganz erhebliche Einbußen<br />

an Form und ursprünglichem Aussehen erlitten. Wenn Soemmerring<br />

(wie andere Anatomen) also mit stereotyper Wiederholung Knochen<br />

als glatt, schön und besonders fein bezeichnet, so <strong>ist</strong> dies teilweise<br />

auch als Ausdruck des Stolzes über eine gut gelungene Konservierungsarbeit<br />

<strong>zu</strong> verstehen. Diese Verbindung der Merkmalsbezeichnungen<br />

mit arbeitstechnischen Vorgängen we<strong>ist</strong> auf einen Unterschied<br />

in der Bewertung dessen, was als schön, anmutig oder graziös<br />

galt. Das Ausgangsmaterial (Knochen oder Skelett) konnte zwar als<br />

schön angesehen werden, doch diese Eigenschaft genügte nicht, die<br />

Vollkommenheit des weiblichen Körpers, den idealtypischen weiblichen<br />

Gesamthabitus dar<strong>zu</strong>stellen. Es bedurfte noch des Ausdrucks,<br />

der durch die Verinnerlichung der weiblichen Tugenden erreicht<br />

wurde und sich im weiblichen Körper widerspiegelte.<br />

Insgesamt orientiert sich die Beschreibung der weiblichen Anatomie<br />

nicht am Gattungswesen Mensch, sondern an der männlichen<br />

Anatomie, <strong>zu</strong> der alle Merkmale in Beziehung gesetzt werden. Da die<br />

Parameter für Männlichkeit aus Begriffen wie stark, groß, grob, kräftig,<br />

fest etc. gebildet werden, erscheint die weibliche Anatomie im<br />

Vergleich hier<strong>zu</strong> zwangsläufig als unvollkommen, weil alles weit klei-<br />

55 Ackermann (wie Anm. 26) S. 85.<br />

56 Sam. Thom. Soemmerring: Abbildungen des menschlichen Auges, Frankfurt a.M.<br />

1801, Erklärung <strong>zu</strong>r Tafel 1: „Weil aber ein Lehrer der Zergliederungskunst bey allen<br />

seinen Bemühungen <strong>zu</strong>m nie <strong>zu</strong> vergessenden Grundsatz haben sollte, den Zustand der<br />

Theile des menschlichen Körpers, in den Darzeigungen, Beschreibungen und Abbildungen,<br />

so <strong>zu</strong> schildern, wie er im Leben statt findet; so schien es mir auch notwendig,<br />

alle diese Abbildungen nur nach lebenden Personen nehmen <strong>zu</strong> lassen."<br />

775


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

ner, weicher, schwächer, dünner, zarter etc. <strong>ist</strong>,'wie dies die Anatomen<br />

üblicherweise ausdrücken.<br />

3.3 Körperliche Unvollkommenheit<br />

Indizien für geschlechtsgebundene Unterschiede glaubt Soemmerring<br />

auch im weiblichen Skelettsystem gefunden <strong>zu</strong> haben. Angeregt<br />

durch P. Camper, von dem Soemmerring auf seiner Bildungsreise<br />

1778/1779 zahlreiche Impulse erhalten hatte, machte Soemmerring<br />

die Proportionen des menschlichen Körpers <strong>zu</strong>m Untersuchungsgegenstand.<br />

Diese Studien und seine Ausführungen über Nervenleiden,<br />

zeigen das besondere Interesse, das er jenen Körperteilen entgegenbrachte,<br />

die einen unmittelbaren Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> den ge<strong>ist</strong>igen Fähigkeiten<br />

aufweisen. Auch in diesen Untersuchungen war es das Anliegen,<br />

Unterschiede zwischen den Geschlechtern und vor allem den Grad<br />

der körperlichen Vollkommenheit <strong>zu</strong> erkunden.<br />

Schädel <strong>zu</strong>m Körper bei der Frau größer <strong>ist</strong> als das beim Mann, müßte ^u.,,<br />

in Analogie <strong>zu</strong>r Theorie beim Neger (Relation von frei verfügbarer<br />

fjt*t<br />

Hirnmasse <strong>zu</strong> Nervendicke) bei der Frau mehr Raum für die ge<strong>ist</strong>igen ->><br />

Fähigkeiten <strong>zu</strong>r Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang <strong>ist</strong> 'foifi<br />

wichtig, daß Soemmerring auch die absolute Größe des weiblichen -<br />

Schädels mit der des männlichen Schädels vergleicht. Er kommt <strong>zu</strong> 4?&~J/<br />

dem Schluß, daß der weibliche Schädel im Verhältnis <strong>zu</strong>m Skelett ^<br />

zwar größer, die absolute Größe des weiblichen Schädels jedoch<br />

geringer <strong>ist</strong>, als die eines männlichen Schädels. Dann setzt er die<br />

Größe des Gesichtsschädels als weitere Vergleichskomponente ins<br />

Verhältnis <strong>zu</strong>r Größe des übrigen Schädels. Dabei gelangt er <strong>zu</strong> folgendem<br />

Ergebnis:<br />

weil „...am weiblichen Kopf das Hirn fassende Theil im Verhältnis<br />

<strong>zu</strong>m Antlitz größer <strong>ist</strong>, als am männlichen, so hebt sich<br />

dieser Unterschied wieder".58<br />

rfy<br />

C^A<br />

!.'''<br />

3.4 Kindnähe<br />

Hier<strong>zu</strong> verglich er die Größenverhältnisse des Schädels <strong>zu</strong>m Körper<br />

bei einem männlichen und bei einem weiblichen Skelett.57 Dabei<br />

stellte er fest, daß der Schädel des weiblichen Skeletts im Verhältnis<br />

übrigen Körper größer <strong>ist</strong> als der Schädel eines männlichen Skeletts<br />

