Forschungsbericht

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22.11.2013 Aufrufe

Praktische Empfehlungen beteiligten Personen berücksichtigt wird, sondern auch das aller möglichen sonstigen Parteien, die während der Verhandlungen eine Rolle spielen können. Zum Beispiel spielen ältere Familienmitglieder bei Verhandlungen oft eine wichtige Vermittlerrolle. Wir haben dies insbesondere bei Vorfällen innerhalb der marokkanischen und türkischen Gemeinde festgestellt. Bei Vorfällen, die sich innerhalb der chinesischen Gemeinde ereigneten, wurde oft eine neutrale dritte Partei als Vermittler eingeschaltet. Einerseits macht die Einschaltung dieser zusätzlichen Parteien es für die Polizei oft schwieriger, solche Vorfälle zu bewältigen. Andererseits bedeutet dies manchmal auch, dass die beteiligten Parteien den Vorfall eher unter sich, ohne Einschaltung der Polizei, klären. Bei einer Entführung, die sich vor Kurzem im Zentrum der Niederlande ereignete, stellte sich zudem heraus, dass die Anwesenheit der Polizei den Fall verlängerte und zu einem Stillstand bei den Verhandlungen führte. Als die Polizei sich dann zum Rückzug entschloss, wurde die Situation ziemlich rasch im gegenseitigen Einvernehmen geklärt. Bei Verhandlungen mit Tätern aus High-Context-Kulturen erscheint es besonders wichtig, auf die Wahrung des Gesichts zu achten. Im Allgemeinen ist die Wahrung des Gesichts ein wichtiges Verhaltensmotiv. Bei der Wahl der Verhandlungsstrategie sollte man dies berücksichtigen. Deshalb ist es bei dieser Art von Situation ratsam, stets nach kreativen Lösungen zu suchen, mit denen man den Täter für sich gewinnen kann. Manchmal genügen schon sehr einfache Lösungen, um dieses Ziel zu erreichen. Ein Beispiel dafür ist eine Belagerungssituation, in der offensichtlich nichts einer friedlichen Aufgabe im Wege steht, der Täter aber nicht herauskommen will. Der Grund dafür kann sein, dass der Täter es als Demütigung empfindet, vor den Augen der Öffentlichkeit aufzugeben. Ein möglicher Ausweg aus dieser Sackgasse besteht darin, eine ehrenhaftere Lösung anzubieten. 2.3. Entführungs- und Erpressungsopfer Aus den Befragungen von direkten und indirekten Entführungs- und Erpressungsopfern ergaben sich zahlreiche Elemente, die bereits von Opfern von Belagerungen angegeben worden waren. Dies betrifft z. B. das aufrichtige Bekunden von Interesse an dem Opfer, die realistische Schilderung der Situation und das Beweisen von Sachkunde durch Vermittlung der eigenen Kompetenz im Umgang mit dieser Art von Krisensituationen. Das Mitteilen von Informationen ist ebenfalls sehr wichtig. Dies hängt wahrscheinlich mit der verhältnismäßig längeren Dauer von Entführungen und Erpressungen zusammen. In diesen Situationen brauchen vor allem Erpressungsopfer und Familienmitglieder von Entführungsopfern Informationen über polizeiliche Maßnahmen. Können sie nicht mit konkreten inhaltlichen oder verfahrenstechnischen Informationen versorgt werden, so ist es im Allgemeinen doch möglich, ihnen eine logische Erklärung für das Verhalten oder die Entscheidungen der Polizei zu geben. Dies stärkt das Gefühl, dass die Polizei den Fall ernst nimmt, in der Sache kompetent ist und auf jeden Fall „etwas unternommen“ wird. Hinzu kommt, dass die Polizei in solchen Situationen konkrete Unterstützung in Form von Einrichtungen, Absprachen mit Schulen, Arbeitgebern oder Geldinstituten anbieten kann. Hier erfüllt der Verhandlungsführer der Polizei eher eine Verbindungsaufgabe. Außerdem verspüren die Familienmitglieder von Entführungsopfern mit Ablauf der Zeit oft den Drang, „etwas tun“ zu müssen. Eine Möglichkeit, diesem Bedürfnis nachzukommen, besteht darin, sie dazu zu bewegen, in der Zeit, in der ihr Familien- 70