<strong>zu</strong>m übrigen Körper. Entsprechende Proportionen findet Soemmerring<br />

am kindlichen Skelett. Der relativ große weibliche Schädel<br />

des weiblichen Skeletts wird von Soemmerring als Indiz für die Kindnähe<br />

des weiblichen Körperbaus interpretiert. Diese Kindnähe deutet<br />

er ebenfalls in anderen Arbeiten an, so z. B. bezüglich der Beschaffenheit<br />

und Funktion des weiblichen Gehirns, und in einem Vortrag, der<br />

am Ende dieses Abschnitts erörtert werden soll.<br />

p yfum<br />

Es <strong>ist</strong> <strong>zu</strong> fragen, warum Soemmerring seine Theorie, die er bei der<br />

anatomischen Untersuchung der Schwarzen entwickelt hat, nicht<br />

auch in diesem Fall anwendet. Bei der vergleichenden Untersuchung<br />

von Neger und Europäer folgerte er, daß dickere Nerven für die<br />

relativ stärker entwickelten körperlichen Kräfte weniger Raum<br />

(Hirnmasse) für ge<strong>ist</strong>ige Fähigkeiten ließen. Da das Verhältnis vom<br />

Obwohl Soemmerring ermittelt hat, daß bei der Frau andere Proportionen<br />

vorliegen als beim Mann, wählt er diesen trotzdem <strong>zu</strong>m absoluten<br />

Vergleichsmaßstab. Sorgfältig, wie es Soemmerrings Arbeitsweise<br />

entspricht, vergleicht er noch die Größe der Gesichtsschädel<br />

und damit die des Gehirnraumes. Wäre hier ein Unterschied <strong>zu</strong> verzeichnen<br />

gewesen, hätte er diesen vermudich benannt und hervorgehoben.<br />

Wie er festgestellt hat (s. o.), besteht aufgrund des kleineren<br />

Gesichtsschädels der Frau aber kein Größenunterschied zwischen<br />

Mann und Frau im gehirnfassenden Teil des Kopfes. Dieses Ergebnis<br />

wird von Soemmerring bemerkenswerterweise nicht weiter diskutiert.<br />

Ist die Tatsache, daß er die absolute Schädelgröße betrachtet, ein<br />

Hinweis darauf, daß er versucht, eine Interpretation im obigen Sinne<br />

(größerer Gehirnraum der Frau und damit auch mehr frei verfügbare<br />

Hirnmasse und die Möglichkeit größerer ge<strong>ist</strong>iger Kapazität) bewußt<br />

oder unbewußt <strong>zu</strong> umgehen oder gar <strong>zu</strong> widerlegen?<br />

Bezüglich der Vorausset<strong>zu</strong>ng für ge<strong>ist</strong>ige Anlagen sieht Soemmerring<br />

also keine gravierenden geschlechtsgebundenen Unterschiede.<br />

Die Schwäche der Frau war nach seiner Uberzeugung vielmehr in<br />

einer unvollkommenen Entwicklung (Kindnähe) und wie die unten<br />

Soemmerring (wie Anm. 19) Hirn- und Nervenlehre, S. 20.<br />

58 Ebd.<br />

776<br />

777


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

folgenden Beispiele noch zeigen werden, in einer gewissen Anfälligkeit<br />

für Krankheiten begründet.<br />

3.5 <strong>Weib</strong>liche Physiognomie59<br />

Soemmerrings Kinderkopf-Zeichnungen sind ein Beispiel dafür, wie<br />

das Sehen des Forschenden durch vorhandene Deutungsmuster, in<br />

diesem Falle Kindnähe, geprägt wurde. In einem Vortrag vor der<br />

Kasseler Antiken-Gesellschaft (1779) am Hof des Landgrafen (Friedrich<br />

II.) stellte Soemmerring anhand einer Proportionsstudie Konstruktionshilfen<br />

(den von Camper entwickelten Gesichtswinkel) und<br />

eine von ihm entwickelte Methode vor, mithilfe eines Ovals (quervorliegend<br />

statt bisher aufrecht) dem griechischen Ideal entsprechende<br />

schöne Kinderköpfe <strong>zu</strong> zeichnen. Hier<strong>zu</strong> hatte er drei natürliche<br />

Schädelumrisse im Senkrechtschnitt gezeichnet, anhand derer er seine<br />

Zeichenmethode erläuterte. Nachdem er seine Vorgehensweise ausführlich<br />

begründete, wies er darauf hin, daß bereits in diesem frühen<br />

Alter (es handelte sich um Schädel von 4—6 Monate alten Mädchen),<br />

die „Verschiedenheit der Physiognomien"40 und das Unschuldige<br />

eines Kindergesichtes <strong>zu</strong>m Ausdruck komme. Anschließend<br />

bemerkte er:<br />

„Es verräth sich besonders in der ersten, und 2ttn Figur, wenn<br />

ich mich nicht sehr irre, im ganzen das weibliche/schwache<br />

Selbst schon in diesen Kindergesichtern."61<br />

Soemmerring folgte in dieser Interpretation der im 18. Jh. weit verbreiteten<br />

Vorstellung, daß sich Wesenseigenschaften im Gesicht des<br />

Menschen abbildeten. Er glaubte, im Habitus eines Kinderkopfes<br />

(s. Abbildung 2) stelle sich bereits das weibliche Schwache dar. Eine<br />

Begründung hierfür gab er nicht an. Eine wesentliche Ubereinstimmung<br />

von Kindhaftigkeit und Schwäche könnte für Soemmerring<br />

59 Physiognomie: die Lehre, von den Gesichtszügen auf seelische Eigenschaften eines<br />

Menschen schließen <strong>zu</strong> können.<br />

60 Es handelt sich um ein unveröffentlichtes Manuskript Soemmerrings. Der Vortrag<br />

wurde im Dezember 1779 vor der Kassler Societe des Antiquites gehalten (Bestand der<br />

Murhardschen Bibliothek Kassel).<br />

*' Ebd.<br />

778


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

vermutlich darin bestanden haben, daß der Gesichtsschädel im Verhältnis<br />

<strong>zu</strong>m gehirnfassenden Teil des Kopfes kleiner als beim Mann<br />

<strong>ist</strong> (Kindschema). Die Tatsache, daß Soemmerring diese Aussage<br />

während eines Vortrages machte, der inhaltlich nur vom kunstanatomischen<br />

Zeichnen handelte und diese Äußerung über eine von ihm<br />

selbst verfertigte Zeichnung geschieht, macht deutlich, wie präsent<br />

die Assoziation <strong>Weib</strong>-Kind in der Vorstellung der Anatomen war.<br />