Praktische Empfehlungen mitglied sich in Geiselhaft befindet, ein Tagebuch zu führen. Eine andere Möglichkeit ist die, Briefe an das Familienmitglied oder die Geiselnehmer zu schreiben. Mit Entführungsopfern haben die Verhandlungsführer der Polizei den geringsten Kontakt. Bei der Festlegung der Verhandlungsstrategie und bei möglichen Kontakten mit diesen Opfern kommt es jedoch darauf an, eine Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen, die speziell auf Entführungsopfer zutreffen. Entführungsopfer: Gefühle der Isolation und Identitätskrise Der Umstand, dass Entführungsopfer angeben, erhebliche Isolationsgefühle wie z. B. Gefühle der Vereinsamung und Verlassenheit durchlebt zu haben, ist ein spezifisches Merkmal für diese Kategorie von Opfern. Deshalb empfanden es viele Entführungsopfer als Erleichterung, wenn noch weitere mitbetroffene Opfer anwesend waren und ein Radio- oder Fernsehgerät zur Verfügung stand. Sie machten vielfach auch Anmerkungen bezüglich einer Identitätskrise, wahrscheinlich weil die lange Gefangenschaft in einer fremden Umgebung einen vergessen lässt, „wer und was man ist“. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Personen, bei denen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit ein erhöhtes Entführungsrisiko besteht, wie z. B. Journalisten oder Mitarbeitern von in Krisenregionen tätigen Hilfsorganisationen, vielfach geraten wird, eine Fotografie mitzuführen, auf der sie selbst mit anderen, für sie wichtigen Menschen zu sehen sind. Wenn sie darüber mit ihren Geiselnehmern sprechen können, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine positive Beziehung zwischen Opfer und Täter entwickelt (vgl. „Stockholm- Syndrom“, vgl. auch Wilson, 2003). Das Mitführen eines Fotos, auf dem man selbst mit Personen, die einem nahe stehen, abgebildet ist, erfüllt offensichtlich auch eine weitere Funktion, nämlich die Bestätigung der eigenen sozialen Identität. Abschließend ist festzustellen, dass Entführungsopfer oft über die erheblichen Gefühle der Unsicherheit sprechen, mit denen sie fertig werden müssen. Allzu oft wissen sie nicht, ob ihre Familie Kenntnis von dem hat, was ihnen widerfahren ist. In dieser Hinsicht, ist der Erhalt eines Lebenszeichens sowohl taktisch als auch psychologisch wichtig: Das Opfer weiß nun, dass seine Familie von der Entführung gehört hat und Verhandlungen über die Freilassung geführt werden. 3. Das Zeitparadoxon Obwohl bei Verhandlungen das Gewinnen von Zeit fast immer für eine effektive Maßnahme gehalten wird, haben unsere Untersuchungen auch den möglichen Nachteil dieser Strategie gezeigt. Vor allem in der hektischen Anfangsphase scheint die Zeit ein wichtiger Verbündeter der Polizei zu sein. Einerseits verschafft Zeit den Raum und die Möglichkeiten, Dinge zu veranlassen und auf diese Weise die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten. Ferner werden durch den Zeitablauf Emotionen und Spannungen abgebaut und die beteiligten Parteien passen ihre Erwartungen an. Dadurch wird die Suche nach einer Lösung erleichtert. Dennoch hat dies auch noch eine andere Seite. Zunächst bedeutet Fürsorge für das Opfer natürlich, dass alle Anstrengungen unternommen werden sollten, um die traumatische Erfahrung für das Opfer möglichst schnell zu beenden. Darüber hinaus haben unsere Feststellungen ergeben, dass mit Ablauf der Zeit unerwünschte psychologische Prozesse einsetzen können. Zum Beispiel können sowohl die Opfer als auch die Täter den Eindruck bekommen, die Polizei wolle Zeit gewinnen. Bei den Opfern kann 71

Praktische Empfehlungen<br />

beteiligten Personen berücksichtigt wird, sondern auch das aller möglichen sonstigen<br />

Parteien, die während der Verhandlungen eine Rolle spielen können. Zum Beispiel<br />

spielen ältere Familienmitglieder bei Verhandlungen oft eine wichtige Vermittlerrolle.<br />

Wir haben dies insbesondere bei Vorfällen innerhalb der marokkanischen und türkischen<br />

Gemeinde festgestellt. Bei Vorfällen, die sich innerhalb der chinesischen<br />

Gemeinde ereigneten, wurde oft eine neutrale dritte Partei als Vermittler eingeschaltet.<br />

Einerseits macht die Einschaltung dieser zusätzlichen Parteien es für die<br />

Polizei oft schwieriger, solche Vorfälle zu bewältigen. Andererseits bedeutet dies<br />

manchmal auch, dass die beteiligten Parteien den Vorfall eher unter sich, ohne Einschaltung<br />

der Polizei, klären. Bei einer Entführung, die sich vor Kurzem im Zentrum<br />

der Niederlande ereignete, stellte sich zudem heraus, dass die Anwesenheit der<br />

Polizei den Fall verlängerte und zu einem Stillstand bei den Verhandlungen führte.<br />

Als die Polizei sich dann zum Rückzug entschloss, wurde die Situation ziemlich<br />

rasch im gegenseitigen Einvernehmen geklärt.<br />

Bei Verhandlungen mit Tätern aus High-Context-Kulturen erscheint es besonders<br />

wichtig, auf die Wahrung des Gesichts zu achten. Im Allgemeinen ist die Wahrung<br />

des Gesichts ein wichtiges Verhaltensmotiv. Bei der Wahl der Verhandlungsstrategie<br />

sollte man dies berücksichtigen. Deshalb ist es bei dieser Art von Situation ratsam,<br />

stets nach kreativen Lösungen zu suchen, mit denen man den Täter für sich<br />

gewinnen kann. Manchmal genügen schon sehr einfache Lösungen, um dieses Ziel<br />

zu erreichen. Ein Beispiel dafür ist eine Belagerungssituation, in der offensichtlich<br />

nichts einer friedlichen Aufgabe im Wege steht, der Täter aber nicht herauskommen<br />

will. Der Grund dafür kann sein, dass der Täter es als Demütigung empfindet, vor<br />

den Augen der Öffentlichkeit aufzugeben. Ein möglicher Ausweg aus dieser Sackgasse<br />

besteht darin, eine ehrenhaftere Lösung anzubieten.<br />

2.3. Entführungs- und Erpressungsopfer<br />

Aus den Befragungen von direkten und indirekten Entführungs- und Erpressungsopfern<br />

ergaben sich zahlreiche Elemente, die bereits von Opfern von Belagerungen<br />

angegeben worden waren. Dies betrifft z. B. das aufrichtige Bekunden von Interesse<br />

an dem Opfer, die realistische Schilderung der Situation und das Beweisen von<br />

Sachkunde durch Vermittlung der eigenen Kompetenz im Umgang mit dieser Art von<br />

Krisensituationen. Das Mitteilen von Informationen ist ebenfalls sehr wichtig. Dies<br />

hängt wahrscheinlich mit der verhältnismäßig längeren Dauer von Entführungen und<br />

Erpressungen zusammen. In diesen Situationen brauchen vor allem Erpressungsopfer<br />

und Familienmitglieder von Entführungsopfern Informationen über polizeiliche<br />

Maßnahmen. Können sie nicht mit konkreten inhaltlichen oder verfahrenstechnischen<br />

Informationen versorgt werden, so ist es im Allgemeinen doch möglich, ihnen eine<br />

logische Erklärung für das Verhalten oder die Entscheidungen der Polizei zu geben.<br />

Dies stärkt das Gefühl, dass die Polizei den Fall ernst nimmt, in der Sache kompetent<br />

ist und auf jeden Fall „etwas unternommen“ wird. Hinzu kommt, dass die Polizei<br />

in solchen Situationen konkrete Unterstützung in Form von Einrichtungen, Absprachen<br />

mit Schulen, Arbeitgebern oder Geldinstituten anbieten kann. Hier erfüllt der<br />

Verhandlungsführer der Polizei eher eine Verbindungsaufgabe.<br />

Außerdem verspüren die Familienmitglieder von Entführungsopfern mit Ablauf der<br />

Zeit oft den Drang, „etwas tun“ zu müssen. Eine Möglichkeit, diesem Bedürfnis nachzukommen,<br />

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