3.6 <strong>Weib</strong>liches Organisationsprinzip<br />

Jörg und Soemmerring befaßten sich u. a. mit der Frage, welche Ursachen<br />

weiblichen Gesundheitsstörungen (z.B. den Nervenleiden)<br />

<strong>zu</strong>grundeliegen. Sie finden hierfür verschiedene Ursachen, die jedoch<br />

den Aspekt des typisch <strong>Weib</strong>lichen gemeinsam haben. D. Rink, der<br />

Moreaus „Naturgeschichte des <strong>Weib</strong>es" (1810) aus dem Französischen<br />

übersetzte und bearbeitete, schilderte in der Vorrede die<br />

Absicht des Werkes u. a. mit den Worten:<br />

„...<strong>zu</strong>r Erhaltung und <strong>zu</strong>m Wohl eines Geschlechts, dessen<br />

ganzes Leben eine Kette von Revolutionen und oft gar traurigen<br />

Krisen <strong>ist</strong>, die Fysiologie und Gesundheitslehre in Anwendung<br />

(<strong>zu</strong>) bringen".62<br />

Rinks Aussage impliziert, das weibliche Geschlecht bedürfe schon<br />

deshalb medizinischer Betreuung, weil es bereits von Natur aus ständiger<br />

gesundheitlicher Gefährdung ausgesetzt sei. Mit dieser Aussage<br />

gibt Rink vor, (nicht weniger als) die gesamte Lebenswirklichkeit der<br />

Frau <strong>zu</strong> erfassen. Soemmerring beschreibt in einer Arbeit über die<br />

Nerven (1811)63 eine mögliche Ursache solcher Gesundheitsstörungen.<br />

Er diskutiert die Auffassung und äußert Zweifel daran, daß die<br />

die Menstruation begleitenden Schmerzen nur durch den Druck der<br />

Arterien auf die in der Nähe verlaufenden Nerven herrührten, sondern<br />

glaubt, daß dies<br />

62 J. L. Moreau: Naturgeschichte des <strong>Weib</strong>es. Ein Handbuch für Aerzte und gebildete<br />

Leser und Leserinnen aus allen Klassen. Nach Moreau bearbeitet von D. Rink und<br />

J. K. Fr. Leine, 4 Bände, Leipzig 1810, Vorrede, 1. Bd.<br />

° Sam. Thom. Soemmerring: Über den Saft welcher aus den Nerven wieder eingesaugt<br />

wird, Landshut 1811.<br />

780<br />

„... vielmehr von einer Störung in den Geschäften der Arterien<br />

dieser Nerven-Stämme z. B. von einer vorübergehenden leichten<br />

Entzündung derselben (?)"M<br />

verursacht würden. Derart gestörte Resorptionsvorgänge (des nervei<br />

Fluidi) veranlassen nach Soemmerrings Ansicht „empfindliche Störungen<br />

im Nervensystem" des gesamten Körpers.65 Während Soemmerring<br />

einen ähnlichen Störurigsmechanismus (Entzündung der nervenbegleitenden<br />

Arterien) bei Zahnschmerzen, Hypochondrie und<br />

Hämorrhoiden vermutet, spricht er in diesen Fällen von einer lokalen<br />

Reaktion bzw. Störung. Demgegenüber nimmt er im Falle der Menstruationsbeschwerden<br />

an, das gesamte Nervensystem sei in Mitleidenschaft<br />

gezogen. Aus der Beschreibung dieser Sachverhalte geht<br />

nicht hervor, weswegen im ersten Fall (Zahnschmerzen etc.) nur eine<br />

lokale begrenzte Reaktion und im zweiten Fall (Menstruation) eine<br />

Allgemeinreaktion <strong>zu</strong> erwarten sei. Damit sieht Soemmerring in der<br />

Menstruation einen möglichen und zyklisch wiederkehrenden Auslöser<br />

für ein spezifisches Frauenleiden, die Anfälligkeit des Nervensystems.<br />

In weiteren Aussagen bestätigt Soemmerring diese Ansicht, daß<br />

Frauen allgemein stärker den Nervenleiden ausgesetzt seien als Män-<br />

•ner. Er stützt sich dabei auf eine (ca. 50 Jahre alte) Arbeit eines Arztes<br />

(de la Sone, 1756), der durch Versuche nachgewiesen habe, daß Frauenzimmer<br />

zartere Arterienhäute besäßen als Männer. Diese Tatsache<br />

dient Soemmerring <strong>zu</strong> folgender Übertragung:<br />

"... so <strong>ist</strong>s begreiflich, daß wenn sich, wie <strong>zu</strong> vermuthen <strong>ist</strong>, die<br />

" Zartheit auch auf die feinsten Arterien erstreckt, sich die Secretion<br />

des Fluidi nervei leichter bey ihnen als bey Männern stören,<br />

und somit sie mehr den Nervenleiden ausgesetzt seyn<br />

läßt."66<br />

Diese Aussage zeigt, daß Soemmerring von dem von allen Anatomen<br />

seiner Zeit so hoch geschätzten Prinzip, nur selbst gewonnene Erfah-<br />

M Ebd. S. 134 f.<br />

65 Ebd.<br />

M Ebd. S. 140.<br />

781


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

rungen und Beobachtungen <strong>zu</strong> verwenden, dann abweicht, wenn sich<br />

vorliegende Arbeitsergebnisse mit den eigenen Ansichten decken. Er<br />

verwendet nämlich nicht nur fremde Arbeitsergebnisse, sondern<br />

überträgt diese, per Vermutung, auch auf die feinsten Arterien. Eine<br />

ebensolche Verallgemeinerung macht Soemmerring auch im Hinblick<br />

auf die Reizbarkeit der Frau. Er nimmt an, ein bestimmtes Maß körperlicher<br />

Schwächung (z.B. durch Blutverlust und Abführungen)<br />

erhöhe die Reizbarkeit der Muskeln. Daraus folgert er:<br />

„Wegen des schwächeren Körperbaus <strong>ist</strong> daher das weibliche<br />

Geschlecht auch me<strong>ist</strong> reizbarer, als die Männer."67<br />

In diesen Äußerungen kommt eine zwiespältige Haltung Soemmerrings<br />

<strong>zu</strong>m Ausdruck. Während er (u.a. Anatomen) das Organisationsprinzip<br />

des Geburtsapparates in durchaus positivem Sinne<br />

behandelt und bewertet, deutet er die damit <strong>zu</strong>sammenhängenden<br />

Funktionen als äußerst störanfällig. In diesem Konflikt wird eine<br />

verbreitete Ansicht wirksam, auf die die Anatomen, weil sie am<br />

Rande oder außerhalb ihrer durch das Skalpell ergründbaren Materie<br />

liegt, in der Regel nicht weiter eingehen. Dennoch gewinnt die<br />

Ansicht, daß die spezifisch weibliche Konstitution besonderen Einfluß<br />

auf die psychischen Funktionen ausübe, Eingang in die anatomischen<br />

Beschreibungen.<br />

In Jörgs Ausführungen schwindet der positive Aspekt einer natürlicherweise<br />

vollkommenen anatomischen Einrichtung des Geburtsapparates.<br />

Auf pathologische Auswirkungen fixiert,68 sieht er in der<br />

Geburtseinrichtung, analog <strong>zu</strong>m gesamten weiblichen Körper, nur<br />

eine zweitklassige Version, eine unvollkommene Ausgabe eines Menschen<br />

(der in seiner Vorstellung in erster Linie immer noch durch den<br />

Mann repräsentiert wird):<br />

„Da aber der männliche Körper an und für sich vollkommener,<br />

einfacher und beständiger gebaut, da er mit einer unvollkommenen<br />

Geschlechtsvorrichtung, wie die Menstruation, nicht<br />

versehen, sondern nur mit der Bereitung des Sperma's begabt<br />

worden <strong>ist</strong>,... da seine Reizbarkeit geringer und weniger wechselnd<br />

<strong>ist</strong>, auch sowohl sein Körper, als seine Psyche anhaltender<br />

und mehr beschäftigt <strong>ist</strong>, so kann der Mann jene so mannigfaltigen<br />

und so heftigen Einwirkungen des Geschlechtssystems auf<br />

den ganzen Körper und überhaupt jene so auffallenden Wechselverhältnisse<br />

zwischen den Geschlechtstheilen und dem<br />

gesammten Organismus nicht aufweisen, welche das Leben des<br />

zeugungsfähigen <strong>Weib</strong>es so sonderbar und so vielartig modificiren."6?<br />

Jörgs Aussagen liegt die Überzeugung <strong>zu</strong>grunde, der Geschlechtsapparat<br />

stelle eine Art Steuerungszentrale dar, die über das Nervensystem<br />

ihren, me<strong>ist</strong> störenden, Einfluß auf den gesamten Körper der<br />

Frau ausübe.<br />

Gemeinsames Kennzeichen der Argumente von Soemmerring und<br />

Jörg <strong>ist</strong>, daß nicht einzelne benennbare Ursachen für die Gesundheitsstörungen<br />

verantwortlich gemacht werden, sondern spezifisch<br />

weibliche Körperstrukturen und Funktionsweisen, r^ejnoiispres.<br />

chend sieht Soemmerring das weibliche Orgamsationsprinzip Zart?<br />

heit bzw. Schwäche und Jörg das Organisationsprinzip Geschlechts-<br />

Ursache für Gesundheitsstörungen an. Damit liegt die<br />

wirkliche Ursache in der Organisation des weiblichen Körpers und<br />

nicht in vorübergehenden Funktionsstörungen.<br />

3.7 Herleitung typisch weiblicher Eigenschaften<br />

aus anatomischen Grundlagen<br />

Die folgenden Beispiele aus Jörgs „Handbuch der Krankheiten des<br />

<strong>Weib</strong>es" machen deutlich, auf welche Weise sich die weibliche<br />

Bestimmung und Charakter<strong>ist</strong>ik direkt aus den anatomisch erforschten<br />

Grundlagen herleiten lassen. Jörg stellte seinem „Handbuch der<br />

Krankheiten" eine psychologische Betrachtung voran:<br />

67 Soemmerring (wie Anm. 19) Th. 3, S. 25.<br />

68 Joh. Chr. Jörg war Professor der Geburtshilfe an der Universität Leipzig und Direk- .<br />

tor der dortigen Entbindungsschule.<br />

782<br />

69 Joh. Chr. Jörg: Handbuch der Krankheiten des <strong>Weib</strong>es nebst einer Einleitung in die<br />

Physiologie und Psychologie des weiblichen Organismus. Zweyte ganz umgearbeitete<br />

und sehr vermehrte Auflage, Leipzig 1821, S. 254; 1. Aufl. Leipzig 1809.<br />

783


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

„Es kann nicht schwer fallen, alle die psychischen Eigenthümlichkeiten<br />

des <strong>Weib</strong>es aus dem Somatischen desselben ab<strong>zu</strong>leiten."<br />

Er begründet dies folgendermaßen:<br />

„Vermöge des kleinern und weichern Körpers, vermöge der<br />

kleinern und zartem Knochen und vermöge der weichern und<br />

weniger ausgebildeten Muskeln <strong>ist</strong> das <strong>Weib</strong> körperlich schwächer<br />

als der Mann!"70<br />

Jörg bezieht sich in der Einleitung auch ausdrücklich auf Soemmerring<br />

und nennt ihn einen der berühmtesten Anatomen.71 Diese körperliche<br />

Verfassung findet ihre Entsprechung in der psychischen Verfassung.<br />

Vermeintlich typisch weibliche psychische Eigenschaften leitet<br />

Jörg direkt aus körperlichen Merkmalen ab, wie sie die hier behandelten<br />

Anatomen beschrieben haben. Nach dieser Ansicht entsteht<br />

beispielsweise die „besonders hervorgehobene" weibliche Gemütseigenschaft<br />

der Furcht aus der „verhältnismäßig engern" Brusthöhle<br />

und die weibliche „Nachgiebigkeit" begründet Jörg mit der allgemeinen<br />

Weichheit und Schwäche des Körpers und Ge<strong>ist</strong>es. Denn, wie er<br />

glaubt, wer sich schwach fühle, gebe auch leichter nach.72 Demgegenüber<br />

stehen die männliche „Standhaftigkeit", der männliche Trotz<br />

und die Kraft, durch die schon der Knabe seine Wünsche <strong>zu</strong> erreichen<br />

sucht. Eine ähnlich lautende Ansicht vertritt Soemmerring in der<br />

Vorrede seiner vergleichenden Studie über die Neger und Europäer.<br />

Als Beweis dafür, daß weit verbreitete, „praktische Vorurtheile"<br />

einen wahren Kern besäßen, führt er an:<br />

„Ein Knabe wird allemahl über Mägdelein, nach seiner Art<br />

herrschen, ohne <strong>zu</strong> wissen, daß er herrscht, noch weniger, daß<br />

er seines festern, stärkern Körpers wegen herrscht, und wenn er<br />

auch völlig mit ihnen in Kleidung, Nahrungsmitteln, Leibesübungen<br />

gleich gehalten wird."73<br />

Soemmerring erhebt in dieser Aussage - nicht etwa die für das Herrschen<br />

ursächliche Stärke, sondern ein aus der~ Stärkeresultierendes<br />

^Säl^^ifa&Hcmchen, <strong>zu</strong>m unumstößhchen Unterechridungskriterium<br />

zwischen den Geschlechtern. Das Herrschen wird Abgren<strong>zu</strong>ngskriterium<br />

(essentielles Merkmal) in der Qualität, in der sonst in<br />

der Naturwissenschaft nur verschiedene Arten untereinander abgegrenzt<br />

werden.74 Dieser Vorgang spricht für ein ausgeprägtes Bedürfnis<br />

nach Absicherung gegen weibliche Herrschaftsansprüche.<br />

Ebenfalls eine Absicherung gegen eventuell auftretende überragende<br />

ge<strong>ist</strong>ige Fähigkeiten bei Frauen nimmt Jörg vor. Er we<strong>ist</strong> beispielsweise<br />

darauf hin, daß selbst, wenn es den Anschein haben sollte,<br />

das <strong>Weib</strong> überträfe den Mann „... in einem oder dem anderen Seelenvermögen<br />

..." sich dieser Schein nicht aufrechterhalten ließe, es handele<br />

sich dabei nämlich nur um Mannigfaltigkeit und Leichtigkeit in<br />

der Handhabung eines solchen Vermögens, dem jedoch die nötige<br />

Höhe bzw. die Tiefe der Kraft abgehe. Er glaubt:<br />

<strong>„Das</strong> <strong>Weib</strong> denkt weniger anhaltend und weniger tief als der<br />

Mann..."<br />

„Alles, was von den höhern Seelenvermögen ausgeht, was<br />

eine höhere Reflexion und Speculation, was ein schärferes und<br />

tieferes Urtheil verlangt, bleibt dem <strong>Weib</strong>e zeitlebens fremdartig,<br />

indem es gleichsam über den Kreis der weiblichen Psyche<br />

hinausreicht."75<br />

Dieser Mangel wird nach Jörgs Vorstellung aber wieder ausgeglichen<br />

durch die Gaben der Natur, mit denen das <strong>Weib</strong> ausgestattet wurde.<br />

70 Jörg 1821 (wie Anm. 69) S. 68.<br />

71 Jörg 1809 (wie Anm. 69) S. 5.<br />

72 Jörg 1821 (wie Anm. 69) S.67 (alle Zitate bis Standhaftigkeit). Dies entspricht der<br />

Interpretation, die auch der theologischen Begründung für die Vertreibung aus dem<br />

Paradies <strong>zu</strong>grundeliegt. Danach richtete sich die Versuchung an Eva, weil sie als Frau<br />

weniger standhaft <strong>zu</strong> sein versprach.<br />

73 Soemmerring (wie Anm. 13) S. 4.<br />

74 Dieser Vergleich (im übertragenen Sinne) mit dem essential<strong>ist</strong>ischen Artbegriff<br />

(s. hier<strong>zu</strong> Mayr [wie Anm. 5] S.206), wurde deshalb gewählt, weil Soemmerring<br />

sowohl die Stärke als auch das Herrschen 1) als typisch für das männliche Geschlecht,<br />

2) als (allgemein-)gültig auch für andere Individuen und 3) als etwas in seiner Art<br />

liegendes, also ein unbeeinflußbares, unbewußtes Merkmal seiner Spezies beschreibt.<br />

75 Jörg 1821 (wie Anm. 69) S. 68. ><br />

784<br />

785


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

Hier<strong>zu</strong> rechnet er Schönheit, Anmut und Grazie sowie Mannigfaltigkeit<br />

und Leichtigkeit im Gebrauch von Empfindungs- und Gefühlsvermögen.<br />

Wie Jörgs (und Soemmerrings) Wertschät<strong>zu</strong>ng des männlichen<br />

Verstandes <strong>zu</strong> entnehmen <strong>ist</strong>, besteht bei der Frau in dieser Hinsicht<br />

ein offenkundiger Mangel. Da es aber der weiblichen Natur und der<br />

weiblichen Funktion entspricht, körper- und gemütsgebundene<br />

Werte auf sich <strong>zu</strong> vereinen, erlangt sie mit dieser Gabe der Natur<br />

wieder die volle Anerkennung des Mannes.<br />

Die Äußerungen von Jörg und Soemmerring machen deutlich, daß<br />

die Frau weder durch körperliche noch durch ge<strong>ist</strong>ige Bildung Einfluß<br />

auf ihre schwache Konstitution nehmen kann. Sie entbehrt der<br />

anatomischen Vorausset<strong>zu</strong>ngen, so daß sie die Vollkommenheit des<br />

männlichen Organisationsprinzips nicht erreichen kann. Umgekehrt<br />

wird damit der Mann bereits als Knabe auf die vermeintlich biologisch<br />

bedingte Rolle des Stärkeren festgelegt. Entspricht er diesem<br />

vorgegebenen Bild nicht, läuft er Gefahr, sich der Lächerlichkeit<br />

preis<strong>zu</strong>geben.<br />

GODEFRIDUS BIDLOO.<br />

4. Die Darstellung weiblicher Wesenmerkmale<br />

in anatomischen Abbildungen<br />

Anatomische Abbildungen vermitteln neben sachlichen Informationen<br />

auch zeitspezifische Vorstellungen. In älteren Abbildungen<br />

kommt dies relativ deutlich <strong>zu</strong>m Vorschein. Der Symbolgehalt der<br />

Hintergrunddarstellungen in den Abbildungen von Bidloo, Diderot<br />

(in der Enzyklopädie) und Albin läßt sich relativ gut entschlüsseln. Es<br />

handelt sich entweder um Symbole der Vergänglichkeit („Vanitas")<br />

oder wie in Albins Abbildungen um Symbole, die die Kraft der Natur<br />

darstellen („vis-vitalis").76 Albins männliche Skelettdarstellung und<br />

Soemmerrings Darstellung einer Frau sind frei von solchem „Beiwerk"77<br />

(s. Abbildungen 3-6).<br />

76 Vgl. hier<strong>zu</strong> die Ausführungen von H. Punt: Bernhard Siegfried Albinus (1697-1770)<br />

und die anatomische Perfektion, in: Medizinh<strong>ist</strong>orisches Journal 12 (1977) S. 340.<br />

77 L. Choulant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung. Nach<br />

786


oo Abb. 5 und 6 ~<br />

B. S. Albinus: männliches Skelett (Ii.), S. Th. Soemmerring: weibliches Skelett (re.) aus:<br />

L.Choulant: Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildungen, 1852, S. 94.


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit die anatomischen Abbildungen<br />

nunmehr tatsächlich von zeitspezifischen Vorstellungen<br />

befreit sind und weswegen, insbesondere Soemmerring, diese doch<br />

sehr auffällige Veränderung der Abbildungsgewohnheit vorgenommen<br />

hat.<br />

„Zeichnung der Nackten ganz französisch aufgefaßt in mehr<br />

gesuchter als wahrer Schönheit. Werk für Künstler nicht<br />

brauchbar, da vollständige Muskelkörper fehlen; die Muskeln<br />

selbst me<strong>ist</strong>ens sehr aus ihrer Lage gezogen sind und die beiden<br />

Skelette wenig naturgemäße Verhältnisse und wenig Schönheit<br />

zeigen."*3<br />

4.1 Bewertung anatomischer Abbildungen<br />

Albins Darstellungsweise beruhte nicht mehr nur auf der Wiedergabe<br />

einer individuellen Form eines Skeletts, sondern auf einer wissenschaftlich<br />

erkundeten „Mittelform" der anatomischen Verhältnisse.78<br />

Um diese Formen heraus<strong>zu</strong>finden, stellte Albin Vergleiche zwischen<br />

individuellen anatomischen Formen an und versuchte daraus das Bild<br />

eines perfekten Menschen <strong>zu</strong> entwerfen.79 Choulant mißt sowohl<br />

Albin als auch Soemmerring epochemachende Qualität in der kunstanatomischen<br />

Abbildung bei. Nach Ansicht Choulants (1791 — 1861)<br />

wurde die wissenschaftliche Erforschung idealtypischer Formen und<br />

eine sorgfältige Wiedergabe anatomischer Details von Soemmerring<br />

nicht nur weiterentwickelt, sondern und vor allen Dingen durch eine<br />

künstlich schöne Darstellung bereichert;80 denn:<br />

„... sie haben das Widerlich, Geschmacklose, Unnatürliche, das<br />

oft in den früheren anatomischen Darstellungen herrschte, verdrängt<br />

und ein ungleich Besseres an dessen Stelle gesetzt".81<br />

Bidloos Skelettdar-stellung (1685) beurteilt Choulant folgendermaßen:<br />

<strong>„Das</strong> Skelett hat unschöne Verhältnisse, die Details oft ungenau<br />

und unwahr."82 Seine anatomischen Tafeln (Darstellung nackter Körper,<br />

eines Mannes, eines <strong>Weib</strong>es mit Beiwerk nach Manier des Künstlers<br />

Lairesse) beschrieb Choulant mit den Worten:<br />

ihrer Beziehung auf anatomische Wissenschaft und bildende Kunst, Leipzig 1852,<br />

S. 183. Choulant bezeichnet mit dem Begriff „Beiwerk" Hintergrundsdarstellungen<br />

bzw. begleitende Symbolik.<br />

n Ebd. H<strong>ist</strong>orische Einleitung, S. XV.<br />

n Punt (wie Anm. 76) S. 325 u. 329.<br />

«°. Choulant (wie Anm. 77) H<strong>ist</strong>or. Einleitung, S. XVI u. 131.<br />

»' Ebd.<br />

" Ebd. S. 183.<br />

Choulants Kommentar <strong>zu</strong> Albins, Soemmerrings und Bidloos Darstellungsweise<br />

enthält zwei sehr unterschiedliche Aspekte der Kritik:<br />

Wenn er von Widerlichem, Geschmacklosem und Unnatürlichem<br />

spricht, bemängelt er eine nicht gelungene Wiedergabe der Formen<br />

und Teile des Skeletts. Weil dieses Problem von Albin und Soemmerring<br />

wesentlich besser bewältigt wurde, kennzeichnen sie den Beginn<br />

einer wissenschaftlichen Epoche in der Darstellungsweise. Soemmerring<br />

benannte das Problem einer guten Wiedergabe. Es gelte:<br />

„Kurz durch den Verstand das wieder <strong>zu</strong> ersetzen, was ein<br />

solches Präparat im Weinge<strong>ist</strong>e, durchs Aufhängen, durchs Liegen<br />

u.s.f. von seiner natürlichen Form verlor."84<br />

In seiner Beurteilung geht Choulant nicht weiter darauf ein, daß Bidloos<br />

Abbildung ca. 100 Jahre früher entstanden <strong>ist</strong>. Der Fortschritt<br />

stellt sich für ihn nicht in eventuell verbesserten technischen Möglichkeiten,<br />

sondern an die Person (Albin und Soemmerring) gebunden<br />

dar. Dies liegt vermutlich im zweiten Aspekt der Kritik begründet. Es<br />

handelt sich dabei um eine Geschmacksfrage. Er betont, daß Bidloos<br />

Darstellungen ganz französisch aufgefaßt und dem<strong>zu</strong>folge mehr<br />

gekünstelte als wahre Schönheit zeigen. Demgegenüber haben Albin<br />

und insbesondere Soemmerring der Schönheit ungleich besser Rechnung<br />

getragen. Unter dieser Schönheit <strong>ist</strong> nicht nur verbesserte<br />

Abbildungstechnik <strong>zu</strong> verstehen, sondern eine Ästhetik, die in der<br />

Nachahmung antiker Kunstauffassung besteht. Soemmerring nannte<br />

dies das Streben nach attischer „Vollkommenheit".85 Während Choulant<br />

die beginnende wissenschaftlich geprägte Epoche der anatomi-<br />

" Ebd. S. 93.<br />

M Ebd. S. 132 (Soemmerring, zitiert nach Choulant).<br />

M Ebd. (Soemmerring, zitiert nach Choulant).<br />

790<br />

791


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abbandlungen<br />

sehen Abbildungen so vielversprechend beurteilt, sieht R. Herrlinger<br />

(1967) die anatomische Abbildung <strong>zu</strong> Anfang des 19. Jh. längst <strong>zu</strong>m<br />

didaktischen Hilfsmittel und <strong>zu</strong>r bloßen Illustration herabgesunken.86<br />

Er bewertet Bidloos Darstellung im Rahmen der barocken<br />

Illustration als einen qualitativen Höhepunkt der anatomischen Darstellungen<br />

und begründet dies mit dem Blick des Künstlers auf den<br />

Formenbestand des Körpers.<br />

4.2 Soemmerrings Darstellung eines weiblichen Skeletts<br />

Soemmerring und Albin verstanden sich selbst als Vertreter einer<br />

neuen Epoche in der Kunstanatomie. Neben einer perfekten Darstel-<br />

TungsweisTsuchte insbesondere Soemmerring den menschlichen Körper<br />

unter ästhetischen Gesichtspunkten <strong>zu</strong> betrachten. Soemmerring<br />

griff Albins Bemerkung auf, es fehle noch die Abbildung eines weiblichen<br />

Skeletts. Weil er dies ebenfalls als eine Lücke empfand, gab er<br />

1797 die „Tabula sceleti feminini juneta descriptione" heraus.87 Soemmerring<br />

verzichtete auf eine begleitende Symbolik bei der Abbildung<br />

des weiblichen Skeletts. Dies geschah nicht <strong>zu</strong>fällig. Er drückte damit<br />

vielmehr die Absicht aus, den abgebildeten Gegenstand ins Zentrum<br />

des Interesses <strong>zu</strong> rücken. Anhand der Entstehungsgeschichte der<br />

„Tabula sceleti" läßt sich diese Absicht veranschaulichen.<br />

Soemmerring war bemüht, das Skelett so ab<strong>zu</strong>bilden, wie es unter<br />

einem lebenden natürlichen Körper gedacht werden könnte, also<br />

nicht wie es sich dem Blick des Anatomen nach den notwendigen<br />

Präparationsvorgängen darbietet. Sein Anliegen bestand darin, den<br />

BÜck des Betrachters von dem ab<strong>zu</strong>lenken, was in der Regel mit einer<br />

Skelett-Abbildung assoziiert wurde, nämlich von Tod und Vergänglichkeit.<br />

Soemmerrings Botschaft war eine andere: an das Lebende<br />

sollte erinnert werden, nicht an den Tod! Bereits B. S. Albinus hat auf<br />

Tafel III der Muskelmänner nicht nur ein zerbrochenes Gefäß als<br />

traditionelles Symbol der Vergänglichkeit abgebildet, sondern auch<br />

wuchernde Pflanzen als Symbol für Jugend und Wachstum dargestellt.88<br />

In der Vorrede <strong>zu</strong>r Hirn- und Nervenlehre formulierte Soemmerring<br />

sein Bemühen:<br />

„Denn es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß alle<br />

Bemühungen der Zergliederer, wegen des lebendigen Zustandes<br />

des Menschen geschehen, und daß daher nach den Mustern, die<br />

uns Albinus aufstellte, die Schilderungen aller Theile des<br />

menschlichen Körpers so eingerichtet werden sollten, daß sie<br />

dem beseelten Zustande derselben nicht widersprechen."89<br />

Zerfallenes, Unansehnliches und Formverlust waren für einen Zergliederer<br />

nicht nur Zeichen des Todes, sondern konnten auch das<br />

Ergebnis nicht gelungener Präparationsarbeit sein. War sie aber<br />

gelungen (unter den äußerst schwierigen damaligen Bedingungen),90<br />

zeugt dies von Kunstfertigkeit in doppeltem Sinne: von handwerklicher<br />

Vollkommenheit und dem Gefühl für das Schöne. Dies <strong>ist</strong> wichtig,<br />

denn bei der Darstellung muß, wie Soemmerring betont (s. Zitat<br />

oben), der Verstand ersetzen, was vom natürlichen Aussehen verlorenging<br />

(und dies bedeutet im Verständnis Soemmerrings natürliche<br />

'Schönheit). Das Produkt dieser empirischen Arbeit (hier Skelett)<br />

mußte entsprechend ins Blickfeld gerückt werden. Die Skelettabbildung<br />

bedurfte keiner begleitenden Symbolik mehr, denn das Wesentliche<br />

der Aussage wurde durch die Darstellung selbst ausgedrückt.<br />

4.3- <strong>Weib</strong>liche Charakter<strong>ist</strong>ik<br />

Die exponierte Stellung des weiblichen Skeletts korrespondiert mit<br />

der Neuheit, mit der das Thema weiblicher Körper von den Anatomen<br />

und Medizinern in den Mittelpunkt des Forscherinteresses<br />

gerückt wurde. Die für jedermann am Äußeren und der Oberfläche<br />

** R. Herrlingen Geschichte der medizinischen Abbildungen, 2 Bände, München<br />

21967, S. 60. Herrlinger geht auf die Abbildungen Soemmerrings nicht ein.<br />

87 Sam. Thom. Soemmerring: Tabula sceleti feminini juneta descriptione trajecti ad<br />

moenum, 1797.<br />

792<br />

88 Punt(wieAnm.76)S.340.<br />

w Soemmerring (wie Anm. 19) Th. 5, Hirn- u. Nervenlehre, S. VI.<br />

90 Einen Einblick kann Soemmerrings Schilderung des Untersuchungsmaterials geben,<br />

in: Abbildungen und Beschreibungen einiger Mißgeburten die sich ehemals auf dem<br />

Anatomischen Theater <strong>zu</strong> Cassel befanden. Mit 12 Kupfertaf., Mainz 1791.<br />

et 793


Edith<br />

Stolzenberg-Bader<br />

sichtbaren Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern, genügen<br />

dem Forscher nicht mehr <strong>zu</strong> Erklärung. Er geht bereits einen Schritt<br />

weiter und sucht das Jfeenjderjtf^^^<br />

im<br />

vorliegenden Fall hn_Skd«^sjtem, um dessen spezifisch weibliche<br />

Struktur sichtbar <strong>zu</strong> machen. Die Entscheidung Soemmerrings, eine<br />

weibliche Ergän<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong>r Albinschen männlichen Abbildung <strong>zu</strong><br />

schaffen, barg die Schwierigkeit in sich, das <strong>Weib</strong>liche in der Gestalt<br />

des Skeletts deutlich erkennbar werden <strong>zu</strong> lassen. Soemmerrings<br />

Absicht, nicht nur spezifische Formelemente und Verhältnisse ab<strong>zu</strong>bilden,<br />

sondern hierdurch auch das typisch <strong>Weib</strong>liche, den weiblichen<br />

Charakter aus<strong>zu</strong>drücken, beinhaltet auch hier wie in den physiognomischen<br />

Betrachtungen der Kinderköpfe {/ S. 778), die<br />

Grundgedanken der traditionellen Signaturlehre. Dieser Auffassung<br />

<strong>zu</strong>folge, spiegelt die Gestalt (in diesem Fall das weibliche Skelett bzw.<br />

seine Bestandteile) bestimmte Eigenschaften (hier also Wesenszüge)<br />

wider." Die Definitionsarbeit dessen, was als weiblich <strong>zu</strong> gelten<br />

hatte, war von den Anatomen (wie die bisherigen Ausführungen zeigten)<br />

in wesentlichen Teilen* bereits vollzogen worden. Die in vielen<br />

Einzelarbeiten verstreuten Ergebnisse suchte Soemmerring nun <strong>zu</strong><br />

einem Bild <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>setzen. Es mußte also ein, <strong>zu</strong>mindest in groben<br />

Zügen, für die Adressaten verständlicher Entwurf des <strong>Weib</strong>lichen<br />

vorhanden sein. Dies läßt sich auch dem Kommentar der Jenaer Allgemeinen<br />

Literaturzeitung <strong>zu</strong>r „Tabula sceleti" entnehmen:<br />

Das Kulturbild der Frau in medizinischen und anatomischen Abhandlungen<br />

gebildeten Bürgertums, die durch entsprechende Publikationen wie<br />

die von Winckelmann, Heinse, Schiller, Goethe u. a. mit der wieder<br />

neu entdeckten antiken Kultur vertraut war.<br />

4.4 Bürgerliche Geschmacksverbesserung<br />

Die „Tabula sceleti" sollte jedoch nicht nur als Arbeitsmittel, sondern<br />

auch der bürgerlichen Geschmacksverbesserung im Sinne antiker<br />

Körper- und Schönheitsvorstellungen dienen.93 Soemmerrings Skelettabbildung<br />

sollte ein Muster des Baues sein, so wie ihn sich die<br />

Alten (griech. Antike) an der Venns anadyomene dachten.94<br />

Zur Verwirklichung dieser Vorstellung verglich Soemmerring sorgfältig<br />

die weiblichen Skelette seiner Sammlung, die jedoch den<br />

Ansprüchen nicht gerecht wurden.95 Er wählte schließlich das Skelett<br />

eines 20jährigen Mainzer Mädchens, das während seines Lebens seiner<br />

Körper- und Ge<strong>ist</strong>esgaben wegen sehr berühmt war.96 Ihr Körper<br />

war durch keine Schnürbrust verformt, ihr Fuß von keinem Schuh<br />

verunstaltet und sie war in jenem glücklichen Winkel der Erde<br />

(Mainz) aufgewachsen, wie Soemmerring erwähnt. Sie hatte überdies<br />

auch einmal „glücklich" geboren97 (was wegen des voll ausgebildeten<br />

Beckens, ein wichtiges Merkmal eines weiblichen Skeletts darstellte).<br />

' Das Skelettdes Mädchens erfüllte also alle Bedingungen, die das Bild<br />

eines nahe<strong>zu</strong> vollkommenen Frauenkörpers erforderten.<br />

„Ueberhaupt scheint Ree. das Ganze <strong>zu</strong> matt und nicht vollendet<br />

genug gearbeitet. Der Herausgeber hat wahrscheinlich<br />

dadurch den weiblichen Charakter in diese Zeichnung <strong>zu</strong> legen<br />

gesucht; aber sie hätte deswegen doch kräftiger gearbeitet werden<br />

können."92<br />

Obwohl der Rezensent mit dem Entwurf insgesamt un<strong>zu</strong>frieden <strong>ist</strong>,<br />

kritisiert er hauptsächlich die Ausführung, nicht aber die Absicht, die<br />

Zartheit des weiblichen Charakters aus<strong>zu</strong>drücken. Soemmerrings<br />

Werk richtete sich an Ärzte und Naturforscher, aber auch an Kupferstecher<br />

und Bildhauer. Es handelte sich also um jene Gruppe, des<br />

" Vgl. hier<strong>zu</strong> Lepenies (wie Anm. 2) S. 33 Anm.<br />

n Jenaer Allgemeine Literaturzeitung 1 (1798) S. 45.<br />

794<br />

4.5 Die individuellen Formen und das Schönheitsideal<br />

Soemmerrings Absicht war es, ein natürliches weibliches Skelett <strong>zu</strong><br />

schaffen, das als ein Muster größter Vollkommenheit des weiblichen<br />

Baues gelten konnte. Deshalb lieh er sich aus Blumenbachs Sammlung<br />

(in Göttingen) den wegen seiner Schönheit berühmten Schädel einer<br />

Georgierin und verglich ihn mit dem Schädel der Mainzerin. Es sollte<br />

91 "R. Wagner: Samuel Thomas Soemmerrings Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen,<br />

Leipzig 1844, 2. Abt. Leben Soemmerrings nebst einem Anhang von Briefen<br />

und Aufsätzen, so wie einem Portrait Soemmerrings, S. 58.<br />

94 Soemmerring (wie Anm. 87).<br />

95 Choulant (wie Anm. 77) S. 134.<br />

" Soemmerring (wie Anm. 87).<br />

97 Ebd.<br />

795

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